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Zweites Kapitel. Pauls Geburt und neue Kämpfe

Nach einem Vorgang wie dem letzten war Walter Morel ein paar Tage lang immer niedergeschlagen und beschämt; aber bald gewann er seine alte, prahlerische Gleichgültigkeit wieder. Und trotzdem lag in seiner Sicherheit etwas Furchtsames, sie nahm ab. Sogar körperlich nahm er ab, und sein hübsches, lebenstrotzendes Äußere verblaßte. Er wurde niemals im geringsten fett, so daß es schien, als schrumpfe seine körperliche Kraft zugleich mit seinem Stolz und seiner sittlichen Kraft zusammen, als er jetzt aus seiner aufrechten, selbstbewußten Haltung herabsank.

Nun kam es ihm aber auch zum Bewußtsein, wie schwer es seiner Frau wurde, sich mit all ihrer Arbeit abzuquälen, und mit durch Reue noch erhöhtem Mitleid beeilte er sich, ihr zu helfen. Er ging von der Grube stracks nach Hause und blieb auch dort bis Freitagabend, konnte aber dann nicht länger zu Hause bleiben. Um zehn Uhr war er indessen wieder da, fast vollkommen nüchtern.

Sein Frühstück machte er sich immer selbst. Da er ein Frühaufsteher war und immer viel Zeit hatte, schleppte er nicht wie manche andere Bergleute seine Frau um sechs aus dem Bett. Um fünf, zuweilen auch schon früher, wachte er auf, fuhr sofort aus dem Bett und ging hinunter. Wenn seine Frau nicht schlafen konnte, blieb sie doch ruhig so lange liegen, da dies eine Spanne Friedens für sie bedeutete. Wirkliche Ruhe schien jedoch immer erst über sie zu kommen, wenn er aus dem Hause war.

Er ging im Hemd hinunter und fuhr dann mühsam in seine Grubenhosen, die die ganze Nacht über vor dem Herde lagen, um warm zu bleiben. Feuer war immer da, weil Frau Morel es stets mit Asche bedeckte. Und der erste Ton im Hause war immer das bums! bums! des Schürhakens, wenn Morel die übriggebliebene Kohle zusammenrakte, um den vollen Kessel, der stets auf dem Herdgitter stehenblieb, endgültig zum Kochen zu bringen. Seine Tasse, Gabel und Messer, alles, was er außer dem Essen selbst nötig hatte, lagen fertig auf dem Tisch auf einem Zeitungsblatt. Dann holte er sich sein Frühstück, machte Tee, verstopfte die Ritze unter der Tür mit einem alten Lappen, um den Zug auszuschließen, rakte alles Feuer auf einen mächtigen Haufen zusammen und setzte sich nieder zu einem gemütlichen Stündchen. Er röstete sich seinen Schinken an einer Gabel und fing das herabtropfende Fett mit Brot auf; dann legte er die Schinkenschnitte auf eine dicke Schnitte Brot und schnitt sich mit dem Taschenmesser einzelne Happen ab, goß sich den Tee in die Untertasse und war glücklich. Waren die Seinen dabei, dann waren seine Mahlzeiten nie so angenehm. Gabeln verabscheute er; sie sind ja auch eine neuzeitliche Erfindung, die noch kaum ins Volk gedrungen ist. Was Morel lieber war, war sein Taschenmesser. Dann aß und trank er in Einsamkeit, und saß bei kaltem Wetter oft auf einem kleinen Schemel mit dem Rücken gegen den Herd, sein Essen vor sich auf dem Fender, seine Tasse auf dem Herde. Und dann las er die gestrige Abendzeitung – soweit ers vermochte – indem er sie mühsam durchbuchstabierte. Am liebsten hielt er die Läden geschlossen und die Kerze brennend, selbst bei Tageslicht; das war so eine Grubenangewohnheit.

Um ein Viertel vor sechs stand er auf, machte sich zwei dicke Scheiben Brot mit Butter zurecht und steckte sie in den weißen Kattunsack. Seine Blechflasche füllte er mit Tee. Kalter Tee ohne Milch und Zucker war sein Lieblingsgetränk für die Grube. Dann zog er sein Hemd aus und seine Grubenjacke an, eine Art Weste aus dickem Flanell, am Halse niedrig ausgeschnitten und mit kurzen Ärmeln wie ein Unterhemd.

Dann ging er mit einer Tasse Tee nach oben zu seiner Frau, weil sie doch krank war und weil es ihm grade in den Sinn kam.

»Da hab ick dich 'ne Tasse Tee jebracht, Mächen,« sagte er.

»Ach, das wäre auch nicht nötig gewesen, du weißt ja doch, ich mag ihn nicht,« erwiderte sie.

»Trink ihn man, der bringt dir wieder in 'n Schlaf.«

Sie nahm den Tee. Es machte ihm Freude, zu sehen, daß sie ihn nahm und daran nippte.

»Ich will mein Leben wetten, da ist kein Stück Zucker drin,« sagte sie.

»Doch, 'n janz jroßes,« erwiderte er verletzt.

»Das soll mich doch wundern«, sagte sie und nippte wieder.

Ihr Gesicht hatte etwas sehr Gewinnendes, wenn ihr Haar lose war. Und er mochte es eigentlich gern, wenn sie in dieser Weise mit ihm schalt. – Er sah sie noch einmal an und ging dann fort, ohne irgendwelchen Abschied. Er nahm nie mehr als zwei Scheiben Brot mit in die Grube zum Essen, und so war ihm ein Apfel oder eine Apfelsine ein Fest. Er freute sich immer, wenn sie eine für ihn herauslegte. Er band ein Halstuch um, zog seine großen, schweren Stiefel an, seinen Rock mit der großen Tasche, in der sein Eßsack und seine Teeflasche steckten, und trat in die frische Morgenluft hinaus, die Tür hinter sich zumachend, ohne sie abzuschließen. Er liebte den frühen Morgen und den Gang durch die Felder. So kam er am Schachtkopf an, oft mit einem Zweig aus der Hecke zwischen den Zähnen, auf dem er den ganzen Tag lang kaute, um den Mund unten in der Grube feucht zu halten, und fühlte sich dort genau so glücklich, als wäre er noch auf dem Felde.

Späterhin, als die Zeit für das Kleine näher herankam, pflegte er sich in seiner lodderigen Weise im Hause zu tun zu machen; er räumte die Asche aus, säuberte die Feuerstelle und schrubbte das Haus, bevor er an die Arbeit ging. Dann ging er im Gefühl großer Rechtschaffenheit nach oben.

»Nu hab ick for dir reinejemacht; brauchst dir um nischt nich zu kümmern, den janzen Tag lang, kannst man immerzu sitzen un lesen.«

Worüber sie trotz ihres Unwillens lachen mußte.

»Und das Essen kocht sich wohl von selbst?« antwortete sie.

»I, vons Essen verschtehe ick nischt.«

»Du würdest es schon, wenn keins da wäre.«

»Na ja, vielleicht woll,« antwortete er im Weggehen.

