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Feuertaufe

Eine halbe Stunde hatte die Kompanie am Waldrande gerastet; nun gab Hauptmann Marschner den Befehl zum Aufbruch. Er war, trotz der mörderischen Hitze, ganz blass und sah beiseite, während er Leutnant Weixler den Auftrag gab, dafür zu sorgen, dass innerhalb zehn Minuten alles marschbereit sei, bis auf den letzten Mann.

Eigentlich hatte er sich selbst überrumpelt mit diesem Befehl. Denn nun, das wusste er, gab es keinen Aufschub mehr! Wenn er Weixler auf die Mannschaft losließ, dann klappte alles; die Leute zitterten vor diesem knapp zwanzigjährigen Jungen, als wäre er der leibhaftige Teufel. Und manchmal schien es dem Hauptmann selbst schon, als hätte die baumlange, knochige Gestalt wirklich etwas Unheimliches an sich. Nie flammte auch nur ein Funken Wärme aus diesen kleinen, stechenden Augen, die immer eine flackernde Unruhe spiegelten, immer wie im Fieber glänzten. Nichts war jung an dem ganzen Menschen, außer dem kleinen, schütteren Schnurrbart über den verkniffenen Lippen, die sich nur auftaten, um mit hämischer Härte die Bestrafung eines Soldaten zu fordern. Ein Jahr fast hatte ihn Hauptmann Marschner schon an seiner Seite und hatte ihn noch nie lachen gehört; wusste noch nichts von seiner Familie, nicht woher er kam, ob er überhaupt Angehörige hatte. Er sprach nur selten, in kurzen, hastigen Sätzen, die er zischend hervorstieß. Wie das Brodeln einer verbissenen Wut, die in ihm kochte, klang alles, was er sagte und handelte, immer von Dienst oder Krieg, als gäbe es außer diesen beiden Dingen überhaupt nichts auf der Welt, was Worte lohnte.

Und diesem Menschen hatte das Schicksal den Streich gespielt, ihn das ganze erste Kriegsjahr hindurch im Hinterland zurückzuhalten! Elf und ein halb Monate dauerte schon der Krieg, und Leutnant Weixler hatte noch keinen Feind gesehen. Wenige Kilometer war er nur, gleich zu Beginn, über die russische Grenze gekommen, dann hatte ihn der Typhus erwischt, ehe er noch einen Schuss abgefeuert. Nun kam er endlich an den Feind! Hauptmann Marschner wusste, dass er ein Mannschaftsgewehr für sich mitschleppen ließ und seine gesamten Ersparnisse für ein Zielfernrohr geopfert hatte, um ganz auf Numero sicher zu gehen und genau zu wissen, wie viel Feinden er »das Lämpchen ausgeblasen«. Er war fast fröhlich geworden, seit man das Feuer schon aus der Nähe hörte, gesprächig, von einem nervösen Eifer getrieben, wie ein passionierter Jäger, wenn er die Fährte aufnimmt. Der Hauptmann sah ihn bald da, bald dort aus dem Gedränge auftauchen und wandte sich ab. Er wollte es nicht sehen, wie der Kerl seine armen, todmüden Leute drangsalierte, sie anfuhr, genau wie ein kläffender Schäferhund, der die Herde zusammentreibt. Lange, ehe die zehn Minuten vergangen waren, würde die Kompanie gestellt sein, dafür sorgte Weixlers Ungeduld; und dann, – dann gab es keinen Grund mehr, noch länger zu zaudern. Keine Möglichkeit mehr, den schweren Entschluss weiter hinauszuschieben!

Hauptmann Marschner tat einen tiefen Atemzug und sah mit merkwürdig gespannten, weit aufgerissenen Augen zum Himmel hinauf. Da vorne, jenseits des steilen Hügels, der jetzt noch die Aussicht auf das Gefechtsfeld versperrte, tackten, in atemloser Eile, unsichtbar die Maschinengewehre; und kaum eine Spanne hoch über dem Rande der Böschung schwebten, dicht gesät, kleine, gelb-weiße Päckchen, wie hochgeworfene Schneeballen in der Luft: die Sprengwolken des Sperrfeuers, durch das er seine Kompanie zu führen hatte.

Es war kein kurzer Weg! Zwei Kilometer noch, vom jenseitigen Fuße des Hügels bis zum Eingang der Laufgräben; und immer über freies Feld, ohne jede Deckung. Für eine Landsturmkompanie, für ehrwürdige Familienväter, die seit wenigen Stunden im Felde standen, jetzt erst ihre Feuerpause erhalten, zum ersten Mal Pulver riechen sollten, wahrlich keine kleine Aufgabe. Für den Weixler, der nichts anderes im Kopf hatte als das Verdienstkreuz, das er sich je eher holen wollte, – für solch einen zwanzigjährigen Raufbold, der die Welt um die eigene, hochwichtige Person rotieren ließ und noch keine Zeit gehabt hatte, das Leben schätzen zu lernen, mochte das nur ein aufregender Spaziergang sein, eine prickelnde Sache, bei der man sich so richtig fühlen, seine Unerschrockenheit ins rechte Licht setzen konnte. Im Stillen machte der sich wohl längst schon lustig über die Unentschlossenheit seines alten Hauptmanns und fluchte über diese letzte Rast, die ihn noch eine halbe Stunde länger auf seine erste Heldentat zu warten zwang.

Marschner mähte mit seinem Reitstock die hohen Grashalme nieder und schielte, von Zeit zu Zeit, verstohlen zu seiner Kompanie. Er merkte es an den schleppenden Bewegungen der Leute, an dem Widerstreben, mit dem sie sich erhoben, wie Kinder, die man aus dem Schlafe weckt, dass sie es längst schon erfasst hatten, wohin der Weg nun ging. Die lautlose Stille, in der sie ihre Bündel packten und eintraten in die Reihe, krampfte ihm das Herz zusammen.

Unermüdlich hatte er sich seit Kriegsbeginn auf diesen Augenblick vorbereitet. Tag und Nacht gegrübelt, sich's tausendmal vorgesagt, dass wo Höheres auf dem Spiele stand, die Not des Einzelnen nichts bedeutete; dass ein gewissenhafter Führer sich wappnen müsse mit Gleichgültigkeit. Und nun stand er da, – und merkte mit Schrecken, wie alle guten Vorsätze abbröckelten und nichts in ihm übrigblieb als heißes, grenzenloses Mitleid mit diesen aufgescheuchten Nesthütern, die sich so still ergeben bereit machten; gleichsam ihr Leben in die Hände nahmen wie ein kostbares Gefäß, um es in den Kampf zu tragen und dem Feinde vor die Füße zu werfen, als wäre es ihr Geringstes, was da in Scherben ging!

Ein Kaninchen, das man selbst großgezogen hatte, unter's Messer zu liefern; einen liebgewonnenen Haushund eigenhändig zum Schinder zu schleifen, schon solches hätte man ihm, dem gutherzigen »Onkel Marschner« – wie er in Bekanntenkreisen hieß – nicht zumuten dürfen. Und nun sollte er Menschen, die er selbst zu Soldaten ausgebildet, monatelang unter den Augen gehabt hatte, Menschen, die er wie seine Taschen kannte, ins Schrapnellfeuer hineinjagen! Was nutzten da alle tiefsinnigen Betrachtungen? Er sah nur die ängstlich flehenden Blicke, die seine Leute zu ihm hinüberschickten, um Schutz bittend, als glaubten sie, ihr Herr Hauptmann könne auch Flintenkugeln und Sprengstücken den Weg vorschreiben. Und dieses Vertrauen sollte er nun missbrauchen? Sollte diese bärtigen Kindsköpfe, die er vorgestern erst, von ihren Kleinen umringt, Abschied nehmen gesehen von den weinenden Frauen, jetzt ohne Rührung in den Tod kommandieren? Sollte unbekümmert weiter marschieren, wenn der eine oder andere getroffen hinfiel, sich jammernd in seinem Blute wälzte? Woher sollte er die Kraft nehmen zu solcher Härte? Von dem höhern Ziele etwa? Es war nicht da. Nicht mit den Händen zu fassen. Es war zu sehr gesprochen, zu sehr nur Klang, als dass es ihm hätte seine Soldaten verdecken können, die mit heimwärtsgewandter Seele dem Sperrfeuer entgegenbangten!

Wie ein Schlag in die Magengegend traf ihn die Meldung, die ihm Leutnant Weixler strahlend, mit geröteten Wangen ins Gesicht schmetterte. Das klang so herausfordernd! Die dreiste Frage: »Nun, warum freust du dich nicht auch auf die Gefahr, wie ich?« war nicht zu überhören. Hauptmann Marschner strömte alles Blut in die Schläfen, er musste den Blick abwenden, und seine Augen irrten unwillkürlich zu den Schrapnellwolken, trugen eine Bitte, eine heimliche Invokation zu den dummen, wahllos niederprasselnden Dingern hinauf: Sie möchten diesem frostigen Burschen doch das Leiden lehren, – ihn überzeugen von seiner Verwundbarkeit!

Eine Sekunde später senkte er schon beschämt den Kopf. Sein Zorn wuchs gegen den Menschen, der ihm eine solche Regung hatte entlocken können. – Danke. Lass die Leute »Ruht« stehen; ich muss noch einmal nach den Pferden schau'n, – sagte er gemessen, mit einer erzwungenen Ruhe, die ihm wohl tat. Er wollte sich nicht drängen lassen, nun erst recht nicht, und freute sich, als er den Leutnant zusammenzucken sah; lächelte zufrieden in sich hinein über das indignierte Gesicht, und das trotzige »Zu Befehl, Herr Hauptmann«, das lange nicht mehr so schmetternd hell klang, sondern knirschend aus gepresster Kehle kam. Der Junge sollte nur auch einmal merken, wie wohl es tat, gebändigt zu werden! Sonst liebte er es ja, sich auf Kosten der Mannschaft an seiner Macht zu berauschen, triumphierend, als wäre es die Kraft seiner Persönlichkeit, die den Leuten Herr ward, und nicht das Dienstreglement, das immer ihm zur Seite stand.

Mit gemächlichen Schritten ging Hauptmann Marschner in den Wald zurück, doppelt froh, dass die Lektion, die er Weixler erteilt, seinen alten Knaben eine kurze Galgenfrist beschert hatte. Vielleicht sauste eine Granate vor ihrer Nase in die Erde, und diese wenigen Minuten retteten zwanzig Menschen das Leben. Vielleicht? ... Es konnte freilich auch umgekehrt kommen: just diese Minuten ... Ach! was hatten solche Berechnungen für Zweck? Am besten war nicht daran denken! Er wollte den Leuten helfen so viel er konnte; Retter konnte er keinem sein.

Oder doch? ... Den einen, der ihm eben mit Feuereifer aus dem Walde entgegenstürzte, hatte er vorläufig geborgen. Der blieb, mit sechs Mann, bei den Pferden und dem Train zurück. War es ein Anrecht, gerade diesen zu bestimmen? Alle anderen Unteroffiziere waren älter und verheiratet, der kleine, dicke, mit den O-Beinen hatte sogar sechs Kinder daheim. Konnte er es vor seinem Gewissen verantworten, diesen jungen, ledigen Burschen hier in Sicherheit ...

