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Wie viele Schwerter staken in Lady Beveridges durchbohrtem Herzen! Und doch war da, schien es, immer noch Raum für ein neues. Denn es war ihr fester Wille, daß dieses Herz, das für Mitleid und Güte schlug, nicht still stehen sollte. Ohne diesen festen Entschluß wäre sie vielleicht an den Schmerzen gestorben, die sie 1916 und 1917 erdulden mußte, als ihre beiden Söhne und ihr Bruder fielen und die Sense des Todes mit mächtig mähenden Hieben durch ihre Familie ging. Aber diese Zeit wollen wir vergessen.
Lady Beveridge war voll Menschenliebe, und davon wollte sie, mochte kommen, was da wollte, nicht lassen. Mehr noch: sie wollte, in diesem menschlichen Sinne, die Feinde ihres Landes lieben – soweit sie ohne eigenen Willen und eigene Wahl Feinde waren. Sie wollte sich nicht in einen verallgemeinernden Haß hineinreißen lassen.
Irgendwer hatte sie einmal die Seele Englands genannt. Das war ein gutes Wort, obwohl sie zur Hälfte irischen Blutes war. Aber sie stammte aus einer alten, vornehmen, königstreuen Familie, die viele berühmte und erlauchte Namen aufzuweisen hatte. Und sie selbst, Lady Beveridge, hatte Jahre hindurch auf die Haltung der englischen Politik so viel bestimmenden Einfluß wie kaum ein anderer Mensch im Lande. Sie war eng befreundet mit den wirklichen Führern im Oberhause und im Kabinett; und sie war es zufrieden, daß alles Handeln den Männern zufiel, solange sie nur wußte, daß sie selbst der Rose des Lebens glich, deren reinen Duft, gebildet aus Wahrhaftigkeit und rechter Liebe, diese Männer atmeten. Sie zweifelte nicht an der Kraft der eigenen Seele.
Niemals, nein, niemals wollte sie ihre Fahne, ihre zartfarbene seidene Fahne niederholen. So vergaß sie zum Beispiel in allen den Schmerzen, die ihr der Krieg zufügte, niemals die gefangenen Feinde; sie war entschlossen, alles für sie zu tun, was ihre Kräfte vermochten. Während der ersten Kriegsjahre besaß sie noch Einfluß. In den letzten Jahren des Krieges aber glitt ihr und den Menschen ihrer Art der Einfluß aus den Händen, und sie erkannte, daß sie nun nichts mehr tun konnte: fast nichts. Dies war die Zeit, da es schien, als hätten die vielen Schwerter das Herz dieser unbeirrbar tapferen kleinen Mater dolorosa erst recht getroffen. Die neue Generation machte sich über sie lustig. Für die Jungen war sie eine fadenscheinig gewordene altmodische kleine Aristokratin, und ihr Salon war altfränkisch.
Aber da greifen wir vor. Die Jahre 1916 und 1917 waren die Zeit, da die alte Gesinnung in England für immer starb. Lady Beveridge aber kämpfte weiter. Und mußte langsam unterliegen.
Es war im Winter des Jahres 1917 – oder im späten Herbst. Sie war zwei Wochen lang krank gewesen, niedergestreckt, gelähmt durch das schreckliche Ende ihres jüngsten Sohnes. Ihr war zumute, als müßte sie sich nun besiegt geben und stumm sterben. Dann aber dachte sie daran, wie viele andere in den gleichen Schmerzen lagen, die ihr Sohn gelitten hatte.
Und sie stand auf, zitternd und zum Umsinken schwach, um zu einem Lazarett in der Nähe Londons zu fahren, wo die verwundeten und kranken feindlichen Soldaten untergebracht waren. Counteß Beveridge gehörte noch immer zu den Bevorrechtigten. In der Gesellschaft spottete man schon hier und da über dieses fadenscheinig gewordene kleine Überbleibsel einer altfränkischen Redlichkeit und eines überholten Geschmacks. Aber niemand wagte einen häßlichen Gedanken über sie.
Sie ließ den Wagen kommen und fuhr allein hinaus. Der Earl, ihr Gatte, hatte sich mit seinem Kummer nach Schottland geflüchtet. Und also stieg Lady Beveridge in der bleichen Sonne eines Novembermorgens vor dem Lazarett am Hurst Place aus dem Wagen. Der Pförtner erkannte sie und grüßte, als sie vorüberging. Oh, sie war es gewohnt, mit so tiefer Ehrerbietung gegrüßt zu werden! Es war seltsam, daß sie es mit solcher Bitterkeit empfand, wenn die Leute in ihrer Ehrerbietung lässiger wurden. Aber es war nun einmal so. Für sie war das der Anfang vom Ende.
Die Oberin geleitete sie in den Saal. Da trugen alle Betten traurige Last, und einige von den Leuten lagen sogar auf Matratzen am Boden. Der überfüllte Saal war von einer verzweifelten und ratlosen Kümmernis erfüllt: das war, als wagte niemand ein Geräusch zu verursachen oder ein Wort zu sprechen. Viele von den Leuten waren hohlwangig und unrasiert; einer lag im Fieberwahn und führte abgerissene Reden in sächsischer Mundart. Das traf Lady Beveridge ins Herz. Sie war in Dresden erzogen worden und hatte viele liebe Freunde in der sächsischen Hauptstadt. Auch ihre Kinder waren dort erzogen worden. Das Herz tat ihr weh, als sie die sächsischen Laute hörte.
Sie war eine kleine, zarte Dame mit einem Vogelgesicht, elegant, dabei aber mit einem ganz unverkennbaren Anhauch vom Blaustrumpftum der neunziger Jahre. Sie flatterte behutsam von Bett zu Bett und sprach zu jedem Verwundeten, in fehlerfreiem Deutsch, aber mit ihrer dünnen englischen Tongebung: und immer stellte sie die Frage, ob sie irgend welche Wünsche erfüllen könne? Die Verwundeten waren zumeist Offiziere und weltmännisch gebildete Herren. Sie äußerten kleine Wünsche, die Lady Beveridge in ein Notizbuch schrieb. Ihr langes, blasses, ein wenig müdes Gesicht und ihre raschen, nervösen Bewegungen flößten irgendwie Vertrauen ein.
Einer der Verwundeten lag ganz still, mit geschlossenen Augen. Er hatte einen schwarzen Bart. Sein Gesicht war ziemlich klein und gelblich bleich. Man hätte ihn für tot halten können. Lady Beveridge sah ihn aufmerksam an, und ihr Gesicht verriet Bestürzung.
»Ja, das ist ja – Graf Dionys!« sagte sie erregt. »Schlafen Sie?«
Es war Graf Johann Dionys Psanek, ein Böhme. Sie hatte ihn schon in seiner Knabenzeit gekannt, und noch im Frühjahr 1914 hatte er sie mit seiner Frau in ihrem Landhause in Leicestershire besucht.
Seine schwarzen Augen öffneten sich: große, schwarze, blicklose Augen, mit geschwungenen schwarzen Wimpern. Er war ein kleiner Mann, klein wie ein Knabe, und auch sein Gesicht war ziemlich klein. Alle Linien dieses Gesichtes waren von so edlem Schwung, als hätte das Feuer kühner männlicher Tatkraft sie gebildet. Jetzt aber war das gelbliche Braun seiner Haut wie erstorben, und seine schöngeschwungenen schwarzen Brauen schienen auf das Antlitz eines Toten gezeichnet. Die Augen freilich waren lebendig: aber eben auch nur lebendig; sie sahen und erkannten nichts.
»Sie erkennen mich doch, Graf Dionys? Sie erkennen mich doch, nicht wahr?« sagte Lady Beveridge und neigte sich über das Bett.
Eine Zeit lang kam keine Antwort. Dann sammelte sich der Blick der schwarzen Augen zu einem Ausdruck des Erkennens, und auf seinem Gesicht erschien das Gespenst eines höflichen Lächelns.
»Lady Beveridge.« Die Lippen formten die Worte. Aber es wurde kein Laut vernehmlich.
»Ich bin ja so froh, daß Sie mich erkennen. Und es tut mir ja so leid, daß Sie verwundet sind. Es tut mir so leid.«
Die schwarzen Augen betrachteten sie aus der furchtbaren Ferne des Todes, wandellos.
»Kann ich gar nichts für Sie tun?« fragte sie, immer auf deutsch. »Wirklich gar nichts?«
Nach einer Weile und aus einer Ferne gaben seine Augen die Antwort: einen Blick, der Müdigkeit ausdrückte, und Verneinung, und den Wunsch, daß sie ihn verlassen möge. Er hatte nicht die Kraft, sich ins Bewußtsein zu zwingen. Seine Lider sanken herab.
»Es tut mir so leid«, sagte sie. »Wenn ich Ihnen doch irgendwie helfen könnte –«
Wieder schlug er die Augen auf und sah sie an. Und nun schien er sie endlich gehört zu haben. Seine Augen machten eine müde Bewegung, die wie eine abschließende höfliche Verneigung war. Und langsam schlossen sie sich wieder.
Der armen Lady Beveridge war zumute, als würde ihr ein neues Schwert des Leides durchs Herz gestoßen, indessen sie dastand und auf sein regloses Gesicht und seinen weichen schwarzen Bart hinabblickte. Dünn und fein und ziemlich weit voneinander entfernt kamen die schwarzen Haare aus seiner Haut hervor. Ein seltsames, dunkles, an uralte Rasse gemahnendes Gesicht hatte er, mit einer feingeschnittenen Nase; arische Rasse war es zweifellos nicht. Ja, da lag er nun und mußte sterben.
Ihm war eine Kugel durch den oberen Teil der Brust gegangen, und eine zweite Kugel hatte ihm eine Rippe zerschmettert. Er lag seit fünf Tagen hier im Lazarett.
Lady Beveridge bat die Oberin, sie anzurufen, wenn sein Befinden sich verschlimmern sollte. Dann stieg sie in ihren Wagen, in trauriger Stimmung. Aber sie fuhr nicht nach Beveridge House, sondern zur Wohnung ihrer Tochter, in der Nähe des Parks – des Hyde Parks. Lady Daphne war arm. Sie hatte einen Abgeordneten des Unterhauses, einen »Commoner«, geheiratet, Sohn eines der berühmtesten englischen Politiker – aber einen Mann ohne Geld. Und Earl Beveridge hatte den größten Teil des großen Vermögens, das ihm durch Erbschaft zugefallen war, vergeudet, so daß seine Tochter verhältnismäßig wenig besaß.
Lady Beveridge litt darunter, daß der Eingang so schmal, die Wohnung so häßlich war. Lady Daphne saß in ihrem kleinen gelben Salon am elektrischen Ofen. Sie erhob sich sogleich, als sie ihre kleine Mutter erblickte.
»Ja, Mutter – du bist unterwegs –? Mußte das sein? Ich kann mir gar nicht denken – –«
»Doch, Liebling. Natürlich mußte es sein.«
»Wie gehts dir?« Lady Daphne sprach langsam und überlegen fürsorglich; ihre schöne Stimme klang traurig. Sie war von hohem Wuchs und erst fünfundzwanzig Jahre alt. Als der Krieg ausbrach, zählte sie zu den anerkannten Schönheiten; ihr Vater hatte gehofft, daß sie eine glänzende Heirat machen würde. Und Ruhm hatte sie ja auch erheiratet: aber Ruhm ohne Geld. Nun hatten Sorge, Schmerz und verdrängte Leidenschaftlichkeit sie mit tiefen Spuren gezeichnet. Ihr Mann wurde auf dem östlichen Kriegsschauplatz vermißt. Ihr Kind war tot zur Welt gekommen. Ihre beiden geliebten Brüder waren gefallen. Und sie selbst war krank, immer krank.
Hoch und schön gewachsen war sie – von dem hohen und schönen Wuchs ihres Vaters. Noch trug sie die Schultern straff. Aber wie dünn war ihr weißer Hals! Ihr schlichtes schwarzes Kleid war am Halse mit bunter Wolle bestickt und wurde in den Hüften von einem weiten farbigen Gürtel gehalten: im übrigen trug sie keinen Schmuck. Ihr Gesicht, mit weißer Haut von fremdartig wirkendem weichen Schimmer und zartroten Wangen, war schön und liebenswert. Ihr Haar war weich und schwer, aschblond, von schönem matten Goldglanz. Und beides, Haar und Haut, war so vollendet gepflegt, daß sie beinahe etwas Künstliches bekam, wie eine Treibhausblüte.
Ihre Schönheit aber war trügerisch. Sie war von Schwindsucht bedroht und viel zu mager. Am traurigsten stimmten ihre Augen: ihre überreizten, erschöpften Augen, mit ein wenig geröteten Rändern und schweren, geäderten Lidern, die aussahen, als möchten sie sich am liebsten schließen. Die Augen selbst waren groß und von schöner grünblauer Farbe. Aber sie waren matt, müde, fast verschleiert.
Wer sie sah, wie sie so dastand und mit liebevoller Sorge auf ihre Mutter hinabblickte, eine hoch und prächtig gewachsene Frau, dem füllte sich das Herz mit grauer Trauer. Ihre rührende und in ihrer Art so wundervolle kleine Mutter war in allen ihren Kümmernissen eigentlich gar nicht bemitleidenswert. Denn ihre Kümmernisse und ihre Bemühungen, die Kümmernisse anderer zu lindern, waren der Inhalt ihres Lebens. Daphne dagegen war nicht zur Sorgenträgerin und Menschheitsbeglückerin geboren. Sie mit ihrem prachtvollen Wuchs und ihren schönen langen starken Beinen war der Artemis oder der Atalanta ähnlicher als der Daphne. Ihre in breitem Bogen gespannte Stirn, ihr kräftiges Kinn waren Ausdruck eines starken, rücksichtslosen Wesens, und das seltsame, zerstreute Abgleiten ihres Blickes zeugte von einer wilden Energie, die in ihr aufgestaut war.
Und eben dies war es, was sie peinigte: diese wilde Energie. Sie hatte sie vom Vater und von verwegenen Ahnen aus der Familie des Vaters geerbt. Die Ahnenreihe der Earls begann mit einem rauflustigen Wagehals von Grenzkrieger, und sein Blut floß in allen, die nach ihm kamen. Du lieber Gott – und was sollte man jetzt damit anfangen?
Daphnes Mann war ein anbetungswürdiger Gatte: wirklich ein anbetungswürdiger Gatte. Und sie hätte statt dessen einen tollen Wagehals haben müssen. Freilich, ihr Verstand haßte alle Wagehälse: durch die mütterliche Erziehung hatte sie gelernt, daß nur gute Menschen Bewunderung verdienen.
So konnte ihre rücksichtslos leidenschaftliche, dem Weltbeglückertum durchaus entgegengesetzte Natur sich nicht Luft machen – und durfte sich nach ihrer Meinung auch gar nicht Luft machen. Infolgedessen kehrte ihr eigenes Blut sich gegen sie, peitschte ihre Nerven und zerstörte sie von innen her. Ihre Krankheit, die von den Ärzten befürchtete Schwindsucht, war nichts weiter als verdrängte Leidenschaft und Zorn. Da stand es geschrieben, in den Linien um ihren ziemlich großen Mund: Verdrängung, Zorn, Bitterkeit. Und ihre grünblauen Augen verrieten es, mit dem schräg abgleitenden, abgewendeten Blick: Zorn, der sich heimlich gegen sich selbst kehrte. Zorn rötete ihre Augen und zerfaserte ihre Nerven. Und doch zwang sie sich mit Einsatz ihres ganzen Willens dazu, zu glauben, was ihre Mutter glaubte, und ihren schönen, stolzen, rücksichtslosen Vater, der so viel Unheil in der Familie gestiftet hatte, zu verdammen. Ja, mit ihrem ganzen Willen hielt sie fest an dem Entschluß, daß ihr Leben von Zartsinn und Güte und Wohltun beherrscht sein sollte. Und dabei forderte ihr Blut, das Blut der rauflustigen Wagehälse, Rücksichtslosigkeit. Ihr Wille war stärker. Aber das Blut rächte sich an ihr. So geht es heutzutage mit den starken Naturen: sie werden von innen her zerstört.
»Hast du neue Nachrichten, Liebling?« fragte die Mutter.
»Nein. Mein Schwiegervater hat erfahren, daß gefangene Engländer nach Hasrun gebracht worden sind. Die Türken haben nähere Mitteilungen angekündigt. Und gefangene Araber haben das Gerücht mitgebracht, einer von den Gefangenen, die verwundet eingebracht wurden, wäre Basil gewesen.«
»Primrose war heute morgen hier.«
»Dann dürfen wir also hoffen, Daphne.«
»Ja.«
Nichts hätte trüber und bitterer klingen können als Daphnes Bekenntnis zur Hoffnung. Für sie war die Hoffnung fast zum Fluch geworden. Sie wünschte, daß es so etwas wie Hoffnung gar nicht geben möchte. Oh, diese Qual des Hoffens – und der Schimpf, der damit der eigenen Seele geschah! Wie die zudringliche Witwe kam sie sich vor, die sich vom Schicksal Entschädigung für ihren Kummer erwinseln will. Warum gab es nicht einfach ein einziges gründliches Unheil – und damit gut? Dieses Getändel mit der Verzweiflung war doch viel schlimmer als die Verzweiflung selbst. Sie hatte so viel und so oft gehofft: oh, für ihre sehr geliebten Brüder hatte sie mit solcher Seelenangst gehofft. Und nun waren die beiden Menschen, die sie am tiefsten geliebt hatte, tot. Und tot waren auch die meisten andern, für die sie gehofft hatte. Nur diese Ungewißheit über das Schicksal ihres Mannes nagte noch an ihr.
»Gehts dir besser, Liebling?« fragte ihre standhafte kleine Mutter.
»O ja, einigermaßen«, antwortete Daphne verdrossen.
»Und wie hast du geschlafen?«
»Schlecht.«
Eine Weile schwiegen beide.
»Du frühstückst doch mit mir, Liebling?«
»Nein, liebste Mutter. Ich habe Primrose versprochen, zum Frühstück ins Howards zu kommen. Aber ich habe noch eine Viertelstunde Zeit. Setz dich doch!«
Die beiden setzten sich an den elektrischen Ofen. Und nun gab es eine schmerzliche Pause, da weder Mutter noch Tochter etwas zu sagen wußte. Schließlich raffte Daphne sich auf und sah ihre Mutter an.
»Hast du dir auch recht überlegt, ob dir die Ausfahrt bekommt?« fragte sie. »Warum mußtest du denn so plötzlich aus dem Hause?«
»Ich bin zum Hurst Place gefahren, Liebes. Die Geschichte mit den Verwundeten wollte mir nicht aus dem Kopf, seitdem ich gelesen hatte, was in den Zeitungen stand.«
»Wie kann man aber auch Zeitungen lesen!« brach Daphne mit brennender, zornig bitterer Verachtung los. Aber sie mäßigte sich sofort. »Na ja. Und nun hats dir gutgetan, daß du dagewesen bist?«
»Nicht nur wir allein leiden, Liebling – so viele andere auch.«
»Oh, ich weiß. Und das macht es nur noch schlimmer. Wenn nur wir es wären, dann wärs ja einerlei. Oder vielmehr: es wäre natürlich nicht einerlei, aber man trüge es leichter. Aber nur einer in der Menge zu sein, wo es allen anderen ebenso geht – –«
»– und manchen sogar schlimmer, Liebes.«
»Oh, ich weiß. Und je schlimmer es für alle ist, um so schlimmer ist es für uns selbst.«
»Steht es wirklich so, Liebling? Versuch doch mal die Dinge nicht so schwarz zu sehen. Wenn ich selbst ein bißchen – auch nur ein bißchen – von meiner Kraft hergeben kann, um anderen zu helfen, dann ist es mir – ja, weißt du, dann wird mir tatsächlich leichter. Ich denke immer, was ich für die Verwundeten tue, die da liegen, Daphne, das tu ich für meine eigenen Jungen. Denen kann ich jetzt nur noch dadurch helfen, daß ich anderen helfe. Das aber kann ich doch wenigstens noch tun, Daphne, mein Mädel.«
Und die Mutter schob ihre kleine weiße Hand in die lange weiße kalte Hand der Tochter. Tränen stiegen in Daphnes Augen, und ihr Mund verzog sich zu einer furchtbaren steinernen Grimasse.
»Wundervoll finde ich das von dir, daß du es so empfinden kannst«, sagte sie.
»Aber du empfindest es ja ebenso, Liebling. Ich weiß es doch.«
»Nein, das tu ich nicht. Jeder, den ich diese gräßlichen Qualen leiden sehe, verstärkt in mir den Wunsch, daß endlich das Ende der Welt kommt. Und ich weiß natürlich ganz genau, daß das Ende der Welt nicht kommt – –«
»Aber es wird ja wieder besser, Liebes. Diesmal ist es wie eine schwere Krankheit – wie eine schreckliche Lungenentzündung, die der Welt die Brust zerreißt.«
»Glaubst du wirklich, daß es besser wird? Ich nicht.«
»Daß es besser wird –? Natürlich wird es besser. Es ist widernatürlich, etwas anderes zu glauben, Daphne. Bedenk doch einmal, was alles früher schon geschehen ist, auch in Europa. Wir müssen die Dinge unter einem größeren Gesichtspunkt sehen, Daphne.«
»Ja, das müssen wir wohl.«
Die Tochter sagte es rasch, eintönig, in flachem Ton: sie sagte es mit den Lippen. Bei der Mutter kam es aus dem Herzen.
»Und, Daphne – ich habe unter den Verwundeten am Hurst Place einen alten Freund gefunden.«
»Wen?«
»Den Grafen Dionys Psanek. Du entsinnst dich seiner noch?«
»O ja. Was fehlt ihm?«
»Ziemlich schwer verwundet – durch die Brust geschossen. Es sieht schlimm aus.«
»Hast du mit ihm gesprochen?«
»Ja. Ich erkannte ihn trotz seinem Bart.«
»Bart –?!«
»Ja – einen schwarzen Bart hat er. Wahrscheinlich haben sie ihn nicht rasieren können. Wunderbar genug, daß er überhaupt noch lebt, der Ärmste.«
»Wieso wunderbar? Er ist doch noch nicht alt. Wie alt wohl?«
»Zwischen dreißig und vierzig. Aber so krank, so schwer verwundet, Daphne. Und so winzig. So winzig, so gelblich blaß – smorto; du kennst ja das italienische Wort dafür, Daphne. Wie dunkelhaarige Leute aussehen, wenn sie krank sind. Es geht einem so nahe.«
»Dann sieht er wohl sehr winzig aus – unheimlich?« fragte Daphne.
»Nein, unheimlich nicht. Weißt du, er hat etwas von dieser furchtbaren Ferngerücktheit eines Kindes, das sehr krank ist und uns nicht sagen kann, was ihm fehlt. Der arme Graf Dionys, Daphne. Ich wußte gar nicht, daß er so schwarze Augen hat und so lange, geschwungene Wimpern. Er ist schön – und das hab ich nie gewußt, wenn ich an ihn dachte.«
»Ich auch nicht. Ich fand ihn immer ein bißchen komisch. So ein netter kleiner Kerl.«
»Ja. Und jetzt, Daphne, liegt etwas Ferngerücktes und auf traurige Art Heldenhaftes in seinem dunklen Gesicht. Etwas Urtümliches.«
»Was sagte er, als er dich sah?«
»Er konnte gar nichts sagen. Nur die Lippen bewegen – als er mich erkannte.«
»So schlimm stehts mit ihm?«
»O ja. Die Ärzte fürchten, daß er nicht zu retten ist.«
»Armer Graf Dionys. Ich mochte ihn gern. Er erinnerte mich ein bißchen an einen Affen, aber er hatte wirklich seine Vorzüge. An meinem siebzehnten Geburtstag schenkte er mir einen Fingerhut. Einen ganz ulkigen Fingerhut.«
»Ich weiß es noch, Liebling.«
»Unangenehme Frau übrigens, die er hatte. Obs ihm wohl nahegeht, daß er so fern von ihr sterben muß? Und ob sie wohl was davon weiß?«
»Das glaube ich nicht. Im Lazarett hatten sie nicht mal seinen Namen so richtig begriffen. Nur daß er Oberst im soundsovielten Regiment ist – –«
»Viertes Kavallerie-Regiment«, sagte Daphne. »Armer Graf Dionys. So ein hübscher Name. Hat mir schon immer so gefallen, Graf Johann Dionys Psanek. Gott, was für ein Stutzer war er damals! Und ein fabelhaft guter Tänzer – klein, aber geladen mit Temperament. Ob er wohl sehr am Leben hängt?«
»Er war so ganz erfüllt von Leben – auf seine besondere naive und ursprüngliche Art. Es heißt immer, alle kleinen Menschen wären eingebildet. Aber er sieht jetzt gar nicht mehr eingebildet aus, das kannst du mir glauben, Liebes. Etwas jahrtausende Altes ist in seinem Gesicht – und – ja, also auf seine Art ist er schön, Daphne.«
»Du meinst wegen der langen Wimpern.«
»Nein. So still, so einsam – und aus Jahrtausende alter Rasse. Ich denke mir, er muß aus einer der wunderlichen kleinen Ureinwohnerrassen kommen, die da unten in Mitteleuropa sitzen. Ich kam mir ganz neu vor daneben.«
»Entzückend hast du das gesagt.«
Immerhin rief Lady Daphne am nächsten Tage im Lazarett an, um sich nach seinem Befinden zu erkundigen. Es ginge ihm unverändert, hieß es. Von da ab rief sie täglich an. Und eines Tages hörte sie, er wäre ein wenig kräftiger. An dem Tage, als sie die Nachricht erhielt, daß ihr Mann verwundet in türkische Gefangenschaft geraten war und daß seine Wunden heilten, vergaß sie den Anruf im Lazarett. Am nächsten Tage aber kündigte sie an, daß sie den Grafen Dionys Psanek besuchen würde.
Er war wach und unruhiger, körperlich erregter als sonst. Sie sah die Linien des Schmerzes um seine Nase – wie Übelkeit sah das aus. Sein Gesicht schien ihr auf wunderliche Art verborgen hinter dem schwarzen Bart; und doch war dieser Bart dünn: jedes Haar kam dünn und fein und einzeln aus der gelbbleichen, ein wenig durchscheinenden Haut hervor. Und auch sein Schnurrbart zog sich in dünner schwarzer Bogenlinie um seinen Mund. Seine Augen waren sehr schwarz, weit offen und ohne deutbaren Ausdruck. Er blickte den beiden Frauen entgegen, als sie durch den überfüllten, düsteren Raum herankamen; aber es war, als sähe er sie nicht. Seine Augen schienen zu weit offen, um sie wahrzunehmen.