Wenn sie dann hinunterkam, fand sie das Haus in Ordnung, aber schmutzig. Sie fand keine Ruhe, ehe sie nicht gründlich reingemacht hatte; so ging sie also mit dem Fegeblech nach der Aschengrube hinunter. Frau Kirk, die ihr aufgelauert hatte, brachte es dann fertig, genau zur selben Minute zu ihrem Kohlenschuppen zu gehen. Dann rief sie wohl über den hölzernen Zaun:

»Da wackeln Sie also immer noch 'rum?«

»Jawohl,« antwortete Frau Morel, fast wie um Verzeihung bittend. »Das hilft doch nicht.«

»Haben Sie Hose schon gesehen?« rief eine sehr kleine Frau ihnen über den Weg herüber zu. Es war Frau Anthony, ein schwarzhaariges, merkwürdiges kleines Wesen, die immer ein enganliegendes braunes Samtkleid trug.

»Nein,« antwortete Frau Morel.

»Och, ich wollte, er käme. Ich hab einen ganzen Haufen Kledaschen, un 'ch bin sicher, ich hab seine Klingel schonst jehört.«

»Da! Da unten ist er schon.«

Beide Frauen blickten den Gang hinunter. Am Ende des ›Grundes‹ stand ein Mann in einer Art altmodischer Kutsche, über Bündel gelblichen Zeuges gebeugt; ein Haufen Frauen streckte ihm die Arme entgegen, einige mit Bündeln darin. Frau Anthony hatte auch einen Packen gelblicher, ungefärbter Strümpfe über den Arm gehängt.

»Zehn Dutzend hab ich diese Woche jemacht,« sagte sie stolz zu Frau Morel.

»T-t-t!« machte die andere. »Ich verstehe nicht, wie Sie die Zeit dazu finden.«

»I!« sagte Frau Anthony. »Zeit können Sie schon finden, wenn Sie sich bloß welche machen.«

»Ich weiß aber nicht, wie ich es machen soll,« sagte Frau Morel. »Und wieviel kriegen Sie wohl für die alle?«

»Zwei 'nhalben Pence fürs Dutzend,« erwiderte jene.

»Na,« sagte Frau Morel, »dann hungere ich doch lieber, ehe ich mich hinsetze und vierundzwanzig Strümpfe für zwei und 'nen halben Pence säume.«

»Och, ich weiß doch nicht,« sagte Frau Anthony. »Es fällt immer noch 'n bißchen dabei ab.«

Seine Klingel läutend kam Hose heran. An den Hofausgängen standen wartende Frauen mit ihren fertig gesäumten Strümpfen überm Arm. Der Mann, ein gemeiner Kerl, machte Witze mit ihnen und versuchte sie zu beschwindeln und ins Bockhorn zu jagen. Frau Morel trat voller Mißachtung wieder in ihren Hof.

Es war ausgemachte Sache, daß, wenn eine der Frauen ihre Nachbarin herbeiwünschte, sie nur den Schürhaken ins Feuer stecken und mit ihm hinten gegen die Herdplatte stoßen sollte, was, da die Feuerstellen mit den Rückwänden gegeneinander lagen, im anstoßenden Hause notwendig einen gewaltigen Lärm verursachte. Als Frau Kirk eines Morgens ihren Pudding anrührte, fuhr sie beinahe aus der Haut, als sie das bums! bums! in ihrem Herde vernahm. Die Hände ganz voll Mehl, stürzte sie an ihren Zaun.

»Haben Sie jeklopft, Frau Morel?«

»Wenns Ihnen einerlei wäre, Frau Kirk.«

Frau Kirk kletterte auf ihren Kupferkessel, stieg über die Mauer auf Frau Morels Kessel und lief zu ihrer Nachbarin ins Haus hinein.

»Na, Liebe, wie fühlen Sie sich denn?« rief sie voller Teilnahme.

»Sie könnten wohl am Ende Frau Bower holen,« sagte Frau Morel.

Frau Kirk trat in den Hof hinaus, erhob ihre kräftige, schrille Stimme und rief:

»Achie! – Achie!«

Die Stimme wurde von einem Ende des Grundes bis zum andern vernommen. Schließlich kam Achie herbeigerannt und wurde zu Frau Bower geschickt, während Frau Kirk ihren Pudding Pudding sein ließ und bei ihrer Nachbarin blieb. Frau Morel ging zu Bett. Frau Kirk nahm William und Annie zum Essen mit. Frau Bower, fett und watschelig, trat ihre Herrschaft im Hause an.

»Hacken Sie doch etwas kaltes Fleisch klein, für meines Mannes Essen, und machen Sie ihm einen Apfelpudding,« sagte Frau Morel.

»Der kann heute auch wohl mal ohne Pudding fertig werden,« erwiderte Frau Bower.

In der Regel war Morel keiner der ersten, die unten im Schacht erschienen, um aufzufahren. Ein paar waren immer schon vor vier Uhr da, wenn die Pfeife zum Aufhören ertönte; Morel aber, dessen Stollen, ein recht armseliger, zu dieser Zeit ungefähr anderthalb Meilen vom Schacht entfernt lag, arbeitete für gewöhnlich noch, bis der Obersteiger aufhörte, und dann hörte er auch auf. Heute aber war dem Bergmann seine Arbeit über. Um zwei Uhr schon sah er nach der Uhr, beim Schein der grünen Lampe – er war vor einem sicheren Ort – und um halb drei abermals. Er arbeitete an einem Felsstück, das für die morgige Arbeit im Wege war. Während er so auf den Hacken saß oder kniete und harte Schläge, mit seiner Picke führte, ging es fortwährend »Hussa-Hussa!«

»Wirste fertig, Mensch?« rief Barker, sein Kumpel.

»Fertig? Solange die Welt steht, nich!« brummte Morel.

Und er haute drauflos. Er war müde.

»Det bringt eenen ja reene um,« sagte Barker.

Aber Morel war zu verzweifelt, zu sehr fertig mit sich und der Welt, als daß er darauf geantwortet hätte. Er hieb und hackte jedoch mit aller Kraft weiter drauflos.

»Solltest doch man lieber aufhören, Walter,« sagte Barker, »'t wird morjen auch schonst jehen, ohne det de dir de Jedärme aus'n Leibe hackst.«

»Morjen tue ick ooch nich eenen Schlag, Isr'el,« rief Morel.

»Na scheen, wennst du nich willst, denn wirds woll 'n anderer tun müssen,« sagte Israel.

Morel fuhr fort zu hacken.

»He, da oben, aufhören überall!« riefen die Leute, die aus dem Nachbarstollen kamen.

Morel fuhr fort zu hacken.

»Vielleicht holste mir noch ein,« sagte Barker im Weggehen.

Als er weg war, geriet Morel, nun allein geblieben, in Zorn. Er war mit seiner Arbeit nicht fertig geworden. Er hatte sich rein in Wut gearbeitet. Im Aufstehen, naß von Schweiß, warf er sein Arbeitszeug hin, zog seine Jacke an, pustete seine Kerze aus, nahm seine Lampe und ging. Den Hauptstollen hinunter tanzten die Lichter anderer Leute. Ein hohles Geräusch ertönte von vielen Stimmen. Ein langes, schweres Trampeln war es unter Tag.

Er saß unten im Schacht, wo die großen Wassertropfen platschend herunterkamen. Viele Bergleute warteten hier, bis die Reihe zum Auffahren an sie kam, unter lärmendem Geplauder. Morel gab seine Antworten kurz und brummig.

»Et regnet, Menschenskind,« sagte der alte Giles, der das von oben gehört hatte.