Mit einer wütenden Handbewegung unterbrach der Hauptmann seine Gedanken. Am liebsten hätte er sich mit der Faust an der Brust gepackt und tüchtig durchgebeutelt. Dass er das verdammte Grübeln und Abwägen noch immer nicht lassen konnte! Gab es hier noch eine Gerechtigkeit, im Machtbereiche der Granaten, die Taugenichtse verschonten und die Besten niederstreckten? Hatte er sich's nicht fest vorgenommen, sein Gewissen, seine Rührseligkeit, sein ewig waches Mitgefühl mit allen überflüssigen Gedanken daheim zu lassen, bei seiner eingekampferten Zivilkleidung, in der Friedenswohnung? Das alles gehörte zum Zivilingenieur Rudolf Marschner, der früher einmal Offizier gewesen und mit dreißig Jahren noch einmal zur Schulbank zurückgekehrt war, um das Kriegshandwerk, in das er sich als dummer Junge verirrt hatte, gegen einen Beruf zu vertauschen, der seiner weichen, nachdenklichen Natur besser entsprach. Dass ihn dieser Krieg jetzt, zwanzig Jahre später, noch einmal zum Soldaten gemacht hatte, war ein Unglück. Eine Katastrophe, die ihn – wie alle – unverdient traf, mit der er sich aber endlich abfinden musste. Und dazu gehörte, in erster Reihe, das Loskommen von allem Raisonieren! Wozu sich viel mit Fragen quälen? Einer musste doch im Walde zurückbleiben, zur Aufsicht. Der Kommandant hatte diesen jungen Zugführer bestimmt, also blieb dieser da. Und damit basta!

Peinlich war es nur, dass der Kerl so ein gerührtes Gesicht schnitt. Widerlich, einfach widerlich war die hündische Dankbarkeit, die ihm aus den feuchtschimmernden Augen strahlte! Wie kam der Mensch dazu, etwas von seiner Mutter zu stammeln? Er wurde hier gelassen, weil der Dienst es erforderte; seine Mutter hatte dabei nichts zu tun. Die saß in Wien, – und hier war Krieg. Das musste er sich gesagt sein lassen: Sein Kommandant wollte nicht hoffen, dass er es als Glück oder gar besondere Gnade empfinde, nicht mit in den Kampf zu müssen!

Es wurde Hauptmann Marschner gleich leichter ums Herz, als er den zerknirschten Sünder so herunterkapitelt hatte. Sein Gewissen war jetzt ganz frei, als hätte er den Mann wirklich nur ganz zufällig auf diesen Posten beordert. Doch dauerte dieses Gefühl nicht lange, denn der alberne Kerl ließ es sich nicht nehmen, ihn, wie seinen Retter, anzuhimmeln. Und als er, in stramm militärischer Haltung, aber mit einer Stimme, die rau und zitternd klang von verschluckten Tränen »Wünsche gehorsamst viel Glück, Herr Hauptmann« stammelte, da strahlte aus diesem Wunsch eine solche Inbrunst, eine so glühende Anhänglichkeit, dass es dem Hauptmann auf einmal wieder leer wurde im Magen, und er mit einer plötzlichen Wendung auf und davon ging.

Nun wusste er ja Bescheid. Konnte sich's beiläufig ausrechnen, was der Weixler schon alles an ihm beobachtet, wie der sich schon insgeheim über seine Rührseligkeit mokiert haben musste, wenn ein einfacher Mensch, wie dieser Tischlergeselle, seine geheimsten Gedanken erriet! Er hatte ihm ja kein Wort gesagt, hatte ihn nur verstohlen beobachtet, vorgestern Abend, beim Einwaggonieren in Wien, wie er von seiner Mutter Abschied nahm. Woher ahnte der verdammte Kerl, dass die verwuzelte, eingeschrumpfte Knusperhexe, mit der Haut, die, wie ausgedörrt vom Leben, in tausend Falten, schlaff an den Backenknochen hing, solchen Eindruck auf seinen Hauptmann gemacht hatte? Er selbst wusste es ja sicher gar nicht, wie rührend es aussah, als das winzige Mütterchen, so von unten her zu ihm emporblickte, und weil es sein Gesicht nicht erreichen konnte, mit der zitternden Hand den breiten Brustkasten streichelte. Kein Mensch konnte es ihm verraten haben, dass sein Kompaniekommandant ihn seither nicht anschauen konnte, ohne auf der himmelblauen Bluse, wie hingemalt, die zitronengelbe, dichtgeäderte Hand, die knolligen, verkrümmten Finger zu sehen, die mit so unsagbar viel Liebe den rauen, haarigen Loden berührt hatten. Und doch war der Lump irgendwie dahinter gekommen, dass diese Hand schützend über ihm schwebte, für ihn gebeten und das Herz seines Führers erweicht hatte.

Wütend stampfte Marschner über die Wiese, beschämt, als hätte ihm jemand eine Larve vom Gesicht gerissen. So leicht war es also, ihn zu durchschauen; trotz der vielen Mühe, die er sich nahm? ... Er blieb stehen, um sich zu verschnaufen; hieb wieder auf das Gras ein und fluchte laut auf. Nun ja, er konnte sich eben nicht verstellen, konnte nicht plötzlich aus seiner Haut heraus, und wenn es tausendmal Weltkrieg gab. Er war gewöhnt, sich von Neffen und Nichten, gutmütig lachend, um die Finger wickeln zu lassen; war unfähig, von heut auf morgen, zum Eisenfresser zu werden, der vergnügt auf Menschenjagd geht! Was war das auch für ein wahnwitziger Gedanke, alle Menschen über einen Löffel barbieren zu wollen? Niemand dachte daran, aus Weixler einen weichherzigen Philanthropen zu machen; und er sollte, so mir nichts, dir nichts, auf Befehl, ein blutrünstiger Haudegen werden? ... Er war nun mal nicht mehr zwanzig Jahre alt wie der Weixler, und diese stillen, traurigen Männer, die man so grausam aus ihrem Erdreich gerissen hatte, waren ihm jeder mehr als nur ein Gewehr, das man in Reparatur schickt, wenn es beschädigt, gleichgültig liegen lässt, wenn es unbrauchbar geworden ist.

Wer das Leben schon von allen Seiten angesehen und überdacht hatte, konnte nicht so zum »Nur-Soldaten« werden, wie sein Leutnant, der noch gar nicht richtig Mensch geworden war, die Welt noch gar nicht anders gesehen hatte als vom Hofe der Kadettenschule und der Kaserne aus.

Ja, wenn es noch gewesen wäre wie am Anfang, als noch lauter junge, abenteuerlustige Burschen aus den Waggonfenstern johlten, die nichts daheim zurückließen als höchstens Eltern, denen sie nun endlich imponieren konnten! Damals hätte auch er seinen Mann gestellt, so gut wie irgendeiner; so gut oder besser als der stramme Leutnant Weixler. Damals marschierten die Leute zwei, drei Wochen lang, ehe sie auf den Feind stießen. Da löste man sich noch langsam vom Leben los, ging durch tausend Mühen und Entbehrungen; bis über Hunger, Durst und Müdigkeit allmählich alles vergessen war, was man weit – weit rückwärts zurückgelassen hatte. Da schwelte der Hass gegen den Feind, der einem all' die Not angetan hatte, von Tag zu Tag immer höher; und der Kampf war Erlösung nach der langen, passiven Leidenszeit.

Heute aber ging das alles auf eins-zwei. Vorgestern noch in Wien, – und jetzt, noch mit dem Abschiedskuss auf den Lippen, noch nicht ganz losgerissen, gleich hinein ins Feuer. Und nicht blindlings, nicht ahnungslos, wie die ersten! Für diese armen Teufel hatte der Krieg keine Geheimnisse mehr. Jeder hatte schon Tote in seiner Familie oder seiner Bekanntschaft; jeder hatte schon mit Verwundeten gesprochen, hatte verstümmelte, entstellte Invaliden gesehen und wusste mehr über Schrapnellwunden, Querschläger, Gasgranaten und Flammenwerfer, als, vor dem Kriege, Artilleriegeneräle und Stabsärzte gewusst.

Und just diese Sehenden, diese grausam Entwurzelten, musste er nun führen! Er, der ausrangierte Hauptmann Marschner, der Zivilist, der anfangs hatte zu Hause bleiben müssen, bei den Rekruten. Jetzt, da es tausendmal härter war, jetzt kam die Reihe an ihn, den Führer zu machen, und er durfte sich nicht wehren gegen die Aufgabe, der er nicht gewachsen war. Nein, er hatte sich noch vordrängen, hatte, – aus Anstand, – auf seinem Rechte bestehen müssen, damit nicht andere, die schon draußen ihr Blut vergossen hatten, noch einmal hinausgingen, für ihn! – – –

Eine dumpfe, ohnmächtige Wut kam über den Hauptmann, als er nun vor seine Soldaten hintrat, die in breiter Reihe aufgestellt, in atemloser Spannung auf seine Lippen starrten. Was sollte er ihnen sagen? ... Es widerstrebte ihm, die üblichen patriotischen Phrasen, die wie von außen her diktiert auf die Lippen gelangten, gefügig abzuleiern! Seit Monaten trug er den trotzigen Entschluss in sich herum, das vorgeschriebene »dulce est pro patria mori« nicht auszusprechen, koste es was es wolle. Nichts war ihm so zuwider, als dieses Klimpern mit dem Opfertod, dieser Marktschreierkniff: das Sterben auszurufen, während es drin in der Bude um's Morden ging.

Er biss die Zähne aufeinander und senkte scheu den Blick vor dieser Mauer aus bleichen Gesichtern. Die dumme, kindische Bitte: »Gib Acht auf uns!« blinzelte aufreizend aus allen Augen; brachte ihn zur Verzweiflung.

Am liebsten hätte er sie alle zurückgejagt zu den Ihren und wäre allein weiter! Mit einem Ruck warf er sich trotzig in die Brust, heftete den Blick starr auf eine Medaille, die ein Mann, in der Mitte der langen Reihe, auf der Brust trug, und rief:

– Kinder! Wir geh'n jetzt an den Feind. Ich rechne darauf, dass jeder von euch seine Pflicht tun wird, getreu seinem Fahneneid. Ich werde nichts von euch verlangen, was nicht im Interesse unseres Vaterlandes, in eurem eigenen Interesse also, für die Sicherheit eurer Frauen und Kinder geschehen muss; darauf könnt ihr euch verlassen. Viel Glück! Und jetzt los! –

Er hatte, ohne es zu bemerken, die Stimme Weixlers, seinen überlauten, forciert-schneidigen Kommandoton nachgeahmt, um die Rührung zu überschreien, die ihm zitternd in der Kehle lauerte; und nach dem letzten Worte kehrte er sich blitzschnell ab. Nur über die Schulter hinweg, ohne sich noch einmal umzuschauen, gab er Befehl zum Ausschwärmen, ließ den Kopf auf die Brust fallen und begann mit großen Schritten den Aufstieg.

Hinter ihm knirschten die Stiefel, schlugen die Essschalen klappernd gegen irgendein Ausrüstungsstück. Bald setzte auch das Keuchen der schwerbepackten Mannschaft ein, und eine dicke, würgende Schweißwolke legte sich über die marschierende Kompanie.