Es war ein kalter Tag, und Daphne war in einen schwarzen Seidenbibermantel gehüllt, dessen aufgestellter Skunkskragen sie bis an die Ohren verbarg; ihren Hut, eine mattgoldene Flügelkappe, hatte sie tief in die Stirn gezogen. Lady Beveridge trug ihren Zobelmantel und sah darin so wunderlich zerzaust und doch elegant aus wie immer; man mußte an ein zerrauftes Küken denken.
Daphne ging der Aufenthalt im Lazarett an die Nerven. Sie blickte bald nach rechts, bald nach links, obwohl sie es nicht wollte, und alles, was sie sah, erweckte in ihr ein dumpfes Entsetzen: es war das Grauen, das von diesen kranken und verwundeten feindlichen Soldaten ausging. Hochaufragend, von aufdringlicher Auffälligkeit in ihren Pelzen, stand sie neben ihrer kleinen Mutter am Bett.
»Hoffentlich ist es Ihnen recht, daß ich gekommen bin!« sagte sie auf deutsch zu dem Verwundeten. Ihre Zunge sperrte sich unbeholfen gegen die fremdgewordene Sprache.
»Wer sind Sie denn?« fragte er.
»Meine Tochter, Lady Daphne. Mich erkannten Sie doch – ich bin Lady Beveridge. Und dies ist meine Tochter – Sie haben sie doch als Kind gekannt, damals, in Sachsen. Es tat ihr so leid, daß Sie verwundet sind.«
Die schwarzen Augen betrachteten die kleine Dame. Dann kehrten sie zu Lady Daphnes ragender Gestalt zurück. Und etwas wie Furcht verschattete die niedrige krankheitsbleiche Stirn. Es war offenbar, daß ihre Gegenwart ihn bedrückte und erschreckte. Er wandte den Kopf zur Seite. Daphne bemerkte, wie sein weiches schwarzes Haar, das seit langem nicht geschnitten war, über seine kleinen tierhaften Ohren herabfiel.
»Sie entsinnen sich meiner nicht mehr, Graf Dionys?« fragte sie unbeholfen.
»Doch«, sagte er. Aber er wandte ihr das Gesicht nicht wieder zu.
Eine Weile stand sie stumm da und fühlte sich so verlegen und unglücklich, als hätte sie mit ihrem Kommen eine Taktlosigkeit begangen.
»Ist es Ihnen lieber, wenn wir wieder gehen?« sagte sie. »Dann verzeihen Sie die Störung.«
Ihre Stimme klang eintönig. Ihr war plötzlich, als müßte sie in ihren Pelzen ersticken, und sie riß heftig den Mantel auf, so daß man ihren dünnen weißen Hals und das schlichte schwarze Kleid über ihrer flachen Brust sah. Nun endlich wandte er sich, widerstrebend, und sah sie an. Und er sah sie an, als stände da irgend ein fremdes und erschreckendes Geschöpf an seinem Bett.
»Leben Sie wohl«, sagte sie. »Gute Besserung.«
Sie sah ihn an mit dem seltsamen schräg niederfallenden Blick ihrer traurigen Augen, als sie sich wegwandte. Immer noch lag um ihre Augen die leichte Röte der Überreiztheit und Erschöpfung.
»Sie sind so groß«, sagte er, noch immer eingeschüchtert.
»Das war ich doch schon immer«, antwortete sie und wandte sich ihm halb wieder zu.
»Und ich – so klein.«
»Ich freue mich, daß es Ihnen besser geht«, sagte sie.
»Ich freue mich gar nicht darüber.«
»Warum denn nicht? Das kann ich mir gar nicht denken. Wir freuen uns doch auch, weil es unser Wunsch ist, daß Sie wieder gesund werden.«
»Vielen Dank«, sagte er. »Ich wollte aber gern sterben.«
»Tun Sie das nicht, Graf Dionys. Werden Sie gesund«, sagte sie in der aufrichtigen und knappen Art ihrer Mädchenjahre. Wieder traf sein Blick sie mit dem Ausdruck des Wiedererkennens. Aber seine kurze, ein wenig spitze Nase blieb aufwärts gekehrt, seine Stirn voll düsterer Falten: im Ausdruck eines Schmerzes, den er mit Ekel und Überdruß trug. In seinem Blick flackerte die seltsame Flamme, wie man sie in den Augen von Leidenden findet, wenn man sie zwingt, der Außenwelt ein wenig Aufmerksamkeit zu schenken: aber was sie sagen, gilt nur ihnen selbst.
»Warum haben sie mich hier nicht sterben lassen?« fragte er. »Ich wollte doch sterben.«
»Nein«, sagte sie. »Das sollen Sie nicht. Sie sollen leben. Wer leben kann, muß es tun.«
»Ich sehnte mich nach dem Tode.«
»Wenn auch«, sagte sie. »Noch nicht einmal den Tod können wir Menschen haben, wenn wir ihn uns wünschen oder zu wünschen glauben.«
»Da haben Sie recht«, sagte er und sah sie mit seinen wandellosen großen schwarzen Augen an.
»Bitte, setzen Sie sich doch. Im Stehen sind Sie mir zu groß.«
Sie fühlte, daß ihre dunkel und riesig neben seinem Bette aufragende Gestalt ihn immer noch ein wenig beklommen machte.
»Ich finde es betrüblich, daß ich zu groß bin«, sagte sie und setzte sich auf den Stuhl, den ein Pfleger ihr brachte. Lady Beveridge war zu den anderen Verwundeten gegangen. Daphne saß da und wußte nicht, was sie nun sagen sollte. Seine pechschwarzen, weit offenen Augen hatten einen Ausdruck, den sie vergebens zu enträtseln suchte.
»Warum kommen Sie hierher? Warum kommt Ihre Frau Mutter hierher?« fragte er.
»Um zu sehen, ob wir uns nützlich machen können«, antwortete sie.
»Wenn ich wieder gesund bin, mache ich Ihnen meinen Dankbesuch, Mylady.«
»Das ist recht«, sagte sie. »Wenn Sie wieder gesund sind, nehme ich Ihren Dankbesuch an, Herr Graf. Bitte, werden Sie gesund.«
»Wir sind Feinde.«
»Wer? Sie und ich und meine Mutter?«
»Etwa nicht? Das ist eben so furchtbar schwierig – irgend etwas ganz genau zu erkennen. Hätten sie mich doch sterben lassen!«
»Das ist zum mindesten undankbar, Graf Dionys.«
»›Lady Daphne‹! Ja. ›Lady Daphne‹! Schön, der Name. Werden Sie immer Lady Daphne genannt? Ich weiß noch, was für ein heiteres Mädel Sie waren.«
»Meistens, ja«, sagte sie, als Antwort auf seine Frage.
»Ach – wir alle sollten uns jetzt andere Namen geben lassen. Ich hab mir für mich schon mal einen anderen Namen ausgedacht, aber ich hab ihn wieder vergessen. ›Johann Dionys‹ paßt nicht mehr. Der Name ist weggeschossen. Ich bin Karl oder Wilhelm oder Ernst oder Georg. Das sind Namen, die ich nicht leiden kann. Hassen Sie sie auch?«
»Ich mag sie nicht – aber ich hasse sie auch nicht. Und Sie dürfen nicht aufhören, Graf Johann Dionys zu sein. Denn dann müßte ich auch aufhören, Daphne zu sein. Ich mag Ihren Namen so gern.«
»›Lady Daphne‹! ›Lady Daphne‹!« wiederholte er. »Ja, es klingt gut. Es klingt schön, finde ich. Aber ich glaube, ich schwatze Unsinn. Ich höre mich selbst, wie ich Ihnen Unsinn vorschwatze.« Er sah sie besorgt an.
»Aber gar nicht«, sagte sie.
»Ach –! Ich habe einen Kopf auf den Schultern, der ist wie eine papierene Windmühle – so ein Kinderspielzeug, wissen Sie. Er klappert lauter unsinnige Worte; ich kann nichts dagegen tun. Bitte, gehen Sie fort, damit Sie mir nicht zuhören müssen. Ich höre mir ja selber zu.«
»Kann ich nicht irgend etwas für Sie tun?« fragte sie.
»Nein, nein! Nein, nein! Ich möchte begraben liegen, tief, ganz tief drunten, wo man alles vergißt! Aber sie ziehen mich ja wieder herauf, wieder an die Oberfläche. Es wäre mir sogar recht, wenn sie mich lebendig begrüben – nur sehr tief muß es sein, und dunkel, und die Erde muß schwer über mir liegen.«
»Sprechen Sie doch nicht so.« Sie stand auf.
»Nein, ich sag es, auch wenn ich es gar nicht sagen will. Warum bin ich hier? Warum bin ich hier? Warum hab ich weiterleben müssen – in eine solche Welt hinein? Warum kann ich nicht aufhören zu reden?«
Er wandte das Gesicht zur Seite. Sein schwarzes feines elfenhaftes Haar war sehr lang und strebte in Büscheln von der weichen Linie seines braunen Nackens empor. Daphne sah ihn bekümmert an. Er konnte den Körper nicht bewegen. Er konnte nur den Kopf bewegen. So lag er mit schroff abgewandtem Gesicht, und die feinen Haare seines Bartes kamen so seltsam aus der Haut hervor, über seiner Kehle und unter seinem Kinn, bis hinauf zum Ohr. So lag er ganz still. Und sie wandte sich ab und sah sich nach ihrer Mutter um. Sie hatte plötzlich erkannt, daß die Bande, die Verbindungen zwischen ihm und seinem Leben in der Welt zerrissen waren: da lag er nun, ein losgerissenes, zuckendes Menschheitsfetzchen, weggeschossen vom Körper der Menschheit.
Erst nach zehn Tagen fuhr sie wieder zum Lazarett. Sie hatte überhaupt nicht wieder hingehn, hatte ihn vergessen wollen, wie man Dinge zu vergessen sucht, die man nicht ändern kann. Aber sie konnte ihn nicht vergessen. Er erschien wieder und immer wieder in ihren Gedanken. Sie mußte wieder zu ihm gehen. Sie hatte erfahren, daß er, wenn auch sehr langsam, genas.
Er sah tatsächlich besser aus. Seine Augen waren nicht mehr so weit offen und hatten auch den schwarzen, tintigen Glanz nicht mehr, der ihnen einen so unnatürlichen und beklemmenden Ausdruck gab. Er musterte sie zurückhaltend. Sie hatte ihren Pelz abgelegt und trug zum Kleid nur eine dunkle weiche Federkappe.
»Wie geht es Ihnen?« fragte sie und stand mit abgewandtem Gesicht, da sie seinen Augen nicht begegnen wollte.
»Danke, es geht mir besser. Die Nächte sind nicht mehr so lang.«
Sie erschauerte, denn sie wußte, was lange Nächte bedeuten. Auch er sah den müden Ausdruck ihres Gesichts und die geröteten Ränder ihrer Augen.
»Geht es Ihnen nicht gut? Haben Sie irgend einen Kummer?« fragte er.
»Nein, nein«, sagte sie abwehrend.
Sie hatte ihm eine Handvoll blaßroter Blumen mitgebracht: eine Art Gänseblumen.
»Machen Sie sich etwas aus Blumen?« fragte sie.
Er betrachtete den Strauß. Dann schüttelte er langsam den Kopf.
»Nein«, sagte er. »Wenn ich zu Pferde sitze und durch die Wiesen oder das Hügelland reite, dann sehe ich sie gern, wie sie mir zu Füßen wachsen. Aber nicht hier. Nicht jetzt. Bitte, bringen Sie keine Blumen in diese Gruft. Noch nicht einmal in Gärten sehe ich sie gern. Da sind sie doch nur Schmuckwerk für das Leben der Menschen.«
»Dann will ich sie wieder mitnehmen«, sagte sie.
»Bitte, tun Sie das. Bitte, geben Sie sie der Schwester.«
»Vielleicht«, sagte sie dann, »wäre es Ihnen lieber, ich käme nicht? Vielleicht störe ich Sie?«
Er sah ihr ins Gesicht. »Nein. Sie sind wie eine Blume hinter einem Felsen, am Rande eines eiskalten Wassers. Nein, Sie leben nicht zu sehr. Ich fürchte, ich rede schon wieder Unsinn. Am liebsten möchte ich den Mund geschlossen halten. Wenn ich ihn aufmache, rede ich dieses alberne Zeug. Es läuft mir so von den Lippen.«
»Es ist gar nicht so sehr albern«, sagte sie.
Aber er blieb stumm und sah von ihr hinweg.
»Nun sagen Sie mir, bitte, einmal, ob ich denn wirklich gar nichts für Sie tun kann.«
»Nichts«, antwortete er.
»– ob ich vielleicht einen Brief für Sie schreiben kann.«
»Keinen«, antwortete er.
»Aber Ihre Frau und Ihre beiden Kinder –? Wissen die überhaupt, wo Sie sind?«
»Wohl kaum.«
»Und wo ist Ihre Familie?«
»Das weiß ich nicht. Wahrscheinlich in Ungarn.«
»Nicht in Ihrer Heimat?«
»Mein Schloß ist bei einem Aufstand niedergebrannt worden. Meine Frau ging damals mit den Kindern nach Ungarn. Da wohnen ihre Verwandten. Sie hat sich von mir getrennt. Aber ich wollte es auch so. Schlimm ist das alles; ich wollte, ich wäre tot. Vergeben Sie, daß ich so ins Persönliche gerate.«
Daphne sah hinunter auf ihn – auf diesen wunderlichen, trotzigen kleinen Grafen Johann Dionys.
»Aber Sie haben doch wohl irgend jemanden, dem Sie Nachricht geben möchten – von dem Sie Nachricht haben möchten?«
»Niemanden. Niemanden. Ich wollte, die Kugel wäre mir durchs Herz gegangen. Ich wollte, ich wäre tot. Ich lebe nur noch, weil ich einen bösen Geist im Leibe habe, der nicht sterben will.«
Sie sah ihn an, wie er mit seinem verschlossenen, abgewandten Gesicht dalag.
»Ganz gewiß ist es kein böser Geist, der Sie am Leben hält«, sagte sie. »Es ist ein guter Geist.«
»Nein, es ist ein böser Geist.«
Sie betrachtete ihn mit einem langen, langsam wandernden, erstaunten Blick.
»Muß man einen bösen Geist hassen, der einen am Leben hält?« fragte sie.
Er wandte ihr die Augen zu, und es war der Funke eines spöttischen Lächelns darin.
»Wenn man lebt: nein«, sagte er.
Sie sah weg in dem Augenblick, da er sie ansah. Nicht ums Leben hätte sie seinen dunklen Augen unmittelbar begegnen wollen.
Sie ging, und er lag reglos. Er las weder noch redete er in den langen Winternächten und an den kurzen Wintertagen. Er lag nur Stunde um Stunde mit schwarzen offenen Augen, sah alles in seiner Umgebung mit einem Anflug von Widerwillen – und beachtete nichts.
Daphne besuchte ihn dann und wann. Sie vergaß ihn nie für lange Zeit. Er schien ganz plötzlich in ihr Denken einzudringen, als wäre Magie im Spiel.
Eines Tages sagte er zu ihr:
»Sie sind verheiratet, wie ich sehe. Darf ich fragen, wer Ihr Gatte ist?«
Sie sagte es ihm. Und sie konnte auch berichten, daß ein Brief von Basil gekommen war. Der Graf lächelte – ein langsam aufglänzendes Lächeln.
»Da haben Sie ja einen Ausblick, Lady Daphne: auf eine glückliche Wiedervereinigung, auf künftige schöne Kinder. Hab ich nicht recht?«
»Ja, natürlich«, sagte sie.
»Aber Sie sind krank.«
»Ja – recht krank sogar.«
»Was fehlt Ihnen?«
»Oh –!« sagte sie verdrossen und wandte den Kopf ab. »Von der Lunge war die Rede.« Es war ihr zuwider, darüber zu sprechen. »Übrigens – woher wissen Sie denn, daß ich krank bin?« fügte sie rasch hinzu.
Wieder lächelte er langsam.
»Ich lese es in Ihrem Gesicht und höre es in Ihrer Stimme. Das ist, als hätte der Böse Sie verhext.«
»Nicht doch«, sagte sie hastig. »Aber sehe ich denn krank aus?«
»Ja. Sie sehen aus, als hätten Sie einmal einen Hieb durchs Gesicht bekommen und könnten ihn nicht vergessen.«
»Von niemandem hab ich einen Hieb bekommen«, sagte sie, »– höchstens vom Kriege.«
»Vom Kriege!« wiederholte er.
»Ja, aber davon wollen wir nicht reden.«
Ein ander Mal sagte er zu ihr:
»Jetzt ist Sonnenwende gewesen – einmal muß die Sonne ja wieder scheinen, sogar in England. Ich habe Angst, daß ich zu früh gesund werde. Ich bin doch ein Gefangener – nicht? Aber ich wünschte, die Sonne schiene. Ich wünschte, die Sonne schiene mir ins Gesicht.«
»Sie werden ja nicht ewig ein Gefangener bleiben. Einmal geht der Krieg zu Ende. Und die Sonne scheint wirklich in England, auch im Winter.«
»Ich wollte, sie schiene mir ins Gesicht«, sagte er.
Im Februar kam ein blauer heller Morgen, ein Morgen, an dem man gelbe Krokusblüten und den Duft des Seidelbasts und den Geruch feuchter warmer Erde denken muß: da nahm Daphne eiligst eine Droschke und fuhr zum Lazarett hinaus.
»Sie kommen, um mich in die Sonne zu bringen«, sagte er im Augenblick, da er sie sah.
»Ja, deshalb bin ich gekommen.«
Sie sprach mit der Oberin, und sein Bett wurde hinausgeschafft, an ein großes tiefreichendes Fenster. Dort wurde er in die volle Sonne gestellt. Wenn er sich zur Seite wandte, konnte er den blauen Himmel und die funkelnden Wipfel purpurner kahler Bäume sehen.
»Die Welt! Die Welt!« murmelte er.
Er lag mit geschlossenen Augen, und die Sonne schien auf sein braunes, durchsichtiges, regloses Gesicht. Der Atem kam und ging durch seine Nüstern, unsichtbar. Daphne dachte: Wie bringt er es nur fertig, so ganz und gar still zu liegen, so ganz und gar reglos auszusehen? Mutter hat recht: Er sieht aus, als wäre er in die Form gegossen, als das Metall weißglühend war; so makellos sind seine Linien. Wie klein er ist – und in seiner Art: wie vollkommen!
Plötzlich öffneten sich seine dunkeln Augen und fingen ihren Blick.
»Die Sonne bewirkt, daß sogar der Zorn sich auftut wie eine Blume«, sagte er.
»Wessen Zorn?« fragte sie.
»Ich weiß nicht. Aber ich kann mir Blumen erschaffen, wenn ich durch meine Wimpern sehe. Können Sie das auch?«
»Sie meinen wohl Regenbogen?«
»Ja, Blumen.«
Und sie sah, wie er, ein seltsames Lächeln um die Lippen, durch fast geschlossene Lider in die Sonne blickte.
»Die Sonne ist weder englisch noch deutsch noch böhmisch«, sagte er. »Ich bin ein Untertan der Sonne. Ich gehöre zu den Feueranbetern.«
»Wahrhaftig – durch Überlieferung.« Er sah sie lächelnd an. »Sie stehen da wie eine Blume, die vergehen will«, sagte er.
Sie lächelte und sah ihn an – mit einem langsamen Lächeln und einem langsam wandernden, vorsichtigen Blick, als fürchte sie eine Gefahr.
»Ich bin aus viel festerem Stoff gemacht, als Sie glauben.«
Immer noch sah er sie an.
»Eines Tages,« sagte er, »bevor ich fortgehe, erlauben Sie mir, Ihr Haar um meine Hände zu schlingen, ja?« Er hob seine dünnen, kurzen, dunkeln Hände. »Lassen Sie mich Ihr Haar um meine Hände hüllen, wie einen Verband. Sie tun mir weh. Ich weiß nicht, wie es kommt. Wahrscheinlich von dem Gekrach der vielen Schüsse. Aber wenn Sie mir erlauben, meine Hände in Ihr Haar zu hüllen – es ist das Gold der Alchimisten, wissen Sie: aber es ist auch so viel vom Wasser darin, und vom Monde. Das wird den Schmerz meiner Hände lindern. Eines Tages – ja?«
»Wir wollen damit warten, bis der rechte Tag gekommen ist«, sagte sie.
»Ja«, antwortete er und schwieg wieder.
»Es quält mich,« sagte er nach einer Weile, »daß ich wie ein Kind jammere und bettle. Mir ist zumute, als hätte ich augenblicklich mein Mannestum verloren. Das ununterbrochene Gekrach der Flinten und der Geschütze! Das hat, scheints, meine Seele aus mir verscheucht wie einen Vogel, der schließlich verschüchtert flieht. Aber sie kommt wieder, wissen Sie. Und ich bin Ihnen so dankbar; Sie sind gut zu mir, der ich doch seelenlos bin, und Sie lassen michs nicht fühlen. Ihre Seele ist ruhig und tapfer.«
»Reden Sie nicht so!«
Der alte Ausdruck von Scham und Qual und Ekel ging flüchtig über sein Gesicht.
»Sehen Sie, ich kanns nicht ändern«, sagte er. »Ich habe meine Seele verloren, und nun kann ich nicht aufhören, zu Ihnen zu reden. Ich kann einfach nicht aufhören. Aber ich rede zu niemandem sonst. Ich versuche es, mich am Reden zu hindern, aber ich kanns nicht. Ziehen Sie die Worte aus mir heraus?«
Ihre großen grünblauen Augen sahen aus wie das Herz einer seltsamen vollerblühten Blume, einer Christrose mit Blütenblättern aus Schnee und Röte. Ihr Haar glänzte schwer, wie Muschelgold. Da stand sie, untätig und unbezähmbar, großäugig und zäh, in ihrer winterlichen Blondheit.
Ein ander Mal, als sie ihn besuchte, betrachtete er sie eine Weile; dann sagte er:
»Alle sagen Ihnen, daß Sie liebenswert, daß Sie schön sind, nicht?«
»Durchaus nicht alle«, antwortete sie.
»Aber Ihr Gatte –?«
»Ja, der hats gesagt.«
»Ist er zartsinnig? Ist er zärtlich? Ist er Ihnen ein herzensnaher Geliebter?«
Sie wandte das Gesicht ab, peinlich berührt.
»Ja«, sagte sie kurz.
Er antwortete nicht. Und als sie ihn wieder ansah, lag er mit geschlossenen Augen; ein schwaches Lächeln war wie Gekräusel rings um seine kurze, durchsichtige Nase. Die Haut seiner Wangen schimmerte matt durch den Bart, wie Wasser durch Binsen. Sein schwarzes Haar, glattgebürstet, glänzte wie Glas, seine dunkeln Brauen wie Bögen aus schwarzem Glase auf der bräunlichen, matt schimmernden Stirn.
Plötzlich sprach er, ohne die Augen zu öffnen. »Sie sind sehr gütig gegen mich gewesen«, sagte er.
»Bin ich das? Es ist nicht der Rede wert.«
Er öffnete die Augen und sah sie an. »Jedes Geschöpf findet seinen Gefährten«, sagte er. »Das Hermelin und der Iltis und der Bussard. Man findet so oft die Auffassung, daß nur die Taube und die Nachtigall und der Hirsch mit seinem Geweih zärtliche Gefährten haben. Aber auch der Iltis und die Eisbären des Nordens haben ihre Gefährten. Und eine weiße Bärin mit ihren Jungen liegt unter einem Felsen verborgen, wie eine Schlange sich verbirgt, und der Bär schwimmt langsam vom Meer heran, wie ein Schneeklumpen oder der Schatten einer weißen Wolke dahingleitend auf der gefleckten See. Ich habe auch die Bärin gesehen, und ich habe sie nicht geschossen; ich habe auch auf ihn nicht geschossen, als er mit Fischen im Maule an Land stieg und naß und langsam und gelbweiß über die schwarzen Steine watschelte.«
»Sie sind im Nordmeer gewesen?«
»Ja. Und bei den Eskimos in Sibirien, und durch die Tundras. Und eine weiße Raubmöwe baut sich ihr Nest auf einem hohen Felsen, und zuweilen schaut ihr weißer Kopf über die Kante des Felsens. Diese Welt gehört nicht nur den Menschen, Lady Daphne.«
»Nein, keineswegs«, sagte sie.
»Sonst wäre sie ein trostloser Aufenthalt.«
»Sie ist ohnehin schon schlimm genug«, sagte sie.
»Füchse hausen in ihren Löchern. Auch sie haben ihre Gefährten, Lady Daphne, denen sie zubellen, und von denen sie Antwort empfangen. Und auch die Viper findet ihr Weibchen. Der Name ›Psanek‹ bedeutet ›Übeltäter‹; wußten Sie das?«
»Nein, das wußte ich nicht.«
»Abenteurer und Räuber haben oft die schönsten und besten Gefährtinnen gefunden.«
»Ja, das ist wahr.«
»Ich will künftig Psanek sein, Lady Daphne. Ich will nicht mehr Johann Dionys sein, nie mehr. Psanek will ich sein, der Mann jenseits des Gesetzes. Das Gesetz hat mich durch die Brust geschossen.«
»Ich meine, Sie können Psanek sein – und trotzdem Johann und Dionys; alle drei Dinge zugleich«, sagte sie.
»Wenn mir die Sonne ins Gesicht scheint – vielleicht.« Er sah in die Sonne.
