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Katherine Farquhar war mit ihren vierzig Jahren eine hübsche Frau: nicht mehr schlank, aber anziehend in ihrer sanften und weiblich reifen Fülle. Die französischen Gepäckträger rannten, um ihr gefällig zu sein; ihnen war es schon ein lustvolles Vergnügen, auch nur ihre Koffer tragen zu dürfen. Und sie gab ihnen lächerlich hohe Trinkgelder – aus zwei Gründen: einmal, weil sie es nie gelernt hatte, mit Geld und Geldeswert zu rechnen; dann, weil sie immer von krankhafter Angst geplagt war, daß sie irgendwen nicht nach Verdienst belohnte, ganz besonders aber einen Mann, der eifrig bemüht war, ihr zu dienen.
Es machte ihr wirklich Spaß, zu sehen, mit welchem Diensteifer diese Franzosen – Franzosen aller Art – um sie bemüht waren, mit »Madame« hier und »Madame« dort. Das war eine geradezu wollüstige Untertänigkeit. Und Katherines Vergnügen daran war verständlich, denn schließlich gehörte sie zu den »Boches«. Fünfzehn Jahre Ehe mit einem Engländer – oder genauer genommen mit zwei Engländern – hatten ihre Rassezugehörigkeit nicht zu tilgen vermocht. Sie war die Tochter eines deutschen Barons – und war es geistig wie körperlich immer geblieben, wenn auch England ihre Lebensheimat geworden war. Und sicherlich sah man, daß sie eine Deutsche war: an ihren frischen Farben, ihrem kräftigen, vollen Wuchs. Und doch war sie, wie die meisten Bewohner dieser Welt, ein Mischblut; auch russisches und französisches Blut floß in ihren Adern. Und sie hatte so lange bald in dem, bald in jenem Lande gelebt, daß sie gegen ihre Umgebung einigermaßen gleichgültig geworden war. So hätte sich vielleicht für die Pariser eine Entschuldigung finden lassen, wenn sie so eifrig zu ihrem Dienst herbeirannten und ein lustvolles Vergnügen darin fanden, eine Droschke für sie herbeizuholen oder ihr im Autobus einen Sitzplatz abzutreten oder ihr Gepäck zu tragen oder ihr die Speisekarte zum Lesen hinzuhalten. Immerhin – ihr machte es Spaß. Und sie mußte zugeben, daß sie sie nett fand, diese Pariser. Sie hatten so ihre eigene Art von Männlichkeit, wenn es auch nicht die englische Art war; und wenn eine Frau hübsch aussah und, wie man so sagt, mollig war, standen sie sogleich in Flammen und überboten einander an Großmut. Katherine fand es durchaus begreiflich, daß die Franzosen sich gegen die trockenen, hart wirkenden, lebenstüchtigen Engländerinnen und Amerikanerinnen regelrecht grob benahmen. Die französische Anschauung gefiel ihr; eine allzu kräftig betonte Fähigkeit, sich selbst zu helfen, ist ein unangenehmer Zug im Bilde einer Frau.
Auf der Gare de l'Est wurde natürlich bei jedem Reisenden vorausgesetzt, daß er ein »Boche« war, und die Gepäckträger trugen eine Anmaßlichkeit zur Schau, die durchaus jungenhaft wirkte; das war bei ihnen schon fast zum Brauch geworden. Immerhin gab es das bekannte Wettrennen um die lustvolle Auszeichnung, Katherine Farquhar zu ihrem Sitz in der ersten Klasse geleiten zu dürfen. Madame reiste nämlich allein.
Sie fuhr über Straßburg nach Deutschland und wollte ihre Schwester in Baden-Baden treffen. Philip, ihr Gatte, war ebenfalls in Deutschland und sammelte irgend welche »Informationen« für seine Zeitung. Katherine war dieser Dinge ein bißchen überdrüssig – der Zeitungen und der »Informationen«, die zu ihrer Fütterung aus der blauen Luft gewonnen werden. Aber Philip war recht findig, und er war ein kleiner Jemand in der Welt.
Katherine hatte erkennen müssen, daß ihre Welt fast ausschließlich aus solchen kleinen Jemanden bestand. Sie lebte nicht in den Bezirken, wo die Niemande hausen – hatte es nie getan. Und die Jemande mit dem großen »J« am Anfang waren sämtlich zuverlässig tot. Sie kannte die Welt von heute hinlänglich, um zu wissen, daß sie nicht die mindeste Absicht hat, sich einen großen Jemand gefallen zu lassen; daß sie vielmehr viele kleine Niemande und eine ausreichende Anzahl von kleinen Jemanden haben will. Und Katherine fand das schließlich ganz in der Ordnung.
Zuweilen wurde sie von unbestimmten Befürchtungen heimgesucht.
Paris zum Beispiel, mit seinem Louvre und seinem Luxembourg und seiner Notre-Dame, schien für einen Jemand geschaffen. Es schrie geradezu nach einem beherrschenden Jemand; gespenstisch war das. All sein kleines Mannsvolk aber, die Niemande wie die Jemande, war wie die Spatzen, die sich zwitschernd um Krumen zanken und ihre Misthäufchen auf die Palastsimse fallen lassen.
Paris erinnerte Katherine an ihren ersten Gatten, Alan Anstruther, den rothaarigen kampflustigen Kelten, Vater ihrer beiden erwachsenen Kinder. Alan war von der angeborenen und bemerkenswert kräftigen Überzeugung erfüllt, daß er hoch über den üblichen Maßstäben stand. Katherine begriff nie ganz, wie er zu dieser Überzeugung kam. Sohn eines schottischen Baronets und Hauptmann in einem Hochländer-Regiment zu sein, bedeutete, schien ihr, noch keine atemraubende Größe. Daß er in Uniform hübsch aussah, wenn er mit schwingendem Kilt und blanken blauen Augen daherkam, war zuzugeben. Selbst völlig nackt und ohne allen Aufputz hatte er eine verwegene, starkknochige, bezwingende Männlichkeit ganz eigener Art. Das einzige, was Katherine nie ganz einging, war seine stumme und unzähmbar anmaßliche Voraussetzung, daß er überall als der Erstgeborene anzuerkennen und von der Natur zum Herrn bestimmt sei. Im übrigen war er ein kluger Mann und durchaus bereit, anzunehmen, daß General A. oder Oberst B. unter Umständen wirklich den Vorrang vor ihm verdiente. Bis er mit General A. oder Oberst B. in unmittelbare Berührung kam. Worauf sich sogleich die Brauen über den hochmütigen blauen Augen in seinem knochigen Gesicht hoben und seine dienstliche Ehrerbietung einen Anflug von Verachtung bekam.
Ob zum Herrn geboren oder nicht – er hatte jedenfalls nicht eigentlich das, was man Erfolg im Leben nennt. Katherine hatte ihn geliebt, und er hatte sie geliebt: das war unbestreitbar. Wenn es aber um die Frage der angeborenen Herrscheransprüche ging, so stand noch keineswegs fest, ob es mit ihm oder mit ihr schlimmer bestellt war. Denn Katherine, liebenswürdig und mit der Selbstverständlichkeit einer Bienenkönigin, beanspruchte das Recht auf tiefste und höchste Verehrung durchaus für sich. Alan war zu unnachgiebig und hochmütig gewesen, um viel dazu zu sagen. Zuweilen aber stand er da und betrachtete sie in stummer Wut, Verwunderung und Entrüstung. Diese staunende Entrüstung war beinahe zu viel für sie gewesen. Für was hält er sich denn eigentlich? dachte sie oft.