Hauptmann Marschner schämte sich! Ein tiefer, körperlicher Ekel überkam ihn vor der Rolle, die er da gespielt hatte. Was blieb diesen einfachen Leuten, diesen Maurern, Monteuren und Landarbeitern, die ohne Fernblick, über ihren Werktag gebeugt, dahingelebt hatten, denn zu tun übrig, wenn die feinen Herrschaften, die studierten Leute, wenn der Herr Hauptmann, mit den drei goldenen Sternen auf dem Kragen, sie versicherte, es sei ihre Pflicht und höchst rühmenswert, italienische Maurer, Monteure und Landarbeiter über den Haufen zu schießen? Sie gingen; – keuchten hinter ihm her; und er – – er führte sie! Führte sie, gegen seinen Glauben, aus erbärmlicher Feigheit, und forderte von ihnen Mut und Todesverachtung. Er hatte sie beschwatzt, hatte ihr Vertrauen missbraucht, ihre Liebe zu Frau und Kind ausgebeutet, weil er eben lieber, für eine Lüge, vielleicht am Leben blieb, vielleicht doch noch heil aus dem Kriege heimkam, als sich für die Wahrheit, an die er glaubte, sicher füsilieren zu lassen! Er setzte sein Leben, und das ihre, va banque auf falsche Karten, weil er zu feige war, dem sicheren Verlust allein ins Auge zu schauen! – – –

Die Sonne brannte mit mörderischer Glut auf den steilen, baumlosen Abhang. In das Platzen der Schrapnells, das Tacken der Maschinengewehre, das Aufbrüllen der eigenen Geschütze mischte sich, jetzt schon immer näher, immer heller, das Heulen der herankommenden Geschosse. Und immer noch war die Kammlinie nicht erreicht! ... Der Hauptmann fühlte seine Lunge versagen, blieb stehen und hob den Arm. Die Leute sollten sich einen Augenblick verschnaufen; waren seit vier Uhr morgens schon unterwegs; hatten Tüchtiges geleistet mit ihren vierzigjährigen Beinen. Er merkte es an sich selbst.

Mitleidig blickte er auf die blauroten, schweißüberströmten Gesichter, und fuhr zusammen, als er Leutnant Weixler mit großen Schritten auf sich zukommen sah. Warum konnte er dieses Gesicht nicht mehr sehen, ohne sich wie angefallen zu fühlen, wie an der Kehle gepackt von einem Hass, der sich kaum noch zügeln ließ? Er hätte eigentlich froh sein müssen, ihn hier draußen an seiner Seite zu haben. Ein Blick in diese lauernden Augen musste genügen, um jeder Rührung Herr zu werden.

– Bitt gehorsamst, Herr Hauptmann, – hörte er ihn schnarren – ich geh auf den linken Flügel hinüber. Da sind ein paar Kerle, die mir nit recht g'fallen. Besonders der Simmel, der rote Hund! Der zieht jetzt scho' den Kopf ein, wann drüben ein Schrapnell platzt. –

Marschner schwieg. »Der rote Hund?« – – »Der Simmel?« – Das war doch der rothaarige Flügelmann im zweiten Zug; der Tapezierer, der das entzückende, kleine Mäderl auf dem Arm getragen hatte, bis zum letzten Augenblick.

Bis der Weixler ihn brutal in den Wagen gejagt ... Dem Hauptmann war's, als sähe er noch den erstaunten Aufblick der Kinder zu dem mächtigen Mann, der ihren Vater anzuschnauzen wagte.

– Lass ihn nur, er wird sich schon dran gewöhnen, – sagte er mild. – Er hat halt noch seine Kinder im Kopf und hat's net eilig, sie zu Waisen zu machen. Die Leut können ja net alle Helden sein! Wann's nur ihre Pflicht tun. –

Das Antlitz Weixlers wurde starr. Um die schmalen Lippen erschien wieder jener harte, verächtliche Zug, der den Hauptmann jedes Mal wie ein Peitschenhieb traf.

– Er soll jetzt eben nicht mehr an seine Fratz'n denken, sondern an den Fahneneid, den er seinem allerhöchsten Kriegsherrn g'schworn hat! Hast es Ihnen ja eben erst g'sagt, Herr Hauptmann. –

– Ja, ja. Ich hab's ihnen gesagt! – nickte Hauptmann Marschner geistesabwesend, und ließ sich langsam ins Gras nieder. Nicht dass dieser so sprach, wunderte ihn. Aber dass auch ihm einmal, vor fünfundzwanzig Jahren, als er, durch und durch mit Begeisterung wattiert, aus der Kadettenschule kam, »Fahneneid« und »allerhöchster Kriegsherr« genau so erschöpfend geklungen hatten! Wie dieser, wäre damals auch er voll freudiger Begeisterung in einen Krieg gezogen. Wie aber sollte er heute, taub geworden für den Fanfarenklang solcher Worte, und hellsehend für das Gebälk, das sie trug, Schritt halten mit der Jugend, die für alles, was stehend und mit erhobener Stimme verkündet wurde, ein gläubiges Echo war? Wie sollte er von seinen braven, behäbigen Spießern, die das Leben schon so gründlich gebändigt hatte, dass sie daheim hungernd an Reichtümern vorbeigingen, die nur eine dünne Glaswand von ihnen schied, hier plötzlich ein wildes Draufgehen verlangen? Wie an den Tapezierermeister Simmel die gleichen Anforderungen stellen als an den jungen Leutnant, der noch nie anderes erstrebt hatte, als im Fechten, Ringen und Mut zeigen unter den ersten genannt zu werden? Waren je Söldner für ihre Sitten, biedere Bürgersleute für ihre Unerschrockenheit berühmt, je ein und dieselben Menschen zwanzig und fünfundvierzig Jahre alt zugleich gewesen? – – –

Zusammengekauert, den Kopf zwischen den Fäusten, war der Hauptmann so tief in seine Gedanken versunken, dass er Zeit und Ort vergaß, und alle Versuche Leutnant Weixlers, ihn durch wiederholtes Vorbeischleichen, lautes Umherhetzen der Mannschaft aufzuscheuchen, blieben erfolglos. Endlich brachte ihn nahes Pferdegetrappel wieder zu Bewusstsein. Auf dem Feldweg, der in halber Höhe um den Hügel lief, galoppierte ein Offizier, die hohe Generalstäblermütze auf dem Kopf. Er parierte sein Pferd, erkundigte sich verbindlich nach dem Marschziele der Kompanie und rümpfte die Nase, als Hauptmann Marschner die Nummer der Quote nannte.

– Dorthin geht's Ihr! – rief er aus, und die Grimasse ging langsam in ein respektvolles Lächeln über. – Na, da gratulier' ich! Da kommt's ja grad in die dickste Schweinerei hinein. Dort wollen die Herren Katzelmacher seit drei Tagen scho durch. Da will ich Euch net aufhalten! Die armen Teufln, die dort liegen, wern die Ablösung gut brauch'n können. Servus. Und viel Glück!

Mit Grazie berührten seine Finger die Kappe; das Pferd schrie auf unter dem Druck der Sporen; – und fort war er.

Der Hauptmann starrte ihm wie betäubt nach. »Na, da gratulier' ich!« klang es ihm in den Ohren. Ein Mensch, hoch zu Ross, gut ausgeruht, rosig, sauber, wie aus dem Schachterl, trifft zweihundert todgeweihte Opfer: verschwitzt, atemlos, am Rande der Gefahr; weiß, dass in einer Stunde so manches Gesicht, das sich jetzt noch neugierig ihm zuwendet, schon leidverzerrt oder totenstarr im Grase liegen wird; – und sagt lächelnd: »Na, da gratulier' ich!« Reitet weiter, ohne dass ihm ein andächtiger Schauer über den Rücken liefe, ohne dass ein Schatten seine Stirne streifte!

Spurlos wird die Begegnung aus seinem Gedächtnis verschwinden; ... nichts heute Abend, beim Tafeln, ihn an den Kameraden erinnern, dem er am Morgen, als Letzter vielleicht, die Hand gereicht! ... Was bedeutete diesen Auserwählten, die, aus sicherem Hinterhalt die Kolonnen ins Feuer schoben, der Todesmarsch einer Kompanie? Und der unglückselige rothaarige Tapezierer, da nebenan, zitterte, zog den Kopf ein, riss großmächtig die Augen auf, als hinge das Schicksal der Welt daran, ob er sein rotgelocktes Mäderl noch einmal wird auf dem Arm tragen. Wahrlich, wenn man die Sache so aus der richtigen Perspektive sich ansah, – als vorbeigaloppierender Generalstäbler, der das Ziel, den Sieg, den man früher oder später, bei Gläserklirren bejubeln wird, im Auge hat, – dann hatte der Weixler eigentlich recht! Es musste ihn empören, ein so großzügiges Heldengedicht von einem einzelnen Hasenfuß derart ins Lächerliche gezogen, zu einer weinerlichen Familienangelegenheit degradiert zu sehen.

– Die armen Teufel, die dort liegen! ... Marschner überlief es kalt, als ihm, über die Worte des Generalstäblers, jäh die Vision des zerschossenen, blutgetränkten Grabens aufstieg, mit der zu Tode erschöpften Besatzung, die ihn, wie den Erlöser, herbeisehnte. Er erhob sich stöhnend, übermannt von einem grimmigen, erbitterten Hass gegen diese Zeit. Keine Masche blieb da offen! Jede Minute, die er seinen Leuten noch schenkte, war Diebstahl oder gar Totschlag, begangen an jenen dort vorne. Wild warf er den Arm in die Höhe und schritt aus, fest entschlossen, nicht mehr stehen zu bleiben, ehe der Graben erreicht war, den er zu beziehen hatte. Sein Gesicht war bleich, vergrämt; verzerrte sich zu einem gequälten Lächeln, so oft vom anderen Flügel das aufreizend schnarrende: »Vorwärts, vorwärts!« seines Leutnants zu ihm herüberklang. Auf einmal blieb er stehen. In das Knattern, Pochen, Knallen sprang plötzlich ein neuer Ton hinein; hob sich hell aus dem ganzen, kaum noch ins Bewusstsein dringenden Spektakel. Er kam so gellend, so scharf drohend und blitzschnell heran, dass der Ton gleichsam sichtbar wurde, ein heulender Bogen in der Luft entstand, sich nahe an die Stirne heranbiss und dort mit einem kurzen, harten Peitschenschlag abriss, während wenige Schritte weiter vorne ein kleiner Staubwirbel aufstieg, und unsichtbare Hagelkörner klatschend ins Gras prasselten.

– Ein Schrapnell! ...

Verdutzt blickte Hauptmann Marschner sich um und sah zu seinem Schrecken alle Blicke auf sich gerichtet. Wie um Rat fragend starrten alle Augen ihn an; um die Lippen aller spielte ein sonderbares, verlegen-verschämtes Lächeln.

Nun hieß es mit gutem Beispiel vorangehen! Unbekümmert weiter marschieren ohne stehen zu bleiben oder aufzublicken! Es war ja im Grunde ganz alles eins was man tat. Ein Davonlaufen oder Verstecken gab's da nicht. Da hieß es Glück haben; – sonst gab es keinen Schutz. Also vorwärts, als wüsste man von nichts! War nur einer da, der sich nichts aus der Sache zu machen schien, dann bekamen's die anderen mit der Scham, kontrollierten sich gegenseitig, und dann war alles gewonnen. Er merkte es ja an sich selbst, wie ihm das Gefühl, von allen Seiten beobachtet zu werden, Haltung gab. Wäre er ganz allein gewesen, er hätte sich vielleicht hingeworfen; hätte hinter einem Stein Deckung gesucht, und wenn er noch so klein gewesen wäre.