Das war Morel ein Trost. Er hatte seinen alten Regenschirm, den er sehr liebte, oben im Lampenschuppen. Schließlich nahm er seinen Platz auf dem Fahrstuhl ein und war im Augenblick droben. Dann lieferte er seine Lampe ab und ließ sich seinen Schirm geben, den er für anderthalb Schilling auf einer Versteigerung erworben hatte. Einen Augenblick stand er am Rande des Schachtes und sah über die Felder; grau fiel der Regen hernieder. Die Hunde standen voll nasser, glänzender Kohle da; Wasser lief an den Seiten der Eisenbahnwagen über die weißen Buchstaben »C. W. & Co.« hinunter. Bergleute, gleichgültig gegen den Regen, strömten an der Bahn entlang und das Feld hinan, eine graue, trübselige Schar. Morel spannte seinen Schirm auf und freute sich über das Geprassel auf ihm.

Den ganzen Weg nach Bestwood hinunter trotteten die Bergleute, naß und grau und schmutzig, aber ihre roten Mundwerke in lebhafter Bewegung. Morel ging auch mit einem Haufen, sagte aber nichts. Verkniffen runzelte er im Gehen die Brauen. Viele Männer traten in den ›Prinz von Wales‹ ein oder bei Ellens. Morel fühlte sich knurrig genug, um jeder Versuchung zu widerstehen und trabte unter den tropfenden, die Parkmauer überhängenden Bäumen durch den Dreck der Greenhill Lane dahin.

Frau Morel lag im Bett und lauschte auf den Regen und die Füße der Bergleute von Minton her, auf ihre Stimmen und das Klapp-Klapp des Gatters, wenn sie durch den Übergang das Feld hinaufgingen.

»Hinter der Tür in der Speisekammer steht etwas Kräuterbier,« sagte sie. »Der Meister will sicher was zu trinken haben, wenn er nicht einkehrt.«

Aber er kam spät, und so schloß sie, er hätte wohl irgendwo vorgesprochen, weil es ja regnete. Was machte er sich aus ihr und dem Kinde?

Sie war immer sehr krank bei der Geburt ihrer Kinder.

»Was ist es?« fragte sie.

»Ein Junge.«

Und darin fand sie Trost. Der Gedanke, Mutter von Männern zu sein, erwärmte ihr das Herz. Sie blickte auf das Kind. Es hatte blaue Augen und eine Menge Haare und war reizend. Heiß stieg ihre Liebe empor, trotz alledem. Sie behielt es bei sich im Bett.

Morel trottete, ohne an irgend etwas zu denken, ärgerlich und verdrossen den Gartenpfad herauf. Er machte seinen Schirm zu und stellte ihn in den Ablauf; dann schmiß er seine schweren Stiefel in die Küche. Frau Bower erschien in der inneren Tür.

»Tja,« sagte sie, »es geht ihr so schlecht, wie es ihr man jrade gehen kann, 's is 'n Junge.«

Der Bergmann grunzte, legte seinen leeren Eßsack und seine Blechflasche auf die Anrichte, ging wieder in die Spülküche und hing seinen Rock auf, kam dann wieder herein und ließ sich in seinen Stuhl fallen.

»Haben Se wat zu trinken?« fragte er.

Die Frau ging in die Speisekammer. Das Knallen eines Korkes wurde hörbar. Sie setzte den Krug mit einem kleinen entrüsteten Krach vor Morel auf den Tisch. Er trank, schnappte nach Luft, wischte sich den dicken Schnurrbart mit dem Ende seines Halstuches ab, trank abermals, schnappte wieder nach Luft und lehnte sich in seinem Stuhle zurück. Die Frau mochte nicht wieder mit ihm sprechen. Sie setzte sein Essen vor ihn hin und ging nach oben.

»War das der Meister?« fragte Frau Morel.

»Ick hab ihm sein Essen jejeben,« erwiderte Frau Bower.

Nachdem er eine Zeitlang mit den Armen auf dem Tisch dagesessen hatte – er ärgerte sich über die Tatsache, daß Frau Bower kein Tischtuch für ihn aufgelegt und ihm einen kleinen Teller anstatt eines großen Eßtellers gegeben hatte –, begann er zu essen. Der Umstand, daß seine Frau krank sei und er wieder einen neuen Jungen habe, war ihm im Augenblick nichts. Er war zu müde; er wollte sein Essen haben; er wollte mit den Armen auf dem Tisch dasitzen; er mochte Frau Bower nicht um sich haben. Das Feuer war für seinen Geschmack zu klein.

Als er mit dem Essen fertig war, saß er noch zwanzig Minuten so da; dann machte er ein mächtiges Feuer an. Endlich ging er widerwillig auf Socken nach oben. Es kostete ihm in diesem Augenblick einen Kampf, seinem Weibe ins Antlitz zu sehen, und er war müde. Sein Gesicht war schwarz und schmierig von Schweiß. Sein Grubenhemd war wieder trocken geworden und hatte den Schmutz aufgesaugt. Er hatte ein schmutziges, wollenes Tuch um den Hals. So stand er am Fußende des Bettes.

»Na, wie jehts dich denn?« fragte er.

»Ich werde schon wieder zurechte kommen,« antwortete sie.

»Hm!«

Er stand da und wußte nicht, was er sagen sollte. Er war müde, und diese Unruhe paßte ihm gar nicht, und er wußte kaum recht, wo er war.

»'n Junge, sagste,« stotterte er.

Sie schlug die Decke zurück und zeigte ihm das Kind.

»Jott segne ihn!« murmelte er. Und das brachte sie zum Lachen, weil das so auswendig gelernt herauskam – als fühlte er so etwas wie väterliche Rührung, was aber durchaus nicht der Fall war.

»Nun geh nur,« sagte sie.

»Schön, mein Mächen,« sagte er und wandte sich um.

Also entlassen, hätte er sie gern geküßt und wagte es doch nicht. Halb wünschte auch sie, er möge sie küssen, konnte sich aber nicht überwinden, ihm das zu zeigen. Sie atmete erst wieder auf, als er das Zimmer verlassen hatte, einen schwachen Dunst von Grubengeruch hinter sich zurücklassend.

Frau Morel bekam jeden Tag Besuch von dem presbyterianischen Geistlichen. Mr. Heaton war noch jung, und sehr arm. Seine Frau war bei der Geburt des ersten Kindes gestorben, und so war er im Predigerhaus allein geblieben. Er war Bakkalaureus der Künste zu Cambridge, sehr scheu, und durchaus kein Prediger. Frau Morel mochte ihn gern, und er verließ sich ganz auf sie. Stundenlang redete er mit ihr, solange es ihr gut ging. Er wurde Pate ihres Kindes.

Gelegentlich blieb der Geistliche mal zum Tee bei Frau Morel. Dann legte sie frühzeitig ein Tischtuch auf, holte ihre besten Tassen mit einem feinen grünen Rande hervor und hoffte, Morel würde nicht zu früh nach Hause kommen; blieb er tatsächlich mal für eine Schoppenlänge aus, so machte sie sich an diesen Tagen nichts daraus. Sie hatte immer zwei Mahlzeiten zu kochen, weil sie es für richtig hielt, daß die Kinder ihre Hauptmahlzeit mittags bekämen, während Morel sein Essen um fünf Uhr haben mußte. So hielt denn Mr. Heaton das Kind, während sie den Pudding anrührte oder die Kartoffeln schälte, und er mit ihr, während er sie die ganze Zeit über beobachtete, über die nächste Predigt sprach. Seine Gedankengänge waren merkwürdig und phantastisch. Sie pflegte ihn mit ihrer Einsicht wieder auf die Erde zurückzubringen. Sie sprachen über die Hochzeit zu Kana.