Er war einer von den harten, gescheiten Schotten, die einen Hang zum Philosophischen, aber nicht die Spur von Gefühlsduselei haben. Die Verachtung, die er für Nietzsche empfand, war für Katherine unerträglich: denn sie war eine Anbeterin Nietzsches. Alan pflanzte sich trotzig auf wie eine Säule aus Felsgestein und erwartete, daß die Fluten der zeitgenössischen Welt vor ihm zurückweichen sollten. Was den Fluten nicht einfiel.
Infolgedessen widmete er sich der Sternkunde, starrte durch ein Fernrohr und erforschte die Welten jenseits der Weltgrenzen. Es schien ihm Trost zu spenden.
Nach zehnjähriger Ehe hatten sie dann aufgehört, miteinander zu leben, obwohl sie beide leidenschaftlichen Blutes waren. Aber sie waren auch beide zu stolz und zu unversöhnlich, als daß eins sich dem anderen hätte beugen können; und sie waren viel zu hochmütig, um sich irgend einem Außenstehenden zu beugen.
Alans Freund Philip Farquhar war ebenfalls Schotte; die beiden kannten sich schon von der Universität her. Philip hatte ursprünglich Verteidiger werden wollen, war dann aber umgesattelt und hatte sich als Journalist einen Namen gemacht. Er war ein kleiner schwarzer Hochländer von der verschlagenen Art, gescheit und kundig. Dieser Ausdruck des Wissens in seinen dunklen Augen, der spürbare Strom von Geheimnis und Heimlichkeit, der von dem dunkelhaarigen kleinen Manne ausging, machte ihn anziehend für Frauen. Aber er vermochte, im Gegensatz dazu, bei anderen auch ein starkes Empfinden zu erwecken, daß er von warmer Zuneigung und Opferwilligkeit erfüllt sei – wie ein Hund, wenn er einen Menschen liebt. Diese Fähigkeit stand ihm anscheinend nach seinem Belieben zu Gebote. Und Katherine, die ihn Jahre hindurch kühl behandelt, ja ein wenig verachtet hatte, verfiel schließlich dem Zauber des dunkelhaarigen verschlagenen kleinen Mannes.
»Du –!« sagte sie zu Alan, vor dessen herrischer und hochfahrender Art ihr die Geduld riß. »Du weißt ja nicht mal, daß eine Frau überhaupt vorhanden ist! Siehst du, und in dem Punkt ist Philip Farquhar dir überlegen. Er weiß wirklich etwas vom Wesen der Frau.«
»Bah! der kleine –!« sagte Alan (er brauchte einen häßlichen Ausdruck der Verachtung).
Trotzdem blieb die Freundschaft der beiden erhalten, dank der Beharrlichkeit Philips, der mit einer beinahe unheimlichen Liebe an Alan hing. Alan verhielt sich dem gegenüber zumeist gleichgültig. Aber er war an Philip gewöhnt, und er räumte der Gewohnheit eine große Rolle in seinem Leben ein.
»Alan ist wirklich ein erstaunlicher Mensch!« sagte Philip einmal zu Katherine. »Von allen Männern, die mir je begegnet sind, ist er der einzige, der wirklich den Namen ›Mann‹ verdient.«
»Aber wieso denn?« fragte sie. »Sie selbst erheben also nicht den Anspruch, ein ›wirklicher Mann‹ genannt zu werden?«
»Oh, ich – ich bin eben – anders! Meine Stärke liegt darin, daß ich nachgebe – und dann wieder Kräfte sammle. Ich lasse mich über den Haufen werfen. Aber bis jetzt hab ichs immer noch fertig gebracht, hinterher wieder dazusein. Alan« – Philip sprach den Namen mit einer halb ehrfürchtigen, halb neidischen Betonung aus – »Alan läßt sich niemals über den Haufen werfen. Und ich kenne außer ihm niemanden, der das nicht tut.«
»Ja,« sagte sie. »Man kann ihn auf die mannigfachste Art zum Narren halten. Zum Beispiel mit Hilfe seiner Eitelkeit.«
»Nein«, sagte Philip. »Nie ganz. Man kann ihn niemals endgültig täuschen. Was ihn wahrhaft innerlich berührt, hat damit ein für allemal die Probe bestanden. Dann weiß man, ob es falsch oder richtig ist. Er ist der einzige wirkliche und echte Mann, den ich kenne.«
»Ha! Da überschätzen Sie aber seine Wirklichkeit,« sagte Katherine mit bemerkenswertem Hohn.
Als Alan dann hinterher bei der Erwähnung Philips in seiner gleichgültig-nachsichtigen Art die Achseln zuckte, wurde sie ärgerlich.
»Du bist mir ein armseliger Freund,« sagte sie.
»Freund –?« gab er zurück. »Ich bin niemals Philips Freund gewesen. Wenn er behauptet, mein Freund zu sein, dann bleibt er damit eben auf seiner Seite des Problems. Ich habe mir niemals wirklich etwas aus ihm gemacht. Für meinen Geschmack steht er zu sehr jenseits der Grenze – auf der falschen Seite.«
»Dann hast du auch kein Recht, ihn in dem Glauben zu lassen, daß er dein Freund ist,« sagte sie. »Du hast nicht das Recht, zu dulden, daß er mit solcher Zuneigung an dir hängt. Du müßtest ihm sagen, daß du ihn nicht leiden kannst.«
»Das hab ich ihm schon ein dutzendmal gesagt. Es scheint ihm Spaß zu machen. Offenbar gehört das zu seiner Methode.«
Und er verschwand, um sich hinter sein Fernrohr zu setzen.
Es kam der Krieg, und Alans Regiment stand fertig zur Abfahrt nach Frankreich.
»Da hast dus!« sagte er. »Jetzt mußt du dafür büßen, daß du einen Soldaten geheiratet hast. Und jetzt mußt du zusehen, wie er gegen dein eigenes Volk kämpft. Das kommt davon.«
Der Schlag hatte sie dermaßen ins Tiefste getroffen, daß sie nicht einmal weinen konnte.
»Leb wohl!« sagte er und küßte sie zart und lange. War er doch, trotz allem und allem, ihr Gatte gewesen.
Er sah sich noch einmal nach ihr um, und in seinen blauen Augen las sie freundliche Zuneigung, Beschützerwillen und die wissende Vertrautheit, die aus der Ehe erwächst; zugleich aber auch eine gelassene Erkenntnis des Schicksals. Ihr Bewußtsein zerflatterte, so daß sie die Zusammenhänge verlor. Sie hatte in diesem Augenblick nur den einen einzigen Wunsch: alles zu ändern; die Vergangenheit zu ändern; den ganzen Gang der Geschichte – den grauenvollen Gang der Geschichte zu ändern. Irgendwo, in den geheimen Tiefen der Seele, hatte sie das Gefühl, daß sie mit ihrer bienenköniginnenhaften Liebe, ihrem bienenköniginnenhaften Willen den ganzen Gang der Geschichte tatsächlich ändern – ja: ins Gegenteil ändern könnte.
Der ferngerückte, wissende Ausdruck aber, den sie in seinen Augen lesen mußte und den alle unwandelbare Gattenliebe nicht verbarg, sagte ihr, daß es dennoch unmöglich war. Daß all ihr gesammelter weiblicher und mütterlicher Wille niemals den großen Strom menschlichen Geschickes von seiner Richtung ablenken konnte. Daß – so drückte Alan es aus – nur die kalte Kraft eines Mannes, der das Schicksal der Zerstörung hinnahm, zu erkennen vermochte, wie der Strom menschlicher Bestimmung durch die unendliche Wirrsal einer neuen Mündung zufloß. Vorher aber kam das Chaos und die langdauernde Raserei der Zerstörung.