– War nur ein Weitschuss! Vorwärts Kinder! – rief er laut, fast fröhlich gemacht von dem Gefühl: seinen Leuten eine Stütze zu sein. Da schwirrten, – ehe er noch fertig gesprochen hatte, schon die nächsten heran. Er versteifte alle Muskeln und knirschte vor Wut, als sein Oberkörper dennoch zurückfuhr und der Kopf für einen Augenblick zwischen den Schultern versank. Nicht die Wucht, mit der das Heulen heranflog, ließ ihn zusammenzucken! Die sonderbare Deutlichkeit, mit der die Flugbahn, genau wie auf der Abbildung im Artillerieunterricht, sich vor ihm wölbte; dieses widernatürliche Gefühl, einen Ton mehr mit den Augen, als mit dem Ohr erfassen zu müssen, das war's, wogegen kein Wille aufkam.

Man musste was tun, sich irgendwie die Illusion verschaffen, nicht ganz wehrlos zu sein! – Kompanie Laufschritt! – – schrie er, so laut er nur konnte, beide Hände als Sprachrohr vor dem Mund.

Wie erlöst stürmten die Leute los. Die Spannung schwand von ihren Gesichtern; jeder einzelne war irgendwie mit sich beschäftigt, stolperte, raffte sich auf, haschte nach locker gewordenen Ausrüstungsstücken; und in dem allgemeinen Keuchen und Pusten ging der drohende Pfiff der ankommenden Geschosse fast unbemerkt unter.

Nach einer Weile war es Hauptmann Marschner, als fauchte ihm jemand ins linke Ohr hinein. Er wandte den Kopf und sah Weixler, dunkelrot im Gesicht, neben sich herlaufen. – Was gibt's? – frug er, unwillkürlich in Schritt fallend.

– Herr Hauptmann, ich meld' gehorsamst, man sollt' ein Exempel statuieren! Der Simmel, der Feigling, demoralisiert die ganze Kompanie. Bei jedem Schrapnell schreit er »Jesus-Maria«, schmeißt sich hin und macht den andern Angst. Man sollt' den Kerl als abschreckendes Beispiel ...

Mitten in den Satz sauste eine Lage von vier Schrapnells hinein. Das Heulen schien noch lauter, noch schärfer geworden zu sein; dem Hauptmann war's, als flitzte, blendend hell, eine ungeheure Sense in steilem Bogen direkt auf seinen Schädel zu. Diesmal aber durfte er mit keiner Wimper zucken! Wie beim Zahnarzt, wenn die Zange ansetzt, krampften sich seine Glieder; zugleich starrte er seinem Leutnant forschend ins Gesicht, neugierig, wie er sich im ersehnten Feuer nun benahm. Allein der schien von den Schrapnells gar nicht Notiz zu nehmen. Er reckte sich, sah mit gespannter Aufmerksamkeit zum linken Flügel hinüber und rief empört:

– Da! Siehst, Herr Hauptmann! Da liegt der verdammte Kerl schon wieder! Ich will ihm doch ...

Ehe ihn Marschner erhaschen konnte, war er schon losgesprungen, blieb aber auf dem halben Wege stehen, machte kehrt und kam missmutig zurück.

– Der Kerl ist getroffen, – meldete er mürrisch, mit einem verärgerten Achselzucken.

– Getroffen? – entfuhr es dem Hauptmann, und ein hässlicher, bitterer Geschmack klebte ihm plötzlich die Zunge an den Gaumen. Er sah die frostige Ruhe in Weixlers Zügen, den teilnahmslosen, gleichgültigen Blick, und seine Hand zuckte in die Höhe. Schlagen hätte er ihn mögen, so aufreizend wirkte diese Unberührtheit, so weh tat ihm dieses hingeworfene »der Kerl ist getroffen«. Das Bild des netten Mäderls, mit der hellen Schleife in den roten Locken, blitzte vorbei, und die Vision einer verkrümmten Leiche, die ein Kind in den Armen hielt. Wie durch einen Schleier hindurch sah er Weixler, an sich vorbei, der Kompanie nacheilen und lief hinüber, wo neben etwas Unsichtbarem zwei Sanitätssoldaten knieten.

Der Verwundete lag am Rücken; seine flammend roten Haare umrahmten ein grün-graues, gespenstisch-regungsloses Gesicht. Vor wenigen Minuten hatte Hauptmann Marschner den Mann noch laufen, – – dasselbe Antlitz noch erhitzt, in erregter Lebendigkeit gesehen. Seine Knie gaben nach; – wie eine kalte Hand wühlte der Anblick dieses unfassbar jähen Wechsels in seinem Innern. War das möglich? ... Konnte so alles Blut in einer Sekunde entweichen; ein gesunder, kräftiger Mensch in wenigen Augenblicken zur Ruine zerfallen? Welche Höllenkraft lauerte in so einem Stück Eisen, dass es die Arbeit monatelangen Siechtums zwischen zwei Atemzügen verrichten konnte.

– Keine Angst, Simmel, – stammelte der Hauptmann, auf die Schulter eines Sanitätssoldaten gestützt, – – man wird Sie runtertragen zum Train! – und tief atemholend, rang er sich mühsam die Lüge ab: – – Jetzt kommen's gar als Erster nach Wien zurück! – Er wollte auch noch etwas von der Familie, von dem rotlockigen Mäderl hinzufügen, brachte es aber nicht über die Lippen. Es war ihm bange vor einem Aufschrei des Sterbenden nach den Seinen, und ein inneres Zittern durchlief ihn, als der qualvoll verzerrte Mund sich langsam auftat. Er sah die Augen sich öffnen; erschauerte vor dem gläsernen Blick, der an nichts Körperlichem mehr einen Halt zu finden, durch alle Anwesenden hindurch in weiter Ferne was zu suchen schien. Der Körper krümmte sich unter den wühlenden Händen des Sanitäters; aus der aufgerissenen, blutüberströmten Brust stiegen gurgelnd unverständliche Laute, bliesen den roten Schaum vor dem Mund zu platzenden Luftblasen auf.

– Simmel! Was wollen Sie Simmel? – bat Marschner, tief über den Verwundeten gebeugt. Mit gespannter Aufmerksamkeit lauschte er dem Lallen, überzeugt, dass es eine letzte Botschaft zu erhaschen galt! Er atmete auf, als die verirrten Augen endlich zurückfanden, und ängstlich forschend haften blieben auf seinem Gesicht. – – Simmel – rief er wieder und haschte nach der Hand, die zitternd die Wunde suchte. – Simmel! Kennen's mich denn nicht?

Simmel nickte. Er riss die Augen auf, seine Mundwinkel sanken herab, und weinerlich, vorwurfsvoll, – wie es dem Hauptmann schien, – kam aus der zersetzten Brust die Klage: – – Weh – Herr Hauptmann – – so weh! – und nach einem kurzen, röchelnden Schmerzenslaut wiederholte er schäumend, mit einem gellenden Wutschrei:

– Weh! – – Weh! – – und schlug um sich, mit Händen und Füßen.

Hauptmann Marschner sprang auf. – – Tragt's ihn hinunter! – befahl er, hielt sich, ohne zu wissen was er tat, die Ohren zu und lief davon, der Kompanie nach, die schon oben auf der Kammlinie stand. Er lief, den Kopf, wie in einen Schraubstock, zwischen die Hände gepresst, torkelnd, atemlos; von einer Angst getrieben, als stürmte das Wehklagen des Verwundeten mit erhobener Axt hinter ihm her. Er sah den eingeschrumpften Leib sich winden, sah das blitzschnell verwelkte Gesicht, das vergilbte Weiß der Augen und das »So weh, Herr Hauptmann« klang in ihm fort, krallte sich ihm in die Brust, dass er, oben angelangt, halb erstickt niederfiel, als hätte man ihm den Boden unter den Füßen weggezogen.

Nein, er konnte das nicht! Er wollte nicht mehr! ... Er war kein Henker; war nicht fähig, Menschen in den Tod zu peitschen; konnte nicht taub sein für ihren Jammer, für dieses Kinderwimmern, das wie bitterer Vorwurf sein Gewissen traf! Seine Füße stampften trotzig den Boden; alles in ihm bäumte sich gegen die Aufgabe, die ihn rief.

Unten dehnte sich das Schlachtfeld; trostlos grau. Kein Baum, kein Fleckchen Grün. Eine steinerne Wüste; zerhackt, zermürbt, aufgewühlt, ohne ein einziges Lebenszeichen. Die Laufgräben, die, in der Talsohle beginnend, hinaufführten zum Hügelrand, aus dem die Drahtzäune starrten, sahen wie zum Griff gespannte Finger aus; krallten sich tief in den erwürgten Boden ein. Marschner blickte sich unwillkürlich noch einmal um. Hinter ihm senkte sich die grüne Böschung steil zu dem Wäldchen, in dessen Schutz er seinen Train zurückgelassen hatte. Weiter rückwärts glänzte weiß die Landstraße, wie ein Fluss, von bunten Wiesen umrahmt. Eine kurze Wendung – und das Grün verschwand! Alles Leben ging unter, wie niedergebrüllt von den Geschützen, von dem Heulen und Knallen, das, gleich dem Pulsschlag eines ungeheuren Fiebers, in das jenseitige Tal hineinhämmerte. Granattrichter neben Granattrichter gähnte dort unten; dicke, schwarze Erdsäulen sprangen zuweilen auf, verdeckten für Augenblicke ein Teilchen dieser zu Asche gebrannten Öde, aus der die geborstenen, wie mit dem Federmesser zerschnitzelten Baumstümpfe höhnend emporragten, eine Herausforderung an die ohnmächtige Phantasie: in diesem Totenfeld aus Schutt die Landschaft wiederzuerkennen, die es gewesen, ehe der Wahnsinn darüber hinweggefegt und es mit Trümmern besät zurückgelassen hatte, wie einen Tanzboden, auf dem zwei gelten um eine Dirn gerauft.

Und in dieses Höllental sollte er nun hinuntersteigen! Dort unten leben, fünf Tage und fünf Nächte lang, mit einem Häufchen Verdammter da hinausgespien, bei lebendigem Leibe auf den Angelhaken gespießt, als Köder für den Feind! ...

Ganz allein, von niemandem belauscht, umtobt von dem Platzen der Geschosse, die da oben dicht, wie Gewitterregen fielen, – gab Hauptmann Marschner sich ganz seiner Wut hin, der ohnmächtigen Wut gegen eine Welt, die ihm solches angetan! Er fluchte, schrie seinen Hass aus voller Kehle in den tauben Lärm hinein und sprang auf, als weit unten, fast im Tal schon, seine Leute auftauchten, gefolgt von Leutnant Weixler, der hinter ihnen herlief, wie ein Metzgergesell, der seine Ochsen zur Schlachtbank treibt. Der Hauptmann sah sie eilen, sah die Sprengwolken sich mehren über ihren Köpfen, sah, zwischen sich und ihnen, da und dort auf dem Abhang, wie liegengebliebene Rucksäcke, blau-graue Häufchen zerstreut, regungslos die einen, wie große Spinnen zappelnd die anderen; – und stürmte los.