»Wenn Er zu Kana das Wasser in Wein verwandelte,« sagte er, »so ist das ein Sinnbild, daß das gewöhnliche Leben, ja selbst das Blut des verheirateten Mannes und der Frau, das vorher, wie das Wasser, nicht geisterfüllt gewesen war, nunmehr vom Heiligen Geiste erfüllet und wie Wein wird, weil, sobald die Liebe hinzutritt, die ganze geistige Verfassung des Menschen umgewandelt, vom Heiligen Geiste erfüllet und fast auch in seiner äußeren Form umgewandelt wird.«

Frau Morel dachte bei sich: »Jawohl, armer Kerl, seine junge Frau ist tot; darum verwandelt er seine Liebe in den Heiligen Geist.«

Sie hatten ihre erste Tasse Tee kaum halb aus, als sie das Schurren von Grubenstiefeln hörten.

»Guter Gott!« rief Frau Morel gegen ihren Willen.

Der Geistliche sah recht ängstlich aus. Morel trat ein. Er war ziemlich wütig. Er nickte dem Geistlichen, der aufstand, um ihm die Hand zu schütteln, ein »Wie jehts« zu.

»Ne,« sagte Morel und zeigte ihm seine Hände, »kiek dich det mal an. So 'ne Hand machste doch woll nich anfassen, wat? Da klebt doch zu ville Jrubenpech un Schaufeldreck dran.«

Der Geistliche errötete vor Verwirrung und setzte sich wieder hin. Frau Morel stand auf und trug den dampfenden Topf hinaus. Morel zog sich den Rock aus, zog seinen Armstuhl an den Tisch und setzte sich schwerfällig hin.

»Sind Sie müde?« fragte der Geistliche.

»Müde? ick sollts denken,« erwiderte Morel, »Sie wissen jar nich, wat müde sein heeßt, so wie ick müde bin.«

»Nein,« antwortete der Geistliche.

»Wieso, kieken Se mal hier,« sagte der Bergmann und zeigte auf die Schultern seines Grubenhemdes. »Nu is et all 'n bißken trocken, aber et is immer noch naß von Schweiß wie 'n Scheuerlappen. Fiehlen Se mal.«

»Meine Güte!« sagte Frau Morel. »Mr. Heaton mag dein ekliges Hemd gar nicht anfühlen.«

Der Geistliche streckte zaghaft die Hand aus.

»Ne, vielleicht lieber nich,« sagte Morel; »aber det is allens aus mich selber jekommen, ob ers will oder nich. Und alle Tage is mein Hemde jenau so klitschenaß. Haste nischt zu trinken für dein' Mann, Frau, wenn er ausjedörrt aus de Jrube nach Hause kommt.«

»Du weißt doch, du hast alles Bier ausgetrunken,« sagte Frau Morel und schenkte ihm Tee ein.

»Un konntst de nich mehr kriegen?« Mit einer Wendung zu dem Geistlichen – »man wird reene jebacken von all dem Schtoob, wissen Se, – reene verkleistert in so 'ne Kohlenjrube, man muß trinken, wenn man nach Hause kommt.«

»Sicher muß man das,« sagte der Geistliche.

»Se können aber zehne jejen eins wetten, 't is nischt für'n da.«

»Da ist Wasser – da ist Tee,« sagte Frau Morel.

»Wasser! Wasser macht eenen doch die Kehle nich wieder klar.«

Er goß sich die Untertasse voll Tee, pustete ihn und schlürfte ihn durch seinen großen, schwarzen Schnurrbart, worauf er tief seufzte. Dann goß er sich noch eine Untertasse voll und stellte seine Tasse auf den Tisch.

»Mein Tischtuch!« sagte Frau Morel und stellte sie auf einen Teller.

»Wenn man so müde nach Hause kommt, wie icke, denn macht man sich nischt aus Tischtücher,« sagte Morel.

»Schade!« rief seine Frau höhnisch.

Der ganze Raum roch nach Fleisch und Gemüse und Grubenzeug.

Er beugte sich zu dem Geistlichen hinüber, seinen großen Schnurrbart vorgeschoben, sein Mund sehr rot in dem schwarzen Gesicht.

»Mr. Heaton, wenn man den janzen Tag unten in det schwarze Loch jewesen is un immerzu uf die Kohle losjehauen hat, jawoll, die noch ville härter is als die Wand da ,...«

»Denn braucht man doch nicht drüber zu stöhnen,« warf Frau Morel ein.

Sie haßte ihren Mann, weil er, sobald ihm jemand zuhörte, anfing zu jammern und um Mitleid zu betteln. William, der dasaß und das Kleine fütterte, haßte ihn mit dem Haß jedes echten Jungen für falsches Getue und wegen der törichten Behandlung seiner Mutter. Annie hatte ihn nie leiden mögen, sie ging ihm einfach aus dem Wege.

Als der Prediger gegangen war, blickte Frau Morel auf ihr Tischtuch.

»'ne schöne Schweinerei,« sagte sie.

»Meinste, ick werr hiersitzen un die Arme 'runterbammeln lassen, bloß weil du 'nen Pfaffen zum Tee dahast?« brüllte er. Sie waren beide ärgerlich, aber sie sagte nichts. Der Kleine begann zu schreien, und Frau Morel stieß Annie, als sie einen Topf vom Herde nahm, aus Versehen an den Kopf, worauf das Mädchen zu heulen anfing und Morel sie anbrüllte. Mitten in diesem Getose sah William zu dem großen, unter Glas über dem Kamin hängenden Spruch auf und las mit Betonung:

»Gott segne unser Heim!«

Worauf Frau Morel von ihrem Versuche, das Kleine zu beruhigen, aufsprang, auf ihn losfahrend ihm ein paar an die Ohren gab und sagte: »Was hast du dich dazwischenzustecken?« Und dann setzte sie sich wieder hin und lachte, bis ihr die Tränen über die Backen liefen, während William dem Schemel, auf dem er gesessen hatte, ein paar Fußtritte versetzte und Morel brummelte:

»Det kann ick doch nu wieder nich sehen, wat da so ville bei zu lachen is.«

Als sie sich eines Abends unmittelbar nach dem Besuche des Geistlichen unfähig fühlte, nach einer neuen Vorstellung ihres Mannes an sich zu halten, nahm sie Annie und das Kleine und ging aus. Morel hatte William getreten, und das konnte sie als Mutter ihm nie vergeben.

Sie ging über die Schafbrücke und eine Ecke des Wiesengrundes nach dem Ballfelde. Die Wiesen erschienen wie eine weite Fläche voll reifen Abendlichtes, das dem fernen Mühlenwehr etwas zuflüsterte. Sie setzte sich auf eine Bank unter den Erlen auf dem Ballfelde, das Gesicht gegen Abend gekehrt. Vor ihr dehnte sich das grüne Ballfeld eben und fest wie der Spiegel eines Meeres von Licht aus. Kinder spielten in dem bläulichen Schatten des Zuschauerstandes. Hoch oben zogen eine Menge Krähen krächzend durch das sanfte Weben des Himmels heim. In langem Bogen senkten sie sich in die goldene Glut hinab, sich wieder zusammenziehend, krächzend, wieder abbiegend, wie schwarze Flecken auf einem langsamen Strudel, über einer Baumgruppe, die einen dunklen Fleck auf der Weide darstellte.