Dieser Augenblick brach ihren Willen. Fast hätte er ihre Seele zerbrochen. Und dann war Alan fort. Und sobald er fort war, fand sie zum Kern ihres Wesens zurück: zu ihrer inneren Sicherheit.
Philip war ihr ein großer Trost. Immer wieder nannte er den Krieg eine widernatürliche Scheußlichkeit, zu der es niemals hätte kommen dürfen; immer wieder erklärte er, die Menschen sollten sich weigern, im Kriege etwas anderes zu sehen als ein ungeheures und schmählich verschuldetes Unglück.
Katherine, mit ihrer deutschen Erkenntnis, begriff, daß der Krieg weder ein zufälliges noch ein verschuldetes Unglück, sondern unvermeidbar, ja notwendig war. Aber Philips Verhalten war ihr ein unsäglicher Trost und gab ihr das Gleichgewicht zurück.
Alan kam nicht wieder. Im Frühjahr 1915 wurde er als vermißt gemeldet. Sie trauerte nicht um ihn. Sie hatte ihn auch niemals wirklich zu den Toten gezählt. Ja, in gewissem Sinne hatte sie sogar ein Siegesgefühl gehabt. Die Bienenkönigin hatte ihre Gewalt als Königin der Erde zurückerlangt: die Frau, die Mutter, der weibliche Mensch mit der Kornähre in der Hand hatte gesiegt über den Mann, der das Schwert trug.
Philip hatte während des ganzen Krieges für seine Zeitung gearbeitet und hatte sich immer für Menschlichkeit, menschliche Aufrichtigkeit und Frieden eingesetzt. Er war für Katherine ein unaussprechlicher Trost gewesen. Und im Jahre 1921 hatte sie ihn geheiratet.
Vielleicht war der Faden des Schicksals schon gesponnen; vielleicht war er gar schon abgemessen; aber als die Hand der Lachesis ihn zerschneiden wollte, war sie daran gehindert worden.
Zuerst war es wundervoll, mit Philip verheiratet zu sein, besonders für eine Frau von achtunddreißig Jahren – war angenehm und erholsam und lustvoll. Er liebkoste ihre Sinne, er sänftigte sie, er gab ihr, was sie verlangte.
Dann aber, ganz allmählich, schlich sich ein seltsames Empfinden in ihre Seele ein: als würde sie erniedrigt. Sie fühlte sich wunderlich unsicher. Das war fast wie eine Krankheit. Das Leben schien ihr glanzlos und unwirklich – nie zuvor hatte sie das empfunden. Sie kämpfte nicht, sie litt nicht einmal. Es war wie eine körperliche Betäubung, die alle Wirkungen unwirksam machte. Alles verwandelte sich in trüben Schlamm.
Dann wieder genas sie und war mit wundervoller Lust beschenkt. Bald aber war das erstickende Gefühl von Nichtigkeit und Erniedrigtem wieder da. Warum, warum, warum fühlte sie sich in geheimster Seele erniedrigt? – denn körperlich hatte sie dies Empfinden natürlich nie.
Und nun mußte sie an Alan denken. Noch immer stand ihr beim Gedanken an ihn und seine harte Unnachgiebigkeit das Herz still; aber die zornige Feindseligkeit von einst war fort. Unversehens schlich sich ein wenig Ehrfurcht vor ihm, vor seinem Andenken in ihre Seele. Sie wehrte sich dagegen. Sie war nicht daran gewöhnt, Ehrfurcht zu empfinden.
Immerhin erkannte sie, wie ganz anders es war, mit einem Soldaten, einem zum ewigen Kampf geborenen Fechter, einem nie in der Scheide zu bergenden Schwert verheiratet zu sein – als mit diesem unheimlich gescheiten Zivilmenschen, der geschickt mit doppeldeutigen Worten spielte und die Waagschalen der Wahrheit nach Belieben zurecht rückte.
Philip war klüger als sie. Er setzte sie auf den Thron: die Bienenkönigin, die Mutter, die Frau, die Trägerin weiblicher Einsicht; und er diente ihr mit zarter, kluger, wohlberechneter Ehrfurcht. Er legte die Waage in ihre Hand und überließ es ihr, die Dinge zu wägen. Aber er verstand es, sie mit seinen listigen Berechnungen zu blenden, und wenn sie blind war, handhabte er die Schalen nach seinem Gefallen.
Sie hatte das alles wahrgenommen – aber nur undeutlich und verschwommen und wirr, denn sie war ja geblendet. Philip hatte die überlegen gemeisterte, geschmeidig schmeichelnde Macht, sie immer in dieser Blindheit zu erhalten.
Zuweilen rang und rang sie mit gepreßten Lungen nach Luft. Und zuweilen sah sie Alans knochiges, hartes, herrisches, aber ehrliches Gesicht vor sich: dann war es plötzlich, als wäre alles wieder gut, als wäre diese seltsame, wollüstige Beklommenheit, in der ihre Seele wie in Schlamm erstickte, vorüber, und sie könnte wieder, könnte einmal noch die Luft des freien Himmels atmen. Und wenn es auch Kampfesluft war.
Als sie auf dem Kanaldampfer nach Frankreich fuhr, hatte sie das Erlebnis. Plötzlich war es ihr, als wäre Alan wieder an ihrer Seite und als hätte es nie einen Philip gegeben. Als hätte Philip ihr nie mehr bedeutet als der Verkäufer, der im Laden den gekauften Stoff für sie abmaß. Diese Reise über den kalten, winterlichen Kanal war wie eine Flucht, und plötzlich gelang ihr der Selbsttrug: ihr war zumute, als hätte es nie einen Philip gegeben und als wäre Alan und nur Alan immer ihr Gatte gewesen. Er war noch immer ihr Gatte. Und diese Reise brachte sie zu ihm.
Dies war es, was sie in Paris so fröhlich machte und ihr die Franzosen so lieb und nett erscheinen ließ. Die Franzosen haben ein Herz für jede Frau, von der sie merken, daß sie ganz und gar in die Bezauberung durch einen Mann eingesponnen ist. Denn über alle Rassegrenzen reicht die Beziehung zwischen Mann und Weib.
Als Katherine in dem Zuge saß, der sie nach Osten tragen sollte, spürte sie eine unbestimmbare Erregung und war beinahe glücklich. Ihr war zumute wie in vergangenen Tagen, wenn sie in die Heimat, nach Deutschland fuhr. Oder, mehr noch, in den vergangenen Tagen, wenn sie wieder einmal zu Alan fuhr. Denn sie mochte zu ihm stehen, wie sie wollte: immer hatte sie damals, als sie noch seine Frau war, das Gefühl, daß die Räder des Eisenbahnwagens, der sie zu ihm trug, Flügel hatten. Selbst wenn sie wußte, daß er wieder einmal abscheulich gegen sie sein würde, hart und unbarmherzig und zerstörerisch – es blieb das Gefühl der beschwingten Fahrt.
Zu Philip dagegen fuhr sie mit einem seltsamen, gefühlszersetzenden Widerwillen. Sie beschloß, nicht mehr an ihn zu denken.
Als sie aus dem Fenster blickte, ohne doch etwas zu sehen, drang plötzlich, wie mit einem Stoß, das Bild der winterlichen Landschaft in ihr Bewußtsein ein. Die flache, graue, winterliche Landschaft, gepflügte Felder aus mißfarbener Erde, die aussah, als bestände sie aus den zerfallenen Leibern Gestorbener. Farblose, starre, dünne Bäume, wie aus Draht gefertigt, standen an schnurgeraden, sinnlos ins Leere laufenden Straßen. Dann kamen noch ein paar Bäume – sie umgaben die Trümmer eines Bauernhauses. Ein düsteres Dorf zog vorüber; zerschmetterte Häuser saßen wie die Stümpfe zerstörter Zähne zwischen den schnurgeraden Gebäudereihen der Dorfstraße.