Wie toll raste er über die steile Böschung, fühlte kaum die Erde unter den Füßen, hörte das Prasseln der Sprengstücke nicht, flog mehr, als er lief, stolperte über verkohlte Wurzeln, fiel hin, raffte sich auf und sprang weiter, ohne nach rechts oder links zu schauen, mit geschlossenen Augen fast. Ab und zu sah er – wie aus dem Eisenbahnfenster – ein blasses, verstörtes Gesicht vorbeihuschen; einmal war's ihm, als wimmerte jemand um Wasser; aber er wollte nichts sehen, wollte nichts hören, lief weiter, blind und taub, unaufhaltsam, gejagt von der Angst vor jenem bösen, vorwurfsvollen »So weh! ...«

Nur einmal blieb er stehen, fest gewurzelt, als wäre er in eine Falle getreten, die sich eisern an seine Beine klammerte. Eine Hand hielt ihn auf, eine graue, verkrampfte Hand, die mit gekrümmten Fingern, wie aus Stein gehauen, starr vor ihm aufragte. Ein Gesicht sah er nicht; hatte keine Ahnung, wer ihm drohend die tote Faust entgegenhielt. Nur, dass diese selbe Hand vor zwei Stunden noch gelebt, drüben im Wäldchen gemächlich Schwarzbrot in Scheiben geschnitten oder eine letzte Feldpostkarte geschrieben hatte, wusste er. Und ein Grauen sprang ihn an vor diesen Fingern, gab seinen Beinen neue Kraft, dass er, wie ein Knabe, in großen Sätzen weiter stürmte, bis er mit fliegenden Flanken, eine rote Wolke vor den Augen, endlich bei der Kompanie ankam, ganz unten im Tal schon, am Eingang der Laufgräben.

Leutnant Weixler trat stramm vor ihn hin und meldete den Verlust von vierzehn Mann. Marschner hörte den Stolz, der in seiner Stimme klang, wie Triumph über das Geleistete, wie das Jubilieren eines unreifen Jungen, der mit den ersten Härchen auf der Oberlippe prahlt, mit Würde seinen jungen Bass forciert. Was waren diesem Burschen die Verwundeten, die oben, auf dem Abhang, sich kugelten? Der rothaarige Feigling mit seinem Gewimmer, – die Kinder, die ihrer Ernährer beraubt einem Bettlerdasein, dem Sumpf, vielleicht dem Gefängnis entgegenreiften – – alles Statisten, Hintergrund, dessen Dunkel leuchtend den Heldenmut des Leutnant Weixler hob. Vierzehn blutige Leiber säumten den Weg, den er furchtlos gegangen. Mussten seine Augen nicht Hochmut sprühen? ... Der Hauptmann eilte weiter, an Weixler vorbei. Nur nicht ihn anschauen – sagte er sich, – nur nicht diesem zufrieden leuchtenden Blick begegnen; sonst könnte der Zorn Herr werden über alle Vernunft, die Zunge sich lösen, die geballte Rechte den Weg des eigenen Willens gehen! Hier aber musste er diesen Menschen schonen, hier war der Leutnant Weixler in seinem Recht, wuchs von Minute zu Minute, überragte alle, schwamm obenauf, während die anderen, mit der Last ihrer gereiften Menschlichkeit behängt, klotzig versanken. Hier galten andere Gesetze! Der finstere Schacht, in dem man nun mit zitternden Knien vorwärts wankte, führte zu einer Insel, die nur der Tod umspülte. Wer da strandete, durfte nichts mithaben, was er in einer anderen Welt gebraucht. Nur wer nichts herübergerettet hatte als Faust und Axt, war hier der Meister; war der Reiche, an dessen Überfluss die anderen sich klammerten. Immer klarer wurde es Hauptmann Marschner, während er sich durch den glitschigen Graben betäubt weiter tastete, dass er seinen verhassten Leutnant jetzt wie einen Schatz hüten müsse, dass er verloren wäre, ohne ihn! Er sah die Spur geronnener Blutlachen vor seinen Füßen, trat auf zerfetzte, blutdurchtränkte Uniformstücke, auf abgeschossene Hülsen, klirrende Konservenbüchsen, Geschosstrümmer; gähnende Granattrichter öffneten sich plötzlich, mit angebrannten Brettern halsbrecherisch überbrückt; überall grinsten die Spuren tobsüchtiger Verwüstung, verkohlte Reste, ein Wust von Drähten, Pfosten, Säcken, zerbrochenen Werkzeugen, eine atemraubende, schwindelerregende Anordnung, eingehüllt in stickigen Brandgeruch, Pulverdampf und den scharfen, stechenden Atem der Ekrasitgranaten; die Erde auf Schritt und Tritt von riesenhaften Explosionen zerfleischt, mühsam zusammengeflickt, wieder aufgerissen, noch einmal eingeebnet, – dass man, wie durch einen Orkan, wie von einem Wirbel erfasst, bewusstlos dahintorkelte.

Zermalmt von der Wucht seiner Eindrücke, kroch Hauptmann Marschner wie ein Wurm durch den Graben und seine Gedanken kehrten immer leidenschaftlicher, immer verzweifelter zu Leutnant Weixler zurück. Nur Weixler konnte ihm helfen, konnte ihn ersetzen, mit seiner frostigen, grimmigen Energie, mit seiner Blindheit für alles, was nicht an seinem eigenen Leben riss, was überstrahlt wurde von der glanzvollen Vorstellung eines mit Dekorationen übersäten, außertourlich beförderten Erich Weixler! – Ängstlich sah er sich immer wieder nach seinem Leutnant um; atmete auf, so oft von rückwärts die schnarrende, treibende Stimme an sein Ohr schlug.

Noch immer wollte der Graben kein Ende nehmen! Marschner fühlte seine Kräfte erlahmen, stolperte immer häufiger und schloss doch erschauernd die Augen vor den sich kreuzenden Blutspuren, die genau den Weg der Verwundeten zeigten. Auf einmal riss er den Kopf hoch. Ein neuer Geruch drang auf ihn ein, ein süßlicher Gestank, der immer stärker wurde, bis er, bei einer Einbuchtung der Grabenwand, die hier, nach links einschwenkend, halbkreisförmig zurücktrat, wie eine dichte Wolke vorbrach. Von Ekel geschüttelt, den Magen in der Kehle sah er sich um, erblickte in der Vertiefung einen Hügel von schmutzigen, zerfetzten Uniformen, übereinander geschichtet, mit merkwürdig starren Konturen. Nur allmählich erfasste sein Blick das Grauen, das sich vor ihm türmte. Gefallene Soldaten lagen da, wie zusammengetragene Bretter und Traversen auf einem Bauplatz; verkrümmt, wie der Todeskampf sie gelassen. Zeltbahnen waren über sie gebreitet, waren beiseite geglitten, enthüllten steingraue, grimmige Fratzen, herabgefallene Kinnladen, glotzende Augen. Die Arme der Obenaufliegenden hingen wie ein Spalier bis zur Erde hinab, griffen den Unteren ins Gesicht, waren schon übersät mit den bunten Flecken der Verwesung.

Hauptmann Marschner stieß einen kurzen, rülpsenden Schrei aus und torkelte vornüber. Sein Kopf erzitterte im Genick, wie haltlos geworden; seine Knie knickten ein, dass er den Boden schon auf sich zukommen sah, als plötzlich ein unbekanntes Gesicht vor ihm auftauchte, seinen Blick auf sich zog, ihm jäh wieder Haltung gab. Ein fremder Feldwebel stand vor ihm, starrte ihn sprachlos an, mit großen, fiebrig glänzenden Augen in dem totenbleichen Gesicht. Eine Sekunde lang blieb er wie gelähmt, dann riss er den Mund auf, klatschte in die Hände, sprang in die Luft, wie ein Tänzer, und lief, ohne an eine Ehrenbezeugung zu denken, in riesigen Sprüngen davon.

– Ablösung! – schrie er im Laufen, blieb stehen vor einem schwarzen Loch, das wie der Eingang zu einer Höhle in der Grabenwand gähnte, und rief mit unbeschreiblichem Jubel in der Stimme, mit einem Jauchzer, der wie durch Tränen klang, gebückt, in die finstere Öffnung hinein: – Ablösung! ... Herr Oberleutnant! Ablösung is' da! ...

Der Hauptmann folgte ihm mit den Blicken, hörte den Ruf, und seine Augen wurden feucht, so rührend war dieser kindliche Freudenschrei, dieses Schmettern aus breiter Brust. Langsam ging er dem Feldwebel nach, sah, – als hätte der Schrei die Toten geweckt, – aus allen Ecken blasse Gesichter hervorlugen, Verwundete mit blutigen Verbänden, schlotternde Gestalten mit dem Gewehr in der Hand. Von allen Seiten strömten Leute herbei, starrten ihn an, formten mit den Lippen lautlos das Wort »Ablösung« nach, bis endlich einer losbrüllte, ein gellendes Hurra ausbrachte, das wie Feuer weiterlief, ein Echo fand in unsichtbaren Kehlen, die es begeistert wiederholten. Erschüttert beugte Marschner den Kopf; – fuhr sich schnell mit der Hand über die Augen, als ihm der Kommandant aus der Höhle entgegenstürzte.

Nichts war mehr lebendig an diesem Menschen: Sein Gesicht war aschgrau, seine Augen erloschen, glanzlos, von fingerbreiten Rändern umzogen; die Lider glühend rot vom Wachen. Haare, Bart, Kleidung waren überzogen mit einer dicken Kruste aus Lehm und Schmutz, dass er aussah, als wäre er eben aus dem Grab gestiegen. Die Hand, die, nach kurzer, militärischer Meldung, mit überschwenglicher Freude die Rechte des Hauptmanns umklammerte, war leichenkalt und klebte von Schweiß und Erde. Unheimlich war der Gegensatz zwischen diesem, mit Kleidern behängten Knochengerippe, zwischen dieser starren Totenmaske und der zappligen, überreizten Lebendigkeit, mit welcher der Oberleutnant über seine Befreier herfiel.

Die Worte strömten wie ein Wasserfall von seinen zersprungenen Lippen. Er zog Marschner in die Höhle hinein, drückte den Strauchelnden, der wie geblendet um sich griff, auf eine unsichtbare Sitzgelegenheit nieder und begann zu erzählen. Nicht einen Augenblick konnte er ruhig stehen. Er hüpfte, schlug sich an die Schenkel, lachte überlaut, lief tänzelnd auf und ab, warf sich auf das Lager in der Ecke, verlangte zwischendurch immer wieder eine Zigarette, schleuderte sie, – ohne es zu merken, – nach zwei Zügen schon weg und bat gleich um eine neue.