Der Frühling des Jahres 1918 brachte ein paar schöne Tage. Im März konnte der Graf aufstehen. Er bekam eine einfache dunkelblaue Uniform. Nun er sich rasiert hatte und das Haar kurz geschnitten trug, sah man, daß er nicht eigentlich hager war – aber seine bräunliche Haut wirkte durchsichtig. Seine Kleinheit war auffällig; aber er sah trotzdem männlich aus und war, in dieser Kleinheit, von vollendetem Wuchs. Von der lächelnden Hübschheit und Nettigkeit, die schuld daran waren, daß Daphne in ihren Mädchenjahren ihn mit einem Affen verglich, war nun nichts mehr zu spüren. Seine Augen waren dunkel und hochmütig; er wahrte, schien es, unbedingt eine selbstgewählte Zurückhaltung und sprach, wenn es sich irgend vermeiden ließ, mit niemandem, weder mit den Schwestern noch mit den Besuchern noch mit seinen gefangenen Kameraden. Es war, als ließe er ein Gitter nieder zwischen sich und ihnen: und durch das Gitter betrachtete er sie mit seinen dunkeln, schön bewimperten Augen wie ein stolzes kleines Tier aus dem Schutz seines Lagers hervor. Nur mit Daphne lachte und schwatzte er.
An einem Märztage saß sie mit ihm auf der Terrasse des Lazaretts. Weiße Wolken wanderten endlos und herrlich über einen blauen Himmel, und nach den Schattenpausen fiel warm die Sonne nieder.
»Habe ich Ihnen nicht mal an Ihrem siebzehnten Geburtstage einen Fingerhut geschenkt?« fragte er.
»– mit einer goldenen Schlange unten am Rande und einem Marienkäferchen aus grünem Stein an der Spitze, da, wo die Nadel aufliegt.«
»Ja.«
»Haben Sie ihn je benutzt?«
»Nein. Ich nähe so selten.«
»Hätten Sie etwas dawider, eine Näharbeit für mich zu machen?«
»Sie würden meine Stiche nicht bewundernswert finden. Was soll ich Ihnen denn nähen?«
»Nähen Sie mir ein Hemd, das ich tragen kann. Ich habe früher niemals Hemden getragen, die im Laden gekauft waren und in denen der Name eines Herstellers stand. Solche Hemden sind mir sehr zuwider.«
Sie sah ihn an – sah seine hochmütig gehobenen Brauen.
»Soll ich Ihnen von meinem Mädchen eines nähen lassen?«
»Oh, bitte, nein! Bitte, nein, machen Sie nicht solche Umstände. Nein, bitte, ich möchte es nur dann tragen, wenn Sie selbst es genäht haben, mit dem Psanekschen Fingerhut.«
Sie zögerte einen Augenblick mit der Antwort. Dann kam ihre langsame Frage:
»Warum?«
Er wandte sich und sah sie mit seinen dunkeln forschenden Augen an.
»Ich habe keinen Grund dafür«, sagte er ein wenig hochmütig.
Sie ließ es dabei bewenden. Zwei Wochen lang besuchte sie ihn nicht. Dann stieg sie plötzlich eines Tages in den Autobus, der die Oxford Street hinunterfuhr, und ging weißen Flanell kaufen. Denn sie war zu dem Schluß gekommen, daß er Flanell tragen müsse.
Nachmittags fuhr sie zum Hurst Place hinaus. Sie fand ihn auf der Terrasse; er blickte durch den Garten zu der roten Londoner Vorstadt hinüber, die rauchig und dunstig bis dicht an den Park heranreichte, unterbrochen durch unbebaute Grundstücke und das flache Zinndach einer Waschanstalt.
»Wollen Sie mir die Maße für Ihr Hemd geben?« fragte sie.
»Die Nummer, die im Halsbund meines englischen Hemdes steht, ist fünfzehn. Wenn Sie die Oberin fragen, wird Sie Ihnen das Maß sagen. Es ist ein bißchen zu groß – zu lang in den Ärmeln. Sehen Sie her.« Und er ließ die Manschette über das Handgelenk herabfallen. »Überhaupt zu lang.«
»Meine werden Sie überhaupt nicht tragen können, wenn ich sie genäht habe«, sagte sie.
»O nein. Lassen Sie sichs von Ihrem Mädchen zeigen. Aber bitte – lassen Sie das Mädchen nicht daran nähen.«
»Wollen Sie mir nicht sagen, weshalb Ihnen so viel daran liegt, daß ich es tue?«
»Weil ich ein Gefangener bin, der anderer Leute Kleider tragen muß – weil ich nichts Eigenes habe. Alles, was ich hier anfassen muß, ist mir widerlich. Und wenn Ihr Mädchen etwa für mich näht, ist es immer noch das gleiche. Nur Sie können mir geben, was ich haben will – etwas, das mir am Halse und an den Handgelenken richtig paßt.«
»Und in Deutschland – und in Österreich? Wie war es da?«
»Meine Mutter hat mir meine Wäsche genäht. Und später meiner Mutter Schwester, die meinen Haushalt leitete.«
»Nicht Ihre Frau?«
»Natürlich nicht. Die hätte eine solche Zumutung als Beleidigung aufgefaßt. Sie war nie mehr als ein Gast in meinem Hause. In meiner Familie gibt es alte Überlieferungen – aber sie würden mit mir ins Grab sinken. Ich sollte wirklich mein möglichstes tun, sie wieder lebendig zu machen.«
»– und damit bei den Hemden anfangen?«
»Ja. In unserer Familie galt der Satz, daß unsere Hemden von einer Frau aus unserem eigenen Blut genäht und gewaschen werden müssen: und wenn wir heiraten, von unserer Frau. Als ich mich verheiratete, hatte ich infolgedessen sechzig Hemden und vieles andere – alle miteinander genäht von meiner Mutter und meiner Tante, alle mit meinen Initialen – und dem Marienkäfer, der unser Wappentier ist.«
»Und wo waren die Initialen angebracht?«
»Hier.« Er deutete mit dem Finger auf die bräunliche, durchsichtige Haut seines Nackens. »Ich bilde mir ein, daß ich noch den Druck des gestickten Marienkäfers spüre. Wir hatten auf unserer Leinenwäsche keine Krone: nur den Marienkäfer.«
Sie saß schweigend und nachdenklich.
»Sie werden mir meine Bitte sicherlich verzeihen?« sagte er. »Ich bin ja ein Gefangener und habe keine andere Wahl, und das Schicksal hat Sie so geschaffen, daß Sie die Welt sehen, wie ich sie sehe. Es ist wirklich nicht eigentlich unzart, was ich mir von Ihnen erbitte. Sie werden einen Marienkäfer am Finger tragen, wenn Sie nähen, und wer den Marienkäfer trägt, hat das rechte Verständnis.«
»Ich denke es mir ebenso schlimm, man hat seine Biene im Hemd, als wenn man sie unter der Mütze hat«, sagte sie nachdenklich.
Er sah sie mit runden Augen an.
»Wissen Sie nicht, was die Redensart bedeutet: eine Biene unter der Mütze haben?« fragte sie.
»Nein.«
»Daß einem eine Biene im Haar summt! Daß man seinen Verstand nicht beisammen hat«, sagte sie lächelnd.
»Ach so!« sagte er. »O ja, die Psaneks haben seit vielen Hunderten von Jahren einen Marienkäfer unter der Mütze.«
»Ganz und gar verrückt!«
»Vielleicht«, antwortete er. »Aber als ich mit meiner Frau beisammen war, bin ich zehn Jahre lang ganz und gar vernünftig gewesen. Jetzt sollen Sie mir die Verrücktheit des Marienkäfers wiedergeben. Die Welt, in der ich mich vernünftig benahm, ist rasend geworden. Der Marienkäfer, der das Sinnbild meiner Tollheit war, ist weise geblieben.«
»Wenn ich die Hemden nähe – vorausgesetzt, daß ich sie nähe –, habe ich den weißen Marienkäfer dann ja wenigstens auf der Fingerspitze«, sagte Daphne.
»Sie wollen sich über mich lustig machen.«
»Na, Sie wissen doch wohl selbst, wie komisch Sie sind – mit Ihrem Familieninsekt.«
»Meinem Familieninsekt? Jetzt wollen Sie mich kränken.«
»Wie viele Flecken muß es haben?«
»Sieben.«
»Macht drei für jeden Flügel. Und wo bleibe ich mit dem überzähligen?«
»Den stecken Sie ihm zwischen die Zähne, wie den Kuchen für den Höllenhund.«
»Ich will mirs merken.«
Als sie das erste der Hemden mitbrachte, gab sie es der Oberin. Dann ging sie zum Grafen Dionys, der auf der Terrasse saß.
Es war ein schöner Frühlingstag. Hohe Ulmen standen nahe an der Terrasse, und darin krächzten ein paar Krähen.
»Was für ein wunderschöner Tag!« sagte sie. »Gefällt Ihnen die Welt jetzt ein wenig besser?«
»Die Welt?« sagte er und sah zu ihr auf, und um seine schmale durchsichtige Nase lag der alte Zug von Unzufriedenheit und Widerwillen.
»Ja«, antwortete sie, und auch über ihr Gesicht flog ein Schatten.
»Ist denn dies die Welt – alle diese in Reihen stehenden kleinen roten Ziegelsteinkästen, in denen paarweise die kleinen Leute hausen, die über mein Schicksal zu bestimmen haben?«
»Sie mögen also England nicht?«
»Ach, England –! Häuserchen, die wie kleine Kisten aussehen, in jedem ein englischer Hausvater mit seiner englischen Hausfrau, und jedes von ihnen regiert die Welt, weil sie alle einander gleich sind – so gleich –!«
»Aber England besteht doch nicht nur aus Häusern!«
»Schön, also Felder! Felder mit zahllosen Hecken. Das ist wie ein Netz mit unregelmäßigen Maschen; es ist über der ganzen Insel festgemacht, und alles ist unter dem Netze. Ach, Lady Daphne, verzeihen Sie mir! Ich bin undankbar. Ich bin so ganz und gar voll Galle – ›Spleen‹ nennen Sie das ja wohl. Für mich gibts nur eine Weisheit: den Mund halten.«
»Warum hassen Sie eigentlich alles?« fragte sie, und auch ihr Gesicht wurde bitter.
»Nicht alles. Wenn ich frei wäre! Wenn ich außerhalb des Gesetzes stünde! Ach, Lady Daphne, wie fängt man es an, über die Grenze des Gesetzes zu kommen?«
»Man muß in sich hineingelangen«, sagte sie. »Nicht aus sich heraus.«
Der Ausdruck des Widerwillens auf seinem Gesicht verstärkte sich.
»Nein, nein. Ich bin ein Mann, ich bin ein Mann, wenn ich auch nur klein bin. Ich bin kein Geist, der sich in einem Gehäuse verbirgt. In meiner Seele ist Zorn, Zorn, Zorn. Geben Sie mir Raum für meinen Zorn. Ja, geben Sie mir dafür Raum.«
Seine schwarzen Augen sahen mit kühnem Blick in die ihren. Sie drehte die Augen wie in halbem Starrschlaf. Und mit eintöniger, entrückter Stimme sagte sie:
»Es wäre aber gut für Sie, wenn Sie Ihren Zorn überwänden. Und warum sind Sie zornig?«
»Da gibt es doch kein Warum. Wenn es Liebe wäre statt Zorn – Sie würden mich nicht fragen: ›Warum lieben Sie?‹ Aber es ist Zorn, Zorn, Zorn. Wie anders könnte ich es benennen? Und da gibt es kein Warum.«
Wieder sah er sie an mit seinen dunkeln, scharfen, fragenden, zerquälten Augen.
»Können Sie sich nicht davon frei machen?« fragte sie und blickte zur Seite.
»Wenn eine Granate platzte und mich in tausend Fetzen zerrisse,« sagte er, »so würde sie nicht den Zorn zerstören, den ich in mir habe. Ich weiß das. Nein, er wird niemals verschwinden. Und der Tod bringt keine Erlösung. Auch im Tode knirscht und winselt der Zorn weiter. Lady Daphne, Lady Daphne, wir haben all unsere Liebe verbraucht, und das ist davon übrig geblieben.«
» Sie mögen all Ihre Liebe verbraucht haben«, antwortete sie. »Aber Sie sind doch nicht jedermann.«
»Das weiß ich. Von mir und von Ihnen rede ich.«
»Nicht von mir«, sagte sie rasch.
Er antwortete nicht, und beide blieben stumm.
Schließlich wandte sie ihm langsam den Blick zu.
»Wie kommen Sie dazu, so etwas von mir zu sagen?« fragte sie vorwurfsvoll.
»Verzeihen Sie. Es war eine Übereilung.«
Nun war in seinem Ton ein ganz leichter Beiklang von Hochmut, der bewies, daß er dennoch seinen wirklichen Gedanken ausgesprochen hatte. Sie saß nachdenklich; ihre Stirn war kalt und steinern.
»Und warum reden Sie zu mir über Ihren Zorn?« sagte sie. »Glauben Sie, daß es dadurch besser wird?«
»Selbst die Viper findet ihre Gefährtin. Und das Weibchen hat genau so viel Gift im Rachen wie das Männchen.«
Sie lachte – ein kurzes, plötzliches Auflachen.
»Ungeheuer poetisch, was Sie da von mir sagen«, meinte sie.
Er lächelte, aber es war wiederum ein quälend bitteres Lächeln. »Ach, Sie sind doch keine Taube. Sie sind wie eine Wildkatze, die ich einmal in der Einsamkeit auf einem Ast sitzen sah, halb träumend, mit offenen Augen. Und ich frage mich bei ihr wie bei Ihnen: Was für Erinnerungen mag sie nachhängen?«
»Ich wollte, ich wäre eine Wildkatze«, sagte sie jäh.
Er sah sie mit wissenden Augen an und antwortete nicht.
»Wollen Sie denn noch mehr Krieg?« fragte sie bitter.
»Noch mehr Schützengräben? Noch mehr Dicke Bertas, Granaten und Giftgase, noch mehr maschinengedrillte, vom Gelehrtenschreibtisch gelenkte sogenannte Heere? Niemals. Niemals. Lieber wollte ich in einer Fabrik arbeiten, wo Stiefel und Schuhe gemacht werden. Und ich würde mich doch eher mit vollem Bewußtsein zu Tode hungern, als daß ich in einer Fabrik arbeite, wo Stiefel und Schuhe gemacht werden.«
»Was wollen Sie denn aber?«
»Ich will, daß mein Zorn Raum zum Wachsen hat.«
»Und wie das?«
»Ja, das weiß ich nicht. Deshalb sitze ich ja noch hier, Tag auf Tag. Ich warte.«
»Daß Ihr Zorn Raum zum Wachsen bekommt?«
»Ja.«
»Leben Sie wohl, Graf Dionys.«
»Leben Sie wohl, Lady Daphne.«
Sie hatte beschlossen, ihn nicht mehr zu besuchen, ihn niemals wiederzusehen. Und er ließ nichts von sich vernehmen. Da sie aber inzwischen das zweite Hemd begonnen hatte, nähte sie daran weiter. Und dann eilte sie sich, um damit fertig zu werden, denn sie hatte eine lange Besuchsliste zu erledigen, bevor sie zum Sommeraufenthalt nach Schottland fuhr. Eigentlich wollte sie ihm das Hemd durch die Post schicken. Schließlich aber brachte sie es ihm doch selbst.
Es ergab sich, daß Graf Dionys vom Hurst Place nach Voynich Hall gebracht worden war, wo auch andere feindliche Offiziere interniert waren. Dieses Hindernis bestärkte sie noch in ihrem Entschluß. Sie fuhr mit dem nächsten Zuge nach Voynich Hall.
Als er sie, wie es Vorschrift war, im Vorzimmer empfing, spürte sie sogleich die alte Macht, die er mit seinem Schweigen und seiner leisen Kraft auf sie ausübte. Sein Gesicht hatte noch die bräunlich-durchsichtige Blässe, die von leidvollem Erleben zeugte; aber seine Haltung war stolz und gemessen. Er küßte ihr höflich die Hand und überließ es ihr, das Gespräch zu eröffnen.
»Wie geht es Ihnen?« sagte sie. »Ich wußte nicht, daß Sie jetzt hier sind. Ich verreise über den Sommer.«
»Ich wünsche Ihnen eine gute Erholung.« Sie sprachen englisch.
»Ich bringe Ihnen das zweite Hemd«, sagte sie. »Endlich ist es fertig.«
»Das ist eine größere Ehre, als ich erwarten durfte«, sagte er.
»Ich fürchte, die Ehre ist größer als der Nutzen, den Sie davon haben. Das andere hat doch gewiß nicht gepaßt?«
»Annähernd. Es paßte der Seele, wenn auch nicht dem Körper«, fügte er lächelnd hinzu.
»In diesem Falle hätte ich das Gegenteil vorgezogen«, sagte sie. »Das ist bedauerlich.«
»Ich möchte nicht einen einzigen Stich anders haben, als er ist.«
»Dürfen wir uns in den Garten setzen?«
»Ich glaube: ja.«
Sie setzten sich auf eine Bank. Einige von den anderen Gefangenen spielten in der Nähe Krocket. Aber die beiden wurden verhältnismäßig wenig gestört.
»Gefällt es Ihnen hier besser?« fragte sie.
»Ich habe keinen Grund zur Klage.«
»Und der Zorn?«
»Der gedeiht, danke schön«, lächelte er.
»Sie meinen: er bessert sich?«
»Er schlägt starke Wurzeln«, sagte er lachend.
»Na, solange er nur Wurzeln schlägt –«
»Und wie geht es der gnädigsten Lady Daphne?«
»Der gnädigsten Lady Daphne geht es ein bißchen besser«, antwortete sie.
»Sehr viel besser, das ist gewiß«, sagte er und sah ihr ins Gesicht.
»Wollen Sie damit andeuten, daß ich besser aussehe?« fragte sie rasch.
»Sehr viel besser. Ich meine damit Ihre Schönheit. Sehen Sie, Ihre Schönheit ist beinahe wieder sie selbst geworden.«
»Danke schön.«
»Sie hegen und pflegen Ihre Schönheit wie ich meinen Zorn. Oh, verehrte Lady Daphne, seien Sie klug und freunden Sie sich mit Ihrem Zorn an. Das ist die rechte Art, um Ihre Schönheit zur Blüte zu bringen.«
»Ich hatte mich doch nicht mit Ihnen erzürnt, soviel ich weiß?« sagte sie.
»Mit mir?« Ein Lachen flackerte über sein Gesicht. »Bin ich Ihr Zorn? Ihr Priester des Grimmes? Gut denn, freunden Sie sich mit meinem zornigen Selbst an, Lady Daphne. Ich wünsche mir nichts Besseres.«
»Was hab ich davon, wenn ich Freund mit Ihrem zornigen Selbst bin?« sagte sie. »Ich möchte viel lieber Freund mit Ihrem glücklichen Selbst sein.«
»Das Tierchen ist Todes verblichen«, lachte er. »Und ich bin froh darüber.«
»Was ist denn dann aber übrig geblieben? Nur Ihr zorniges Selbst? Dann ist es zwecklos, daß wir versuchen, Freunde zu sein.«
»Sie dürfen nicht vergessen, liebe Lady Daphne, daß die Viper ihr Gift keineswegs ganz allein erzeugt und daß der Iltis weiß, wo er sein Weibchen findet. Sie dürfen nicht vergessen, daß jedes von ihnen seine liebe Gefährtin hat«, lachte er. »Seine liebe, giftige Gefährtin.«
»Und was soll ich nach Ihrer Meinung aus diesem Kapitel der Naturgeschichte lernen, Graf Dionys?«
»Das Vipernweibchen ist hübsch und schlank und trägt sein Gift mit leichter Anmut. Die Wildkatze hat wundervolle grüne Augen, und wenn sie ihren Erinnerungen nachträumt, senkt sie die Lider darüber wie einen Vorhang. Die Eisbärin verbirgt sich mit ihren Jungen wie eine Schlange, und ihr Knurren ist das Seltsamste, was ich auf dieser Welt vernahm.«
»Haben Sie mich jemals knurren hören?« fragte sie plötzlich.
Er lachte nur und wandte den Blick ab.
Sie verstummten beide. Und alsbald war die seltsam erregende Spannung eines Geheimnisses zwischen ihnen. Nun war es nicht mehr der gemeinsame Kummer – es war ein unbestimmbares Etwas, das sie darüber hinaus in eine andere, geheime, erregende Gemeinschaft brachte. Aber Daphne hätte das niemals zugegeben.
»Was treiben Sie hier eigentlich den ganzen Tag?« fragte sie.
»Ich spiele Schach, spiele dies blöde Krocket, spiele Billard, lese, warte, hänge Erinnerungen nach.«
»Auf was warten Sie?«
»Das weiß ich nicht.«
»Und – was für Erinnerungen beschäftigen Sie?«
»Ja – das ist eine besondere Sache. Soll ich Ihnen sagen, was mir Spaß macht? Soll ich Ihnen ein Geheimnis verraten?«
»Bitte nicht – wenn es etwas Wichtiges ist.«
»Es ist für niemanden wichtig außer für mich. Wollen Sie es hören?«
»Wenn es mich selbst in keiner Weise angeht.«
»Das tut es nicht. Ja, also: Ich gehöre einem gewissen alten Geheimbund an – nein, sehen Sie mich nicht so an, es ist nicht so schrecklich – nur einer Bruderschaft wie etwa den Freimaurern.«
»Und?«
»Und – ja, Sie werden wissen, daß man da in sogenannte Geheimnisse und Bräuche eingeweiht wird. Meine Familie hat von jeher zu den Eingeweihten gehört. Und also bin auch ich ein Adept. Wollen Sie weiterhören?«
»Ja, natürlich.«
»Also schön. Mich haben solche Geheimnisse von jeher gereizt. Wenigstens manche von ihnen. Einige schienen mir zu weit hergeholt. Die Geheimnisse, die mich lockten, hatten niemals irgend welche Beziehungen zum wirklichen Leben. Früher, in Dresden und in Prag, würden Sie in mir niemals den Mann vermutet haben, der mit einem unheimlichen geheimen Wissen begabt ist, nicht wahr?«
»Niemals.«
»Nein. Es war nur so eine kleine anregende Nebenhandlung. Und ich war ein fratzenschneidender kleiner Herr aus der Gesellschaft. Aber jetzt wird es Wirklichkeit.«
»Das Geheimwissen?«
»Ja.«
»Zum Beispiel?«
»Zum Beispiel das wirkliche Feuer. Aber ich langweile Sie. Wollen Sie es tatsächlich hören?«
»Ja, nur weiter.«
»Also man hat mich gelehrt: Das wirkliche Feuer ist unsichtbar. Der gelbe Glanz der Sonne, ja selbst das Licht sind nur Nebenerscheinungen des wahren und ursprünglichen Feuers. Sie wissen, daß das stimmt. Es gäbe kein Licht, wenn es keine Strahlenbrechung gäbe, keine Staub- und Splitterteilchen, die das dunkle Feuer in Sichtbarkeit umsetzen. Eine Tatsache, die Ihnen bekannt ist. Und da es sich so verhält, ist selbst die Sonne dunkel. Es ist nur ihre Hülle aus Staub, die sie für uns sichtbar macht. Auch das wissen Sie. Und die wirklichen Sonnenstrahlen, die zu uns kommen, fluten dunkel: sind die sich bewegende Dunkelheit des wahren Feuers. Die Sonne ist dunkel, der Sonnenschein, der zu uns herflutet, ist dunkel. Und das Licht ist lediglich die Verkehrung davon, die Umstülpung, die Hülle; die gelben Strahlen sind nur die Ablenkung der unmittelbaren Sonne, die uns zuflutet. Haben Sie Lust, mir zu folgen?«
»Ja«, sagte sie zögernd.
»Schön. So haben wir die ganze Welt umgestülpt. Die wirkliche lebendige Welt aus Feuer ist dunkel; sie pocht wie Blut, aber sie ist dunkler. Die Lichtwelt, durch die wir wandern, ist nur die Umstülpung davon.«
»Ja, der Gedanke gefällt mir«, sagte sie.
»Gut! Und nun hören Sie. Genau so ist es mit der Liebe. Mit unserer weißen Liebe steht es genau so. Sie ist nur die Umkehrung, das übertünchte Grab der wahren Liebe. Die wahre Liebe ist dunkel, sie ist ein herzpochendes Beisammensein im Dunkeln: der Wildkatze gleich, wenn nachts sich der grüne Vorhang hebt und ihre Augen die Dunkelheit anblicken.«
»Nein, das leuchtet mir nicht ein«, sagte sie langsam, und es war ein Klirren in ihrer Stimme.
»Sie und Ihre Schönheit – das ist nur die Verkehrung, die Umstülpung Ihres Wesens. Ihr wahres Selbst ist die Wildkatze, die niemand sieht in der Nacht – nur daß vielleicht aus ihren großen dunkeln Augen rotes Feuer sprüht. Ihre Schönheit ist Ihr übertünchtes Grab.«
»Das geht wohl auf die Schönheitsmittel? Ich habe heute keine gebraucht – nicht einmal Puder.«
Er lachte. »Ausgezeichnet«, sagte er. »Und nun sehen Sie mich an. Früher war ich in meiner eigenen Vorstellung klein, aber hübsch, und die Damen pflegten mich in mäßiger Weise zu bewundern; niemals übertrieben. Ein netter kleiner Kerl, hieß es. Sehen Sie, das war die Verkehrung, die Umstülpung meines Wesens. In Wahrheit bin ich ein schwarzer Kater, der sein Geheul in die Nacht schickt: und nachts schlägt das Feuer aus mir heraus. Das, was Sie von mir sehen, ist mein übertünchtes Grab. Was sagen Sie dazu?«
Sie sah ihm in die Augen. Sie sah die Finsternis, die sich in ihren Tiefen regte. Sie sah das unsichtbare, katzenhafte Feuer, das sich in ihren tiefsten Tiefen regte, und sie fühlte, wie es auf sie zukam. Sie wandte das Gesicht ab. Nun lachte er und zeigte im Lachen seine starken weißen Zähne, die ein wenig zu groß schienen – und eigentlich ein wenig zum Fürchten waren.
Sie stand auf, um zu gehen. »Na ja, ich habe ja nun den Sommer über Zeit, um über Ihre umgestülpte Welt nachzudenken. Schreiben Sie mir, wenn Sie mir etwas mitzuteilen haben. Schreiben Sie nach Thoresway. Leben Sie wohl!«
»Oh, Ihre Augen –!« sagte er. »Sie sind wie geschliffene Edelsteine.«
Als sie fort war, löschte sie den Grafen in ihren Gedanken aus. Höchstens dachte sie einmal mitleidig an die Langeweile, die ihn in Voynich Hall quälen mußte. Aber sie schrieb ihm nicht. Und er schrieb ihr nicht.