Mit jähem Entsetzen erkannte sie, daß dies das Land an der Marne sein mußte – das grauenvolle Land an der Marne, das Jahrhundert auf Jahrhundert die Leichname sinnlos geopferter Männer in seiner Erde begrub. Das Grenzland, in dem die lateinische und die germanische Rasse einander vertilgen, so daß nur schauerliche Asche zurückbleibt.
Vielleicht, dachte sie, birgt dieser graue Lehm auch Alans toten Leib.
Der Gedanke überwältigte sie. Aschfarben vor Entsetzen war nun auch ihr Gesicht, und sie wünschte sich weit weg. »Wenn ich das nur gewußt hätte!« dachte sie. »Wenn ich das doch nur gewußt hätte – ich hätte ja über Basel fahren können.«
Der Zug fuhr in den Bahnhof von Soissons ein – schauerlich klang ihr auch dieser Name. Sie versuchte, als letzte Zuflucht, sich gegen alle diese Eindrücke unempfindlich zu machen. Der Ruf zum zweiten Frühstück schien ihr eine Erlösung. Sie ging in den Speisewagen und hatte als Tischgenossen einen kleinen französischen Offizier, dessen himmelblaue Uniform an alles andere eher als an Krieg erinnerte. Er sah so treuherzig, so jungenhaft und nett aus; er hatte etwas von der Unschuld, die so viele Franzosen sich trotz ihrer sprichwörtlichen Verderbtheit bewahren; ihr wurde ganz leicht zumute. Als sie ihm seine halbe Flasche Rotwein, die beim Schleudern des Zuges langsam über den Tisch gewandert war, wieder zuschob, dankte er ihr mit einer wunderlich schüchternen kleinen Verneigung. Wie nett er ist! dachte sie. Und wie er sich wohl an eine Frau hingeben kann, die an einem Manne von solcher Art wirkliches Vergnügen zu finden vermag!
Sie selbst freilich fühlte sich diesem ganzen Spiel des Gebens und Nehmens, des Mannseins und Weibseins sehr ferngerückt.
Nach dem Frühstück schlief sie wieder ein, da die Wärme im Zug und die Wirkung ihrer halben Flasche Wein sie müde gemacht hatten; unbehaglich war die Hitze, die aus der metallenen Heizungsplatte am Boden in ihre Füße strömte. Und während sie schlief, war ihr zumute, als verwandelte sich alles Leben, das ihr seit jeher vertraut war, in eine künstliche Welt: Die Sonne droben war ein künstliches Licht, und es war Rauch darüber, wie bei einer brennenden Fackel; alles Wachstum war künstlich – und vollzog sich in einer Nacht, die von künstlichem Licht so hell erleuchtet war, daß sie durch dieses Blendwerk wie Tag wirkte. Auch Katherines ganzes Leben war Blendwerk gewesen: so wie ein Festabend im Ballsaal Blendwerk ist. Ihre Liebe und alle Erregungen des Herzens, ja sogar alle Qualen ihrer Liebe waren ein Blendwerk gewesen. Denn sie erkannte jetzt, wie sehr für sie während des Krieges die Liebe zur Qual geworden war.
Und nun war sogar diese Qual ihrer Liebe – Blendwerk. Sie war zu Philip gerannt, um Rettung zu finden. Und nun war beides Blendwerk – die Qual und die Erlösung durch Philip.
Was blieb ihr noch? Wenn selbst die in Qualen zuckende Liebe – wohl das stärkste Gefühlserlebnis, das sie je gehabt hatte – nur ein Blendwerk war? Was gab es danach noch? Die grauen Schatten des Todes?
Als sie wieder aus dem Fenster blickte, dunkelte es, und der Zug hielt in Nancy. Das Bild war ihr aus ihren Mädchenjahren vertraut. Um halb acht kam sie in Straßburg an; hier mußte sie übernachten, denn einen Zug über den Rhein gab es erst am anderen Morgen.
Der Gepäckträger, ein blonder, hünenhafter Mensch, redete sie sogleich in elsässischem Deutsch an. Er ließ es sich nicht nehmen, sie wohlbehalten zu ihrem Hotel (einem deutschen Hotel) zu geleiten; er betreute sie, als wäre er zu ihrem Schutze kommandiert: sehr zuverlässig und umsichtig und so ganz anders als die Franzosen.
Es war ein kalter, winterlicher Abend, aber nach dem Essen trieb der Wunsch, das Münster zu sehen, Katherine wieder hinaus. Sie erinnerte sich noch so deutlich daran – aus ihrem ersten Leben.
Ein eisiger Wind blies durch die Straßen. Die Stadt schien so leer, als wäre die Seele daraus gewichen. Die wenigen Leute, die unterwegs waren, alles untersetzte, kräftige Gestalten, redeten das rauhtönende Elsässerdeutsch. Die Ladenschilder trugen französische Aufschriften; oft aber stand ein kleines Zugeständnis ans Deutsche darunter. Und die Läden waren voll von Waren, vollgestopft mit Waren aus den einstmals deutschen Fabriken in Mülhausen und anderen Städten.
Katherine überquerte den abenddunklen Fluß. Am Ufer, dort, wo die Waschhäuser der Wäscherinnen verankert waren, knieten im trüben elektrischen Licht noch ein paar wunderliche Gestalten und spülten ihre Wäsche in dem grimmig kalten Wasser. Über den riesigen freien Platz fegte der eisige Wind, und alles schien verödet. Straßburg war wieder einmal eine eroberte Stadt.
Und nun stellte sich heraus, daß Katherine den Weg zum Münster nicht mehr fand. Sie sah einen französischen Schutzmann, mit blauem Umhang und spitz zulaufender Kappe: einsam, leicht verletzlich und zart stand er in dieser düsteren elsässischen Stadt. Sie ging zu ihm hinüber und fragte ihn in französischer Sprache nach dem Wege zum Münster.
Er gab Bescheid: durch die erste Straße zur Linken mußte sie gehen. In seiner Antwort war nichts von Feindseligkeit zu spüren; es war überhaupt eigentlich nirgends etwas von Feindseligkeit zu spüren. Nur die große müde eisige Traurigkeit des Winters in einer eroberten Stadt auf einer ewigen Grenze, des Streites müde. Und dabei schienen die Franzosen viel bedrückter und empfindlicher als die robusteren Elsässer.
Vertraut war ihr die kleine Gasse, waren ihr die alten, überhangenden Häuser mit ihrem schwarzen Gebälk und ihren hohen Giebeln. Und nun wuchs, wie ein riesiges Gespenst, rötlich aufglimmend in der Finsternis, das unheimliche Münster vor ihr auf, gewaltig ragend, finster niederblickend aus der Finsternis auf das Zwergentreiben drunten in der Stadt. Der rötliche Stein, aus dem es erbaut ist, glomm mit rötlichem Schimmer bei Nacht wie dunkle Haut. Riesenhaft, unbegreifbar mächtig und seltsam blickte es herab aus der Finsternis. Die große Fensterrose, hoch droben schwebend, sah aus wie eine Brust des gewaltigen Wesens, und überall, halb erkennbar im Himmelsdunkel, schossen Prismen und Nadeln aus Stein auf, wie Gefieder.