– Also drei Stunden später, – krähte er selig, mit einer formierten Heiterkeit, – Drei ... nein! In einer Stund schon wär's zu spät g'wesen. Weißt', wie viel Patronen ich noch hab? Elfhundert im ganzen! Maschinengewehr: ausgeleiert; Telefon: kaputt, seit gestern Nacht schon! Patrouille zum Reparieren, – unmöglich, weil ich jeden Mann im Graben brauch. Hundertvierundsechzig san mit eingezogen, – jetzt hab' ich noch einunddreißig, und elf Verwundete, die kein G'wehr mehr halten können. Einunddreißig Manderln, und damit soll ich den Grab'n halten. Heit Nacht war'n wir noch fünfundvierzig, wie's kommen sind; haben's auch zum Teufl g'jagt; aber vierzehn san wieder draufgangen! Die habn mir noch gar nicht begraben können. Hast sie nit liegen g'sehn, vor dem Mannschaftsunterstand? –

Der Hauptmann ließ ihn reden; hatte die Ellenbogen auf den primitiven Tisch aufgestützt, hielt den Kopf zwischen den Händen und schwieg. Seine Augen irrten durch den finsteren, muffigen Raum, den ein blakendes Petroleumlämpchen mit seinem Gestank erfüllte. Er sah das verschimmelte Stroh in der Ecke, den verwaisten Fernsprecher neben dem Eingang, eine leere Konservenkiste, auf der eine verknüllte Landkarte ausgebreitet lag; sah einen Berg von Gewehren, Bündel von Uniformen, mit Zetteln besteckt; und fühlte, wie langsam ein stummes, eisiges Grauen in ihm hochstieg, ihm den Atem verschnürte, als läge die Erde, die da oben von geborstenen Brettern gehalten, jeden Augenblick niederzustürzen drohte, mit Zentnerlast auf seiner Brust. Wie ein böser Traum wirkte dieses tänzelnde Gespenst, mit dem kichernden Totenkopf, der vor acht Tagen vielleicht noch jung gewesen; und der Gedanke, dass jetzt an ihn die Reihe kam, in diesem Grabgewölbe fünf, sechs, acht Tage lang auszuharren, die gleichen Greuel zu erleben, die der andere lachend erzählte, steigerte seine Mutlosigkeit zu einer heißen, hämmernden Empörung, die er kaum noch meistern konnte. Er hätte brüllen mögen; aufspringen, hinauslaufen und aus tiefster Seele heraus die Menschheit anbrüllen, warum sie ihn dahergeworfen, warum er da liegen bleiben sollte, bis er zu Aas oder zum Narren geworden. Er konnte es nicht begreifen, wie er sich hatte hier hinaus treiben lassen; sah keinen Sinn, kein Ziel, nur dieses Erdloch, die verwesenden Leichen draußen und – – gleich daneben –, einen Schritt weit nur von dieser Tobsucht, sein Wien, wie er es vor zwei Tagen erst verlassen hatte, – mit Trambahnen, Schaufenstern, grüßenden Menschen und Theatersälen. Was war das für ein Wahnsinn, hier zu kauern, in blöder Geduld auf den Tod zu warten, – in Schmutz und Blut, wie ein Tier, auf nackter Erde zu verrecken, während andere froh, sauber, geschmückt, in hellen Sälen saßen, sich was vormusizieren ließen, in ihr weiches Bett krochen, ohne Angst, ohne Gefahr; gehütet von einer Welt, die entrüstet über jeden herfiele, der ihnen auch nur ein Härchen krümmen wollte! ... War er schon irr oder waren's die anderen?

Seine Pulse tobten, als müsste die Brust ihm platzen, wenn er sich diese Not nicht von der Seele schreien durfte. Und in diesem Augenblick kam Leutnant Weixler in geschäftiger Eile, wie ein Ballarrangeur, in den Unterstand, stellte sich stramm vor ihn hin und meldete, dass oben alles in Ordnung sei, dass er die Posten schon bestimmt, die Wachen abgeteilt, die Maschinengewehre schon platziert habe. Der Hauptmann sah ihn an und musste die Augen niederschlagen, wie geohrfeigt von dieser Gelassenheit, die seine Wut jäh zu einer tiefen, brennenden Scham welken ließ. Warum blieb dieser unberührt von der großen Todesangst, die hier die Luft schwängerte? Warum konnte dieser da ordnen, befehlen, mit der Umsicht eines reifen Mannes walten, während er wie ein verschüchtertes Kind sich verkroch, mit dem sinnlosen Trotz der bedrängten Kreatur sich gegen das Schicksal bäumte, statt es zu meistern, wie es seinem Alter geziemte? ... War er denn feig? ... War er wirklich von niedriger, kläglicher Angst beherrscht, – von jener erbärmlichen Blindheit oder Seele, die über das eigene Ich nicht emporblicken, für keine Idee sich selbst übersehen kann? War er so, ohne Sinn für Gemeinschaft, wirklich ganz von kurzsichtiger Selbstsucht beherrscht; um sein nacktes, elendes Dasein nur besorgt? ...

Nein, so war er nicht! Hing nicht mehr an seinem Leben als irgendein anderer; könnte es begeistert hingeben ohne Fahnen, ohne Rausch, ohne Applaus! Wenn der feindliche Graben da drüben mit Menschen, wie der Weixler gefüllt wäre, wenn der Kampf gegen diese verbohrte Härte ginge, gegen diese mit Menschenfleisch aufgemästeten Schlagworte, gegen diese ganze, raffiniert aufgebaute Gewaltmaschine, die ihre Schützlinge als Schutzwall vor sich hertrieb, – – – er würde sich mit den bloßen Fäusten hineinstürzen, ohne das Platzen der Geschosse, das Wimmern der Verwundeten zu hören! ... Nein, er war nicht feig. Nicht so, wie diese beiden dachten! Er sah sie spöttisch blinzeln, sich heimlich lustig machen über den unglücklichen Landsturmonkel, der wie ein Häufchen Elend in der Ecke saß. Was wussten die von seiner Not! Standen da als »Helden«, fühlten den Blick der Heimat auf sich ruhen, sprachen Worte, die, getragen von dem Echo einer Welt, die Einsamkeit mit Gleichgesinnten bevölkerten und die Kraft von Millionen in ihre Seele strömten; – und lachten über einen, der töten sollte ohne Hass und sterben ohne Begeisterung, für einen Sieg, der ihm nichts war als Gewalt, die sich durchsetzte, weil sie stärker zuschlug, nicht aber weil sie im Rechte, weil ihr Ziel gut und edel war. Mochten diese nur über ihn spotten; er hatte keinen Grund, sich zu verkriechen vor ihrem Mut!

Ein kalter, stolzer Trotz durchströmte ihn, dass er aufstand, auf einmal stark geworden, wie gehoben von der übermenschlichen Last, die er allein auf seinen Schultern trug. Er sah den Oberleutnant immer noch umhertänzeln, alles zusammenraffen und in seinen Rucksack stopfen; hörte ihn brüllend den Burschen beschimpfen, zur Eile treiben und zwischendurch immer wieder neue Einzelheiten auskramen, grausige Episoden aus den Kämpfen der letzten Tage, die Weixler mit gespannter Aufmerksamkeit verschlang.

– Was fragst? – schrie er eben lachend seinen Zuhörer an, – ob d'Italiener auch große Verluste g'habt haben? Ja, meinst, wir hab'n uns nur so z'ammpfeffern lassen wie die Has'n? Kannst dir ja ausrechnen, was die verloren haben, in den elf Angriffen, wann mir schon auf dreißig Manderln zammg'schmolz'n san, ohne aus'm Graben zu kriechen. Die soll'n nur so weiter machen, noch a paar Woch'n lang, dann werden's bald fertig sein mit ihrem Menschenmaterial! –

Hauptmann Marschner hatte nicht aufpassen wollen, stand über die Karte gebeugt und fuhr in die Höhe, als das Wort »Menschenmaterial« in sein Ohr schlug. Das klang in seine Gedanken hinein, wie ein Hohnschrei; – als hätten die beiden ihn durchschaut und sich verabredet, ihm so recht zu zeigen, wie allein er war.

»Menschenmaterial!« ...

In einem Graben, den Leichengeruch durchzog, der Einschlag der Granaten durchzitterte, standen zwei: jeder selbst Einsatz, und sprachen, während auch um ihre Knochen die Würfel noch rollten, von »Menschenmaterial«! Brachten dies ruchlos-schändliche Wort über die Lippen, ohne jede Empörung, als wäre es nur natürlich, dass ihr Leib nicht mehr als eine Spielmünze war in der Hand von Menschen, die sich das Recht nahmen, wie Götter zu spielen! Legten ihr einzig-unwiederbringliches Leben ohne Bedenken einer Macht unter die Füße, die es erst mit ihren Leichen beweisen konnte, ob sie den Einsatz richtig zu platzieren weiß. Und die so sprachen, waren Offiziere! ... Wo gab es da noch einen Hoffnungsschimmer?

Draußen bei den Einfachen, beim Kanonenfutter vielleicht! Die kauerten jetzt ergeben auf ihren Plätzen, dachten nach Hause und fühlten sich doch jeder immer noch als Mensch. – Es zog ihn zu seinen Leuten, zu ihrer stillen, stumpfen Trauer, zu dieser wirklichen Größe, die ohne Pathos und ohne Feierlichkeit, gleichsam in der Hausjoppe, geduldig den Heldentod erwartete. Lautlos ging er, an den beiden Schwätzern vorbei, hinaus ins Freie.

Vor dem Ausgang standen marschbereit die Übriggebliebenen der abgelösten Kompanie im Laufgraben: immer zwei Mann mit einem toten Kameraden auf der Zeltbahn zwischen sich. Ein langer Zug, erschütternd in der lautlosen Erwartung, in die von oben das Zischen und Knallen der Schrapnells, das Krachen der Granaten wie eine Drohung an die noch Lebenden sich mischte. Marschner ballte erbittert die Fäuste gegen diese dröhnende Unersättlichkeit, als plötzlich der bleiche Feldwebel vor die Toten trat und ihn aus seiner Versunkenheit schreckte.

– Herr Hauptmann, ich meld' gehorsamst, wir haben noch drei Schwerverwundete, die net geh'n können, außer unsere vierzehn Toten. Für die drei Italiener sind mir keine Träger geblieben.

– Die lass'n wir euch zum Andenken da! – fiel mit seinem dröhnenden Lachen der Oberleutnant ein, der eben mit Weixler den Unterstand verließ. – Bei der Nacht kannst du sie da oben, zwischen den Laufgräben, verscharren lassen, Herr Hauptmann. Wann's finster wird, verlegen die Herrn Katzelmacher ihr Sperrfeuer weiter zurück, da kann man schon hinaus. Viel Ruh werdens zwar net hab'n, denn die Granaten reiß'n alles wieder aus; aber unsere eigenen Toten habens auch net schöner. Meinen armen Kadetten hab ich scho' dreimal begraben lass'n.

– Wie kommen denn die drei überhaupt her? – fragte Leutnant Weixler sich vordrängend, – Habt's ihr denn einen Grabenkampf g'habt?

Der Oberleutnant schüttelte stolz den Kopf: – Ja warum net gar! So weit hab'ns die Herrschaften nie 'bracht. Die Drei hab'n uns vorgestern Nacht den Stacheldraht abzwick'n wollen. Aber unser Maschinist hat's erwischt und hat ihnen den Spaß verdorb'n mit seiner Kugelspritz'n. Na, und nachher san's uns grad so vor der Nas'n g'legen, und haben so wunderschöne kanariengelbe Schuh ang'habt; die haben ihnen meine Leut net gönnt. Da – schloss er mit einem Fingerzeig auf die Füße des blassen Feldwebels, – da hast gleich ein Paar davon. Jetzt müss'n wir aber gehn! Los, Feldwebel! Respekt, Herr Hauptmann. Die Katzelmacher wer'n schaun, heut Abend, wann's so daherkommen, um uns schön bequem abzukrageln, und auf einmal legen hundertfünfzig Gewehre los und zwei seine neue Kugelspritzen. Haha! Schad', dass i net dabei sein kann! Servus Kleiner, viel Glück! – Einen lustigen Gassenhauer trällernd folgte er seinen Leuten; ohne sich noch einmal umzusehen, ohne zu bemerken, dass Marschner ihm noch ein Stück weit das Geleite gab.