Ihre Gedanken beschäftigten sich jetzt stärker mit ihrem Gatten. Es wurden alle nötigen Schritte getan, um seinen Austausch zu bewirken. Von Monat zu Monat erwartete sie seine Rückkehr. Und infolgedessen dachte sie an ihn.
So ging es mit allem, was ihr geschah: Sie dachte darüber nach, dachte und dachte und grübelte. Dies immer wache denkende Bewußtsein lag wie steinerne Platten auf ihrer Seele. Und jeder, der sich einen neuen Zugang zu ihr schaffen wollte, mußte diese Steintafeln zertrümmern, Stück für Stück. So kam es denn, daß sie auf ihre Art oft genug über die »umgestülpte Welt« nachdachte, von der Graf Dionys gesprochen hatte. Eine wunderliche dunkle Regung wuchs da in ihrem Bewußtsein, die noch nicht zur klaren Vorstellung geworden war.
Ihre Augen wären wie geschliffene Edelsteine, hatte er gesagt. Wie abscheulich, so etwas auszusprechen! Wie sollen meine Augen denn nach seiner Meinung sein? fragte sie sich. Sie sollen sich weiten und nur noch aus schwarzen Pupillen bestehen, wie Katzenaugen im Dunkeln. Mit einem zuckenden Ruck schrak sie vor dem Gedanken zurück, schaudernd.
Ihre Schönheit hatte er ein übertünchtes Grab genannt. Und sogar die Bedeutung dieses Vergleiches verstand sie. Ihr unsichtbares Teil wollte er lieben. Aber ihre perlengleich schimmernde Schönheit war ihr doch so lieb, sie war ja berühmt in der großen Welt!
Ihre weiße Liebe wäre wie Mondlicht, hatte er gesagt: verderblich, die Verkehrung der Liebe. Das ging natürlich auf Basil. Ja, Basil hatte sie immer mit dem Monde verglichen. Aber Basil liebte sie ja auch darum. Oh, die Entzückungen dieser Liebe –! Sie erschauerte, wenn sie an ihren Mann dachte. Aber sie hatte sie auch überreizt und müde gemacht, die Liebe ihres Mannes. Oh, so müde.
Wie mag es wohl sein, vom Grafen Dionys geliebt zu werden? dachte sie. Seine Liebe ist geheimnisvoll und anders. Er würde mich nicht »schön« und »Königin« nennen. Er haßt meine Schönheit. Der Wildkater findet seine Gefährtin. Graf Dionys, der kleine Wildkater. Ah –! Sie hielt den Atem an und befahl sich, nicht weiterzudenken. Immer, wenn sie an den Grafen Dionys dachte, war ihr zumute, als entglitte ihr die Welt. Dann saß sie wohl vor dem Spiegel und betrachtete ihr wundervoll gepflegtes Gesicht, das in so vielen Zeitschriften der vornehmen Gesellschaft abgebildet worden war. Sie liebte es so; sie war so stolz darauf. Und sie betrachtete ihre blaugrauen Augen – die Augen der Wildkatze, die auf dem Baum lauerte. Ja, die schöne blaugrüne Iris war wie ein fest geschlossener Vorhang. Zu denken, daß er sich vielleicht einmal lockern würde – daß er sich öffnen und die dunklen Tiefen freigeben würde, die dunkle erweiterte Pupille –! Zu denken, daß es einmal wirklich geschehen könnte – –
Niemals! Immer riß sie sich vor diesem Gedanken zurück. Eher würde ich mich töten lassen, dachte sie, als daß ich mich einer Ungehemmtheit überlassen könnte, wie der Graf sie von mir fordert. Ich kann es nicht. Ich kann es einfach nicht. Schon beim bloßen Gedanken daran mahnte irgend ein überempfindlicher Nerv in ihrer Brust sie mit stechendem Schmerz, und sie riß sich zurück, gezwungen, auf ihrer Hut zu sein. O nein, Monsieur le Comte, Sie werden es nie erleben, daß die verehrte Lady Daphne sich aus ihrer Vorsicht locken läßt.
Sie haßte den Gedanken an den Grafen. Ein frecher kleiner Kerl. Ein unverschämter kleiner Kerl! Ein verrückter kleiner Kerl, wahrhaftig! Ein kleiner Außenseiter. Nein, nein. Sie wollte an ihren Mann denken: einen anbetungswürdigen, langen, wohlerzogenen Engländer, so ungezwungen und schlicht, mit blauen Augen, die immer belustigt blickten. Sie dachte an seine Stimme mit dem schleppenden, kultiviert lässigen Klang. Er setzte ihre Nerven in Flammen. Sie dachte an seinen starken, gemächlichen Körper – schön, mit weißem Fleisch, aus dem das feine warmbraune Haar wie winzige Flämmchen sprang. Dionysos war er, voll Saft, Milch und Honig und goldenem nordländischem Wein: er, ihr Gatte. Nicht dieser kleine unwirkliche Graf. Oh, sie träumte von ihrem Gatten, von den Liebestagen und den Flitterwochen, von dieser schönen schlichten engvertrauten Gemeinschaft. Oh, die herrliche Offenbarung dieser Gemeinschaft, als er sich ihr so großherzig schenkte! Deshalb ja war sie ihm zu eigen, weil er sich ihr so prachtvoll und großherzig geschenkt hatte. Wie eine Kornähre war er, ihr zur Ernte geweiht – ihr Gatte, ihr lieber schöner englischer Gatte. Ach, wenn er doch heimkäme, wenn er doch erst wieder heimkäme!
Sie hatte Briefe von ihm bekommen – darin stand, wie sehr er sie liebte. So fern er auch war – sein Leben gehörte ganz ihr. Ganz ihr: und strömte ihr zu, wie das Licht eines weißen Sternes geradenwegs zu uns niederströmt, in unser Herz. Ihr Geliebter, ihr Gatte.
Er durfte nun auf baldige Wiederkehr hoffen. Alles war geordnet. »Hoffentlich bist du nicht enttäuscht, wenn ich nach Hause komme«, schrieb er. »Ich bin, fürchte ich, nicht mehr der stattliche, gut aussehende junge Mann, der ich einmal gewesen bin. Ich habe eine große Narbe auf der Backe, und ich bin mager wie ein ausgehungertes Kaninchen, und mein Haar wird grau. Klingt nicht gerade verführerisch, was? Und ist auch nicht verführerisch. Aber wenn ich erst einmal aus diesem Höllenloch herauskomme und wieder bei Dir bin, werde ich meine zweite Blüte erleben. Schon bei dem bloßen Gedanken, daß ich ruhig wieder mit Dir im gleichen Hause wohnen werde, ruhig und friedlich, wird mir klar, daß ich durch die Hölle gegangen bin, daß ich einmal den Himmel auf Erden besessen habe und hoffen darf, ihn wieder zu besitzen. Ich bin, äußerlich betrachtet, ein erbärmliches und scheußliches Stück Mensch geworden. Aber ich glaube an Dich. Du wirst mir meine äußere Erscheinung verzeihen, und das allein schon wird zur Folge haben, daß ich mir hübsch vorkomme.«
Sie las diesen Brief viele Male. Sie fürchtete sich weder vor seiner Narbe noch vor seinem Aussehen. Sie wollte ihn darum nur noch mehr lieben.
Da sie nun einmal das Hemdennähen angefangen hatte – die Hemden für den Grafen waren ein gewaltiges Stück Arbeit gewesen, wenn auch ihr Mädchen ihr Dutzende von Malen zu Hilfe geeilt war – aber da sie nun einmal das Hemdennähen angefangen hatte, so konnte sie ja schließlich weiter machen. Sie hatte sich passende Seide beschafft; ihr Mann trug mit Vorliebe seidene Leibwäsche.
Immer noch aber benutzte sie den Fingerhut des Grafen. Er war außen Gold und innen Silber, und er war zu schwer. Um das untere Rund ringelte sich eine Schlange, und an der Spitze, dort, wo die Nadel auflag, war ein halbdurchsichtiger apfelgrüner Stein eingelassen, geschnitten wie ein Skarabäus und mit kleinen Punkten geziert; vielleicht war es Jade. Das Ganze war zu schwer. Aber sie nähte ja ohnehin so langsam. Und sie hatte das Gefühl gern, daß ihre Hand schwer und mit einem Gewicht belastet war. Beim Nähen dachte sie an ihren Mann und empfand, wie sehr sie ihn liebte. Wie schön ist er, dachte sie, und wie sehr werde ich ihn lieben, jetzt, da er mager geworden ist: nur um so mehr werde ich ihn lieben. Mit welcher Liebe werde ich die Form seiner Knochen verfolgen: als vermöchte ich schon im Leben die Gestalt seines Knochengerüstes zu erkennen. Bei diesem Gedanken ließ sie die Hände im Schoße ruhen und saß still und sinnend. Dann fühlte sie das Gewicht des Fingerhutes am Finger und nahm ihn ab. Nachdenklich betrachtete sie den grünen Stein. Der Marienkäfer. Der Marienkäfer. Wenn nur ihr Gatte bald käme – bald! Es war die Sehnsucht nach ihm, die sie so krank machte. Nur die Sehnsucht. Sie hatte sich so bitter nach ihm gesehnt. Und tat es noch. Könnte ich, dachte sie, doch jetzt zu ihm gehen, wo immer er sein mag, und ihn sehen und ihn anrühren und all seine Liebe empfangen.
Indessen sie so sann, stellte sie den Fingerhut auf den Tisch, nahm aus ihrem Handarbeitskorb einen kleinen silbernen Bleistift und schrieb auf ein Stückchen blauen Papieres, das als Streifen um einen Strang Seide gelegen hatte, die Zeilen des einfältigen alten Liedes:
Wenn ich ein Vöglein wär
Und auch zwei Flüglein hätt,
Flög ich zu dir – –
Das war alles, was sie auf dem Streifchen blaßblauen Papieres unterbrachte.
If I were a little bird
And had two little wings
I'd fly to thee – –
Einfältig genug, wenn mans in aller Nüchternheit betrachtete; aber sie übersetzte es sich nicht: da sah es nicht ganz so einfältig aus.
In diesem Augenblick meldete das Mädchen Besuch: Lady Bingham, Basils Schwester. Daphne zerknüllte in nervöser Hast das Stückchen Papier, und eine Minute später war Primrose, ihre Schwägerin, schon im Zimmer. Sie glich auch nicht im geringsten der Primel, von der sie ihren Namen hatte: mit ihrem langen Gesicht, ihrer Gescheitheit, ihrem betonten Schneid; ihre Kleider waren neu, und doch wirkten sie nicht im mindesten elegant.
»Daphne, Liebe, welch ein trauliches Bild! Wahrscheinlich Szenenprobe, was? Na ja, es ist wohl Zeit, daß du probst; er ist mit Admiral Burns auf der ›Ariadne‹. Vater hats gerade von der Admiralität erfahren; alles in Ordnung. In ein, zwei Tagen ist er hier. Glänzend, was? Und der Krieg ist bald aus. Wenigstens siehts danach aus. Jetzt können sie dir deinen Mann nicht wieder wegnehmen, Liebes. Wollen Gott danken, wenn alles vorüber ist. Was nähst du denn da?«
»Ein Hemd«, sagte Daphne.
»Ein Hemd! Na, das nenne ich aber begabt. Ich wüßte wirklich nicht, wie und wo ich anfangen sollte. Wer hat dir das gezeigt?«
»Millicent.«
»Und woher weiß die es? Sie ist doch wirklich nicht verpflichtet, zu wissen, wie Hemden genäht werden: und Kissen und Bettücher auch nicht. Laß mal sehen. Also hör mal, du bist wirklich ein wahrhaft erstaunliches Wesen. Und auch noch jeden Stich mit der Hand! Basil verdient so was ja gar nicht – wahrhaftig, er verdients nicht. Er soll sich doch seine Hemden in der Oxford Street machen lassen. Deine Aufgabe ist das Schönsein, nicht das Hemdenschneidern. Was für eine reizende kleine Nadelbüchse – in Gestalt einer Näherin. Du, das ist ein Spott auf uns Frauen, merkst du das? Aber entzückend ist sie, mit den Perlmuttervolants an ihrem Rock und den hübschen kleinen goldäugigen Nadeln, die sie in sich hat. Ja – da schraubt man ihr den Kopf ab und findet, daß ihr Inhalt aus Steck- und Nähnadeln besteht. Da habt ihrs, ihr Frauen! Mutter läßt fragen, ob du nicht morgen zum Frühstück kommen willst. Und jetzt kommst du sofort mit mir zu Brassey zum Tee, ja? Komm, sei nett. Ich habe eine Droschke vor der Tür.«
Daphne raffte ihre Näharbeit flüchtig zusammen.
Als sie zwei Tage später ein wenig weiter arbeiten wollte, vermißte sie ihren Fingerhut. Sie fragte ihr Mädchen, dem sie unbedingt vertrauen konnte. Das Mädchen hatte ihn nicht gesehen. Sie suchte überall. Sie fragte ihr altes Kindermädchen, das sie jetzt als Wirtschafterin hatte, und den Diener. Nein, niemand hatte den Fingerhut gesehen. Daphne fragte sogar ihre Schwägerin.
»Fingerhut, Liebes? Nein, ich wüßte nicht, daß ich einen gesehen habe. Ich entsinne mich wohl eines reizenden kleinen Nadelweibchens, das nach meiner Meinung ein so köstlicher Spott auf uns Frauen ist. Aber einen Fingerhut hab ich nicht gesehen.«
Die arme Daphne ging in tiefem Sinnen umher. Sie wollte nicht glauben, daß er endgültig verloren sein könnte. Er war so etwas wie ein Talisman für sie gewesen. Sie versuchte ihn zu vergessen. Basil kommt doch, sagte sie sich – bald, bald. Aber sie konnte sich nicht zur Freude aufschwingen. Sie hatte ihren Fingerhut verloren. Ihr war zumute, als hätte Graf Dionys ihr im Traum irgend welche Vorwürfe gemacht – sie wußte nicht recht, was für Vorwürfe.
Und obwohl sie eigentlich gar nicht nach Voynich Hall fahren wollte, fuhr sie doch – wie von einem unentrinnbaren Schicksal getrieben. Es war schon Spätherbst, und er brachte noch ein paar schöne Tage. Heute war der letzte dieser schönen Tage. Graf Dionys, hieß es, wäre in dem kleinen Park und suchte Kastanien. Sie ging auf die Suche nach ihm. Ja, da stand er in seiner blauen Uniform, über die flammend gelben Blätter des Maronenbaumes geneigt, die um ihn her lagen wie ein herabgefallener leuchtend gelber Strahlenkranz und die unter seinen Füßen raschelten, wenn er sie aufstörte, um die Stachelfrüchte zu finden. Dann holte er mit seinen kurzen braunen Händen die kleinen Kastanien aus den Schalen hervor und steckte sie in die Tasche. Gerade als sie herankam, enthülste er sich eine Frucht, um sie zu essen.
»Wenn ich Sie so sehe, muß ich an ein Eichhörnchen denken, das im Winternest sitzt«, sagte sie.
»Ah, Lady Daphne – ich war so in Gedanken, daß ich Sie gar nicht kommen hörte«, sagte er.
»Ich dachte, sie suchten Kastanien – und äßen sie sogar.«
»Auch das!« lachte er. Er hatte eine jähe dunkle Anmut, wenn er lachte und seine ziemlich großen weißen Zähne zeigte. Sie fragte sich, ob sie ihn nicht eigentlich ein wenig abstoßend fand.
»Waren Sie tatsächlich in Gedanken?« sagte sie in ihrer langsamen näselnden Art.
»Tatsächlich.«
»Und die Kastanie hat Ihnen trotzdem geschmeckt, ja?«
»Sehr sogar. Wie süße Milch. Köstlich, köstlich.« Er hatte die Stücke der Kastanie noch zwischen den Zähnen und zerkaute sie sorgfältig. »Wollen Sie nicht auch eine haben?« Er hielt ihr die kleinen braunen Früchte auf der Handfläche hin.
Sie besah sie zögernd.
»Die Dinger sind doch immer hart«, sagte sie.
»Nein, diese sind frisch und gut. Warten Sie, ich schäle Ihnen eine.«
Sie wanderten miteinander durch das lichte Wäldchen.
»Hatten Sie einen angenehmen Sommer? Fühlen Sie sich wieder kräftig?«
»Beinahe wieder ganz kräftig«, sagte sie. »Einen wunderschönen Sommer, ja, danke. Und nun ist es wohl recht dumm, wenn ich Sie frage, ob Sie sich glücklich gefühlt haben?«
»Glücklich?« Er sah ihr gerade ins Gesicht. Seine schwarzen Augen schienen sie prüfen zu wollen. Sie meinte immer zu spüren, daß er sie ein wenig verachtete. »O ja«, sagte er lächelnd. »Ich habe mich sehr glücklich gefühlt.«
»Das freut mich.«
Sie schlenderten ein wenig weiter; er nahm aus den gelbbraunen Blättern eine apfelgrüne Kastanienschale auf und zerbrach sie mit seinen empfindsamen Fingern, bei denen sie immer wieder an Tierpfoten denken mußte.
»Wie haben Sie denn das gemacht: glücklich zu sein?« fragte sie.
»Wie soll ich Ihnen das erklären? Ich sagte mir, daß dieselbe Macht, die einst die Berge aufgebaut hat, sie auch wieder niederzureißen vermag – wenn es vielleicht auch noch so lange dauert.«
»Und das war alles?«
»War es nicht genug?«
»Nach meinem Gefühl entschieden zu wenig.«
Er lachte breit und zeigte seine starken negerhaften Zähne. »Dann erfassen Sie nicht ganz, was es bedeutet«, sagte er.
»Der Gedanke, daß die Berge wieder abgetragen werden –?« sagte sie. »Ach, das wird ja so lange nach meinem Tode stattfinden!«
»Ach so, die Sache langweilt Sie«, sagte er. »Aber ich – ich habe den Gott gefunden, der die Dinge niederreißt: besonders die Dinge, die von Menschen aufgebaut sind. Heißt es nicht immer, das Leben wäre ein Suchen nach Gott, Lady Daphne? Ich habe meinen Gott gefunden.«
»Den Gott der Zerstörung«, sagte sie und wurde bleich.
»Ja – nicht den bösen Dämon der Zerstörung, sondern den Gott der Zerstörung. Den gebenedeiten Gott der Zerstörung. Es ist seltsam« – er stand vor ihr und blickte zu ihr auf – »es ist seltsam, aber ich habe meinen Gott gefunden. Den Gott des Zornes, der die Kirchtürme und die Fabrikschornsteine zu Boden schmettert. Oh, Lady Daphne, er ist ein männlicher Gott, er ist ein männlicher Gott. Ich habe meinen Gott gefunden, Lady Daphne.«
»Offenbar. Und wie werden Sie ihm dienen?«
Eine gläubige Glut verwandelte sein Gesicht. »Oh, ich will ihm helfen. Mit meinem Herzen will ich ihm helfen, wenn ich mit den Händen nichts ausrichten kann. Ich sage zu meinem Herzen: Schlag, Hammer, schlag mit kleinen Schlägen. Schlag, Hammer Gottes, schlag sie nieder. Schlag alles nieder.«
Ihre Stirn furchte sich, ihr Gesicht verzog sich zu einem Ausdruck des Mißbehagens.
»Schlag was nieder?« fragte sie rauh.
»Die Welt, die Menschenwelt. Nicht die Bäume – diese Kastanien zum Beispiel« – er sah zu ihnen empor, hinauf in das halb noch dichte, halb schon gelichtete Gelb – »die nicht, und auch nicht die geschwätzigen Zauberer, die Eichhörnchen – nicht den Habicht, der dort heranstreicht. Die nicht.«
»Dann meinen Sie also: ›Schlag England nieder‹?« sagte sie.
»Aber nein. Nein. Weder England noch meinetwegen Deutschland. Weder Europa noch Asien.«
»Also ersehnen Sie das Ende der Welt?«
»Nein, nein. Nein, nein. Was für einen Groll könnte ich gegen eine Welt haben, in der es so süße kleine Kastanien gibt? Hat sie Ihnen geschmeckt? Wollen Sie noch eine?«
»Nein, danke.«
»Was für einen Groll könnte ich gegen eine Welt haben, in der sogar die Hecken voll Beeren sind: Büscheln schwarzer Beeren, die niederhängen, und roter Beeren, die emporstreben? Nie vermöchte ich die Welt zu hassen. Aber die Welt der Menschen. Lady Daphne« – seine Stimme sank zum Flüstern – »ich hasse sie. Sssss.« Er fauchte. »Schlag, kleines Herz! Schlag, triff, triff hart! Oh, Lady Daphne!« Seine Augen, weit offen, waren wie feurige Kreise.
»Was?« fragte sie erschrocken.
»Ich glaube an die Kraft meines roten dunklen Herzens. Gott hat mir den Hammer in die Brust getan – den kleinen ewigen Hammer. Poch – poch – poch! Er schlägt auf die Menschenwelt. Er trifft, er trifft! Und er hört den dünnen Ton des Berstens und Springens. Den dünnen Ton des Berstens und Springens. Hören Sie doch!«
Er stand still und zwang auch sie zum Lauschen. Es war später Nachmittag. Ein Lachen lag auf seinem Gesicht, so seltsam, daß ihr war, als verfinstere sich die Luft. Und leicht hätte sie sich zu dem Glauben überreden können, daß sie ein schwaches, feines Geräusch vernahm, wie Splittern und Bersten: ja, ein leises splitterndes Geräusch.
»Sie hören es? Ja? Oh, wenn ich doch ein langes Leben hätte! Wenn ich doch ein langes Leben hätte, daß mein Hammer schlagen und immer schlagen kann und die Sprünge tiefer und immer tiefer gehen! Oh, die Welt der Menschen! Oh, die Freude, die Leidenschaft in jedem Herzschlag! Triff recht, triff gut, triff sicher! Triff, um sie zu zerstören! Schlag! Schlag! Um die Welt der Menschen zu zerstören. Oh, Gott, oh, Gott, du Gefangener des Friedens! Nicht wahr, ich kenne Sie, Lady Daphne? Nicht wahr, ich kenne Sie?«
Einige Augenblicke stand sie stumm und sah hinüber zu den flimmernden Lichtern des Bahnhofs.
»Nicht die weiße schon gebrochene Lilie Ihres Leibes. Ich habe mir keine Blüte gepflückt, um in der Welt damit zu prunken. Aber ich kenne, was im Kalten und Dunklen sich birgt, Ihre Lilienwurzel, Lady Daphne. Ja, das werden Sie nun Ihr Leben lang wissen: daß ich weiß, wo Ihre Wurzel verborgen liegt, die düstere, düstere Quellkraft Ihres Lebens. Aber, aber, was will das besagen?«
Sie waren langsam bis zum Hause gegangen. Sie war stumm. Dann, ganz zuletzt, sagte sie mit seltsam klingender Stimme: »Und – Sie haben nie das Verlangen, mich zu küssen?«
»Nein!« antwortete er schroff.
Sie streckte ihm die Hand hin.
»Leben Sie wohl, Graf Dionys«, näselte sie im Gesellschaftston. Er neigte sich über ihre Hand, aber er küßte sie nicht.
»Leben Sie wohl, Lady Daphne.«
Sie ging fort, mit hart gefurchter Stirn. Und von nun ab dachte sie nur noch an Basil, ihren Gatten. Sie ertötete die Erinnerung an den Grafen ganz und gar. Basil kommt, sagte sie sich, er ist schon nahe. Er kommt zurück aus dem Osten, aus Krieg und Tod. Oh, er ist durch das Feuer grauenvollen Erlebens gegangen. Er wird zu etwas Neuem geworden sein, das ich noch nicht kenne. Ein Neuer, ein Ungekannter, ein stärkerer Geliebter, der durch das Feuer des Entsetzens geschritten und erneuert und verwandelt daraus hervorgegangen ist, wie ein Gott. Ja, neu und furchtbar wird seine Liebe sein, geläutert und vertieft durch das grauenvolle Feuer des Leidens. Ein neuer Geliebter – ein neuer Bräutigam – eine zweite, über das Irdische erhobene Hochzeitsnacht. Sie erschauerte in Erwartung, indessen sie auf ihren Gatten wartete. Die wilde Aufregung beim Abschluß des Waffenstillstandes nahm sie kaum wahr. Sie wartete auf etwas, das ihr ein größeres Wunder bringen sollte.
Und doch zog sich in dem Augenblick, da sie seine Stimme im Fernsprecher hörte, ihr Herz zusammen vor Angst. Es war seine langvertraute Stimme, bedachtsam, zurückhaltend, fast schleppend, mit sacht und zart angedeuteter Ehrerbietung im Ton und der fast übertrieben gepflegten Aussprache des alten Cambridger Studenten – ganz und gar die langvertraute Stimme. Und doch war da ein Unterschied, ein neuer eiskalter Nebenklang, der durch die Adern rann wie Tod.
»Bist du da, Daphne? In einer halben Stunde bin ich bei dir. Ist es dir recht so? Ja, ich komme eben von Bord, und nun fahre ich geradenwegs zu dir. Ja, ich nehme eine Droschke. Kommts dir auch zu plötzlich, Liebling? Nein? Gut – herrlich. In einer halben Stunde also. Hör mal, Daphne: Es ist doch sonst niemand da, nein? Ganz allein? Gut! Ich kann Papa ja später anrufen. Ja, herrlich, herrlich. Dir gehts doch gut, mein Liebling? Ich bin halbtot vor Sehnsucht, bis ich dich endlich sehe. Ja. Auf Wiedersehen – in einer halben Stunde. Auf Wiedersehen!«
Als Daphne den Hörer angehängt hatte, setzte sie sich nieder, in einer Schwäche, die fast eine Ohnmacht war. Was war es nur, das sie so erschreckte? Seine furchtbar, furchtbar verwandelte Stimme: wie kalter blauer Stahl. Ihr blieb keine Zeit zum Nachdenken. Sie klingelte nach dem Mädchen.
»Oh, Mylady, doch keine schlechten Nachrichten –?« rief Millicent, als sie sah, daß ihre Herrin weiß wie eine Tote war.