Da stand es, im finsteren Himmelsraum der schweren Winternacht, wie eine Drohung. Sie mußte daran denken, wie oft in vergangenen Tagen ihre Seele daran emporgestiegen war – hoch hinauf. Jetzt aber stand das Wesen da, dem irdischen Zusammenhang entrückt, in einem schwachen rostfarbenen Schimmer, der wie Blut im schwarzen Himmelsraum leuchtete: mit einer ungeheuren, dämonischen Drohung blickte es hernieder, gelassen und erbarmungslos.
Wie Geheimnis und dunkle, aus Urzeiten stammende Furcht ergriff es die Seele der Frau. Das Münster sah so seltsam, so heidnisch-dämonisch aus. Als ob ein uraltes, unzähmbares Blut darin flösse, dachte sie. Wie ein riesiges stummes Tier steht es da, mit Zähnen aus Stein, und überlegt, wann es auf die bleichen Menschenwesen hier unten niederstoßen soll.
Und ahnend meinte sie zu sehen, wie hinter all der aschfarbenen und gelbgrünen Blässe unserer Zivilisation lauernd die große Blutbestie wartet, unerbittlich und ewig bereit, schließlich unseren weißen Wankelmut zu zermalmen und das schattenhafte Blut wieder einmal in neuem unversöhnlichen Stolz und neuer unversöhnlicher Kraft aufwallen zu lassen. Sogar hier unten, im nahen Himmelsraum, ragt als riesiger Schatten das blutschimmernde düstere Wesen, und es vertilgt das Kreuz, da wir doch meinten, daß es der Erhöhung des Kreuzes diene.
Ihr war, als sähe sie das abendliche Dunkel sich wie eine deckende Schicht aufrollen, und so war das gewaltige blutschimmernde düstere Wesen enthüllt, das riesenhaft, vorgeneigt, herabblickte und auf seine Stunde wartete.
Als Katherine sich zum Gehen wandte, um den geschlossenen Schwingen des Münsters zu entrinnen, sah sie einen Mann drüben vor dem Postamt stehen, das auf dem Platze vor dem Münster düster sein amtliches Dasein führt. Und sogleich wußte sie, daß der Mann, der so dunkel und reglos dastand, Alan war. Er war einsam, reglos und sehr fern.
Er kam nicht zu ihr herüber. Sie zögerte; dann ging sie auf ihn zu, als wollte sie zum Postamt. Er stand völlig reglos, und indessen sie näher kam, starb ihr das Herz in der Brust. Dann, als sie an ihm vorüberging, wandte er sich plötzlich und blickte auf sie herab.
Er war es – sie erkannte ihn, obwohl sie sein Gesicht kaum sehen konnte; es war ganz im Dunkel, ein dämmernder Schimmer im Schatten.
»Alan!« sagte sie.
Er antwortete nicht; er legte nur die Hand, Schweigen gebietend, auf ihren Arm, wie er es so oft in vergangenen Tagen getan hatte, stumm und seltsam zwingend. Mit einem leichten Druck auf ihren Arm zwang er sie zum Umkehren und ging an ihrer Seite, mit gemächlichem Schritt, durch die Hauptstraße der Stadt, unter dem Bogengang dahin, in dem die Läden noch erleuchtet waren. Sie betrachtete sein Gesicht; es war viel stärker gebräunt, als sie es in Erinnerung hatte – bräunlich und gerötet. Ein Fremder ging an ihrer Seite; und doch war es Alan und kein anderer. Er sprach kein Wort. Aber auch das war ja Alans Art. Sein Mund war geschlossen, seine wachsamen Augen schienen wandellos, und das Schweigen war wie eine Schattenhülle um ihn, undurchdringlich, aber nicht kalt. Nein, ferngerückt und sanft, wie die Stummheit, die ein Tier der Wildnis umgibt.
Sie wußte, daß es sein Geist war, der an ihrer Seite ging. Aber das beunruhigte sie nicht einmal. Es schien ihr ganz natürlich. Und nun erlebte sie wieder das Gefühl, das sie schon einmal gekannt und vergessen hatte: die Frieden spendende, von allem Grübeln erlösende Luft des Bewußtseins, eingeschaltet zu sein in den Kräftestromkreis des Mannes, dem sie gehörte. Als junge Frau hatte sie dieses keineswegs ungewöhnliche, aber köstliche Gefühl gehabt, wenn sie bei Alan war. Es schenkte ihr Befriedigung ohne ungelösten Rest; aber vielleicht kam es ihr gerade deswegen nicht zum Bewußtsein. Später hatte sie es dann, so schien es ihr jetzt, beinahe absichtlich zerstört: dies Gefühl der Befriedigung, das in lindem Strom von ihm, dem Manne, zu ihr, der Frau, floß.
Jetzt, nachträglich, erkannte sie das. Und indessen sie an seiner Seite durch die eroberte Stadt ging, erkannte sie, daß dies der einzige dauernde Besitz ist, den eine Frau haben kann: der ungreifbare linde Strom des Befriedigtseins, der sie an der Seite des Mannes, ihres Mannes dahin trägt. Dies ist ihre Vollendung und ihr höchstes erreichbares Ziel.
Jetzt, nachträglich, wußte sie das. Jetzt war aller Streit vergangen. Und ihrer Gedanken kaum bewußt, fragte sie sich, warum, warum, warum nur sie je dagegen gekämpft hatte. Mag der Mann, als Persönlichkeit, tun oder sein, was er will – wenn eine Frau sich von diesem dunklen, vollen Strom der Erfüllung an seiner Seite dahintragen lassen kann, so hat er ihr das Höchste geschenkt, und alle ihre planlos ungeduldigen Bemühungen, noch mehr zu erlangen, sind schmähliche Anstrengungen zur Selbstvernichtung.
Jetzt wußte sie das; und sie streckte die Waffen. Jetzt, da sie an der Seite eines Mannes ging, der aus dem Reiche des Todes zu ihr gekommen war, um sie zu erlösen. Seine starke, stumme Güte vermochte auch jetzt noch das aschfarbene nervöse Grauen vor der Welt reinigend von ihr zu nehmen. Still und erlöst, wie eben erst und endlich befreit, ging sie an seiner Seite dahin im Dämmerlicht der Erfüllung.
Am Ende der Brücke blieb er stehen und nahm die Hand von ihrem Arm. Sie wußte, daß er sie nun verlassen würde. Er aber sah sie unterm Schirm seiner spitzen Kappe hervor an, ernst, aber gütig, und winkte leicht mit der Hand; es war eine freundliche Gebärde des Abschieds und der Verheißung: als läge im Abschied die Verheißung, daß er sie nie mehr verlassen würde, daß dies gütige Gefühl nie in seinem Herzen erlöschen solle, daß er es immer darin bewahren wolle.
Sie eilte über die Brücke zu ihrem Hotel, und Tränen strömten ihr über die Wangen. Hastig lief sie die Treppe hinauf und in ihr Zimmer. Und indessen sie sich auskleidete, vermied sie den Anblick ihres Gesichts im Spiegel. Ich darf den Zauberbann seiner Wiederkunft nicht zerstören, dachte sie.