Ein paar Herren übten sich, und Frau Morel konnte jeden Schlag gegen den Ball vernehmen und die Stimmen der Männer, sobald sie sich etwas erhoben; sie konnte ihre weißen Gestalten schweigend über das Grün dahinziehen sehen, auf dem die tieferen Schatten bereits wie Dunst lagerten. Weiterhin auf einem Vorwerk war die eine Seite der Heuhaufen noch hell erleuchtet, die andere bereits blaugrau. Ein Wagen voller Garben schwankte winzig klein durch das schmelzende gelbe Licht.

Die Sonne war im Untergehen. An jedem hellen Abend wurden die Hügel von Derbyshire von dem roten Sonnenuntergang in Brand gesteckt. Frau Morel beobachtete die aus dem strahlenden Himmel herniedersinkende Sonne, wie sie in der Höhe ein weiches Blütenblau hinterließ, während der Westen sich rötete, als flösse alles Feuer hier hernieder und ließe die Himmelsglocke in fleckenlosem Blau zurück. Einen Augenblick lang hoben sich die Beeren der Ebereschen jenseits des Feldes feurig von den dunklen Blättern ab. Ein paar Korngarben standen in einer Ecke des Brachfeldes da wie lebendig; es kam ihr vor, als ob sie sich neigten; vielleicht würde ihr Junge ein Joseph werden. Im Osten schwebte eine Spiegelung des Sonnenunterganges rosarot gegenüber dem Scharlach des Westens. Die großen Heuhaufen auf dem Hange des Hügels, die in die Glut hinausstrebten, wurden kahl.

Für Frau Morel war dies einer jener stillen Augenblicke, in denen jede kleine Mühsal schwindet und die Schönheit der Dinge sichtbar wird, und sie gewann den Frieden und die Kraft, sich selbst zu betrachten. Hin und wieder schoß eine Schwalbe dicht an ihr vorüber. Hin und wieder kam Annie mit einer Handvoll Erlenbeeren herbei. Der Kleine zappelte auf seiner Mutter Schoß und griff mit den Händen nach dem Licht.

Frau Morel blickte auf ihn nieder. Sie hatte dies Kleine gefürchtet wie ein Verhängnis, wegen ihrer Empfindungen gegen ihren Mann. Und nun empfand sie dem Kinde gegenüber ganz seltsam. Ihr Herz war seinetwegen beschwert, fast als wäre es ungesund oder mißgestaltet. Und doch kam es ihr ganz wohl vor. Aber sie bemerkte ein wunderliches Zusammenziehen der kindlichen Brauen und etwas eigenartig Schweres in seinen Augen, als versuche er etwas zu verstehen, was ihm Schmerzen mache. Wenn sie in des Kindes dunkle, sinnende Augensterne sah, hatte sie ein Gefühl, als lege sich ihr eine Last aufs Herz.

»Er sieht aus, als dächte er über was nach – janz traurig,« sagte Frau Kirk.

Plötzlich schmolzen die schweren Gedanken in dem Mutterherzen beim Anschauen des Kleinen dahin in leidenschaftlichem Kummer. Sie neigte sich über ihn, und ein paar Tränen tröpfelten rasch aus der tiefsten Tiefe ihres Herzens hervor. Der Kleine hob seine Fingerchen.

»Mein Lamm!« weinte sie leise.

Und in diesem Augenblicke fühlte sie irgendwo im Innersten ihrer Seele ihres Mannes und ihre eigene Schuld.

Der Kleine sah zu ihr auf. Er hatte blaue Augen, gleich den ihren, aber sein Blick war schwer, starr, als wüßte er, daß irgend etwas den Höhenflug seiner Seele gestört habe.

Zart lag der Kleine ihr im Arm. Seine tiefblauen Augen sahen unentwegt zu ihr auf ohne zu zwinkern und schienen ihre innersten Gedanken hervorzuziehen. Sie liebte ihren Gatten nicht mehr; sie hatte sich nicht nach diesem Kinde gesehnt, und da lag es ihr im Arm und riß an ihrem Herzen. Sie hatte ein Gefühl, als sei die Nabelschnur, die seinen gebrechlichen kleinen Leib mit dem ihren verbunden hatte, nicht gerissen. Eine Woge heißer Liebe zu dem Kleinen überflutete sie. Sie hielt ihn sich fest gegen Gesicht und Brust. Mit aller Macht, mit ganzer Seele wollte sie an ihm die Tatsache wieder gut machen, daß sie ihn ungeliebt zur Welt gebracht habe. Nun er da war, wollte sie ihn um so mehr lieben, ihn in ihrer Liebe auf Händen tragen. Seine klaren, verständigen Augen verursachten ihr Schmerz und Furcht. Wußte er um sie Bescheid? Hatte er gelauscht, als er noch unter ihrem Herzen lag? Lag in seinem Blick ein Vorwurf? Sie fühlte sich das Mark in den Knochen zergehen vor Furcht und Schmerz.

Wieder kam es ihr zum Bewußtsein, wie rot die Sonne auf dem jenseitigen Hügelrand lag. Plötzlich hielt sie den Kleinen hoch in den Händen.

»Sieh!« sagte sie. »Sieh mal, mein Allerschönster!«

Fast wie erlöst stieß sie den Kleinen der rosenroten, pulsenden Sonne entgegen. Sie sah, wie er die kleine Faust hob. Dann legte sie ihn wieder an ihren Busen, beinahe beschämt von der Regung, ihn dorthin zurückzugeben, von wo er gekommen war.

»Wenn er am Leben bleibt,« dachte sie bei sich, »was wird aus ihm werden – was wird er werden?«

Ihr Herz war voller Sorge.

»Ich will ihn Paul nennen,« sagte sie plötzlich; warum, wußte sie nicht.

Nach einer Weile ging sie heim. Ein feiner Schatten war über die tiefgrüne Wiese gebreitet und verdunkelte alles.

Wie sie erwartet hatte, fand sie das Haus leer. Aber gegen zehn war Morel wieder zu Hause, und so nahm der Tag wenigstens ein friedliches Ende.

Walter Morel war um diese Zeit außerordentlich empfindlich. Seine Arbeit schien ihn zu erschöpfen. Kam er heim, so sprach er zu niemand höflich. War das Feuer etwas niedrig, so schimpfte er deswegen; er brummte über das Essen; schwatzten die Kinder, so brüllte er sie auf eine Art und Weise an, die ihrer Mutter Blut zum Kochen brachte und sie ihn hassen ließ.

Am Sonntag war er um elf noch nicht zu Hause. Der Kleine war unwohl und unruhig und schrie, wenn er hingelegt wurde. Frau Morel, todmüde und noch schwach, besaß kaum Herrschaft über sich selbst.

»Ich wollte, der Ekel käme nach Hause,« sagte sie müde bei sich.

Schließlich fiel das Kind in ihren Armen in Schlaf. Sie war zu müde, um ihn in seine Wiege zu bringen.