»Nein, gute Nachrichten. Major Apsley ist in einer halben Stunde da. Helfen Sie mir beim Umkleiden. Aber erst rufen Sie Murry an, er soll Rosen schicken, rote, und veilchenfarbene Schwertlilien – zwei Dutzend von jedem, und sofort.«
Daphne ging in ihr Zimmer. Sie wußte nicht, was sie anziehen, sie wußte nicht, welche Haartracht sie wählen sollte. Sie redete hastig mit ihrem Mädchen. Sie wählte ein veilchenfarbenes Kleid. Sie wußte überhaupt nicht, was sie tat. Als sie halb fertig war, kamen die Blumen, und sie rannte hinaus, um sie selbst in den Schalen zu ordnen. Als sie schließlich seine Stimme drunten in der Halle hörte, stand sie noch vor dem Spiegel, rötete sich die Lippen mit dem Farbstift und wischte es wieder weg.
»Major Apsley, Mylady«, meldete Millicent leise und aufgeregt.
»Ja, ich habs schon gehört. Sagen Sie ihm, in einer Minute wäre ich da.«
Daphne sprach langsam, mit dem starken, vollen Bronzeton der Stimme, den sie immer hatte, wenn sie erregt war. Ihr Gesicht sah fast hager aus, und es war vergeblich, daß sie es mit Rot betupfte.
»Wie sieht er aus?« fragte sie kurz, als das Mädchen wiederkam.
»Eine lange Narbe – hier«, sagte Millicent und fuhr sich mit dem Finger vom linken Mundwinkel über die Wange, abwärts.
»Verändert ihn das sehr?« fragte Daphne.
»Eigentlich wohl nicht so sehr, Mylady«, sagte Millicent zögernd. »Seine Augen sind unverändert, glaub ich?«
Auch das Mädchen war verstört.
»Also gut«, sagte Daphne. Sie betrachtete sich mit einem letzten langen Blick, als sie sich vom Spiegel wegwandte. Der Anblick des eigenen Gesichts war ihr fast zuwider. Sie hatte sich allzu oft, allzu gründlich gesehen. Und doch war sie auch jetzt gebannt vom schweren Niederfall der veilchenblau geäderten Lider über die seltsamen, großen, langsam sich bewegenden, grünblauen Augen. Sie sahen wirklich geheimnisvoll aus. Und sie schenkte sich einen langen schrägen Blick, der ihrem Gesicht etwas wunderlich Chinesisches gab. Wie war das nur möglich, daß sie einen angedeuteten chinesischen Zug im Gesicht hatte – sie, die reinblütige blonde Engländerin, die »schaumgeborne Aphrodite«, wie Basil sie einmal in einem Gedicht genannt hatte! »Also gut«, wiederholte sie, riß sich aus ihren Gedanken los und ging durch die Halle ins Empfangszimmer.
Er stand mitten im Zimmer, erregt wartend, in Uniform. Sie warf nur einen raschen Blick auf sein Gesicht – und sah nichts als die Narbe.
»Guten Tag, Daphne«, sagte er, und seine Stimme verriet die erwartete Erregung. Er trat auf sie zu, nahm sie in die Arme und küßte sie auf die Stirn.
»Ich bin so froh! so froh, daß es nun doch noch gekommen ist«, sagte sie und verbarg ihre Tränen.
»– daß was gekommen ist, Liebling?« fragte er in seiner bedachtsamen Art.
»Daß du wieder da bist.« Ihre Stimme hatte den bronzenen Klang, sie sprach ziemlich rasch.
»Ja, ich bin wieder da, Daphne, Liebling – wenigstens das, was von mir noch vorhanden ist.«
»Wieso?« fragte sie. »Du bist doch unverletzt zurückgekommen, nicht?« Sie war erschrocken.
»Ja, augenscheinlich. Augenscheinlich. Aber davon wollen wir jetzt nicht reden. Von dir wollen wir reden, Liebling. Wie geht es dir? Laß dich anschauen. Du bist magerer, du bist älter geworden. Aber du bist herrlicher denn je. Viel herrlicher.«
»Wieso?« fragte sie.
»Ich wüßte nicht genau zu sagen, wieso. Du warst damals ja noch ein Mädchen. Jetzt bist du eine Frau. Das kam wohl durch alles, was inzwischen geschehen ist. Aber du bist herrlich als Frau, Daphne, Liebling – viel herrlicher als alles, was geschah. Nie hätte ich gedacht, daß du so herrlich wärest. Ich hatte es vergessen – oder vielmehr: ich habe es nie gewußt. Wahrhaftig, ich bin doch ein Glückspilz. Da bin ich, lebendig und gesund, und habe dich zur Frau – eine Frau wie dich. Es hat dich zur Blüte gebracht wie eine Blume. Ja, Liebling, du bist jetzt mehr als die schaumgeborene Venus – bist erhabener. Wie schön du bist! Aber du siehst aus wie die Verkörperung aller lebendigen Schönheit – wie die mondliche Mutter der Welt, Aphrodite. Gott meint es doch gut mit mir, Liebling. Ich darf mich wirklich niemals auch nur mit einem Wort beklagen. Wie schön du bist – wie schön du bist, mein Liebling! Ich hatte dich vergessen – und ich glaubte dich doch so gut zu kennen. Ist es wahr, daß du mir gehörst? Bist du wirklich mein?«
Sie saßen auf dem gelben Sofa. Er hielt ihre Hand, und sein Blick wanderte hinauf und hinab zu ihrem Gesicht, ihrem Halse, ihrer Brust. Der Klang seiner Worte, das starke, kalte Verlangen in seiner Stimme erregte sie, war ihr eine Lust, aber ihr Herz gefror dabei. Sie wandte sich und blickte in seine hellen blauen Augen. Sie hatten nicht mehr das belustigte Funkeln, sie sahen nicht mehr jung aus. Sie brannten in einem harten, gesammelten, weißlichen Licht.
»Es ist alles gut. Du gehörst mir, nicht wahr, Daphne, Liebling?« klang die gepflegte, musikalische Stimme, die immer den näselnden Klang wohlerzogener Gedämpftheit und Zurückhaltung hatte.
Sie erwiderte seinen Blick.
»Ja, ich gehöre dir«, sagte sie. Aber es kam nur von den Lippen.
»Liebling! Liebling!« sagte er leise und küßte ihre Hand.
Ihr schlug plötzlich das Herz so furchtbar, als wollte es ihr die Brust zersprengen; sie erhob sich mit einer jähen Bewegung und ging durch das Zimmer. Sie hielt sich mit einer Hand am Kaminsims fest und blickte auf die elektrische Glut hinab. Sie hörte das schwache, ganz schwache Summen des Brenners. Ein paar Augenblicke schwiegen beide.
Dann wandte sie sich und sah ihn an. Er betrachtete sie mit gespannter Aufmerksamkeit. Sein Gesicht war hager und hatte einen seltsamen Unterton tödlicher Blässe, obwohl seine Wangen nicht weiß waren. Die fahle Narbe ging von seinem Mundwinkel aus. Sie war gar nicht einmal so sehr groß. Aber sie sah aus, als wäre es eine Narbe in seinem Wesen, in seinem Hirn. In seinen Augen war das harte, weiße, gesammelte Licht, das sie zugleich bannte und erschreckte. Er war verändert. Er war wie der Tod; wie vom Tode erstanden. Ihr war, als dürfe sie ihn nicht berühren. Die Blässe des Todes lag noch auf ihm. Sie meinte zu wissen, daß er wie im Schmerz vor einer Berührung zurückzucken würde. »Rühre mich nicht an, ich bin noch nicht aufgefahren zu meinem Vater.« Und doch war er um dieser lebendigen Berührung willen gekommen. Ihr war, als sähe ihm irgend etwas, irgendwer über die Schulter. Das Gespenst seiner eigenen Jugend sah ihm über die Schulter. Gütiger Gott! Sie schloß die Augen, da sie sich einer Ohnmacht nahe fühlte. Er blieb auf dem Sofa sitzen, vorgebeugt, und beobachtete sie.
»Ist dir nicht gut, Liebling?« fragte er. Sie wußte, er brannte im Feuer, und doch ging eine seltsame, unfaßbare Kälte von ihm aus. Er kam nicht zu ihr, er regte sich nicht.
»Doch, ich fühle mich wohl. Nur – es kam schließlich alles so plötzlich. Ich muß mich erst wieder an dich gewöhnen«, sagte sie und wandte den Blick ab. Ihr war zumute, als wäre sie ein hilfloses Opfer dieses weißen furchtbaren Gesichts.
»Ja, ich kann mir wohl denken, daß es dir einen ordentlichen Stoß gegeben hat«, sagte er. »Hoffentlich verliere ich darum deine Liebe nicht. Ich verliere sie nicht, nein?«
Diese seltsame Kälte in seiner Stimme! Und doch – diese weiße, ungeheure Glut.
»Nein, ich werde nicht aufhören, dich zu lieben«, bekannte sie, leise, fast als schämte sie sich dessen. Sie durfte ja nichts anderes sagen. Und dadurch, daß sie es sagte, wurde es Wahrheit.
»Wenn du dessen nur gewiß bist – dann ist alles gut«, sagte er. »Ich kann mir vorstellen, daß ich ein mächtig unerfreulicher Anblick bin, mit der Narbe da. Aber du mußt sie mir vergeben – wenn du es kannst, Liebling. Glaubst du, daß du es kannst?« Es war etwas wie zwingende Kraft in seinem Ton.
Sie sah ihn an und erschauerte ein wenig.
»Ich liebe dich – noch mehr als zuvor«, sagte sie hastig.
»Auch die Narbe?« beharrte die furchtbare, fragende Stimme.
Wieder sah sie ihn an, mit dem langsam wandernden schrägen Blick, der ihrem Gesicht etwas Chinesisches gab. Jetzt sterbe ich, dachte sie.
»Ja«, sagte sie und blickte hinweg, ins Nichts. Es war ein furchtbarer Augenblick. Ein Lächeln erschien auf ihrem Gesicht – ein schwaches, sinnloses Lächeln.
Plötzlich kniete er vor ihr, küßte die Spitze ihres Schuhes, küßte den Spann, küßte den Knöchel unter dem dünnen schwarzen Strumpf.
»Ich wußte es ja«, stammelte er. »Ich wußte ja, daß du alles gut machen würdest. Ich wußte: wenn ich einmal knieen mußte, dann nur vor dir. Ich wußte, daß du göttlich, daß du die Eine, Einzige bist – Kybele – Isis. Ich wußte, daß ich dein Sklave bin. Ich wußte es. Es war alles nur eine lange Prüfungszeit vor der Weihe. Ich mußte erst lernen, dich recht zu verehren.«
Wieder und immer wieder küßte er ihre Füße, ohne die geringste Selbstbeherrschung, ohne die geringste Hemmung. Dann setzte er sich wieder auf das Sofa, sah sie an und sagte:
»Es ist nicht Liebe – es ist Anbetung. Unsere Liebe wird ein Sakrament sein, Daphne. Das war es, was ich lernen mußte. Du bist größer als ich. Du bist ein Geheimnis für mich. Mein Gott, wie erhaben ist das alles! Wie wunderbar!«
Sie stand, mit einer Hand auf den Kaminsims gestützt, sah auf das Feuer hinab und antwortete nicht. Sie war erschrocken – war beinahe entsetzt: und doch erschauerte sie bis in die tiefste Seele. In diesem Augenblick fühlte sie wirklich die Kraft, weiß aufzuglühen und das All zu füllen wie der Mond, wie Astarte, wie Isis, wie Venus – in der Erhabenheit ihrer blassen Herrlichkeit. Ja, das war in der Tat die Verehrung eines Beters, nicht eines Liebenden. Sie war bereit, ihn zu empfangen – ihn und das Sakrament seiner höchsten Anbetung.
Er saß auf dem Sofa und hatte die gespreizten Hände auf dem gelben Brokat; nun stieß er sie hinter sich hinab, tief in die Polsterung zwischen Lehne und Sitz. Er hatte lange weiße Hände, mit fahlen Sommersprossen. Seine langen weißen Finger berührten einen Gegenstand. Er griff danach und brachte ihn zum Vorschein. Es war der verlorene Fingerhut. Und darin war das aufgerollte Fetzchen blauen Papieres.
»Hallo, ist das dein Fingerhut?« fragte er.
Sie fuhr auf und kam hastig heran.
»Wo war er?« fragte sie erregt.
Aber er gab ihn ihr nicht. Er drehte ihn um und nahm das blaue Papierfetzchen heraus. Er sah die schwache Bleistiftschrift auf dem Röllchen, rollte es auf und entzifferte langsam den Vers.
Wenn ich ein Vöglein wär
Und auch zwei Flüglein hätt,
Flög ich zu dir – –
»Wie furchtbar rührend ist das!« sagte er. »Ein Vöglein mit zwei Flüglein! Was für ein liebes köstliches Kind bist du doch! Zu wem wolltest du denn fliegen, wenn du ein Vöglein wärst?« Mit einem wunderlichen Lächeln sah er zu ihr auf.
»Ich weiß es nicht mehr«, sagte sie und wandte sich ab.
»Hoffentlich zu mir«, sagte er. »Jedenfalls will ich mal annehmen, ich wäre das Ziel – und ich liebe dich darum nur um so mehr. Was für eine entzückende Kinderei! Man denke – ein Vöglein mit zwei Flüglein! Wie schön, wie entzückend närrisch von dir, Liebling!«
Er faltete das Papier sorgsam zusammen und legte es in sein Taschenbuch; den Fingerhut hielt er während der ganzen Zeit zwischen den Knieen fest.
»Erzähl mir doch mal, wann du ihn verloren hast«, sagte er und betrachtete das kleine Ding.
»Vor einem Monat ungefähr – oder vor zwei Monaten.«
»Vor einem Monat ungefähr – oder vor zwei Monaten. Und was nähtest du? Hast du was dagegen, wenn ich frage? Es macht mir Freude, mir das Bild vorzustellen. Ich war damals noch in dem scheußlichen El Hasrun. Was hast du damals genäht, Liebling, vor zwei Monaten, als du den Fingerhut verlorst?«
»Ein Hemd.«
»Sieh an, ein Hemd! Für wen?«
»Für dich.«
»Für mich. Das also war des Pudels Kern. Hast du tatsächlich ein Hemd für mich genäht? Ist es fertig? Kann ich es anziehen – jetzt gleich?«
»Das von damals ist noch nicht fertig – aber ich hatte vorher schon eins gemacht.«
»Also, Liebling, sei nett und laß michs gleich anziehen. Herrlicher Gedanke, es so unmittelbar auf der Haut zu spüren! Das ist, als fühlte ich überall dich – am ganzen Körper dich. Wunderbar wird das sein. Komm, gib mirs!«
»Willst du mir nicht den Fingerhut wiedergeben?« fragte sie.
»Ja, natürlich. Ein prächtiges Ding übrigens. Woher hast du denn den?«
»Vom Grafen Dionys Psanek.«
»Wer ist denn das?«
»Ein böhmischer Graf. Wir kennen ihn aus Dresden. Er ist auch mal bei uns in Thoresway gewesen – hatte seine lange Frau bei sich. Hast du ihn damals nicht bei uns getroffen?«
»Ich glaube nicht. Nein, ich glaube nicht. Ich wüßte mich nicht zu entsinnen. Wie sah er aus?«
»Ein kleiner Mann mit schwarzem Haar und ziemlich niedriger dunkler Stirn – sehr elegant angezogen.«
»Nein, ich wüßte mich wirklich nicht zu erinnern. So, der hat ihn dir also geschenkt. Na, und wo mag er jetzt wohl sein, der arme Teufel? Wahrscheinlich vor die Hunde gegangen.«
»Nein, er ist gefangen; in Voynich Hall interniert. Wir, Mutter und ich, haben ihn ein paarmal besucht. Er war sehr, sehr schwer verwundet.«
»Armer kleiner Kerl! In Voynich Hall! Ich will ihn mal besuchen, bevor er nach Hause fährt. Komische Idee, dir einen Fingerhut zu schenken. Merkwürdiges Geschenk! Du warst ja allerdings damals noch ein junges Ding. Glaubst du, daß er ihn hat anfertigen lassen? Oder hat er ihn in einem Laden entdeckt?«
»Ich glaube, es ist ein Familienerbstück. Der Marienkäfer auf der Spitze gehört zum Wappen der Psaneks – und die Schlange auch, soviel ich weiß.«
»Ein Marienkäfer! Sonderbares Wappentier. Also ich will mir den Grafen ansehen, bevor er heimfährt. Und du hast mir ein Hemd genäht. Und dann hast du das Sofa als Postkasten für diesen kleinen Brief benutzt. Na, ich bin jedenfalls schrecklich froh, daß ich ihn gekriegt habe und daß er nicht unterwegs verloren gegangen ist, wie so viele Postsachen. ›Wenn ich ein Vöglein wär‹ – du großes Kind! Aber darin liegt eben die Schönheit einer Frau, wie du es bist. Ihr seid so herrlich und so hoch über aller Anbetung – und seid zugleich so köstlich törichte Kinder. Man muß euch ja anbeten, man muß euch ja lieben: euch, die ihr unsterblich und sterblich zugleich seid. Was, du willst den Fingerhut haben? Hier. Deine wunderschönen, wunderschönen weißen Finger. Ach, Liebling, du bist doch mehr Göttin als Kind: du große biegsam schlanke Isis mit den heiligen Händen. Weiß, weiß und unsterblich! Sag mir nicht, daß diese Hände jemals sterben könnten: deine wunderschönen Proserpinahände. Die sind unsterblich wie Februar und Schneeglöckchen. Wenn du die Hand hebst, so kommt der Frühling. Ich muß vor dir knieen, Liebling. Ich bin vor dir nur ein Opfer, ein Weihgeschenk. Ich wünschte inbrünstig, ich könnte sterben, indem ich mich ganz dir hingebe, indem ich all mein Blut auf deinem Altar opfere – auf ewig.«
Sie sah ihn mit einem langsam wandernden, langen Blick an, als er ihr das Gesicht zuwandte. Sein Gesicht war weiß vor leidenschaftlicher Entzückung. Und sie spürte keine Angst. Eine verborgene trübsinnige Stimme sagte ihr, daß alles dies unvernünftig und abgeschmackt war. Aber sie wollte die Stimme nicht hören. Sie war wie im Bann eines Betäubungsschlafs. Mit ihren langsam wandernden grünblauen Augen blickte sie hinab auf sein verzücktes Gesicht, beinahe gütig. Aber in der rechten Hand hielt sie, ohne es zu wissen, noch den Fingerhut, und sie gab ihm nur die linke. Er nahm ihre Hand und erhob sich, mit der seltsamen priesterlichen, entrückten Gebärde, durch die er für sie über den Mann und Soldaten und hoch, hoch über den Geliebten hinauswuchs.
Dennoch war seine Heimkehr die Ursache, daß sie sich wieder krank zu fühlen begann. Hinterher, nach den Liebesstunden mit ihm, hielt sie sich nur unter Qualen aufrecht. Beschämt und beklommen mußte sie erkennen, daß sie nicht stark oder nicht ungebrochen genug war, um diese über sie hereinbrechende Anbetungswollust ertragen zu können. Es war nicht ihre Schuld, daß sie sich hinterher schwach und reizbar fühlte, daß sie am liebsten geweint hätte, daß sie verdrossen und streitlustig war, daß sie sich nach einem Menschen sehnte, der sie aus alledem erlöste. Sie konnte dann nicht zu Basil, ihrem Manne, flüchten. Nach den Stunden seiner verzückten Anbetungswollust zog sie sich von ihm zurück. Ach, sie war nicht die Göttin, die herrlich überlegene Siegerin, die er in ihr sah. Ihr Wesen trug, wie einen Riß, das schicksalhafte Minderwertigkeitsgefühl ihres Zeitalters. Sie konnte ihr Herz nicht härten, konnte ihre Seele nicht reinbrennen von diesem Niedrigkeitsbewußtsein, dieser Furcht. Sie fand nicht den ganzen und endgültigen Glauben an ihre eigene Göttlichkeit – sie glaubte nur an ihr sterbliches Weibtum.
Die wilde Gewalt des Einsamseins, einsam auch mit dem Geliebten, die leidenschaftliche Macht der femina in excelsis – sie war dem nicht gewachsen. Zeitweilig wohl vermochte sie sich zu dieser Höhe zu erheben, zum mondwilden Weibtum, in Weißglut brennend, das Menschenmaß sprengend. Aber sie hatte nicht die Kraft, sich in dieser ungeheuren Steigerung, diesem Glanz ihrer weißen Weibmacht, ihres Mysteriums zu halten. Sie erschlaffte, sie verlor ihre Glorie, sie wurde reizbar und verdrossen. Verärgert und krank und keiner Besänftigung zugänglich. Und dann wurde natürlich auch Basils Wesen fahl wie Asche und ein wenig bitter, indessen ihr alle Nerven weh taten und sie nichts essen konnte.
Sie begann – wie konnte es anders sein? – Träume um den Grafen Dionys zu spinnen, sich verlangend nach ihm zu sehnen. Sie dachte an seinen nahen Abschied wie an ein bitteres Schicksal. Wenn sie daran dachte, daß er England bald verlassen – daß er für immer ins Dunkel entschwinden würde, war ihr, als erstürbe in ihr der letzte Funke. Ihre Seele starb, und sie fühlte sich ausgebrannt und seelenlos wie eine Dirne. Sie: eine zur Dirne erniedrigte Göttin. Und Basil: ihr hagerer, weißer, leidenschaftlicher Priester, der ihr mit niemals endender Anbetungswollust diente.
»Morgen,« sagte sie, indessen sie ihren letzten Mut zusammennahm und Basil mit einem schrägen Blick beobachtete, »morgen will ich nach Voynich Hall fahren.«
»Ach so, um den Grafen Psanek zu besuchen? Oh, das ist recht. Das ist mir sehr recht. Ich komme mit. Ich möchte ihn wirklich sehr gern kennen lernen. Wahrscheinlich wird er schon bald nach Hause geschickt werden.«
Es war vierzehn Tage vor Weihnachten und ein sehr dunkler Tag. Basil trug seine Khaki-Uniform, sie ihren schwarzen Pelz und einen schwarzen Spitzenschleier vor dem Gesicht: er gab ihr ein geheimnisvolles Aussehen. Aber sie schlug den Schleier zurück und band ihn hinten zusammen, so daß er ihr Gesicht wie ein Rahmen umgab. Sie sah sehr schön aus, und ihr Gesicht inmitten der Schwärze von Schleier und Pelz war rein wie die weißeste aller Christrosen, von winterlichem Rosa angehaucht. Aber sie glich allzusehr dem Bilde einer modernen Schönheit: entsprach allzusehr dem heutigen Modebegriff. Fast glaubte sie, daß Dionys sie um ihrer Schönheit willen, die aussah wie auf Wirkung berechnet, hassen würde. Er würde sehen, wie schön sie war – und sie darum hassen. Der Gedanke war ihr so etwas wie ein bitterer Trost. Denn sie selbst liebte ihre Schönheit mit einer Leidenschaft, die fast schon zur Qual wurde.
Der Graf kam zurückhaltend, ja vorsichtig auf sie zu, und sein Blick wanderte von Lady Daphnes schöner Erscheinung zu dem hageren, in seiner Haltung untadeligen Major an ihrer Seite. Daphne sah herrlich aus in ihrem schwarzen Pelz mit dem schwarzen Spitzenschleier, der über ihre enganliegende, aus Mattgoldfäden geflochtene Kappe zurückgeschlagen war; ihr Gesicht war schön wie eine Winterblüte in einer schwarzen Felsspalte. Sie lächelte: ein mattes, kühles Lächeln; es sagte, daß sie sich ihrer Schönheit stolz bewußt war, daß sie sich des Spiels mit den beiden Männern bewußt war, daß sie wohl bemerkte, welch leidenschaftliche Aufmerksamkeit ihre Erscheinung bei den gefangenen Offizieren weckte; dennoch entdeckte der Graf in ihrem Gesicht die herbe Bitterkeit der Unzufriedenheit und der Erkenntnis eigener Ohnmacht. Und sein Blick wanderte zu der fahlen Narbe auf der Wange des Majors.
»Graf Dionys, ich habe meinen Mann mitgebracht, um ihn mit Ihnen bekannt zu machen. Darf ich vorstellen: Major Apsley – Graf Dionys Psanek.«
Die Herren, in etwas frostiger Haltung, tauschten einen Händedruck.
»Ich kann Ihnen nachfühlen, wie scheußlich es ist, hier eingesperrt zu sein«, sagte Basil in seiner langsamen, lockeren Art. »Mir wars auch scheußlich da draußen im Osten, das können Sie mir glauben.«
»Aber Ihre Lage war gewiß sehr viel schlimmer als meine«, lächelte der Graf.
»Ja, das war sie vielleicht. Aber Gefängnis bleibt eben Gefängnis, und wenns der Himmel höchstselbst wäre.«
»Dann war Lady Apsley der einzige Engel in meinem Himmel«, lächelte der Graf.
»Ich fürchte, ich habe genau so wenig Gescheites ausgerichtet wie die meisten Engel«, sagte sie.
Das kleine Lächeln wich keinen Augenblick vom dunkeln Gesicht des Grafen. Sie hatte ihn richtig geschildert; seine Stirn war niedrig, das dunkle Haar wuchs ihm tief in die Stirn hinab, die Brauen lagen als dicke Bögen über seinen Augen, seine Wimpern waren lang und schwarz. So bekam die obere Gesichtshälfte ein sehr dunkles und düsteres Aussehen. Die Nase war klein und ein wenig durchscheinend. Es war ein Zug von Spott in seinem Gesicht und seiner Haltung, und er wurde noch verstärkt durch seine kleine, aber sehr bewegliche Gestalt. Seine dunkelblaue Uniform war, bei aller Vertragenheit, sehr sorgfältig gehalten; und sie verbarg nicht die düstere Flamme des Lebens, die sein Körper glühend durch die Kleider auszustrahlen schien. Er war nicht mager, aber sein braunes Gesicht hatte noch immer die seltsame Durchsichtigkeit der Haut.
»Hätten Sie mir denn noch mehr sein können?« lachte er und sah sie mit seinen dunkeln Augen doppeldeutig an.
»O ja – ein rettender Engel natürlich, eine Filmheldin«, sagte sie, schloß die Augen und wandte das Gesicht ab.
Der lange bleiche Major betrachtete während dieses ganzen Gesprächs den kleinen Grafen mit unverwandter, halb lächelnder Aufmerksamkeit. Der Graf schien es nicht zu bemerken. Jetzt wandte er sich dem Engländer zu.