Jetzt, nachträglich, erkannte sie, wie sehr behutsam sie sein mußte, um nicht das Geheimnis zu zerstören, von dem sie nun umwoben war. Nun, da sie wußte, daß er aus dem Reich des Todes zu ihr zurückgekehrt war, erkannte sie die Köstlichkeit und Zerbrechlichkeit dieser Wiederkehr. Er ist gekommen, dachte sie, weil sein dunkles und gütiges Herz selbst im Jenseits noch nach mir Verlangen trug. Und deshalb darf ich nicht einen einzigen Schritt tun, der seiner Bahn zuwiderläuft. Der warme, mächtige, stumme Geist ist zu mir zurückgekehrt. Er ist Alan. Ich darf nicht einmal versuchen, ihn mit deutlichen Gedanken zu fassen, ihn mir als wirklich vorzustellen oder gar ihn zu verstehen. Nur tief in meiner Seele, in dunklen Tiefen darf ich ihn stumm und sinnend hegen, darf wissen, daß er in mir gegenwärtig ist, ohne je mit den Blicken nach ihm zu greifen oder ihm nachzuforschen. Sobald ich versuche, ihn mit Händen zu fassen, ihn zu besitzen, ihn ins Wirkliche zu ziehen, wird er davongehen für immer, und für immer wird mir dieser letzte köstliche Strom des Friedens verloren sein.
»Das darf nicht geschehen!« sagte sie zu sich selbst. »Wenn er mir seinen Frieden schenkt, darf ich nicht fragen, nichts und niemals.«
Und sie dachte mit stummer Reue an die Art, wie sie einst Fragen gestellt und Antworten verlangt hatte. Was waren die Antworten gewesen, wenn sie sie bekam? Grauenvolle Asche in ihrem Munde.
Ja, sie kannte jetzt die tiefsten Schrecknisse der Gegenwart, in einer Welt, die zu Asche verbrannt und erstorben und ertaubt ist. Wenn es möglich war, daß ein Mensch aus dem Reich des Todes zu ihr zurückkehrte, um sie davon zu erlösen, so wollte sie nicht fragen, sondern demütig sein und dankbarer, als selbst Tränen es zu sagen vermochten. Der Morgen kam mit grauem Himmel und eisigem Wind, und Katherine verließ das Hotel, um zu sehen, ob sie Alan fand. Nicht daß sie seiner bedurfte: er war ihr noch immer ganz gegenwärtig. Aber vielleicht erwartete er sie.
Die Stadt war steinern und kalt. Die Leute auf den Straßen sahen bleich und bis ins Tiefste durchfroren aus: wie Verurteilte, dachte sie. Und sie waren ihr sehr fern. Wohl empfand sie Mitleid: aber sie wußte auch, daß sie nichts, in Zeit und Ewigkeit nichts für sie würde tun können. Sie sahen Katherine an – und blickten schnell wieder weg, als wären sie mit sich selbst zerfallen.
Das Münster stand mächtig und rötlich-grau im hellen Licht; aber das glimmende Leuchten, das Katherine am Abend beobachtet hatte, war nicht mehr da. Der Platz vor der Kirche war unwirtlich und kalt. Und auch in der Kirche selbst war es kalt und trostlos, trotz des bunten Glühens, das durch die farbigen Fenster drang. Alan war nirgends zu sehen.
Also kehrte Katherine rasch ins Hotel zurück und fuhr zum Bahnhof, um den Zug um zehn Uhr dreißig noch zu erreichen.
Es war ein leerer und trübseliger Zug; nur ein paar verlorene Seelen warteten darauf, über den Rhein gebracht zu werden. Der elsässische Gepäckträger betreute Katherine mit derselben ausdauernden Sorgfalt wie gestern. Sie stieg in den Kurswagen nach Prag, als einziger Fahrgast der ersten Klasse. Ein richtiger französischer Gepäckträger mit Bluse, Schnurrbart und prahlerischer Geste suchte sein bißchen Deutsch zusammen, um Katherine eine kleine Stichelei zuzurufen. Aber sie sah ihn nur an, und er verstummte. Er hatte eigentlich gar nicht die Absicht, ungezogen zu sein. Selbst in seinem Versuch zu spotten war so etwas wie Hoffnungslosigkeit.
Der Zug schlich langsam und trübselig aus der Stadt. Das Münster sah von ferne aus wie ein unheimliches, massig hingeducktes Wesen, das seinen Finger über der Stadt emporstreckte.
Langsam löste sich die Landschaft auf: es kamen die Niederungen und Wiesen der Rheinebene, die Kanäle, die Weidenbäume, die Wasserläufe der Hochwasserzeit, die gefrorenen Sümpfe. Müdigkeit lag über dem allen – kalt, breit und grün kam der Rhein unter dem winterlichen Himmel dahergeflossen und strömte unter der eisernen Brücke hindurch. Es war, fand Katherine, ein herzbedrückendes Bild.
In Kehl gab es einen langen Aufenthalt. Die deutschen und die französischen Beamten begegneten einander mit starrer und finsterer Zurückhaltung. Paß- und Zollprüfung waren rasch erledigt. Aber der Zug wartete und wartete, als vermöchte er diesem Bezirk der Leblosigkeit und der reinen Verneinung, wo die Kräfte sich gegenseitig aufhoben, wo das Leben stockte und keine Polarität zu spüren war, nicht zu entrinnen.
Katherine Farquhar saß ganz still, in der losgelösten Stummheit, in die Alans Rückkehr sie gebannt hatte. Sie sah niemanden, sie sprach Deutsch oder Französisch, wie es gerade verlangt wurde, fast ohne es selbst zu merken. Sie wartete; der überheizte Zug qualmte und zischte und schien vom toten Punkt der neuen Grenzlinie nicht loskommen zu können.
Schließlich aber glänzte ein wenig Sonne durch das Grau, und der Zug kroch stumm und nervös aus der neutralen Zone hinweg.
In der weiten flachen Rheinebene war das seichte Wasser auf den Feldern gefroren; die Ackerfurchen liefen schnurgerade ins Nichts; auch die Luft schien zu Eis geworden: die Erde aber mit ihren geraden Furchen war stark wie in Urzeiten, und es war, als schwinge sie im Gesumm einer tiefen, wilden Melodie. Auch in der gefrorenen Luft war das zitternde Schwingen dieser wilden Melodie, ungebändigt, wie aus vorrömischer Zeit.
Das deutsche Rheintal war hier, auch auf dem rechten Ufer, von den Franzosen besetzt; so erklärte sich die seltsame Leere, das Stocken allen Lebens, als ob hier keine Menschen wohnten: ein Gespenst aber wachte drohend über den weiten, leeren Feldern mit ihren geraden Furchen und über den Rieselwiesen. Schweigen, Leere, Stockung: und eine unsichtbare, ungreifbare Drohung.
In Appenweiler, auf der Hauptstrecke der rechtsrheinischen Eisenbahn, gab es einen langen Aufenthalt. Der Bahnhof war leer. Katherine dachte an das erregte und erregende Gewirr, das hier in Vorkriegstagen geherrscht hatte.
»Ja,« sagte der deutsche Schaffner zum Bahnhofsvorsteher, »jetzt möcht ich nur wissen, weshalb wir so holterdiepolter aus Straßburg raus müssen, wenn sie uns nachher hier so lang aufhalten?«
Katherine lächelte vor sich hin. Ihr fiel ein, daß der Zug hier das besetzte Gebiet verließ.
Und schließlich fuhren sie weiter, nordwärts, nach Deutschland hinein. Es war das Land jenseits des Rheins, das Deutschland der Fichtenwälder. Stark war diese Erde und unbezwungen; sie trug ihre Binsen und Büsche wie der Keiler der Urzeit seine starrenden Borsten. Und Katherine schien es, als sei die Oberstimme heutiger Zivilisation brüchig und dünn geworden, als töne immer wieder das uralte tiefe Summen und Dröhnen hindurch, die aus Vorzeiten stammende Melodie des tannenbewaldeten Nordlandes.