»Aber ich werde nichts sagen, mag er kommen, wann er will,« sagte sie. »Das bringt mich nur auf; ich werde nichts sagen. Aber das weiß ich, tut er irgend etwas, dann bringts mein Blut zum Kochen,« fügte sie bei sich hinzu.

Sie seufzte, als sie ihn kommen hörte, als wäre er etwas Unerträgliches. Er war aus Rache nahezu betrunken. Sie hielt den Kopf über das Kind gebeugt, als er eintrat, in dem Wunsche, ihn nicht zu sehen. Aber wie ein glühendheißer Blitz durchfuhr es sie, als er im Vorbeigehen gegen die Anrichte torkelte, so daß das Zinn anfing zu rasseln, und als er dann nach den weißen Knöpfen der Töpfe griff, um sich an ihnen zu halten. Er hing seinen Hut und Mantel auf, kam dann wieder und blieb in einiger Entfernung stehen, sie wütend anstierend, wie sie über das Kind gebeugt dasaß.

»Is nischt zu essen im Hause?« fragte er unverschämt, als wäre sie sein Dienstmädchen. Auf gewissen Stufen seiner Betrunkenheit ahmte er gern eine gezierte, wohlgedrechselte städtische Redeweise nach. In diesem Zustande haßte Frau Morel ihn am meisten.

»Du weißt ja, was im Hause ist,« sagte sie, so kalt, daß es ihr ganz unpersönlich vorkam.

Er stand und stierte sie ohne einen Muskel zu bewegen an.

»Ich habe höflich gefragt, und ich erwarte eine höfliche Antwort,« sagte er geziert.

»Die hast du ja gekriegt,« sagte sie, ihn noch immer übersehend.

Er stierte sie weiter an. Dann kam er unsicher vorwärts. Mit einer Hand stützte er sich auf den Tisch und zerrte mit der andern das Schubfach des Tisches auf, um ein Messer zum Brotschneiden herauszuholen. Das Schubfach blieb stecken, weil er es schief gezerrt hatte. In seiner Wut riß er so daran, daß es ganz und gar herausflog und Löffel, Gabeln, Messer, eine Unmenge Metallsachen mit lautem Krach auf den Steinboden flogen. Der Kleine fuhr krampfhaft zusammen.

»Was machst du, du klotziger, besoffener Narr?« schrie die Mutter.

»Denn hätt'st de mich das Dreckzeug selber kriegen sollen. Aufstehen solltst de, wie andere Weiber, un deinen Mann aufwarten.«

»Dir aufwarten – dir aufwarten?« schrie sie. »Ja, das möchte ich wohl sehen.«

»Jawoll, un ick will dichs schon beibringen, wat de zu tun hast. Mich aufwarten, jawoll, mich aufwarten sollste ,...«

»Niemals, Herr Graf! Lieber einem Hunde vor der Tür!«

»Wat – wat?«

Er versuchte das Schubfach wieder einzusetzen. Bei ihren letzten Worten wandte er sich um. Sein Gesicht war blutrot, seine Augen blutunterlaufen. Eine schweigende Sekunde stierte er sie drohend an.

»P!« machte sie rasch, voller Verachtung.

In seiner Aufregung riß er wieder an dem Schubfach. Es fiel heraus, schlug ihm heftig gegen das Schienbein, und zur Vergeltung schleuderte er es nach ihr.

Eine der Ecken traf sie über der Braue, als das flache Schubfach krachend in die Feuerstelle fuhr. Sie schwankte und fiel beinahe betäubt vom Stuhle. Sie war angeekelt bis in die Seele hinein; fest preßte sie das Kind an ihren Busen. Ein paar Augenblicke verrannen; dann kam sie mit einem Ruck wieder zu sich. Der Kleine weinte kläglich. Ihre linke Braue blutete ziemlich erheblich. Als sie mit schwindelndem Hirn auf das Kind niedersah, sickerten ein paar Blutstropfen in sein weißes Tuch; aber der Kleine war wenigstens nicht verletzt. Sie neigte den Kopf, um sich im Gleichgewicht zu halten, und das Blut rann ihr ins Auge.

Walter Morel blieb stehen, wie er gestanden hatte, mit einer Hand auf dem Tisch und leerem Blick. Sobald er seines Gleichgewichts genügend sicher war, kam er zu ihr herüber, schwankte und stützte sich auf die Rücklehne ihres Schaukelstuhles, so daß sie fast herausflog; und indem er sich über sie vorneigte, sagte er in einem Tonfall bekümmerter Verwunderung:

»Hats dir jetroffen?«

Er schwankte abermals, als wollte er auf das Kind fallen. Mit dem Wendepunkt hatte er alles Gleichgewicht verloren.

»Geh weg,« sagte sie, um ihre Geistesgegenwart kämpfend.

Er stieß auf. »Laß – laß doch mal sehen,« sagte er mit abermaligem Schlucken.

»Geh weg!« schrie sie.

»Laß mir – laß mir doch mal sehen, Mächen.«

Sie roch, was er getrunken hatte, und fühlte die Unsicherheit seines tastenden Griffes an der Rücklehne des Schaukelstuhles.

»Geh weg,« sagte sie und stieß ihn schwach von sich.

Unsicher auf den Füßen blieb er stehen und sah auf sie. Ihre ganze Kraft zusammenraffend stand sie auf, das Kind auf dem Arm. Mit einer harten Willensanstrengung, sich wie im Schlafe bewegend, ging sie in die Spülküche hinüber und wusch sich dort ihr Auge eine Minute mit kaltem Wasser; aber sie war zu schwindlig. In ihrer Furcht, zu fallen, ging sie wieder auf den Schaukelstuhl zu, in jeder Fiber zitternd. Gefühlsmäßig preßte sie das Kind an sich.

Mit Mühe war es Morel gelungen, das Schubfach wieder in seine Höhlung zu bringen, und auf den Knien liegend grabbelte er mit stumpfen Pfoten nach den zerstreuten Löffeln umher.

Ihre Braue blutete noch. Jetzt stand Morel auf und trat mit vornübergebeugtem Kopfe zu ihr.

»Wat hat et dir denn jetan, Mächen?« sagte er in ganz jämmerlichem, demütigem Ton.

»Du kannst ja sehen, was es getan hat,« antwortete sie.

Vornübergebeugt stand er da, auf beide Hände gestützt, die seine Beine gerade oberhalb der Knie umspannten. Er kniff die Augen zusammen, um sich die Wunde anzusehen. Sie fuhr vor der Annährung seines Gesichts mit dem großen Schnurrbart zurück, indem sie ihr eigenes Gesicht so weit wie möglich abwendete. Als er sie so kalt und gefühllos wie aus Stein dasitzen sah, wurde ihm elend vor geistiger Schwäche und Hoffnungslosigkeit. Trostlos wandte er sich ab, als er einen Tropfen Blut aus der weggewendeten Wunde in das zarte, glitzernde Haar des Kleinen fallen sah. Wie bezaubert beobachtete er den schweren Tropfen in dem glitzernden Wölkchen hängen und dann die zarten Fädchen niederziehen. Wieder fiel ein Tropfen. Der würde auf des Kleinen Kopfhaut durchdringen. Wie verzaubert beobachtete er weiter und fühlte das Durchsickern; dann endlich brach seine Männlichkeit zusammen.