»Major Apsley, ich freue mich, Sie zur gesunden und glücklichen Rückkehr in die Heimat beglückwünschen zu können.«
»Danke schön. Hoffentlich kann ich Ihnen schon bald den gleichen Glückwunsch aussprechen.«
»O ja«, sagte der Graf. »Ich werde schon bald in die Heimat befördert.«
»Haben Sie Nachricht von Ihrer Familie?« fragte Daphne dazwischen.
»Keinerlei Nachricht«, sagte er mit jähem Ernst.
»Sie werden, scheints, ein nettes Durcheinander da unten in Österreich vorfinden«, sagte Basil.
»Ja, wahrscheinlich. Darauf mußten wir ja gefaßt sein«, antwortete der Graf.
»Na, das weiß ich denn doch nicht. Manchmal schlagen einem die Dinge ja auch zum Guten aus. Für meinen Fall trifft das, glaube ich, gewissermaßen zu«, sagte der Major.
»Daß die Dinge zum Guten ausschlagen?« sagte der Graf im Tone der Höflichkeitsfrage.
»Ja. Für mich persönlich, meine ich – um es einmal ganz selbstsüchtig anzusehen. Denn das haben wir ja wohl schließlich alle gelernt, daß jeder Mensch nur vom eigenen Standpunkt urteilen kann. Und da meine ich: Es war fürchterlich, aber es war nicht vergeblich. Es war wie eine Feuerprobe, durch die man hindurch mußte«, sagte Basil.
»Sie meinen den Krieg?«
»Den Krieg und alles, was damit zusammenhing.«
»Und wenn man die Feuerprobe bestanden hat –?« forschte der höfliche Frager weiter.
»Ja, dann gelangt man auf eine höhere Ebene des Bewußtseins und damit des Lebens überhaupt. Und damit natürlich auch auf eine höhere Stufe der Liebe. Eine erstaunlich viel höhere Stufe der Liebe, von deren Vorhandensein man früher nie etwas geahnt hatte.«
Der Graf blickte von Basil zu Daphne, deren Kopfhaltung eine leichte Verlegenheit ausdrückte.
»Dann hat der Krieg sich in der Tat für Sie als wertvoll erwiesen«, sagte er.
»Richtig«, sagte Basil. »Ich bin ein anderer Mensch.«
»Und Lady Apsley?« fragte der Graf.
»Oh« – der Major sah sich nach ihr um – »sie ist ganz und gar verwandelt – und viel, viel wunderbarer und herrlicher als zuvor.«
Der Graf lächelte und verneigte sich leicht.
»Vor zehn Jahren«, sagte er, »würden wir es für unmöglich gehalten haben, daß sie noch wunderbarer und herrlicher sein könnte.«
»Freilich!« antwortete der Major. »Es scheint in jedem Falle unmöglich. Und das Unmögliche wird stets Ereignis. Natürlich stelle ich es mir so vor, daß der Krieg uns einen neuen Bezirk des Lebens aufgetan hat – einen weiter gespannten Kreis.«
»Vielleicht«, sagte der Graf.
»Haben Sie denn nicht dasselbe Empfinden?« Unverwandt und scharf forschend war das weiße Gesicht des Majors auf das dunkle, schmalstirnige Gesicht des Grafen gerichtet. Der Graf aber blickte lächelnd Daphne an.
»Ich bin vorläufig nur ein Gefangener, Major Apsley; deshalb kommt mir mein Kreis recht eng vor.«
»Ja, natürlich. Selbstverständlich. Na, ich hoffe, Sie werden nicht lange mehr ein Gefangener sein. Sie sterben doch gewiß vor Sehnsucht nach der Heimat.«
»Ja, ich werde froh sein, wenn ich erst frei bin. Aber« – er lächelte – »mir wird auch mein Gefängnis mit den Besuchen aus dem Engelreich fehlen.«
Nicht einmal Daphne war sich ganz klar darüber, ob er sich über sie lustig machte. Es war offenbar, daß der Besuch ihm peinlich war. Sie erkannte deutlich, daß er Basil nicht leiden mochte. Mehr noch: sie fühlte, daß die Anwesenheit ihres langen, hageren, schwärmerischen Gatten ihm geradezu widerwärtig war. Aber der braunhäutige kleine Herr glitt über alles das mit lächelndem Gesicht und höflichen Redensarten hinweg.
Basil dagegen war wie gebannt durch Erscheinung und Wesen des Grafen. Er betrachtete ihn unverwandt und vergaß Daphne völlig. Sie wußte das. Sie wußte, daß sie dem Bewußtsein ihres Mannes gänzlich entrückt war, wie eine Lampe, die in ein anderes Zimmer gebracht worden ist. Nun stand er, wenigstens soweit sie in Frage kam, völlig im Dunkeln, und seine ganze Aufmerksamkeit galt, wie in einem Brennpunkt gesammelt, dem Grafen. Sein kleines hageres Gesicht trug, in einem steten Lächeln, den Ausdruck belustigter Gespanntheit.
»Aber langweilen Sie sich nicht schrecklich in der Zeit zwischen den Besuchen?« fragte er.
Der Graf sah mit erheuchelter Offenheit zu ihm auf.
»Nein, gar nicht«, sagte er. »Sehen Sie, ich habe Zeit genug, über die Ereignisse zu grübeln – die vergangenen und die kommenden.«
»Darin liegt nach meiner Ansicht gerade das Unheil«, sagte der Major. »Man sitzt und grübelt und ist von allem und jedem abgeschnitten und verliert den lebendigen Zusammenhang mit der Wirklichkeit. Auf mich jedenfalls hat die Zeit der Gefangenschaft so gewirkt.«
»Zusammenhang mit der Wirklichkeit – was ist das?«
»Na – ich meine: die Fühlung mit allen Menschen – ja, und allen Dingen.«
»Wozu braucht man denn eine solche Fühlung?«
»Tja, weil man sie eben braucht«, sagte Basil.
Der Graf lächelte – sein langsames Lächeln. »Aber ich kann dasitzen und zusehen, wie das Schicksal, einem schwarzen Wasser gleich, durch die Tiefen meiner Seele fließt«, sagte er. »Dort drunten, im Dunkel meiner Seele, vollziehen sich Ereignisse, die ich spüre.«
»Das ist möglich. Aber alle diese Ereignisse sind doch in Wahrheit nur von einer Art. Sie sind ein lebendiger Zusammenhang zwischen Ihrer Seele und der Seele eines anderen Wesens – oder vieler anderer Wesen. Erlebnisse anderer Art sind keinem von uns beschieden. So wenigstens habe ich es mir am eigenen Beispiel zurechtgelegt. Vielleicht bin ich im Irrtum. Aber so habe ich es mir zurechtgelegt, als ich verwundet und in Gefangenschaft war.«
Das Gesicht des Grafen war düster und ernsthaft geworden.
»Ist denn aber dieser – Zusammenhang, wie Sie es nennen – als solcher ein erstrebenswertes Ziel?«
»Ja, sehen Sie,« sagte der Major (er hatte den philosophischen Doktorgrad erworben) »– sehen Sie, nach meiner Ansicht ist er das. Er führt unausweichlich zu irgend einer Form der Betätigung. Ich bin der Auffassung, daß Ursache und Ursprung und lebendiger Antrieb jeder Art von Wirksamkeit, nämlich der Betätigungsdrang, mag er nun aufbauend oder zerstörend sein, in dem auswirkenden Zusammenhang zwischen Menschen zu suchen sind. Führen Sie eine gewisse Art von Kräfteberührung zwischen Menschen herbei, und Sie bekommen als Ergebnis: Krieg. Nehmen Sie eine andere Art von Kräfteberührung, und Sie werden es erleben, daß die Leute alle miteinander eine Kathedrale bauen – wie sie es etwa im Mittelalter taten.«
»Aber war nicht der Krieg (oder die Kathedrale) der wahre Zweck – und die Berührung jener Triebkräfte einfach nur das Mittel?« fragte der Graf.
»Das glaube ich nicht«, sagte der Major, und sein Gesicht begann in der seltsamen weißen Glut seiner Leidenschaft zu leuchten. Die Drei, von den anderen Offizieren aus höflicher Rücksicht allein gelassen, saßen in einem kleinen Spielzimmer. Daphne war immer noch in ihre dunkle, allzu kleidsame Gewandung aus Pelz und Schleier gehüllt. Aber keiner der beiden Herren schenkte ihr noch irgend welche Beachtung. Es hätte statt ihrer ebensogut ein beliebiges und belangloses häßliches kleines Garnichts dasitzen können – es hätte genau so viel oder wenig Beachtung gefunden. So saß sie am Fenster des unbehaglichen kleinen Raumes, und ihr fremdartiges herrliches Gesicht, das einer erlesenen weißen und blaßroten Treibhausblüte glich, verriet ihre Unzufriedenheit. Dann und wann wanderte ihr langsamer Blick vom einen zum andern: von ihrem Gatten, dessen blutloses, angespanntes, weißglühendes Gesicht leidenschaftlich über den Tisch vorgeneigt war, zum Grafen, der wie in Abwehrstellung in seinen Stuhl zurückgelehnt saß und dessen dunkles Gesicht einen starren und düsteren Ausdruck von Gegnerschaft und Verärgerung trug. Der Major war blind und taub für alles andere als den Einsatz seiner Kraft in dieser Auseinandersetzung. Der Graf dagegen hatte daneben noch so etwas wie ein gesondertes und untergeordnetes Bewußtsein, das umherschweifte und die Frau am Fenster auch jetzt noch mit einbezog. Sein Gesicht, sein Blick, seine gesammelte Aufmerksamkeit waren auf Basil gerichtet. Irgend eine verborgene Kraft in seinem Bewußtsein aber ließ auch Daphne keinen Augenblick ganz los. Sie saß unbehaglich und unzufrieden da, wie Frauen es immer tun, wenn Männer, vertieft und für alles andere verschlossen, ein solches Wortfeuerwerk veranstalten. Dennoch folgte sie der Auseinandersetzung. Und dabei erging es ihr seltsam: Ihre Neigung war in diesem Augenblick auf der Seite des Grafen; ihr Glaube aber gehörte den Worten des Gatten. Die Berührung, das Zusammenklingen der Gefühle sind das Eigentliche und Wesentliche, sagte sie sich; der sogenannte »Zweck« ist nur ein beiläufiges Ergebnis. Sogar Kriege und Kathedralen sind nur beiläufige Ergebnisse. Das Wesentliche ist das, was die Krieger und die Kirchenbauer gemeinsam besaßen, als ein großes, alle einendes Gefühl: das, was sie gegenseitig füreinander empfanden – und im besonderen natürlich für ihre Frauen.
»Immerhin gibt es sehr viele Arten solcher Berührungsmöglichkeiten«, sagte der Graf.
»Ja, da muß ich Ihnen nun sagen: Für mich gibt es eigentlich nur eine einzige höchste Art der Wesensberührung, nämlich die Liebe«, antwortete der Major. »Wohlgemerkt: Die Liebe kann in einer unbegrenzten Vielfalt von Gestalten auftreten. Und nach meiner Meinung ist keine Form von Liebe verwerflich, sofern sie wirklich Liebe ist und sofern der Liebende selbst sein Tun achtet. Liebe erscheint in erstaunlich mannigfacher Gestalt. Und damit ist, scheint mir, der gesamte Inhalt des Lebens bezeichnet. Aber glauben Sie mir, wenn Sie diese Vielfalt der Liebesformen leugnen, dann leugnen Sie die Liebe überhaupt. Wenn Sie die Liebe in eine bestimmte Folge anerkannter Gefühle gliedern wollen, dann verwunden Sie die Seele – die Seele der Liebe. Denn Liebe muß vielgestaltig sein, sonst ist sie nichts anderes als Tyrannei, nichts anderes als Tod.«
»Aber warum nennen Sie denn das alles Liebe?« fragte der Graf.
»Weil ich glaube, daß es tatsächlich Liebe ist: die mächtige Kraft, die menschliche Wesen zueinander hinzieht, ohne Rücksicht darauf, wie die Folgen der Berührung aussehen werden. Natürlich gibt es auch den Haß – aber der Haß ist ja nur der entgegengesetzte Pendelausschlag.«
»Glauben Sie, daß das alte Ägypten auf Liebe gegründet war?« fragte Dionys.
»Aber selbstverständlich! Und vielleicht auf die gestaltenreichste und weitestgespannte Liebe, die unsere Erde je erlebt hat. Alles, was wir heute erdulden müssen, rührt doch nur daher, daß unsere Art zu lieben zu eng, zu wählerisch ist – und daß wir sie darum überhaupt nicht ›Liebe‹ nennen dürfen: eher ›Tod‹ und ›Tyrannei‹.«
Der Graf schüttelte langsam den Kopf und lächelte – ein langsames und beinahe trauriges Lächeln.
»Nein«, sagte er. »Nein. Das führt zu nichts. Sie müssen ein anderes Wort als ›Liebe‹ einsetzen.«
»Ich bin ganz und gar nicht Ihrer Meinung«, sagte Basil.
»Welches Wort denn?« fuhr Daphne dazwischen.
»Gehorsam. Unterwerfung. Vertrauen. Glauben. Kraft zur Verantwortung«, sagte der Graf. Er las die Begriffe langsam auf, als suchte er und könnte doch nicht das Rechte finden. Dabei sah er sie mit seinen ruhigen schwarzen Augen an. Es war seltsam: Seine Worte mißfielen ihr gründlich, er selbst aber gefiel ihr. Andererseits glaubte sie unbedingt an die Wahrheit dessen, was Basil sagte, aber ihre körperliche Neigung widerstrebte ihm.
»Stimmst du ihm bei, Daphne?« fragte Basil.
»Ganz und gar nicht«, sagte sie und ließ ihren langsamen Blick zu ihrem Gatten wandern.
»Ich auch nicht«, sagte Basil. »Mir scheint, wenn ein Mensch liebt, so gibt es da weder Gehorsam noch Unterwerfung – nur gegenüber der Seele der Liebe. Wenn Sie von Gehorsam und Unterwerfung und so weiter mit Bezug auf die Seele der Liebe reden wollen, dann bin ich allerdings völlig mit Ihnen einig. Meinen Sie aber Gehorsam und Unterwerfung im Verhältnis der Menschen untereinander, wollen Sie darauf hinaus, daß ein Mensch Macht über andere Menschen haben soll – dann pflichte ich Ihnen nicht bei und werde es niemals tun. Denn gerade in dieser Hinsicht sind wir, glaube ich, fehlgegangen. Kaiser Wilhelm der Zweite – –«
»Nicht doch«, sagte der Graf. »Kaiser Wilhelm hatte nicht die rechte Vorstellung von der Heiligkeit der Macht.«
»Er hat sich als recht gefährlich erwiesen.«
»Gewiß. Aber der Friede kann unter Umständen sogar noch gefährlicher sein.«
»Dann sagen Sie mir doch, bitte, einmal: Glauben Sie, daß Sie, als Aristokrat, von Rechts wegen lehnsherrliche Macht über ein paar Hundert anderer Menschen haben sollten, die zufällig als Gutseigene und nicht als Aristokraten geboren sind?«
»Nicht als durch Erbfolge berechtigter Aristokrat, sondern als Mensch, der seinem Wesen nach Aristokrat ist, habe ich die heilige Pflicht, die Lebensschicksale anderer in der Hand zu halten und das Schicksal der Kommenden zu formen«, sagte der Graf. »Aber ich kann diese meine Bestimmung erst dann erfüllen, wenn andere Menschen ihr Lebensschicksal freiwillig in meine Hand legen.«
»Und Sie glauben doch wohl nicht, daß sie das tun werden, wie?« lächelte Basil.
»In diesem Augenblick – nein.«
»– oder in irgend einem anderen Augenblick?« Die Frage war deutlicher Spott.
»Es wird ein Augenblick kommen, da die Menschen, die wahrhaft leben, zu den Größeren unter ihnen kommen, um ihr Leben in die Hände dieser Größeren zu legen – um sie zu bitten, daß sie die geheiligte Verantwortung der Macht auf sich nehmen.«
»Glauben Sie wirklich? Vielleicht wollen Sie damit sagen, daß die Menschen einmal dahin kommen werden, sich Führer zu wählen, die sie lieben«, sagte Basil. »Ich wollte, es wäre so.«
»Nein, ich will damit sagen, daß sie sich eines Tages dem Willen der Menschen unterwerfen werden, die größer sind als sie selbst: daß sie also freiwillig Vasallen werden.«
»Vasallen –!« rief Basil lächelnd. »Sie leben ja noch im Zeitalter der Lehnsherrschaft, Graf.«
»Vasallen, jawohl. Nicht unter einem Erbherrscher – Hohenzollern oder Habsburg oder Psanek«, lächelte der Graf. »Sondern unter einem Manne, dessen Seele zum Einsamsein geboren ist – der die Kraft hat, einsam zu sein, Entscheidungen zu fällen, zu gebieten. Einmal werden die Massen zu solchen Menschen kommen und sagen: Ihr seid größer als wir. Seid ihr unsere Herren. Nehmt ihr die Entscheidung über unser Leben und unseren Tod in eure Hände, tut mit uns, was ihr wollt. Denn wir sehen einen Glanz auf eurem Antlitz und eine Flamme auf euren Lippen.«
Der Major, angeregt und tief belustigt, betrachtete den anderen eine ganze Weile lächelnd; der Graf schien es nicht zu bemerken.
»Sie müssen aber wirklich gewaltig – gutgläubig sein, Graf, wenn Sie glauben, daß die Massen von heute jemals etwas Derartiges tun werden. Sie werden es niemals tun, glauben Sie mir das.«
»Und wenn sie es täten,« sagte der Graf, »würden Sie es dann ein neues Reich der Liebe nennen – oder wie sonst?«
»Gewiß, natürlich, die Liebe würde einen wesentlichen Bestandteil dieser neuen Form ausmachen. Denn sie müßte ja eine wesentliche Rolle im Gefühl der Menschen für ihre Führer spielen.«
»Glauben Sie wirklich? Ich war der Meinung, daß mit der Liebe eine Gleichberechtigung im Verschiedensein verbunden sein müsse – ich war der Meinung, daß die Liebe jedem Menschen das Recht gibt, über die Handlungen anderer Menschen zu urteilen; und zwar so: Diese Handlung entsprang nicht der Liebe, also war sie ein Unrecht. Geben nicht die Demokratie und die Liebe jedem Menschen dieses Recht?«
»Ganz gewiß«, sagte Basil.
»Sehen Sie. Aber mein erwählter Aristokrat würde zu denen, die ihn erwählen wollen, so sprechen: »Wenn ihr mich wählt, so begebt ihr euch für alle Zukunft des Rechtes, über mich zu urteilen. Wenn ihr euch vorbehaltlos, entschlossen habt, mir zu folgen, so habt ihr damit auf jegliches Recht, meine Handlungen zustimmend oder ablehnend zu werten, verzichtet. Ihr könnt mein Tun künftig weder billigen noch mißbilligen. Ihr habt die heilige Handlung der Wahl vollzogen. In Zukunft gibt es für euch nur noch Gehorsam‹.«
»Sie würden aber doch urteilen, weil sie eben einfach gar nicht anders können«, fuhr Daphne abermals dazwischen. Er richtete langsam den Blick auf sie, und zum ersten Male in ihrem Leben zweifelte sie an der Richtigkeit dessen, was sie sagte.
»Das Zeitalter des Judas«, sagte er, »endet mit dem Zeitalter der Liebe.«
Basil schien aus einem Bann zu erwachen.
»Wahrhaftig, Graf,« sagte er, »das ist eine höchst spaßige Vorstellung. Hastdunichtgesehen sind wir wieder rückwärts ins dunkle Mittelalter gezaubert.«
»Falsch«, sagte der Graf. »Die Menschen – die großen Massen – haben noch nie die Freiheit gehabt, die geheiligte Handlung der Wahl zu vollziehen. Heute – bald – haben sie sie vielleicht.«
»Na, ich weiß doch nicht. Viele Stämme haben sich ihre Könige und Häuptlinge gewählt.«
»Die Menschen haben noch niemals die volle Freiheit der Wahl gehabt, haben auch noch niemals genau gewußt, was sie taten.«
»Damit wollen Sie wohl sagen: Die Menschen haben sich immer nur befreit, um sich dann freiwillig selbst neue Herren und Meister aufzuhalsen.«
»Genau das will ich sagen.«
»Kurz gesagt: Das Leben ist lediglich ein fehlerhafter Kreislauf. Nicht?«
»Aber keineswegs. Ein unablässig sich erweiternder Kreis – so nannten Sie es doch. Und immer herrlicher.«
»Ja, das alles ist riesig fesselnd und luftig – findest du nicht auch, Daphne? Nebenbei, Graf – wie soll es mit den Frauen werden? Soll es ihnen erlaubt sein, an ihren Ehemännern Kritik zu üben?«
»Nur vor der Heirat«, lächelte der Graf. »Hinterher nicht mehr.«
»Glänzend!« sagte Basil. »Für diesen Teil Ihres Planes trete ich mit Begeisterung ein. Hoffentlich hast du zugehört, Daphne.«
»O ja. Aber schließlich habe ich ja nur dich geheiratet. Das Recht, an allen anderen Männern Kritik zu üben, ist mir also geblieben«, sagte sie mit gepreßter und verärgerter Stimme.
»Vollkommen richtig. Gerissen bist du! Da kommt der Graf nicht ungerupft Davon! Also: Was hältst du von dem Zukunftsplan des Grafen, Daphne? Bist du einverstanden?«
»Mit keiner Silbe. Aber es war ja wohl schon immer so, daß kleine Männer nach Macht trachteten«, sagte sie grausam.
»Na, weißt du, große aber auch«, sagte Basil versöhnlich.
»Ich habe schon früher sagen hören, daß kleine Männer immer herrschsüchtig sind«, lächelte der Graf. »Aber ich fürchte, ich habe Lady Daphne gekränkt?«
»Nein«, sagte sie. »Gekränkt nicht. Ich finde das Ganze belustigend, wirklich. Aber ich habe nun einmal eine Abneigung gegen alles, was nach Renommisterei aussieht.«
»Natürlich. Ich auch«, sagte Graf Dionys.
»Es war dem Grafen nicht um Renommisterei zu tun, Daphne«, sagte Basil. »Du mußt nun doch wohl zugeben, daß es einen Unterschied zwischen verantwortungsbewußter Macht und Renommisterei gibt.«
»Gewiß, wenn Männer darüber die Köpfe zusammenstecken«, sagte Daphne. Es klang hochfahrend und zornig, als fürchte sie irgend etwas zu verlieren. Der Graf sah sie mit einem boshaften Lächeln an.
»Sie sind gekränkt, Lady Daphne? Aber wodurch denn? Sie sind doch vor jeder noch so geringfügigen Auswirkung meiner gefährlichen und ausgedehnten Macht sicher.«
Basil brach in ein lautes Gelächter aus. »Es ist wirklich ein bißchen spaßig, Sie von Macht und Kritikverbot reden zu hören«, sagte er. »Aber ich hätte Lust, das Gespräch fortzusetzen – wahrhaftig, ich hätte Lust dazu.«
Als sie heimfuhren, sagte er zu seiner Frau: »Hör mal, der kleine Kerl gefällt mir. Das ist ein ulkiger Knirps. Und er gibt einem Stoff zum Nachdenken.«
Lady Daphne gefror unter dem Nordwind dieser Feststellung zu vier Grad unter Null, und es war kein Wort mehr aus ihr herauszubringen.
Wunderlich genug: Jetzt standen die Dinge so, daß Basil sich vom Wesen des Grafen angezogen und Daphne dadurch abgestoßen fühlte. Nicht daß sie mit ihrem Gatten so unbedingt verknüpft gewesen wäre. Keineswegs. Sie war in ziemlich gereizter Stimmung gegen die Männer insgesamt. Aber es ging wie so oft in unserem auf dem schicksalhaften Dreieck ruhenden Leben: Basil konnte mit seiner Begeisterung für den Grafen nur dann etwas anfangen, wenn seine Frau zugegen war. Sobald die beiden Männer allein waren, herrschte eine verlegene Spannung zwischen ihnen, und das Gespräch förderte mit Mühe und Not zwei Dutzend Worte zutage. War aber Daphne dabei, um den Kontakt der einander widerstrebenden Ströme zu schließen, so flammte das Gespräch lichterloh wie ein brennendes Haus.
Darin konnte nun freilich Lady Daphne nicht viel Trost finden. Nur so als untätiges Bindeglied zwischen zwei Männern zu sitzen, die einander ihren philosophischen Unsinn wie Schwärmer ins Gesicht schossen: nein, das konnte ihr nicht genügen! Sie empfand beinahe Haß gegen den Grafen: diesen niedrigstirnigen kleinen Mann aus einer vorgeschichtlichen Sklavenrasse. Zugleich aber hegte sie gegen ihren bleichen, so sehr auf geistige Auseinandersetzungen erpichten Gatten einen ätzenden Groll. Hilflos – hilflos und zornig saß sie zwischen den beiden. Was wurde daraus? Ja, was nun kam, war ganz und gar Basils Schuld. Der Winter neigte sich dem Ende zu: und es war klar, daß der Krieg tatsächlich und völlig aus war. Nicht minder klar war, daß man den Grafen schon bald zu Schiff in die Heimat schicken würde. Acht oder vierzehn Tage noch, und Voynich Hall war verlassen.
Basil indessen brachte es nicht fertig, die Dinge ihren gewissermaßen natürlichen Lauf nehmen zu lassen. Er war regelrecht vernarrt in den Grafen. Er wollte ihn vor seiner Abreise noch bei sich als Gast begrüßen. Und Major Apsley konnte in diesem Augenblick alles erreichen, was sich vernünftig begründen ließ. So setzte er für den armen kleinen Grafen die Genehmigung durch, noch vierzehn Tage in Thoresway zu bleiben, bevor er nach Österreich auf den Weg gebracht wurde. Earl Beveridge, dessen Seelenstimmung seit dem Kriege schwarz wie Tinte war, würde es niemals zugegeben haben, daß der kleine feindliche Offizier sein Haus betrat: wenn sich nicht in den beiden letzten Jahren ein Haß in ihm angesammelt hätte, weil er das entwürdigende Schauspiel mit ansehen mußte, wie sogenannte Patrioten der Öffentlichkeit ihre »unanständige Bastardgesinnung« (so nannte es der Earl) ins Gesicht heulen durften. Diese Bastarde hatten in Presse und Öffentlichkeit fast zwei Jahre lang Unsicherheit und Urteilslosigkeit gestiftet. Sie hatten nur das eine einzige Ziel: Alles, was in England noch stolz und würdig geblieben war, zu erniedrigen und zu demütigen. Das war der ärgste Alpdruck dieser bedrückenden Zeit: sehen zu müssen, wie da eine Welle von Unrat in Menschengestalt an die Oberfläche kam und offenbar entschlossen war, die Seelen aller, die sich noch ihre Würde bewahrt hatten, zu ersticken.