Da waren auch schon die ersten Höhen des Schwarzwaldes, wartend mit mürrischer Treue, als hätten sie das Innere Deutschlands zu bewachen. Dunkle runde Höhen, schwarz bewaldet; nur da und dort war das schneebedeckte Geviert von Feldern in das Schwarz geschnitten. So, in Schwarz und Weiß, jetzt ganz nahegerückt, standen sie da, mürrische Wächter.
Das Bild war Katherine tief vertraut: aber nicht in seiner jetzigen Stimmung, in der Leere, der Verdrossenheit, dem ernsten, abgerückten Warten.
Steinbach. Dann war sie also schon beinahe angelangt! In Oos mußte sie umsteigen, um Baden-Baden, ihr Reiseziel, zu erreichen. Vielleicht, dachte sie, ist Philip mir bis Oos entgegengefahren; er wird von Heidelberg gekommen sein.
Ja, da stand er auf dem Bahnhof. Und sogleich fiel ihr auf, daß er krank und gelblich aussah. Ausgemergelt, mutlos in der Haltung stand er auf dem leeren Bahnsteig. »Gehts dir nicht gut?« fragte sie, als sie aus dem Zuge stieg.
»Mich friert so entsetzlich,« sagte er. »Ich kann nicht warm werden.«
»Und im Zuge wars so heiß,« sagte sie.
Nach einer Weile erwischten sie einen Gepäckträger, der Katherines Koffer zu dem kleinen Anschlußzug hinüberschaffte.
»Und wie gehts dir?« fragte er und sah sie an. Sein Gesicht hatte einen merkwürdig gequälten Ausdruck, und sie las Furcht in seinen Augen.
»Gut. Aber es kommt mir alles sehr sonderbar vor,« antwortete sie.
»Ich weiß nicht, wie es zugeht – aber die Luft hier läßt mich inwendig zu Eis gefrieren, und mit meiner Brust ist etwas nicht in Ordnung,« sagte er.
»Wir brauchen ja nicht lange zu bleiben,« sagte sie leichthin.
Er beobachtete sie und sah den hellen Ausdruck ihres Gesichts. Und sie dachte: Wie seltsam und elend sieht er aus! Und indessen sie ihn ansah, empfand sie zum ersten Male, daß es erniedrigend war, mit ihm verheiratet zu sein – ja auch nur seinen Namen zu tragen. Sie fühlte sich erniedrigt durch die Tatsache, daß sie Katherine Farquhar hieß. Und ich habe den Namen doch einmal hübsch gefunden! dachte sie. Wenn ich mir nur vorstelle, daß ich mit dem kleinen Manne da verheiratet bin! Daß ich seinen Namen trage!
Er saß ihr nicht, der Name. In Gedanken sprach sie ihren Mädchennamen aus: Katherine von Todtnau; dann den Namen ihrer ersten Ehezeit: Katherine Anstruther. Der erste paßte am besten zu ihr. Aber der zweite war ihr zur zweiten Natur geworden. Der dritte, Katherine Farquhar, war überhaupt nicht ihr Name – war es nie gewesen.
»Hast du Marianne gesehen?« fragte sie.
»Ja.«
Er war sehr einsilbig. Was war mit ihm vorgegangen?
»Du wirst dich sehr in acht nehmen müssen mit deiner Erkältung,« sagte sie höflich.
»Natürlich nehme ich mich in acht,« gab er mißgelaunt zurück.
Marianne, Katherines Schwester, war auf dem Bahnhof, und nach zwei Minuten plapperten sie in deutscher Sprache drauflos und lachten und weinten und wollten wieder bersten vor Lachen; Philip stand ganz unbeachtet daneben. In diesen Tagen frostiger Sparsamkeit war von einer Droschke nicht die Rede. Ein Gepäckträger übernahm es, Katherines Koffer mit dem Handwagen zu befördern. Dann gingen die Drei durch die menschenleere Stadt zu ihrem kleinen Hotel.
»Aber der Kleine ist doch ganz nett?!« sagte Marianne im spöttischen Beschützerton.
»Ja – nicht?« gab Katherine im gleichen Ton zurück.
Und die beiden Schwestern blieben mitten auf der Straße stehen und lachten. »Der Kleine« – damit war Philip gemeint.
»Der andere wirkte ja männlicher,« sagte Marianne.
»Aber mit diesem hast du's gewiß leichter. Der Kleine –! Ja, bequemer ist er sicher,« lachte sie in ihrer spöttischen Art.
»Das Stehaufmännchen!« sagte Katherine und meinte die kleinen Spielzeugfiguren, die am Fußende mit Blei beschwert sind, so daß sie sich immer wieder auf die Füße stellen.
Philip fühlte sich sehr unglücklich bei alledem. Seine Stärke lag in seiner Schwäche, seiner bittenden Werbung, seiner anhänglich zähen Abhängigkeit. Er wußte mit bemerkenswerter Schlauheit fast immer die Dinge nach seinem Willen zu lenken: aber stets dadurch, daß er scheinbar nachgab. Bei jedem Unwetter bückte er sich, so tief es nötig war, und ließ den Sturm über sich hinwegbrausen. Dann richtete er sich wieder auf, ganz der gleiche wie zuvor, ein Mann mit einem gefühlvollen Herzen und einer engelhaften Langmut, der mit niemandem Streit haben wollte. Die kampflustige Männergeneration war auf den Schlachtfeldern des Krieges geblieben. Er hatte es mit angesehen und verstohlen dazu gelächelt. Wenn der Löwe abgeschossen ist, holt sich der Hund die Beute. So hatte er, Philip, sich Alans Löwin geholt. Ein lebendiger Hund ist besser als ein toter Löwe. Und so kam es, daß der kleine Journalist, der es mit der Sanftmut der Engel hielt, frohlocken konnte über den Triumph seiner Schwäche.
Deutschland aber, das unheimliche Nachkriegsdeutschland, erstickte die Flamme seines Triumphes wieder. Die Luft war so kalt, alles war so öde – man hätte meinen können, daß alles lebendige Fühlen in diesem Lande erloschen sei. Hier erstarrte einem alle Kraft der Erregung, ja sogar des Gefühls, die Seele erstarb wie ein erfrorenes Glied. Und wenn in Philip Farquhar das Gefühl erstarrte, war er ganz und gar tot.
»Ich freue mich wirklich ganz furchtbar, daß du gekommen bist, Katherine,« sagte er. »Ohne dich hätte ichs hier kaum noch einen Tag ausgehalten. Mir ist zumute, als wärest du das einzige auf der Welt, das wirklich bleibt.«
»Du kommst mir aber nicht sehr ›wirklich‹ vor,« sagte sie. »Ich bins auch nicht! Ich bin es nicht! – wenn ich allein bin. Aber wenn ich dich bei mir habe, bin ich der wirklichste Mensch unter der Sonne. Ich weiß es!«
Dies war die Redeweise, mit der er sie einstmals gefangen hatte, bei der es sie durchrieselte bis in die tiefsten Tiefen ihrer weiblichen Eitelkeit – die es sogar zuwege gebracht hatte, daß sie sich in dieses Männlein verliebte, weil es offenkundige Wahrheiten mit solcher Selbstverleugnung zuzugeben vermochte. Er war so ganz anders als der heroische Alan, der von jeder Frau erwartete, daß sie sich vor ihm beugte!
Jetzt aber war es, als wäre die erstarrende Kälte dieses Winters in Deutschland auch in ihre Brust gedrungen. Mit grausamem Hohn sah sie auf ihn herab: Winselndes kleines Tier, dachte sie, das seine »Wirklichkeit« nur von einer Frau beziehen kann. Sie antwortete nicht, sondern sah den Flocken zu, die zwischen ihr und den dunklen Bäumen niederrieselten. Wie anders war diese Welt! Wenn es aufhörte zu schneien – wie gespenstisch sahen dann die kalten Tannen aus, hohe, nadelstarrende, kegelförmige Geschöpfe, dichtgedrängt und finster und halben Leibes weiß von Schnee! So hoch, so raubtierhaft!