»Und dies Kind?« war alles, was seine Frau zu ihm sagte.

Aber ihr leiser, eindringlicher Tonfall beugte seinen Kopf noch tiefer. Sie wurde weich: »Hol mir etwas Watte aus der mittleren Schublade,« sagte sie.

Gehorsam stolperte er von dannen, um gleich mit einem Bausch Watte wieder da zu sein, den sie am Feuer absengte und ihn sich dann auf die Stirn legte, während sie mit dem Kleinen auf dem Schoß sitzenblieb.

»Nun das reine Grubentuch da.«

Wieder grabbelte und fummelte er in der Schublade herum und kam gleich darauf mit einem schmalen, roten Tuch wieder. Sie nahm es und fing mit zitternden Fingern an, es sich um den Kopf zu binden.

»Laß michs dich doch umbinden,« bat er demütig.

»Ich kanns wohl selbst,« erwiderte sie. Als sie damit fertig war, ging sie nach oben, nachdem sie ihm noch aufgetragen hatte, das Feuer zu bedecken und die Tür zu schließen.

Am Morgen sagte Frau Morel: »Ich habe mich an der Klinke vom Kohlenverschlag gestoßen, als ich im Dunklen nach dem Schürhaken suchte, denn die Kerze war ausgegangen.« Ihre beiden Kleinen sahen mit weiten, bekümmerten Augen zu ihr auf. Sie sagten nichts, aber ihre geöffneten Lippen schienen unbewußt das Trauerspiel auszudrücken, das sie empfanden.

Am nächsten Tage blieb Walter Morel bis nahe zur Essenszeit im Bett. Er dachte nicht mehr daran, was er abends vorher angerichtet hatte. Er dachte fast an gar nichts, aber daran wollte er nicht denken. Er lag und quälte sich wie ein knurriger Hund. Er hatte sich selbst am wehesten getan; und seine Verletzung war um so schwerer, als er nie ein Wort zu ihr sagen oder seinem Kummer Ausdruck geben könnte. Er versuchte, sich aus dieser Klemme herauszuziehen. ›Es war ja ihre eigene Schuld,‹ sagte er zu sich. Nichts aber konnte verhüten, daß sein innerstes Gewissen ihm eine Strafe auferlegte, die sich wie Rost in sein Gemüt einfraß und von der er nur beim Trinken Erleichterung verspürte.

Er fühlte sich, als sei es ihm unmöglich, aufzustehen oder ein Wort zu sprechen oder sich zu bewegen, als könne er nur noch wie ein Klotz liegenbleiben. Außerdem hatte er heftige Kopfschmerzen. Es war Sonnabend. Gegen Mittag stand er auf, schnitt sich in der Speisekammer etwas Brot ab, aß es mit gesenktem Kopfe, zog dann seine Stiefel an und ging aus, um gegen drei Uhr etwas angeheitert und leichteren Sinnes heimzukehren; dann wieder stracks zu Bett. Um sechs Uhr abends stand er wieder auf, trank Tee und ging gleich wieder aus.

Sonntag gings ebenso: im Bett bis Mittag, im ›Palmerston‹ bis halb drei, und zu Bett; kaum daß er ein Wort sprach. Als Frau Morel gegen vier Uhr nach oben ging, um ihr Sonntagskleid anzuziehen, schlief er fest. Sie hätte Mitleid mit ihm gehabt, wenn er nur einmal gesagt hätte, ›Frau, es tut mir leid.‹ Aber nein; er beharrte dabei, es wäre ihre Schuld gewesen. Und so marterte er sich selbst. Sie ließ ihn daher einfach allein. Wie ein Keil schob der Trotz sich zwischen sie, und sie war die Stärkere.

Die Hausgenossen begannen Tee zu trinken. Sonntag war der einzige Tag, an dem sie sich zusammen zum Essen setzten.

»Steht denn Vater noch nicht auf?« fragte William.

»Laß ihn nur liegen,« erwiderte die Mutter.

Über dem ganzen Hause lag ein Gefühl des Jammers. Die Kinder atmeten eine vergiftete Luft ein, und sie fühlten sich elend. Sie waren völlig ratlos, wußten nicht, was sie anfangen, was sie spielen sollten.

Sobald Morel aufwachte, stand er auf. Das blieb sein ganzes Leben lang bezeichnend für ihn. Er war ganz Tätigkeit. Die entkräftende Untätigkeit zweier Morgen erstickte ihn.

Es war beinahe sechs Uhr, als er herunterkam. Diesmal trat er ohne Zögern ein, seine schwächliche Empfindlichkeit war wieder hart geworden. Er kehrte sich nicht länger daran, was die Seinen über ihn dachten oder fühlten.

Das Teegeschirr stand noch auf dem Tisch. William las laut aus der Kinderzeitung vor, und Annie hörte zu und fragte fortwährend »warum?« Beide Kinder verstummten, als sie den dumpfen Laut ihres sich auf Strümpfen nähernden Vaters hörten, und duckten sich zusammen, als er eintrat. Und doch war er für gewöhnlich ganz nachsichtig gegen sie.

In roher Weise aß Morel für sich allein. Er aß und trank geräuschvoller als notwendig. Niemand sprach mit ihm. Das Leben der Hausgenossenschaft erstarb, schrumpfte zusammen, verstummte bei seinem Eintritt. Aber er machte sich nichts mehr aus seiner Entfremdung.

Sowie er mit seinem Tee fertig war, stand er hurtig auf, um auszugehen. Dies Hurtige war es, diese Eile, wegzukommen, die Frau Morel so elend machten. Als sie ihn gründlich mit dem kalten Wasser herumplantschen hörte, das hastige Kratzen seines stählernen Kammes gegen den Rand der Waschschüssel, wenn er sich das Haar anfeuchtete, da schloß sie die Augen vor Abscheu. In der Bewegung des Vornüberbeugens beim Zuschnüren seiner Stiefel lag eine gemeine Freude, die ihn von dem zurückhaltenden, aufmerksamen Rest der Seinen schied. Stets wich er dem Kampfe mit sich selbst aus. Selbst im tiefsten Innern seines Herzens entschuldigte er sich mit dem Wort: ›Hätte sie nicht das und das gesagt, wäre so was nie vorgekommen. Nun hat sie's ja, wie sie's haben wollte.‹ Die Kinder mußten sich Zwang antun, um seine Vorbereitungen abzuwarten. Sobald er fort war, seufzten sie erleichtert auf.

Er zog die Tür hinter sich zu und war froh. Es war ein regnerischer Abend. Im ›Palmerston‹ würde es gemütlicher sein. Voller Vorfreude eilte er vorwärts. Sämtliche Schieferdächer des ›Grundes‹ glänzten schwarz vor Nässe. Die Wege, immer schwarz von Kohlenstaub, waren voll schwarzen Schlammes. Er eilte weiter. Die Fenster im ›Palmerston‹ waren beschlagen. Der Eingang war voll nasser Fußspuren. Aber die Luft war warm, wenn auch schlecht, und voll von Stimmengewirr, Biergeruch und Rauch.

»Wat willste haben, Walter?« rief eine Stimme, sobald Morel in der Tür erschien.