Der Earl freilich hatte den festen Willen, sich nie und nimmer von Unrat und Abschaum hinwegschwemmen zu lassen; er stemmte die Hacken in den Grund und hielt stand. Als Basil ihn um sein Einverständnis bat, daß dem Grafen vor seiner Heimbeförderung noch vierzehn Tage friedlichen Urlaubs in Thoresway vergönnt sein sollten, gab der Earl, wenn auch zögernd, seine Zustimmung. »Soll es meinetwegen einen Skandal geben«, sagte er. In Wahrheit wollte er gerade den Skandal herausfordern und ihm Trotz bieten. Denn der Gedanke an seine gefallenen Söhne war bitter für ihn: aber bitterer noch war der Gedanke, daß England in die Klauen übelriechender Bastarde geraten war.
Lord Beveridge war in Thoresway, um den Grafen, der in Basils Begleitung ankam, zu empfangen. Der alte englische Edelmann war ein hochgewachsener, schöner, starkgebauter Mann, mit einem dunklen und verfinsterten Gesicht, das man hochmütig hätte nennen mögen, wenn der Hochmut nicht zum Gespött geworden wäre in der Welt. Er war ein Mann von starken Leidenschaften und, wie solche Menschen immer, empfindlich, großherzig und von angeborener Herrschsucht. Ihm freilich war es so ergangen, daß sein düsteres leidenschaftliches Wesen und seine jähzornige Empfindlichkeit fünfundfünfzig Jahre lang auf sanfte, aber höchst wirksame Art unterdrückt, verurteilt und verworfen worden war: bis er beinahe selbst an sein eigenes Unrecht glaubte. Seine kleine zarte Frau, die aus lauter Liebe zur Menschheit bestand, war neben ihm ein Musterbeispiel aller Tugenden. Er selbst war abgestempelt als selbstsüchtig, sinnlich, grausam und so weiter. Und schon war es so weit mit ihm gekommen, daß er immer abseits und im Schatten zu stehen schien, weggewischt vom farblosen wirren Pöbelstrom des demokratischen Hastgetriebes. Dies war der Eindruck, den er weckte: ein abseits stehender Mann, halb verlegen, halb hochmütig – und kaum noch sichtbar im dämmrigen Hintergrund.
Er war ein wenig in Verteidigungsstellung, als Basil mit dem Grafen ankam.
»Ah – guten Tag, Graf Psanek«, sagte er, kam mit langen Schritten heran und streckte dem Gast die Hand hin. Graf Dionys fühlte eine gewisse Zuneigung für den schweigsamen Engländer, weil er Daphnes Vater war.
»Es ist zu viel Ehre für mich, Lord Beveridge, daß Sie mich in Ihrem Hause empfangen«, sagte er in hochmütigem Ton.
Der Earl musterte ihn langsam und stumm; er schien, im eigentlichen Sinne des Wortes, auf ihn herabzublicken. »Wir sind immer noch Menschen, Graf. Wir sind noch nicht allesamt Bestien.«
»Womit Sie wahrscheinlich sagen wollen, daß man meine Landsleute schon annähernd als Bestien bezeichnen darf, Lord Beveridge?« lächelte der Graf, und seine schmale Nase krauste sich spöttisch.
Wieder dauerte es eine Weile, bis der Earl antwortete. »Sie haben eine geringe Meinung von meinem Takt, Graf Psanek.«
»Aber vielleicht eine richtige Einschätzung Ihres Denkens, Lord Beveridge«, lächelte der Graf, immer mit seiner lässigen und ein wenig verächtlichen Miene.
Lord Beveridge wurde dunkelrot; sein angeborener Jähzorn war gereizt. »Ich freue mich, daß Graf Psanek mich über mein eigenes Denken aufklärt«, sagte er.
»Ich bitte Sie tausendmal um Entschuldigung, Lord Beveridge, wenn ich dadurch Anstoß errege«, antwortete der Graf.
Der Earl wurde schwarz im Gesicht und kam sich wie ein Narr vor. Er kehrte dem Grafen den Rücken. Gleich darauf aber drehte er sich wieder um und bot ihm seine Zigarrentasche. »Möchten Sie rauchen?« fragte er. Sein Ton war freundlich.
»Danke schön«, sagte der Graf und nahm eine Zigarre.
»Ich möchte behaupten,« sagte Lord Beveridge, »daß in gewisser Hinsicht alle Menschen Bestien sind. Ich habe da, fürchte ich, nach der allgemein verbreiteten schlechten Gewohnheit nur so dahergeredet und gar nicht ausgedrückt, was ich eigentlich meine. Wollen Sie nicht Platz nehmen?«
»Erst in der Gefangenschaft ist mir klar geworden, daß ich tatsächlich keine Bestie bin. Nein, ich bin Ich selbst. Ich bin keine Bestie«, sagte der Graf und setzte sich.
Der Earl betrachtete ihn neugierig. »Tja,« sagte er, »es ist wohl ratsam, sich darüber klar zu werden, denke ich mir.«
»Es ist sogar notwendig, wenn man sich vor der Ansteckung durch Pöbelgesinnung schützen will.«
Der Earl spürte den verborgenen Vorwurf wie einen Stich. Seine achatbraunen scharfen Augen ließen den schwarzhaarigen kleinen Grafen nicht los. »Sie haben wahrscheinlich recht«, sagte er. Dann aber wandte er den Kopf ab.
Sie waren zu fünft bei Tisch – Lady Beveridge saß als Gastgeberin obenan.
»Ach, Graf Dionys,« sagte sie mit einem Seufzer, »sind Sie tatsächlich davon überzeugt, daß der Krieg aus ist?«
»O ja«, antwortete er rasch. » Dieser Krieg ist aus. Die Heere ziehen heim. Ihre Geschütze werden nicht wieder donnern. Nie wieder so.«
»Ach, ich hoffe es«, seufzte sie.
»Ich bin sogar ganz sicher«, sagte er.
»Sie glauben, es wird keine Kriege mehr geben?« fragte Daphne.
Aus irgend einem ihr selbst unklaren Grunde hatte sie sich besonders sorgfältig angezogen; sie trug ihr neuestes Kleid, in Silber und Schwarz und blaßroter Chenille, tief ausgeschnitten; ihr Haar war nach der letzten Mode frisiert. Der Graf, in seiner vertragenen Uniform, wandte sich ihr zu. Sie war überreizt und fahrig. Ihr schlanker weißer Arm, mit dem schmalen Silberstreifen auf der Schulter, war ihm ganz nahe. Ihre Haut war weiß wie eine Treibhausblüte. Ihre Lippen plapperten hastig.
»Einen Krieg wie diesen wird es niemals wieder geben«, sagte er.
»Woher wissen Sie das so genau?« gab sie zurück und sah ihm in die Augen.
»Wir haben die Gewalt über die Kriegsmaschine verloren. Und wir werden sie nun niemals wieder in Gang setzen, bis sie in Stücke zerfallen ist. Angst wird uns daran hindern.«
»Und Sie meinen, alle werden Angst haben?« fragte sie und sah auf ihren Teller, mit zurückgepreßtem Kinn.
»Das glaube ich, ja.«
»Wir wollen es hoffen«, sagte Lady Beveridge.
»Ich möchte Ihnen nicht weh tun, Graf,« sagte Basil, »aber ich würde gern einmal von Ihnen hören, wie Sie über den Ausgang des Krieges denken. Den Ausgang für Sie meine ich.«
»Sie wollen sagen: darüber, daß Deutschland und Österreich den Krieg verloren haben? Das war Schicksalsbestimmung. Wir alle haben den Krieg verloren. Ganz Europa.«
»Da bin ich Ihrer Ansicht«, sagte Lord Beveridge.
»Wir alle haben den Krieg verloren?« fragte Daphne und wandte sich ihm zu.
Sein dunkles Gesicht mit der niedrigen Stirn trug einen Ausdruck des Schmerzes. Er litt unter der unmittelbaren Nähe dieser leidenschaftlichen und erregbaren Frau. Ihre Haut war von einer treibhaushaften Köstlichkeit, die ihn verwirrt und trunken machte. Ihre Schultern waren breit, ein wenig mager, aber die Haut war so weiß und von so beseelter und sinnlicher Zartheit, so treibhaushaft köstlich. Sie verwirrte ihm die Sinne wie der Duft einer weißen tropischen Blüte. Und es war, als wende sie sich ihm mit aller Kraft ihres Herzens zu. Es war, als sehne sie sich danach, ihre Brust an die seine zu pressen. Ja, von ihrer Brust strömte ihm ihre Liebe zu. Und er fühlte sich unglücklich; er wollte seine Beherrschung nicht verlieren, wollte gerade vor diesen Gastgebern seine Ehre behaupten. Er sah sie an, und Wissen und Schmerz verdunkelten seine Augen. Es war, als hielte sie mit ihrem Schweigen und ihren kurzen Worten alle unter einem Bann: als hätte sie alle zu einer Art von Stummsein verzaubert. Und sie selbst, stumm, über ihren Teller geneigt, zwang alle unter ihren Willen.
»Allerdings meine ich, daß wir alle den Krieg verloren haben«, sagte er als Antwort auf ihre Frage. »Es war ein selbstmörderischer Krieg. Keiner konnte ihn gewinnen. Es war Selbstmord für uns alle.«
»Oh, ich weiß doch nicht«, sagte sie. »Wie paßt das auf Amerika und Japan?«
»Die zählen nicht mit. Sie haben nur uns beim Selbstmord geholfen. Mit der eigenen Lebenskraft waren sie gar nicht beteiligt.«
Auf seinem Gesicht, in seiner Stimme war ein solcher Ausdruck des Schmerzes, daß die drei anderen ihre Ohren verschlossen und dem Gespräch nicht mehr zuhörten. Nur Daphne war es, die ihn zum Weilerreden zwang. Ihm war zumute, als risse sie ihm die Seele aus dem Leibe und versuchte darin die Zukunft zu lesen, wie einst die Auguren in den zuckenden Eingeweiden des heiligen Opfertieres die Zukunft lasen. Sie sah ihm gerade in die Augen und forschte nach seiner Seele.
»Sie meinen, Europa hat Selbstmord begangen?« fragte sie.
»In sittlicher Beziehung – ja.«
»Nur in sittlicher?« Ihre Worte fielen langsam und mit bronzener schicksalhafter Schwere.
»Das genügt doch«, lächelte er.
»Durchaus«, sagte sie und senkte langsam die Lider über die Augen. Dann wandte sie sich ab. Ihm aber war, als würde ihm das Herz in der Brust zermalmt. Was tat sie jetzt? Was dachte sie jetzt? Sie stürzte ihn in Unsicherheit und beklemmende Furcht.
»Jedenfalls sind wenigstens diese höllischen Kanonen verstummt«, sagte Basil.
»Für immer«, sagte Dionys.
»Ich wollte, ich könnte es glauben, Graf«, sagte der Major.
Das Gespräch ging mehr ins Allgemeine – oder ins Persönliche. Lady Beveridge fragte Dionys nach seiner Frau und seinen Kindern. Er wußte nur, daß sie im Jahre 1916, nach dem Brande seines Schlosses, nach Ungarn gegangen waren. Es war sogar möglich, daß seine Frau mit dem Fürsten Bogorik nach Bulgarien gegangen war. Er wußte es nicht.
»Aber Ihre Kinder, Graf –!« rief Lady Beveridge.
»Vielleicht sind sie in Ungarn, bei ihrer Großmutter. Ich weiß es nicht. Ich will hinfahren, wenn ich drüben bin.«
»Aber haben Sie denn niemals geschrieben? – niemals nachgeforscht?«
»Ich konnte nicht schreiben. Und ich werde es ja noch früh genug erfahren – alles.«
»Sie haben keinen Sohn?«
»Nein. Zwei Töchter.«
»Die armen Dinger.«
»Ja.«
»Hören Sie, ist es nicht eigentlich wunderlich, daß Sie einen Marienkäfer im Wappen haben?« fragte Basil, um das Gespräch auf einen weniger düsteren Ton zu stimmen.
»Warum wunderlich? Karl der Große hatte Bienen im Wappen. Und schließlich ist es immerhin der Marienkäfer – also der Käfer Unserer Lieben Frau. Ich finde, das ist doch ein durchaus würdiges Kerbtier, Major«, lächelte der Graf.
»Sie sind stolz darauf?« fragte Daphne, indem sie sich ihm plötzlich wieder zuwandle und langsam den bedeutungsschweren Blick auf ihn richtete.
»Ja, das bin ich tatsächlich. Er hat eine so lange Ahnenreihe – unser gefleckter Käfer. Eine viel längere als wir Psaneks. Er ist, glaube ich, ein Nachfahr des ägyptischen Skarabäus; und der ist ja ein höchst geheimnisvolles Sinn- und Wappenbild. So knüpfe ich eine Verbindung zwischen mir und den Pharaonen: durch den Marienkäfer.«
»Und da kommt es Ihnen nun vor, als wäre Ihr Marienkäfer durch alle die Jahrhunderte gekrochen«, sagte sie.
»Stellen Sie sich das mal vor!« lachte er.
»Der Skarabäus ist tatsächlich ein ganz besonderes Insekt«, sagte Basil.
»Kennen Sie Fabre?« warf Lord Beveridge ein. »Er meint, der Käfer, der eine kleine Dungkugel vor sich her rollt, müßte den Ägyptern das Oberste Gesetz offenbart haben, das den Erdball kreisen macht. Und so wurde der Skarabäus zum Sinnbild der schöpferischen Urkraft oder so ungefähr.«
»Daß die Erde eine kleine Kugel aus trockenem Dung sein soll, ist glänzend«, sagte Basil.
»Zwischen den Beinen eines Marienkäfers«, fügte Daphne hinzu.
»Das kommt dabei heraus, wenn man seinem Ursprung nachforscht,« sagte Lady Beveridge.
»Vielleicht wollten sie damit sagen, es sei das Urgesetz der Verwesung, das die Kugel zuerst ins Rollen brachte«, sagte der Graf.
»Die Kugel muß aber doch zuerst dagewesen sein«, sagte Basil.
»Gewiß. Aber sie hatte noch nicht zu kreisen begonnen. Dann brachte das Urgesetz der Auflösung alles Stofflichen sie in Bewegung.« Der Graf lächelte, als wäre das alles ein Scherz.
»Ich verstehe mich nicht auf Ägyptologie«, sagte Lady Beveridge. »Also kann ichs auch nicht beurteilen.«
Der Earl reiste am nächsten Tage mit seiner Gattin ab. Graf Dionys blieb mit dem jungen Paar allein im Hause zurück. Es war ein schönes Landhaus aus der elisabethanischen Zeit, nicht sehr groß, aber voll jener zauberhaften Zimmer, aus deren dunkel getäfeltem Raum man durch ein lustiges Gefunkel kleinscheibiger Fenster nach draußen blickt. Drinnen war es behaglich; die Wände waren bis zur Decke hinauf getäfelt, und die Decke trug Zierat und Malerei in Gold. Das mächtige, tiefe und breite Bogenfenster mit seinen kleinen Scheiben trennte wie mit zauberischer Bannkraft das Drinnen vom Draußen; das Wappen in farbigem Glase krönte die bunten Scheiben; der breite Fenstersitz war mit verblichenen grünen Kissen gepolstert. Dionys wanderte durch das Haus wie ein ruheloser kleiner Geist, durch die lange Folge der kleinen und der großen buntfenstrigen Wohn- und Ruheräume im Vorderteil des Hauses, dann den langen breiten Flur hinab, an dessen beiden Enden breite Treppenaufgänge waren; die steilen Stufen hinan zu den Schlafzimmern droben; und schließlich hinauf aufs Dach.
Es war im Vorfrühling, und der Graf saß gern auf dem bleibelegten fahlgrauen Dach, das mit seinen wunderlich mannigfaltigen Spitzen und Schrägen eine kleine graue Welt für sich war. Über den Garten und die abfallenden Rasenflächen hinweg schweifte der Blick zu den Teichen, die von dichtem Baumbestand umgeben waren, und hinweg in das weite Land mit seinen Ulmen und Äckern und Hecken. Zur Linken des Hauses war der Wirtschaftsbetrieb mit Heuschobern und mächtigen Scheunen und schwarzrotem Vieh. Zur Rechten, jenseits des Parks, lag ein Dorf inmitten von Bäumen, und die Spitze eines grauen Kirchturms funkelte herüber.
Der Graf war gern allein; die Seele war ihm schwer vom Grübeln über das eigene Schicksal. Stundenlang saß er und betrachtete die Ulmen, die in Reihen wie Riesen, wie kriegerische Wächter weit über das Land hin standen. Der Earl hatte ihm erzählt, die Römer hätten einst die Ulme nach England gebracht. Und die Seele Roms war, meinte der Graf, noch jetzt in ihr lebendig. Einsam saß er dort in der Frühlingssonne auf der einsamen Höhe und sah das zauberhafte Bild dieses englischen Landes mit seinen Heckenreihen und Ulmen, sah den Bauer mit langsam schreitenden Pferden langsam an den braunen Furchen dahinziehen und die Felder rillen; sah die Dächer des Dorfes und den neben einer mächtigen schwarzen Eibe aufragenden Kirchturm: sah das Schachbrett der Felder sich dahinziehen in die Ferne.
Der Zauber des alten Landsitzes spann ihn ein: der Garten mit seinen grauen Steinmauern und seinen Eibenhecken – breiten, breiten Eibenhecken –, mit dem Pfau, der mit feinen Farben prunkte und seinen Schrei durch die geschäftige Stille des Frühlings tönen ließ. Graf Psanek erlebte den englischen Frühling: wenn das Schellkraut unter den Hecken seine gelben Blüten öffnet und Veilchen im Verborgenen blühen und an den breiten Gartenwegen Schlüsselblumen und Krokus wie Sammet glänzen und wie Flämmchen brennen und gelber Goldlack sich in zerzausten Büscheln mit herrlichem Geleucht aus den Spalten des Gemäuers drängt. Irgendwo in der Nähe war eine Hürde, und er hörte das helle Geblök der heranwachsenden Lämmer und das tiefere zufriedene Bäh der Mutterschafe.
Hier war Daphnes Heimat; hier war sie geboren. Sie liebte diese Welt mit schmerzlicher Liebe. Jetzt freilich fiel es ihr schwer, nicht immer und immer an ihre toten Brüder zu denken. Sie wanderte umher in der Sonne, und zwei alte Hunde trotteten hinter ihr drein. Sie sprach mit allen – mit dem Gärtner, dem Reitknecht, dem Stallknecht, den Feldarbeitern. Das füllte einen großen Teil ihres Lebens aus – dies Umherwandern und diese Gespräche mit den Arbeitsleuten. Natürlich behandelten alle sie mit Achtung, aber niemand hatte irgend welche Scheu vor ihr. Alle wußten, daß sie arm war, daß sie sich weder einen Wagen noch sonst irgend etwas leisten konnte. So redeten sie sehr freimütig zu ihr: vielleicht sogar ein wenig zu freimütig. Aber sie ließ es geschehen. Das war ihre einzige Leidenschaft in Thoresway: die Bediensteten reden zu hören – über alles und jedes. Dieses seltsame Gefühl des Vertrautseins über eine Kluft hinweg war eine unwiderstehliche Lockung. Alles, was diese Menschen dachten, alles, was sie fühlten, ja, was sie fühlten: darin lag die Lockung. Es war ein Wildhüter darunter, den sie hätte lieben können – ein dreister rotbackiger lachender einnehmender Bursche; sie hätte ihn lieben können, wenn nicht Geburt und Bildung und immerwaches Bewußtsein sie durch eine unüberbrückbare Kluft von ihm getrennt hätten. Diese Bewußtheit war es (so meinte sie), die eine mächtige Kluft zwischen ihr und den niederen, den unbewußt lebenden Klassen auftat. Sie nahm es hin als Schicksal. In wahrhaft enge Fühlung konnte sie immer nur mit Menschen gelangen, die bewußt und fertig waren wie sie selbst: oder wie ihr Gatte. Ihr Vater hatte etwas von der unbewußten Blutwärme der niederen Klassen. Aber er war wie ein vom Schicksal Verwünschter. Und der Graf; der natürlich auch. In dem Grafen war eine Kraft, glühend und unsichtbar, eine düstere Lebensflamme, an der sich das kalte weiße Feuer ihres Blutes hätte erhitzen können. Aber – –
Sie mieden einander. Alle drei mieden einander. Auch Basil ging einsame Wege. Oder er tauchte im Meer der Dichtkunst unter. Zuweilen spielte er mit dem Grafen Billard. Zuweilen wanderten sie zu dritt durch den Park. Oft gingen Basil und Daphne ins Dorf, zur Post. In Wahrheit aber mieden sie einander, alle drei. Und so glitten die Tage dahin.
Abends saßen sie beisammen in dem kleinen nach Westen gelegenen Zimmer, in dem es Bücherfächer und ein Klavier und gemütliche, abgenutzte, mit verblichenem rosenfarbenem Stoff bezogene Möbel gab: ein verschossen und verwohnt aussehendes Zimmer. Manchmal las Basil vor; manchmal spielte der Graf Klavier. Und Daphne stichelte und stichelte emsig an einer großen gestickten Bettdecke, mit der fertig zu werden sie vielleicht einmal Aussicht hatte, wenn sie lange genug lebte. Aber sie gingen immer frühzeitig schlafen. Sie mieden einander fast immer.
Dionys hatte sein Schlafzimmer im Ostflügel, weit von den Zimmern der anderen entfernt. Wenn er sich ganz allein wußte, pflegte er dort die alten Lieder seiner Kinderzeit ganz leise für sich zu singen – oder vielmehr zu summen. Aber erst wenn er sich völlig allein fühlte: wenn die anderen ins Nichts zu schwinden schienen, wenn es war, als löse sich und verschwimme die Welt in Finsternis, wenn nichts mehr zurückblieb als er selbst, seine Seele, ein lebendiges Wesen inmitten seines kleinen Nachtbezirks, einsam auf ewig. Dann begann er, fast ohne es selber zu wissen, mit leiser, hoher, unterdrückter Stimme zu summen: mit einer Art von hoher Traumstimme summte er die Mundartlieder seiner Kinderzeit. Es war ein seltsamer Ton: die Stimme eines Menschen, der allein ist mit seinem eigenen Blut; fast die Stimme eines Verurteilten vor der Hinrichtung.
Daphne hörte ihn eines Abends, als sie mit der Flurlaterne noch einmal hinunter ging, um sich ein Buch zu holen. Sie schlief schlecht, und die Nächte waren eine Qual für sie. Auch sie war, wie eine Nervenkranke, im Käfig ihrer immerwachen überreizten Selbstbeobachtung eingesperrt. Aber sie hatte ein sehr scharfes Gehör. So fuhr sie zusammen, als der leise Klang des Gesanges wie Fledermausflug heranstrich. Sie stand mitten auf dem mächtigen Flur, der so groß wie ein Zimmer und mit einem verblichenen lavendelfarbenen Teppich bedeckt war; schwere dunkle Möbelstücke standen in Zwischenräumen an den Wänden, da und dort ein eichener Armstuhl, und dazwischen hingen hier und da verblichene rötliche orientalische Wandteppiche. Daphne hielt die große Hornplattenlaterne, die nachts am Ende des Flurs stand, in der Hand. Dieser seltsame leise hohe leidenschaftliche Gesang war wie ein Zauber, durch den sie alles andere vergaß. Sie verstand natürlich nicht ein einziges Wort. Sie begriff nicht einmal, was für Laute das waren. Nachdem sie lange Zeit gelauscht hatte, ging sie weiter, die Treppe hinab. Als sie zurückkam, war er verstummt, und das Licht, das unter seiner Tür hervorschien, war erloschen.
Von da an wurde der Trieb, ihm zuzuhören, für sie fast zum quälenden Zwang. Mit gereizter Ungeduld wartete sie darauf daß es zehn schlug und sie sich zurückziehen konnte. Ungeduldiger noch wartete sie darauf, daß das Mädchen ging und daß ihr Gatte kam und ihr gute Nacht sagte. Basils Zimmer lag dem ihren gegenüber auf der anderen Seite des Flurs. Und dann wartete sie in ärgerlicher Ungeduld darauf, daß die Geräusche im Hause verstummten. Und endlich öffnete sie die Tür, um zu lauschen.
Und fernher, weit, ganz weit aus dem Unsichtbaren, kam die leise, fast unhörbare Stimme des Grafen, der für sich selber sang, bevor er schlafen ging. Sie war auch für keinen Menschen hörbar als nur für ihn selbst. Daphne aber, angespannt lauschend, schien mit übernatürlichem Gehör begabt. An der Tür ihres Zimmers stand ein niedriger Armstuhl; dort saß sie, in ein großes altes schwarzseidenes Tuch gehüllt, und lauschte. Zuerst vernahm sie nichts. Das heißt: sie vernahm wohl den Ton. Aber es war eben nur ein Ton. Dann, allmählich, ganz allmählich, formte es sich zur sinnvollen Tonfolge. Das war wie ein Faden, dem sie folgte und der sie aus der Welt hinaus führte: aus der Welt hinaus. Und indessen sie sich führen ließ, langsam, Schritt für Schritt, weit, weit hinweg, dem dünnen Faden seines Gesanges nach – wurde ihr Frieden geschenkt, wurde ihr Vergessen geschenkt. Sie vermochte sich über die Welt emporzuheben, hinweg in ein anderes Reich, wo ihre Seele dahinschwebte wie ein beschwingter Vogel und vollendet war.