Fröhlich, wie einen Sonntagsausflug, traten da Menschen den Weg an, der über das grausige Trümmerfeld, den steilen, zerschossenen Hügel führte. Welche Hölle mussten die hier, in diesem Maulwurfbau, durchlitten haben! ... Mit einem schweren Seufzer blieb der Hauptmann stehen. Es war, als ginge mit der langen, grauen Kolonne, die sich langsam durch den Graben schlängelte, die letzte Hoffnung weg. Der Rücken des letzten Soldaten, wie er so schaukelnd immer kleiner wurde, war die Welt; der Blick klammerte sich an diesen Rücken, maß bang die schwindende Entfernung von der Grabenecke, die ihn bald für immer verdecken musste. Noch konnte man einen Gruß nachrufen, – im Laufschritt noch einen Brief nachtragen! Dann verschwand auch dieser letzte Mittler, die letzte Möglichkeit, die Weite in zwei Hälften zu teilen. Und die Sehnsucht scheute zurück vor dem endlosen Raum, den sie nun allein zu überbrücken hatte.

Marschner sank in sich zusammen, als er nun ganz verlassen im leeren Graben stand. Wie ausgehöhlt fühlte er sich, sah hilfesuchend umher, und sein Blick blieb haften an der Mulde, die nun freigemacht war von den Leichen. Nur die drei Italiener lagen noch da. Der eine zeigte sein Gesicht, sperrte immer noch den Mund auf, zu einem Schrei, und seine Hände krallten sich, wie abwehrend, in den aufgedunsenen Leib. Die anderen lagen mit hochgezogenen Knien, den Kopf zwischen den Armen. Die nackten Füße starrten mit den grauen, verkrampften Zehen wie ausgeraubt, wie eine stumme Anklage in den Laufgraben hinein. Es lag eine Ferne um diese Leichen, eine Verlassenheit um diese entblößten Füße! Ein wirres Gewebe aus Erinnerungen, ein Gedränge von verwehten Gesichtern flimmerte auf: Ruderknechte aus Venedig – geschwätzige Kutscher – eine zahnlose Wirtin auf dem Posilipo; – zwei Urlaubsreisen durch Italien jagten ein Heer von Leidtragenden vorbei, – und als Letzte schloss die eigene Schwester den Reigen, saß sorglos bei der Musik auf der Türkenschanze, während der Bruder schon irgendwo starr aus der Erde lag, als toter Feind, den man mit dem Fuß beiseite schob.

Schaudernd eilte der Hauptmann weiter, als gingen die drei Toten, auf ihren nackten Sohlen, lautlos hinter ihm her; fühlte sich wie geborgen, als er endlich bei seinen Leuten ankam. Die Granaten fielen jetzt so dicht, dass keine Pause mehr die einzelnen Einschläge trennte, dass alle Geräusche zu einem einzigen, gleichmäßig fließenden Donner zusammenschmolzen, der die Erde wie einen Schiffsleib erzittern machte. Nur einem Volltreffer, der oben die Deckungen auseinanderwirbelte, folgte ein scharfes Krachen und Splittern, und, wenige Minuten später, schleppten zwei Männer ächzend eine Leiche herunter, lehnten sie an die Grabenwand und stiegen, durch den schmalen Schacht, wieder zurück auf ihren Posten. Marschner sah den Feldwebel aufstehn, den Mund bewegen, – dann erhob sich in der Ecke ein Soldat, nahm sein Gewehr und stapfte mit schweren Schritten den beiden anderen nach. Das war so trostlos! So unbarmherzig sachlich; etwa wie man bei Einzelübungen im Kasernenhof gelangweilt »der Nächste« ruft. Nur dass sich um den Toten sofort eine kleine Gruppe zusammenscharte, von der scheuen Neugier getrieben, die einfache Leute unwiderstehlich zu Leichen und Beerdigungen zieht. Auch von ihm erwarteten die meisten, – er fühlte es an ihren Blicken, – dass er nun hinübergehen werde, um dem Toten seine Referenz zu erweisen. Aber er wollte nicht! Er war fest entschlossen, nicht zu erfahren, wie der Gefallene hieß; fest entschlossen, sich endlich beherrschen zu lernen, allen kleinen Ereignissen gegenüber gleichgültig zu bleiben! Solange er das Antlitz des Toten nicht gesehen, seinen Namen nicht gehört hatte, war nur »ein Mann« gefallen. Einer von den vielen Tausenden. Wenn man Distanz behielt, sich nicht über jeden Einzelnen beugte, kein fest bestimmtes Schicksal vor sich aufsteigen ließ, war es gar nicht schwer, gleichgültig zu bleiben.

Trotzig ging er vor den zweiten Schacht hin, der nach oben führte, und merkte jetzt erst, dass es ganz still geworden war; dass kein Heulen, kein Bersten mehr herunterdrang. Lähmend löste dieses Schweigen den betäubenden Lärm ab, – füllte den Raum mit einer gespannten Erwartung, die ängstlich in allen Augen flackerte. Er wollte sich befreien von diesem beklemmenden Druck und kroch durch den bröckelnden Schacht in die Stellung hinauf.

Das erste was er erblickte, war der gekrümmte Rücken Weixlers, der sich mit dem Fernglas vor den Augen an ein Schutzschild schmiegte. Auch die anderen standen wie angesaugt an ihren Schießscharten, und die Regungslosigkeit ihrer Schulterblätter hatte etwas Erschreckendes. Auf einmal durchlief ein Zucken die erstarrte Reihe! Weixler sprang zurück, prallte gegen den Hauptmann, schrie: – Sie kommen! – stürzte weiter zum Schacht und blies mit geblähten Backen in seine Alarmpfeife. Hilflos starrte ihm Marschner nach, trat zaudernd zur Schießscharte und sah hinaus in das weite, rauchdurchzogene Feld, das jenseits der zerzausten Drähte, grau, zerrissen und blutbefleckt sich wölbte, wie der geblähte Leib einer riesenhaften Leiche. Weit rückwärts ging eben die Sonne unter, wuchs, halb schon versunken, rotglühend aus dem Boden. Und vor diesem blendenden Hintergrund tanzten schwarze Silhouetten, wie Mücken im Mikroskop, wie Indianer, die das Kriegsbeil schwingen. Ganz klein waren sie noch, verschwanden bisweilen, sprangen hoch, kamen näher, fuchtelten mit den Gewehren wie mit Polypenarmen, und ihr Geschrei wurde allmählich hörbar, anschwellend, wie fernes Hundebellen; hell heulend, wenn sie »Avanti« brüllten; wie von dumpfem Donnerrollen abgelöst, wenn der Ruf »Coraggio« durch ihre Reihen lief.

An der Böschung stand jetzt, dicht gedrängt, Kopf an Kopf die Kompanie; die Gesichter aus Stein, verbissen, kreideweiß, mit lippenlosem Mund, das Gewehr im Anschlag; – ein einziges Raubtier mit hundert Armen und Augen.

– Nicht schießen! Nicht schießen! Nicht schießen! – gellte die Stimme Weixlers ohne Atempause durch den Graben; schlang sich um alle Kehlen und hielt die Finger fest, die sich in bleicher Gier um die Hähne krallten. Schon flog die erste Handgranate in den Graben! ... Der Hauptmann sah sie kommen; – sah einen Mann sich aus der Masse lösen, dem Ausgange zutaumeln, mit ausgebreiteten Armen, vornübergebeugt, einen roten Schleier aus Blut vor dem Gesicht. Da setzte – endlich! – erlösend das Tacken der Maschinengewehre ein, und sofort rasten auch die Gewehre los, wie eine schnaubende Meute. Eine abstoßende, kalte Gier lag auf allen Gesichtern. Manche schrien laut auf vor Hass und Wut, wenn wieder neue Gruppen auftauchten hinter den gelichteten Reihen; die Gewehrläufe glühten schon, – und immer noch kam das gröhlende »Coraggio« näher und näher.

Wie von Tobsucht befallen hüpften draußen die Silhouetten, sprangen in die Luft, fielen hin, kollerten durcheinander, als hätte der Kriegstanz jetzt erst seinen Paroxismus erreicht.

Da sah Hauptmann Marschner, wie der Mann neben ihm für einen Augenblick das Gewehr senkte und mit hastigen, schlotternden Händen das Bajonett auf den rauchenden Lauf klemmte. Ein Erbrechen stieg in ihm hoch, dass er schwindelnd die Augen schloss und sich gegen die Grabenwand gelehnt, auf die Erde niedergleiten ließ. – Sollte, ... sollte er das ... das sehen? ... Menschen morden sehen, aus nächster Nähe? ... Er riss den Revolver aus der Tasche, nahm das gefüllte Magazin heraus und warf es weg. Nun war er wehrlos, – wurde auf einmal ruhig, richtete sich auf, von einer wunderbaren Gefasstheit gehoben, bereit sich niedermachen zu lassen von einem dieser keuchenden Tiere, die da, von blinder Todesangst gehetzt, heranstürmten. Er wollte als Mensch sterben, ohne Hass, ohne Wut, mit sauberen Händen! ...

Ein heiseres Aufbrüllen, ein fürchterlicher, entmenschter Schrei in seiner nächsten Nähe, riss seine Gedanken in den Graben zurück. Ein breiter Strahl aus Licht und Feuer fiel in steilem Bogen blendend neben ihm nieder; floss spritzend über die Schulter des großen, pockennarbigen Schneiders vom ersten Zug. Im Nu stand die ganze linke Seite des Mannes in Flammen. Er warf sich heulend auf die Erde, wälzte sich kreischend, sprang wieder auf, lief wie eine lebende Fackel jammernd umher, bis er zusammenbrach, halb schon verkohlt, zuckend um sich griff, und erstarrte. Hauptmann Marschner sah ihn liegen, atmete den Geruch des verbrannten Fleisches, und sein Blick fiel unwillkürlich auf die eigene Hand, wo, unter dem Daumen, ein winziger, weißer Fleck an die Qualen einer Brandwunde erinnerte, die er sich als Junge zugezogen.

Durch den Graben lief in diesem Augenblick ein brausendes, jauchzendes Hurra aus hundert befreiten Kehlen. Der Angriff war abgeschlagen! Leutnant Weixler hatte den Flammenwerfer auf's Korn genommen und auf den ersten Schuss getroffen. Die erstarrte Hand des Gefallenen hatte die Flammen, steil aufsteigend wie eine Fontäne, auf die eigenen Kameraden ergossen, und die dezimierten Reihen waren von der unerwarteten Gefahr jäh zurückgescheut, – wichen Hals über Kopf, verfolgt von rasendem Feuer aus allen Gewehren. Wie leblos fielen die Soldaten hin, mit schlaffen Zügen und erloschenen Augen, als hätte jemand den Kontakthebel der Leitung abgestellt, die diese toten Leiber von irgendwoher mit Kraft gespeist hatte. Einzelne lehnten käseweiß an der Grabenwand, legten den Kopf beiseite und erbrachen sich vor Übermüdung. Auch Marschner fühlte ein Übelsein in sich aufsteigen; tastete sich dem Ausgange zu. Nun wollte er in seinen Unterstand, – ganz allein sein, – sich irgendwie befreien von der Verzweiflung, die ihn umklammerte.