»Oh, Jim, mein Junge, wo kommst denn du her?«

Die Männer räumten ihm einen Sitz ein und empfingen ihn mit Wärme. Er war froh. In ein oder zwei Minuten hatten sie alles Verantwortlichkeitsgefühl aus ihm herausgeschmolzen, alles Schamgefühl, alle Sorgen, und er war fix und fertig für einen vergnügten Abend.

Am folgenden Mittwoch hatte Morel keinen Penny. Er hatte Angst vor seiner Frau. Seit er sie verwundet hatte, haßte er sie. Er wußte nichts mit sich anzufangen an diesem Abend, da er nicht mal zwei Pence besaß, um in den ›Palmerston‹ gehen zu können, und bereits tief in Schulden steckte. Als daher seine Frau mit dem Kleinen unten im Garten war, suchte er im obersten Kommodenauszug nach ihrer Börse, die sie dort aufbewahrte, fand sie und sah hinein. Sie enthielt eine halbe Krone, zwei halbe Pennies und ein Sechspencestück. Also nahm er das Sechspencestück, legte die Börse sorgfältig wieder weg und ging fort.

Als sie am nächsten Tage den Grünkramhändler bezahlen wollte, suchte sie in ihrer Börse nach dem Sechspencestück, und das Herz fiel ihr in die Schuhe. Sie setzte sich hin und dachte nach: ›War denn nicht ein Sechspencestück da? Ich hatte es doch nicht ausgegeben, nicht wahr? Und hab ich es denn sonst irgendwo liegen lassen?‹

Sie war in großer Verlegenheit. Überall suchte sie danach herum. Und beim Suchen drang ihr die Überzeugung ins Herz, ihr Mann habe es genommen. Was sie in der Börse hatte, war alles Geld, das sie besaß. Daß er es ihr aber so entwenden sollte, war unerträglich. Zweimal hatte er es schon vorher getan. Das erstemal hatte sie ihn nicht beschuldigt, und am Wochenschluß hatte er den Schilling wieder hingelegt. Auf diese Weise hatte sie gemerkt, daß er es gewesen war. Das zweitemal hatte er es nicht zurückgezahlt.

Diesmal war es zuviel, fühlte sie. Als er gegessen hatte – er kam heute frühzeitig nach Hause – sagte sie kalt zu ihm:

»Hast du gestern abend sechs Pence aus meiner Börse genommen?«

»Ick!« sagte er und sah ganz beleidigt auf. »Ne, ick nich! Ick hab deine Börse nich mit Dogen gesehen.«

Aber sie merkte ihm an, daß er log.

»Wieso, du weißt doch, daß du es getan hast,« sagte sie ruhig.

»Ick sage dir doch, ick habe 't nich jetan,« brüllte er. »Biste schon wieder über mir her, du? Ick hab jenug davon.«

»Also maust du mir sechs Pence aus meiner Börse, während ich die Wäsche abnehme.«

»Dafor werr 'ck dir bezahlen,« sagte er und stieß seinen Stuhl zurück, ganz verzweifelt. Er kramte voller Aufregung herum und wusch sich, dann ging er entschlossen nach oben. Im Augenblick kam er angezogen wieder herunter, mit einem dicken Bündel in einem riesigen blauen Taschentuch.

»Un nu,« sagte er, »magste mir wiedersehen, wenn de kannst.«

»Das wird wohl eher sein, als mir lieb ist,« erwiderte sie; und damit zog er mit seinem Bündel aus dem Hause. Sie blieb in leichtem Zittern, aber das Herz bis zum Rande voll Verachtung, sitzen. Was sollte sie machen, wenn er auf eine andere Grube ginge und sich mit einer andern Frau einließe? Aber sie kannte ihn zu gut – das vermochte er nicht. Sie war seiner todsicher. Trotzdem nagte etwas an ihrem Herzen.

»Wo is Vater?« sagte William, als er aus der Schule nach Hause kam.

»Der ist weggelaufen,« erwiderte die Mutter.

»Wohin?«

»I, das weiß ich nicht. Er hat ein Bündel in einem blauen Taschentuch mitgenommen und sagte, er käme nicht wieder.«

»Was fangen wir dann an?« heulte der Junge.

»I, da kümmre du dich nicht drum, der geht nicht weit.«

»Wenn er aber nun nich wiederkommt,« jammerte Annie.

Und sie und William zogen sich aufs Sofa zurück und weinten. Frau Morel blieb sitzen und lachte.

»Ihr beiden Jammerlappen!« rief sie. »Ihr werdet ihn schon wieder zu sehen kriegen, ehe die Nacht herum ist.«

Aber die Kinder waren untröstlich. Die Dämmerung kam. Frau Morel wurde ängstlich aus reiner Müdigkeit. Ein Teil ihrer selbst sagte, es wäre ja eine Erlösung, wenn sie ihn zum letzten Male gesehen hätte; ein anderer sorgte sich wegen des Unterhalts der Kinder; und in ihrem Innern konnte sie ihn auch noch nicht ganz ziehen lassen. Im Grunde wußte sie ganz genau, er könne nicht gehen.

Als sie indessen nach dem Kohlenschuppen am Ende des Gartens hinunterging, fühlte sie etwas hinter der Tür. Sie sah daher nach. Und da lag im Dunkeln das dicke blaue Bündel. Sie mußte sich auf einen Kohlenklumpen vor dem Bündel hinsetzen und lachen. Jedesmal, wenn sie es so fett und dabei so verschämt daliegen sah, wie es sich im Dunkeln in die Ecke drückte und seine Enden wie herabhängende Ohren um den Knoten herumflatterten, dann mußte sie wieder lachen. Sie fühlte sich erleichtert.

Frau Morel saß und wartete. Sie wußte, er hatte kein Geld; wenn er also irgendwo einkehrte, mußte er Schulden machen. Sie war seiner sehr müde – todmüde. Er hatte nicht mal den Mut gehabt, sein Bündel bis hinten in den Hof mitzunehmen.

Während sie noch darüber nachdachte, so gegen neun Uhr, öffnete er die Tür und trat schüchtern und doch verdrossen ein. Sie sagte kein Wort. Er zog sich den Rock aus und schlüpfte in seinen Armstuhl, wo er sich die Stiefel auszuziehen begann.

»Hol nur lieber dein Bündel, ehe du dir die Stiefel ausziehst,« sagte sie ruhig.

»Du kannst deinen Schöpfer danken, det ick heute abend noch mal wiederjekommen bin,« sagte er, verdrossen und doch mit einem Versuch, eindrucksvoll mit gesenktem Kopfe zu ihr aufzusehen.

»Wieso? Wo hättest du denn wohl hingewollt? Du mochtest ja dein Bündel nicht mal mit bis hinten in den Hof nehmen,« sagte sie.

Er sah so dämlich aus, daß sie sich nicht einmal über ihn ärgern konnte. Er fuhr fort sich die Stiefel auszuziehen und sich zum Schlafengehen vorzubereiten.

»Ich weiß ja nicht, was in deinem blauen Taschentuch ist,« sagte sie. »Wenn du es aber da liegen läßt, holen die Kinder es sich morgen früh.« Worauf er aufstand und nach draußen ging, um sofort wieder zurückzukommen und mit abgewandtem Gesicht durch die Küche nach oben zu eilen. Als Frau Morel ihn schleunigst mit seinem Bündel durch die innere Tür sausen sah, lachte sie innerlich; aber ihr Herz war bitter, weil sie ihn lieb gehabt hatte.


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