So geschah es im bewußten Bezirk ihrer Seele. In den Tiefen aber war eine wilde, wilde Sehnsucht: wirklich zu gehen, wirklich dahingegeben zu sein an das Unbekannte. Wirklich zu gehen, wirklich den Tod zu sterben, wirklich die Grenze zu überschreiten und entrückt zu sein. Entrückt diesem ihren Ich, dieser Daphne, getrennt zu sein von Vater und Mutter, Brüdern und Gatten, Heim und Land und Welt: entrückt zu sein. Gefolgt zu sein dem Ruf, der von drüben kam: dem Ruf. Es war Dionys, der sie rief. Sie war dessen ganz gewiß, daß sein Ruf ihr galt. Aus ihrem Ich hinweg, aus der Welt hinweg rief er sie.
Zwei Abende saß sie so in ihrem Zimmer, an der offenen Tür, und lauschte. Und wenn er verstummte, suchte sie den Schlaf: einen seltsamen, leichten, behexten Schlaf. Auch am Tage wirkte dieser Zauber nach. Sie fühlte sich so wunderlich leicht, als wäre ein Druck von ihr genommen. Irgend ein Druck hatte sie ihr ganzes Leben lang in den Klammern gehabt. Bisher hatte sie ihn niemals bemerkt; nun aber war er fort, und ihre Füße schritten leicht, das Atmen war ihr eine köstliche Lust.
Am dritten Abend schwieg er – so sehr sie auch wartete und wartete bis in die frühen Morgenstunden. Er war stumm, er sang nicht. Und dann lernte sie den Schrecken und die schwarze Hoffnungslosigkeit der Angst kennen, daß er vielleicht niemals wieder singen würde. Sie wartete wie eine Verurteilte den ganzen Tag. Als der Abend kam, zitterte sie. Dies war die schlimmste und qualvollste Angst: daß der Zauber gebrochen werden könnte, daß sie wieder zurückgeschleudert werden könnte in das, was sie vordem war.
Der Abend kam, und mit ihm diese seltsame lähmende Schwäche. Ja, und der Ruf aus der Nacht. Der Ruf! Willenlos stand sie auf und lief den Flur hinab. Das Licht schien unter seiner Tür hervor. Sie setzte sich in den großen eichenen Armstuhl neben seiner Tür und hüllte sich fest in das schwarze Tuch. Der Flur war dämmerig erfüllt von dem großen sternenflimmernden gelben Laternenlicht. Weit weg, am anderen Ende, sah sie den Lampenschein aus ihrem Zimmer; sie hatte die Tür angelehnt gelassen.
Aber sie sah es, ohne es zu sehen. Sie hüllte sich nur dicht in das schwarze Tuch und lauschte dem Klang aus seinem Zimmer. Er rief, der Klang. Oh, er rief sie! Warum sollte sie nicht gehen? Warum sollte sie nicht durch diese verschlossene Tür gehen?
Dann verstummte der Klang. Und dann erlosch das Licht, das unter der Tür seines Zimmers hervordrang. Mußte sie nun umkehren? Mußte sie nun umkehren? Das war unmöglich. So unmöglich wie der Gedanke, daß der Mond umkehren sollte aus seiner Bahn, wenn er einmal ausgegangen war.
Und dann begann das furchtbarste aller seiner Lieder. Es begann mit einem langgezogenen schwermütigen Ton, schrecklich wie der Tod. Und dann, plötzlich, kam ein wirklicher Ruf – etwas wie ein Pfiff, und ein seltsames Schwirren, unentrinnbar zwingend und ganz und gar allem Menschlichen entrückt. Daphne stand auf. Und im gleichen Augenblick war es, als ob aus Todesgestöhn ein befehlender Lockruf aufsteige.
Daphne klopfte leise und rasch an die Tür. »Graf! Graf!« flüsterte sie. Der Ton drinnen verstummte. Die Tür wurde plötzlich geöffnet. Graf Dionys, eine graue, schattenhafte Gestalt, stand auf der Schwelle.
»Lady Daphne!« sagte er erstaunt und trat unwillkürlich zur Seite.
»Sie haben gerufen«, sagte sie schnell und undeutlich und ging mit entschlossenem Schritt ins Zimmer.
»Nein, ich habe nicht gerufen«, sagte er sacht, die Hand noch immer auf der Klinke.
»Schließen Sie die Tür«, sagte sie schroff.
Er tat, wie ihm geheißen war. Nun war es völlig finster im Zimmer. Es war eine mondlose Nacht. Sie sah nichts mehr, auch ihn nicht.
»Wo kann ich mich setzen?« fragte sie, schroff wie zuvor.
»Ich führe Sie zum Sofa«, sagte er, streckte die Hand aus und fand im Dunkeln die ihre. Sie erschauerte.
So fand sie das Sofa und setzte sich. Es war völlig finster.
»Was haben Sie da gesungen?« fragte sie rasch.
»Oh, da müssen Sie mir verzeihen. Ich glaubte nicht, daß irgendwer es hören könnte.«
» Was Sie gesungen haben, meine ich.«
»Ein Lied aus meiner Heimat.«
»Gibt es einen Text dazu?«
»Ja. Es handelt von einer Frau, die ein Schwan war und einen Jäger am Rande des Moores liebte. So wurde sie eine Menschenfrau und heiratete ihn und gebar ihm drei Kinder. Eines Nachts aber sandte der König der Schwäne einen Ruf zu ihr: sie müsse zurückkehren, oder er würde sterben. Da verwandelte sie sich langsam wieder in einen Schwan, und langsam spannte sie ihre weiten, weiten Schwingen aus und verließ ihren Mann und ihre Kinder.«
Es war still in dem dunklen Zimmer. Der Graf war wirklich aufgestört worden: aufgestört aus der Stimmung seines Liedes, zurückgescheucht in die Tagesstimmung menschlicher Gesellschaft. Daphnes Anwesenheit in dem dunklen Zimmer quälte und verwirrte ihn. Sie aber saß ganz still da, ohne Laut. So setzte auch er sich auf einen Stuhl am Fenster. Auch draußen war es finster. Der Wind ging in Böen. Dionys konnte nichts im Zimmer erkennen: nur den schwachen, ganz schwachen Lichtstreifen des Türspalts. Aber er fühlte ihre Gegenwart im Zimmer. Es war unheimlich: sie im Dunkeln nahe zu fühlen und nicht einmal einen Schatten von ihr zu erkennen, keinen Laut von ihr zu hören.
Sie, in ihrem Verzauberungszustand, hatte sich verletzt gefühlt, als sie mit dem Alltagsmenschen in Berührung kam, der auch in seinem Wesen steckte. Nun aber, wie sie da so im Dunkeln saß, glitt sie in die Verzauberung zurück. Auch er, in dieser Stille, fühlte, daß ihm wieder einmal die Welt entglitt, daß er wieder einmal allein gelassen war auf einer verfinsterten Erde, daß nichts mehr war zwischen ihm und dem unendlichen dunklen Raum. Nichts mehr – nur sie. Dunkelheit gesellte sich zu Dunkelheit, Verborgenes zu Verborgenem. Ganz nahe war ihm die Antwort – und unsichtbar.
Aber er wußte nicht, was beginnen. Er saß reglos und stumm, da auch sie reglos und stumm war. Die Dunkelheit im Raum schien ihm lebendig wie Blut. Er hatte nicht die Kraft, sich zu bewegen. Die Entfernung zwischen ihr und ihm schien unüberschreitbar.
Dann aber, ohne es selbst zu wissen, ging er durch das Dunkel zu ihr hin und fand tastend das Ende des Sofas. Und er setzte sich neben sie. Aber er berührte sie nicht. Auch machte sie keine Bewegung. Die Dunkelheit floß um sie her wie schweres Blut, und die Zeit, schien es, war darin aufgelöst. So saßen sie, getrennt durch den kleinen unsichtbaren Raum, ohne Regung, ohne Wort, ohne Gedanken.
Plötzlich aber fühlte er, daß ihre Fingerspitzen seinen Arm berührten; eine Flamme fuhr über ihn hin, in der er aufloderte über Menschenmaß: so daß er ein Flammenwesen war, brennend unbewußt, steil aufgerichtet dasitzend, wie die Statuen der ägyptischen Königsgötter. Ihre Fingerspitzen glitten an ihm nieder, sie selbst glitt nieder in einem seltsamen, stummen Sturz, und er fühlte ihr Gesicht an seinen Füßen, ihre pressenden Hände an seinen Knöcheln, er fühlte ihre Brauen und ihr Haar an seinen Knöcheln, und so klammerte sie sich im Dunkeln an ihn, als hinge sie unter ihm im Raum. Er saß noch immer aufgereckt und reglos. Dann neigte er sich vor und legte die Hand auf ihr Haar.
»Kommst du zu mir?« sagte er leise. »Kommst du zu mir?«
Die Flamme, die ihn einhüllte, bestimmte sein Tun, stumm und zwingend.
»Kommst du wirklich zu mir?« sagte er abermals. »Aber wir haben doch keine Stätte, die uns aufnimmt.«
Seine nackten Füße waren feucht von ihren Tränen. Zwei Kräfte stritten in ihm: Das Gefühl ewigen Einsamseins, weit wie der Weltenraum, und die sausende dunkle Flamme, die ihn aus seiner Einsamkeit hinschleudern würde zu ihr.
Aber auch sein Denken war nicht erloschen. Er dachte an die Zukunft. Er hatte keine Zukunft mehr in der Welt; darüber war er sich klar. Selbst wenn er weiter lebte, würde es so etwas wie ein Hinfristen sein. Aber er wußte auch, daß im Leben nach dem Leben er der Herr des Erbes sein würde. Das Leben nach dem Leben gehörte ihm.
Zukunft in dieser Welt konnte er ihr nicht geben. Ein Leben in dieser Welt hatte er ihr nicht zu bieten. Es war besser, wenn er seinen Weg einsam weiterging. Ganz gewiß war es besser.
Aber ihre Tränen, die seine Füße netzten: und ihr Antlitz, das er immer vor sich sehen würde, wenn er sie verließ! Nein, nein. Das nächste Leben gehörte ihm. Er war der Herr des nächsten Lebens. Warum also sich in diesem Leben fürchten? Warum sollte er die Seele nicht nehmen, die sie ihm bot? – nehmen für jetzt und ewig, für das Leben, in das sie eingehen würden, wenn sie einmal tot waren? Dann wanderten sie gemeinsam in die Unterwelt. Dann gingen sie miteinander in den Hades, wie Francesca und Paolo. Und drunten würde sie immerdar an seiner Seite sein, als Königin der Unterwelt, deren Herrscher er selber war. Meister des künftigen Lebens. Vater der Seele, die da kommen würde.
»Höre«, sagte er sacht. »Nun bist du mein. Im Dunkeln bist du mein. Und wenn dein Leben endet, bist du mein. Am Tage aber gehörst du mir nicht, denn am Tage habe ich keine Macht. In der Nacht, im Dunkeln und im Tode bist du mein. Das gilt auf ewig. Es gilt auch dann, wenn ich dich jetzt verlassen muß. Ich werde wiederkommen – dann und wann. Im Dunkeln bist du mein. Aber am Tage habe ich kein Recht auf dich. Ich habe am Tage keine Macht und keine Statt. Darum darfst du es nie vergessen: Wenn die Dunkelheit kommt, werde ich immer dasein – in deiner Dunkelheit. Und solange ich lebe, werde ich von Zeit zu Zeit zu dir kommen und dich finden – wenn ich es vermag und wenn ich nicht gefangen bin. Aber ich werde bald fort müssen. Darum vergiß es nicht – du bist die Nachtgesellin des Marienkäfers, solange du lebst, und selbst nach dem Tode noch.«
Später, als er sie zu ihrem Zimmer zurückgeleitete, fand er ihre Tür noch angelehnt.
»Du solltest das Licht in deinem Zimmer nicht brennen lassen«, sagte er leise.
Am Morgen danach war etwas seltsam Ferngerücktes in seinem Wesen. Er war gelassener denn je und schien sehr, sehr fern. Daphne schlief lange. Sie hatte das wunderliche Gefühl, als hätte sie alle ihre Kümmernisse abgestreift. Sie sorgte sich nicht mehr, sie grämte sich nicht mehr, sie ärgerte sich nicht mehr. Alles das war von ihr gewichen. Ihr war, als könnte sie schlafen, schlafen, schlafen – in alle Ewigkeit. Auch ihr Gesicht war sehr still und trug einen zarten Ausdruck von Unberührtheit, den es nie zuvor gehabt hatte. Immer war sie Aphrodite gewesen, die ihrer selbst sich bewußte. Und ihre Augen, die grünblauen, langsam sich bewegenden, hatten lebenden Juwelen geglichen, undurchdringlich. Nun hatten sie sich aus der harten Blütenknospe entfaltet, nun war in ihnen das Wunder und die Stille einer ruhigen Nacht.
Basil sah es sogleich.
»Du bist verändert, Daphne«, sagte er. »Woran denkst du?«
»Ich dachte gar nicht«, sagte sie, und ihr Blick bestätigte, daß sie die Wahrheit sprach.
»Also fragen wir: Was tatest du?«
»Was tut man, wenn man nicht denkt? Verlange nicht von mir, daß ich solche Rätsel lösen soll, Basil.«
»Natürlich nicht, wenn du keine Lust dazu hast.«
Nun aber war sie ihm zum Rätsel geworden. Die schmerzhaft wilde verzückte Liebe zu ihr schien von ihm gewichen. Und dennoch wußte er ihr nichts anderes zu geben als seine Liebe. Sie wurde sehr bleich. Sie neigte den Kopf und ergab sich ihm, weil sie seine Frau war. Aber ihr Blick verriet Furcht, Kummer, tiefes und echtes Leid. Er fühlte, wie ihre Brust sich hob, und er wußte, daß sie weinte. Aber er sah keine Tränen auf ihrem Antlitz: nur tödliche Blässe. Ihre Augen waren geschlossen.
»Hast du Schmerzen?« fragte er.
»Nein, nein!« Sie öffnete die Augen, voll Angst, daß sie ihn bekümmert haben könnte. Sie wollte ihm keinen Kummer machen.
Er war ratlos. Auch ihm erging es ja so, daß seine schwärmerisch entrückte todesträchtige Liebe zu ihr von einem lähmenden Stoß getroffen schien. Er kannte sich nicht mehr aus.
Er beobachtete sie, als sie mit dem Grafen beisammen war. Nun schien sie so demütig – so mädchenhaft – so ganz anders, als er sie je gekannt hatte. Sie war so still: wie ein unberührtes Mädchen. Und gerade diese gelassene, ganz unzerstörte Mädchenhaftigkeit verwirrte ihn am tiefsten, gab seinem Fühlen und Denken die schwersten Rätsel auf. Er schämte sich plötzlich, ihr als Liebender zu nahen. Und weil er sich schämte, fragte er sie, als er an jenem Abend in ihrem Zimmer stand: »Daphne, liebst du den Grafen?«
Er stand am Ankleidetisch, unruhig und verlegen. Sie saß in einem niedrigen Stuhl an dem kleinen erlöschenden Kaminfeuer. Nun sah sie auf: langsam wanderten ihre großen Augen zu ihm hin. Ohne ein Wort, mit großen weit offenen sanften Augen sah sie ihn an. Wie kam es, daß dieser Blick ihn ganz und gar verwirrte? Er wandte den Kopf ab, hinweg von diesen großen sanften Augen.
»Verzeih mir, Liebes. Ich wollte eine solche Frage ja gar nicht stellen. Bitte, tu, als ob ich nichts gesagt hätte«, bat er. Und er ging durch das Zimmer und nahm ein Buch zur Hand. Sie senkte den Kopf und blickte gedankenverloren ins Feuer, ganz still. Nach einer Weile sah er sie abermals an, sah ihr leuchtendes Haar, das vom Mädchen für die Nacht eingeflochten war. Die Flechten hingen über das weiche rötliche Tuch herab, in das sie sich gehüllt hatte. Das Herz wurde ihm weich, als er sie so sitzen sah. Sie war ihm wie eine Schwester. Die Geißel der Begierde trieb ihn nicht mehr, und nun war es, als vermöchte er zum ersten Mal in seinem Leben klar zu sehen und wahrhaft zu fühlen. Wie eine liebe, liebe Schwester schien sie ihm: eine Schwester aus gleichem Blut – und ihm näher, als er es sich je von einer Frau erträumt hatte. So nahe; so teuer; und alle Unrast des Geschlechtes und der Begierde war von ihm genommen. Er wollte sie nicht; er hatte sie nie gewollt. Dieses neue reine Gefühl war so viel, viel herrlicher.
Er ging zu ihr hinüber. »Vergib mir, Liebling, daß ich dich gefragt habe«, sagte er.
Sie sah zu ihm auf mit ihren großen Augen, ohne ein Wort. Sein Gesicht war gütig und schön. Ihre Augen füllten sich mit Tränen.
»Du hast ein Recht, mich zu fragen«, sagte sie traurig.
»Nein«, sagte er. »Nein, Liebling. Ich habe nicht das Recht, dich zu fragen. Daphne, Liebling, es soll zwischen uns so sein, wie du es willst. Soll es so sein? Soll es so sein, wie du es willst?«
»Du bist mein Gatte, Basil«, sagte sie traurig.
»Ja, Liebling. Aber« – er kniete neben ihr nieder – »vielleicht, Liebling, ist irgend eine Wandlung in uns vorgegangen. Mir ist zumute, als dürfte ich dich niemals mehr berühren – als würde ich dich auch niemals wieder – so berühren wollen. Mein Gefühl sagt mir, daß ich im Unrecht war. Sag mir, wie du darüber denkst.«
»Basil, du darfst mir nicht zürnen.«
»Nicht einen Augenblick. Es ist nur Liebe, Daphne – wirklich.«
»Wir wollen einander nie mehr näher kommen als jetzt, Basil – körperlich. Soll es so sein?« sagte sie. »Und bitte, zürne mir nicht.«
»Warum wohl?« sagte er. »Ich glaube ja selbst, daß das körperliche Begehren in unserer Liebe ein Irrweg war. Das Rechte wäre: dich so zu lieben, wie ich dich jetzt liebe. Ich weiß, daß dies die rechte Liebe ist. Die andere war immer ein wenig wie – von der Peitsche getrieben. Jetzt weiß ich, daß ich dich liebe, Daphne: jetzt, da ich von jenem anderen frei bin. Wie aber, wenn es mich nun überwältigt – das andere, Daphne?«
»Ich bleibe immer deine Frau«, sagte sie ruhig. »Ich bleibe immer deine Frau. Ich will dir immer gehorsam sein, Basil: in allem, was du wünschest.«
»Gib mir deine Hand, Liebling.«
Sie gab ihm die Hand. Aber der Ausdruck ihrer Augen warnte ihn – und erschreckte ihn zugleich. Er küßte ihr die Hand und ließ sie allein.
Dem Grafen gehörte sie – nur ihm. Darüber war in ihr entschieden bis in ihre tiefste Seele. Wenn sie ihn auch nicht heiraten und in dieser Welt an seiner Seite leben konnte – es war dennoch für sie zum Ereignis geworden, und für immer. Sie fragte nicht mehr. Alles Fragen hatte für sie ein Ende.
Es war wunderlich, wie sehr verwandelt sie war – voll einer neuen seltsamen Ruhe. Die letzten Tage glitten dahin. Er ging fort – Dionys: der Mann mit dem stillen ferngerückten Gesicht, der Mann, dem sie gehörte im Dunkeln wie im Lichte des Tages, auf ewig. Er ging fort. Es müsse so sein, sagte er. Und sie fügte sich darein. Tief, tief war das Leid in ihr. Er mußte fortgehen. Sein Leben und das ihre konnten nicht zu einem Leben verschmelzen, solange sie in dieser Welt waren. In all ihrer Qual wußte sie, daß es so war. Sie wußte, daß er recht hatte, er war unfehlbar für sie. Er sprach aus der Seele ihrer Seele.
Sie sah ihn niemals als ihren Geliebten. Wenn sie ihn sah, war er der kleine Offizier, ein Gefangener, ein gelassener Mann, der in dieser Welt nichts für sich verlangte. Und wenn sie zu ihm ging als seine Geliebte, sein Weib, war es immer dunkel. Sie kannte nur seine Stimme und seine Berührung in der Finsternis. »Meine Nachtvermählte« hatte er sie genannt. Und auch darin glaubte sie ihm. Sie hätte ihm nicht widersprechen können, nein, um keinen Preis: mußte sie doch fürchten, durch solchen Widerspruch den dunklen Schatz an Stille und Seligkeit zu verlieren, den sie in ihrer Brust bewahrte, so sehr auch das Wissen um seinen Abschied ihr Herz mit tödlichen Schmerzen marterte.
Nein, sie hatte ja diese wundervolle neue Welt entdeckt, als sie ihn singen hörte: da war sie aus ihrem früheren Selbst jäh herausgestürzt und niedergeglitten in diese Dunkelheit, diesen Frieden, diese Ruhe, die wie ein breiter tiefer dunkler Strom auf ewig durch ihre Seele floß. Sie hatte nach der »weißen Nacht« ihrer Tage den Schlaf gefunden. Und das Wundervolle war, daß auch Basil sich fast sogleich gewandelt hatte. Und sie fürchtete nur, daß er sich in sein früheres Selbst zurückverwandeln könnte. Immer würde sie sich nun vor ihm fürchten müssen. In der Tiefe ihrer Seele freilich fürchtete sie nur für diese ihre Liebe zum Grafen Dionys: diese dunkle ewig währende Liebe, die wie ein breiter tiefer Strom für immer durch ihre Seele floß. Dafür, nur dafür bangte sie.
Es war eine so tiefe Stille in ihr. Sie konnte so still dasitzen und fühlen, wie der Tag langsam und herrlich in Nacht sich wandelte. Sie wünschte nichts, sie vermißte nichts. Wenn nur Dionys nicht hätte fortgehen müssen! Wenn er nur nicht hätte fortgehen müssen!
Er aber sagte zu ihr am letzten Morgen: »Vergiß mich nicht. Denk immer an mich. Ich lasse meine Seele in deinen Händen und deinem Schoß zurück. Nichts kann uns jemals trennen, wenn wir einander nicht täuschen. Wenn du dich deinem Manne hingeben mußt, so tu es und gehorche ihm. Wenn du mir treu bist, innerlich treu, so wird er uns niemals Wunden schlagen. Er ist großmütig – sei auch du großmütig gegen ihn. Und werde niemals wankend in deinem Glauben an mich. Denn auch jenseits der Grenze unseres Lebens noch werde ich auf dich warten. Ich werde König im Hades sein, wenn ich tot bin. Und du wirst an meiner Seite sitzen. Du wirst dich nie, niemals mehr von mir trennen in jenem Leben nach dem Leben. Hab keine Furcht. Wenn du Tränen weinen mußt, so weine sie. Aber wisse im Herzen deines Herzens, daß ich wiederkomme und daß ich dich genommen habe für immer. Und also: im Herzen deines Herzens sei still, sei still, denn du bist vermählt mit dem Marienkäfer.« Er lachte, als er sie verließ, sein schönes furchtloses Lachen. Aber es waren seltsam verwandelte Augen, die ihm nachblickten.
Er fuhr mit Basil im Wagen nach Voynich Hall zurück. »Ich glaube, Daphne wird Sie vermissen«, sagte Basil.
Der Graf ließ ein paar Augenblicke vergehen, bevor er antwortete.
»Nun, und wenn sie es tut,« sagte er, »so wird es ein Vermissen ohne Bitterkeit sein.«
»Wissen Sie das so bestimmt?« lächelte Basil.
»Ja – sofern wir Menschen überhaupt etwas bestimmt wissen können«, lächelte der Graf.
»Sie ist verändert, meinen Sie nicht auch?«
»Finden Sie?«
»Ja. Sie hat sich völlig verändert, seitdem Sie zu uns gekommen sind, Graf.«
»Sie ist, scheint mir, gar nicht so sehr viel anders als damals in Deutschland, wo ich sie als siebzehnjähriges Mädchen kannte.«
»Nein – vielleicht nicht. Damals kannte ich sie ja nicht. Aber sie ist ein völlig anderer Mensch als die Frau, die sie in unserer Ehe war.«
»Und Sie bedauern die Verwandlung?«
»Eigentlich nicht – wenigstens nicht, wenn ich dabei an sie denke. Sie ist so sehr viel ruhiger geworden. Wissen Sie, Graf, irgend ein Stück von mir ist im Kriege gestorben. Mir ist, als würde ich eine Ewigkeit brauchen, um mich durch all das hindurchzudenken.«
»Hoffentlich denken Sie sich zu einem befriedigenden Ergebnis hindurch, Major.«
»Ja, das hoffe ich auch. Aber das ist wirklich das Gefühl, das von alledem in mir zurückgeblieben ist: als würde ich eine Ewigkeit brauchen, um mich durch das alles hindurch zu grübeln. Ohne etwas tun zu müssen – ja, sogar ohne lieben zu müssen, sehen Sie. Denn Liebe ist Tat, denke ich mir.«
»Angespannte Tat«, sagte der Graf.
»Richtig. Ich bin mir über mein Empfinden wirklich ganz klar. Und weiter verlange ich nichts mehr vom Leben: Es soll von mir keine Anstrengung zur Tat irgend welcher Art mehr verlangen – selbst zur Liebe nicht. Und es soll mir Zeit lassen, eine Ewigkeit Zeit, mich zu erfüllen, indem ich mich durch alles das hindurch grüble. Natürlich weigere ich mich durchaus nicht, zu arbeiten – äußere Arbeit zu tun. Die ist ja an sich eine Form von Untätigkeit.«
»Wir Menschen können nur dadurch glücklich werden, daß wir unserem ureigenen inneren Drange folgen«, sagte der Graf.
»Vollkommen richtig!« sagte Basil. »Ich will niemandem Vorschriften über sein Tun und Denken machen, nicht einmal mir selbst. Und dann so hinleben – –«
»Dann werden Sie, auf Ihre Weise, glücklich sein. Ich bin immer in der Gefahr, mir selbst Vorschriften zu machen; mir fällt es sehr schwer, es zu lassen«, sagte der Graf. »Nur der Gedanke an den Tod und an das nächste Leben bewahrt mich davor – bewahrt mich freilich ganz und gar davor.«
»– gerade wie mir der Gedanke an die Ewigkeit hilft«, sagte Basil. »Ich denke mir, das kommt wohl auf dasselbe hinaus.«