– Holla! – rief Leutnant Weixler ganz unerwartet in die Stille hinein und galoppierte nach links, wo die Maschinengewehre standen.

Der Hauptmann wandte sich noch einmal um, stieg auf den Antritt und sah ins Vorfeld hinaus. Da, dicht vor den Drahthindernissen, kniete ein Italiener, die Linke schlaff am Leib, die Rechte flehend erhoben, und rutschte langsam heran. Weiter rückwärts, halb verdeckt von dem Knienden, regte sich etwas auf der Erde. Drei Verwundete krochen dort, an den Boden gepresst, dem eigenen Graben zu; man sah genau, wie sie hinter Leichen Deckung suchten, immer wieder eine Weile regungslos liegen blieben, um nicht entdeckt zu werden vom Feind. So jämmerlich war der Anblick dieser gottverlassenen Kreaturen, die so mit Zähnen und Krallen an das bisschen Leben sich klammerten, vom Tod umlauert, jede Sekunde wie eine Ewigkeit über sich.

– Geht's, ist nicht irgendwo ein Strick da? – rief ein alter Korporal in den Graben zurück, – Der arme Teufel von an Salamucci dauert mich. Zieh' mer ihn rein! –

Mitten in seine Rede perlte eine Skala des Maschinengewehres. Der Kniende vor dem Stacheldraht horchte auf, warf sich zurück, wie zum Anlauf und fiel aufs Gesicht. Hinter ihm sah man die Erde stauben vom Einschlagen der Kugeln und die anderen, weit rückwärts, sich wie Schlangen ausrichten. Dann machten alle drei einen kurzen Satz nach vorne; – und blieben liegen.

Einen Augenblick stand Hauptmann Marschner sprachlos, sperrte den Mund auf und brachte keinen Laut aus der Kehle. Endlich löste sich seine Zunge und er schrie, mit einer wahnsinnigen, würgenden Wut in der Stimme: – Herr Leutnant Weixler! –

– Befehlen Herr Hauptmann? – kam es unbefangen zurück.

Er lief dem Leutnant entgegen mit geballten Fäusten, krebsrot im Gesicht.

– Haben Sie geschossen? – keifte er atemlos.

Der Leutnant sah ihn erstaunt an, legte die Hände an die Hosennaht und meldete stramm: – Zu Befehl, Herr Hauptmann. –

Wieder blieb Marschner für einen Augenblick die Stimme aus; seine Zähne schlugen klappernd aneinander. – Schämen Sie sich! – stammelte er am ganzen Leibe zitternd, – auf wehrlose Verwundete schießt ein Soldat nicht, merken Sie sich das! –

Weixler wurde kreideweiß. – Melde gehorsamst, Herr Hauptmann, der eine, der bei uns war, hat mir die anderen verdeckt; ich hab' ihn nicht verschonen können. – Dann, mit jäh sich aufbäumendem Zorn, fügte er trotzig hinzu: – Ich dachte auch, wir hätten genug hungrige Mäuler daheim.

Wie ein bissiger Hund fuhr der Hauptmann ganz nahe an ihn heran, stampfte mit dem Fuß und schrie: – Was Sie denken interessiert mich nicht. Ich verbiete Ihnen, auf Verwundete zu schießen! So lange ich hier das Kommando führe, ist jeder Verwundete heilig! Ob er zu uns will oder zum Feind! Haben Sie mich verstanden?

Der Leutnant reckte sich hochmütig. – Dann muss ich Herrn Hauptmann gehorsamst bitten, mir diesen Befehl schriftlich zu geben. Ich halte es für meine Pflicht, dem Feinde möglichst viel Schaden zuzufügen. Ein Mann, den ich heute laufen lasse, kommt in zwei Monaten geheilt zurück und schießt mir vielleicht zehn Kameraden tot.

Eine Sekunde lang standen sie sich regungslos gegenüber und starrten sich an, wie zwei Kämpfer auf Leben und Tod. Dann nickte Marschner ganz leise mit dem Kopf und sagte tonlos: – Sie sollen es schriftlich haben! – machte kehrt und ging. Vor seinen Augen tanzten farbige Kugeln, er musste alle Kraft zusammennehmen, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren und fiel zerschlagen auf die Konservenkiste nieder, als er endlich den Unterstand erreicht hatte. Sein Hass wandelte sich langsam in eine tiefe, erbitterte Mutlosigkeit. Er wusste genau, dass er im Unrecht war. Seinem Gewissen gegenüber nicht! Ihm galt die Tat als feiger Meuchelmord, – aber er und sein Gewissen hatten hier nichts zu sagen, hatten sich hierher verirrt und mussten Unrecht behalten. Was sollte er tun? Gab er den Befehl schriftlich aus der Hand, dann bescherte er Weixler eine erwünschte Gelegenheit, sich hervorzutun und brachte sich selbst vor den Auditor. Und diesen Triumph wollte er dem hämischen Kerl nicht gönnen! Lieber selbst Schluss machen: hingehen zum Brigadekommando und es den hohen Herren offen ins Gesicht sagen, dass er das blutige Scheibenschießen nicht länger mitanschauen, dass er Menschen nicht wie reißende Tiere jagen könne, gleichviel welche Uniform sie trugen. Wenigstens hörte das Versteckenspielen endlich auf. Sie sollten ihn nur füsilieren oder aufknüpfen lassen, wie einen gemeinen Verbrecher. Er würde ihnen zeigen, dass er zu sterben wusste.

Mit festen Schritten ging er hinaus, befahl einem Soldaten, den Herrn Leutnant zu holen. So hell war es jetzt in ihm, und so ruhig! Er hörte das höllische Feuer, das die Italiener wieder auf den Graben legten, und ging langsam, wie ein Spaziergänger, nach vorne.

– Jetzt schmeißens mit schweren Minen! – meldete der alte Korporal, – und schaute den Hauptmann verzweifelt an. Aber der ging vorbei, ungerührt von dem flehenden Kummer. Das alles ging ihn nichts mehr an. Der Herr Leutnant übernahm hier das Kommando. Das wollte er ihm eben sagen; konnte es kaum erwarten, die Verantwortung von sich zu wälzen! ... Und kroch, als Weixler noch immer nicht kam, durch den Schacht in die Stellung hinaus.

Die kleinen, schlechten Augen flogen ihm entgegen, suchten den geschriebenen Befehl in seiner Hand. Er tat, als merkte er den fragenden Blick gar nicht, herrschte ihn hochfahrend an: – Herr Leutnant, ich übergebe Ihnen jetzt die Kompanie bis ...

Ein kurzes Heulen von unerhörter Stärke schnitt ihm das Wort ab. Er hatte das Gefühl: – Das trifft mich! – sah im selben Augenblick auch schon etwas wie einen schwarzen Walfisch vor seinen Augen aus dem Himmel sausen, kopfüber in die rückwärtige Grabenwand hineinfahren – – – dann brach ein Krater aus der Erde, ein Flammenmeer, das ihn aufhob und ihm die Lunge mit Feuer füllte.

Als er langsam zu sich kam, lag er unter einem Erdwall begraben, nur der Kopf und der linke Arm waren frei; die anderen Glieder fühlte er nicht mehr. Sein ganzer Körper war gewichtslos geworden, er fand seine Beine nicht, es war nichts da, was er hätte bewegen können, nur ein Brennen und Wühlen, das von irgendwo her in sein Gehirn mündete, die Stirne versengte und die Zunge zu einem schweren, würgenden Klumpen anschwellen ließ.

– Wasser! – stöhnte er. – War denn niemand da, um ihm einen Schluck Wasser in die ausgebrannte Mundhöhle zu träufeln? War niemand? ... Wo war denn Weixler? Der musste doch da in der Nähe stehen. Oder? – – – oder sollte der ... am Ende auch verwundet? ... Er wollte hochschnellen, – wissen, was mit Weixler geschehen war – – – er wollte! ... Wie ein überlasteter Dampfkran mühte sich seine linke Hand, den Kopf zu erreichen, und als es ihm endlich gelang, sie unter den Nacken zu schieben, da fühlte er erschauernd, dass der feste Widerstand der Hirnschale ausblieb, dass er in einen weichen, warmen Brei hineingriff, in dem seine Haare, vom geronnenen Blut verkleistert, wie ein feuchter, warmer Filz an den Fingern pappen blieben.

– Sterben! – durchfuhr es ihn kalt, – Hier sterben, ganz allein ... Und Weixler? ... Er musste erfahren, was mit dem ... musste! ...

Mit übermenschlicher Anstrengung stemmte er seinen Kopf, mit der Linken, so weit hoch, dass er einige Schritte weit den Graben überblicken konnte. Und nun sah er Weixler, mit dem Rücken gegen sich, mit dem rechten Arm an die Wand gelehnt, schief dastehen, die linke Hand an den Leib gepresst, die Schultern hoch oben, wie im Krampf. Noch eine Spanne höher reckte er sich, erblickte den Boden und einen breiten, dunklen Schatten, den Weixler warf. Blut? ... Er blutet! ... Oder? – Das war doch Blut! ... Konnte nur Blut sein ... Und dehnte sich doch so merkwürdig, zog wie ein dünner, roter Faden zu Weixler hinauf, dorthin, wo er sich den Leib hielt, – – – als wollte er die Wurzeln abreißen, die ihn an die Erde fesselten. – – –

Er musste doch sehen! ... schleuderte den Kopf nach vorne – – – und stieß einen röchelnden Schrei aus, einen Schreckensschrei, – als er erkannte, dass der Unglückliche seine Eingeweide hinter sich herzog. – Weixler! – entfuhr es ihm gellend, von heißem Mitleid durchzittert.

Der Angerufene wandte sich langsam, sah fragend zu Marschner hinunter, blass, traurig, mit erschrockenen Augen. Nur den Bruchteil einer Sekunde lang stand er so, dann verlor er das Gleichgewicht, taumelte und fiel nieder, verschwand aus dem Gesichtskreis des Hauptmanns. Kaum dass ihre Blicke Zeit gehabt hatten, sich zu kreuzen, – vorbeigehuscht war nur das bleiche Gesicht! Und doch stand es da; blieb haften in der Luft, mit einem milden, weichen, klagenden Zug um die schmalen Lippen, mit einem unvergesslichen Ausdruck von sanftem, ängstlichem Sich-ergeben.

– Er leidet! – ... durchflammte es Marschner. – Er leidet! – ... jauchzte es in ihm. Und ein Leuchten ergoss sich über seine Blässe, ... seine blutverklebten Finger fuhren wie streichelnd durch die Luft ... bis der Kopf zurücksank und die Augen brachen.

Die ersten Soldaten, die durch den hochgetürmten Erdwall endlich bis zu ihm vordrangen, fanden ihn schon entseelt; um seinen Mund schwebte, trotz der grässlichen Verwundung, ein zufriedenes, fast glückliches Lächeln.


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