Philip zitterte vor Frost und wurde immer gelber im Gesicht. Es fehlte an Feuerung, es fehlte an Lebensmitteln, es fehlte an allem. Er wünschte, daß Katherine mit ihm nach Paris fahren sollte. Aber sie wollte mindestens vierzehn Tage in Deutschland bleiben. Mit dem Mangel an allem würde sie sich schon abfinden. Abends sah sie das gute Publikum der Stadt vor dem Kurhause warten, im Dunkeln (denn die Stadt war nur halb erleuchtet), eine stumme Reihe gespenstischer Schatten; die Leute wollten ihre Flaschen an der heißen Quelle füllen, da sie das Geld nicht aufbringen konnten, um sich daheim heißes Wasser zu bereiten.
Und Katherine spürte nicht das mindeste Mitleid mit dem frostzitternden Philip. Sollte er doch zittern.
Der Schnee war locker und trocken, und sie wanderte in den Wald hinaus, die steilen Hänge hinan. Die Welt war so seltsam leer, als wäre sie wieder zur Wildnis geworden. Und Katherine erkannte, wie schnell die Welt wieder zur Wildnis werden würde, wenn Unheil die Menschheit hinraffte. Philip, gelb und hohlwangig, schleppte sich stolpernd und taumelnd neben ihr dahin; eine lächerliche Gestalt. Er konnte ohnehin schon niemals fest auf seinen Beinen gehen: jetzt aber torkelte er mit knickenden Knieen. Sie fühlte, daß Alan dort zwischen den Bäumen war: es durchrieselte sie, es durchbebte sie bis ins Tiefste. Und manchmal klopfte ihr das Herz, wenn sie eine der großen runden Tannen so lebendig und mächtig, in lebendiger Kraft dastehen und das Grün ihrer riesigen hängenden, starrenden Zweige über dem Schnee ausbreiten sah. Sie fühlte Alans Kraft in des Baumes machtvoller Erscheinung. Am liebsten wäre sie hingegangen und hätte sich an den Stamm geklammert. Philip aber setzte sich hin, in den Schnee, und sagte:
»Hör mal, Kathy, ich kann nicht mehr weiter. Ich habe ganz einfach keine Kraft mehr.«
Sie stand auf dem Wege, stolz, verächtlich, aber stumm; sie blickte zu den düsteren, rötlichen Felsen hinüber: dort, zwischen den Felsen, war Alan, dort wartete er auf sie. Das wußte sie ganz gewiß. Ihr Herz schlug wild und stark und ungestüm. Aber sie brachte den stolpernden Philip nach Hause.
Er war tatsächlich krank. Sie brachte ihn zu Bett, und er blieb im Bett. Der Arzt kam. Philip hatte Angst, Angst vor allem und jedem. Und Katherine wanderte allein hinaus in den Wald. Sie wartete auf Alan, sie sehnte sich nach ihm in prickelndem Fieber. Philip lag derweil in halber Bewußtlosigkeit, und wenn sie heimkam, sah er sie mit großen glühenden Augen an.
»Du mußt sehr weit fort gewesen sein!« Es klang wie ein Knurren, und er entblößte dabei seine großen Vorderzähne.
»Nicht sehr weit«, sagte sie.
Eines Tages kam Alan zu ihr, kam hervor aus den düsteren rötlichen Felsen des Waldes. Er trug den Kilt, der ihn so gut kleidete, aber dazu den Waffenrock aus Khaki. Und er ging barhaupt. Als er auf sie zukam, warfen seine Kniee im Schreiten den Kilt empor – die Bewegung war ihr so vertraut. Er sah sieghaft, sah prachtvoll aus, und sie wartete zitternd. Während der ganzen Begegnung sprach er kein einziges Wort. Aber er legte den Arm um sie und führte sie hinweg; und sie gab sich hin, gab sich so völlig hin, wie sie es nie zuvor getan hatte. Dann, inmitten der Felsen, nahm er sie, nahm sie mit der stummen Leidenschaft des Gatten, ergriff ganz und gar Besitz von ihr.
Danach ging sie sinnend heim – und fand Philip ernstlich krank. Sie sah sogleich, daß er tatsächlich mit dem Tode rang. Und sie machte sich nichts, gar nichts daraus. Aber sie sorgte für ihn und blieb bei ihm, und es schien ihm besser zu gehen.
Am anderen Nachmittag freilich wollte sie, mußte sie wieder fortgehen. Sie fühlte, daß ihr Gatte sie erwartete, daß er sie gebieterisch rief. Sie mußte gehen. Aber Philip war fast sinnlos vor Angst, als er merkte, daß sie ihn verlassen wollte.
»Ich sterbe, während du fort bist. Glaub mir – ich sterbe! Ich sterbe, wenn du jetzt von mir gehst!« Er rollte die Augen und sah so seltsam verändert aus – sie fühlte, daß er die Wahrheit sprach. Also blieb sie, mürrisch und in grollendem Widerwillen. Alle ihre Gedanken waren draußen, bei den Felsen, bei Alan.
Am Nachmittag nahm die Kälte immer mehr zu. Philip zitterte im Bett vor Frost, trotz der dicken Decke.
»Das ist ja eine mörderische Kälte! Sie bringt mich um!« sagte er.
Sie hörte ihn kaum. Sie saß in Gedanken verloren, ganz fern von ihm, und ihre Seele wanderte hinaus in den eisigen Abend. Ein Strom machtvoller Kraft ergriff sie ganz und trug sie davon in eine andere Wirklichkeit. Es war Alan, der sie rief, Alan, der sie hielt. Und er hielt sie stärker mit jeder Stunde.
Sie schlief im gleichen Zimmer wie Philip. Aber sie hatte beschlossen, nicht zu Bett zu gehen. Er war wirklich sehr schwach. Sie wollte bei ihm wachen. Um Mitternacht richtete er sich auf und sagte leise:
»Katherine, ich kanns nicht ertragen!« Er verdrehte die Augen so furchtbar, daß man nur das Weiße sah.
»Was? Was kannst du nicht ertragen?« fragte sie und beugte sich über ihn.
»Ich kanns nicht ertragen! Ich kanns nicht ertragen! Nimm mich in den Arm! Halt mich!« flüsterte er in seiner Angst vorm Sterben.
Mit seltsamem Widerstreben schob sie die Hände unter seine Achseln, um ihn aufzurichten. Und indessen sie es tat, öffnete sich die Tür, und Alan kam herein, barhaupt, mit gerunzelter Stirn. Philip hob seine schwachen Hände und schlang sie um Katherines Nacken, leise wimmernd. Stumm, barhaupt, trat Alan zum Bett und löste die Hände des Kranken vom Halse Katherines und legte sie auf des Kranken eigene Brust.
Philip zog die Lippen auseinander und entblößte seine großen Zähne im gespenstischen Grinsen des Todes. Katherine fühlte, wie sein Körper unter ihren Händen in seltsamen Krampfbewegungen zuckte – und schwer wurde. Philip war tot. Und auf seinem Gesicht war ein verlegenes Grinsen, wie bei einem Diebe, der auf frischer Tat ertappt ist.
Alan aber zog sie hinweg, zog sie hinüber zum anderen Bett, mit der stummen Leidenschaftlichkeit eines Gatten, der von einer sehr langen Reise zurückgekehrt ist.