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VII. Eine gespenstische Braut

Vergebens wartete Kotyledo wenige Stunden später am Eingange des Psychäons in den Gärten des Okeanos, wo Lyrika vor der Probe ihn treffen wollte. Eine Stunde verging, ohne dass sie kam, und einen unvorhergesehenen Zwischenfall befürchtend, bestieg Kotyledo einen der zurückfahrenden hydraulischen Trains und befand sich eine Viertelstunde später an Lyrikas Wohnung. Aber auch hier war keine Spur zu finden. Sie habe die Nacht nicht geschlafen, und sei am frühen Morgen ausgeflogen, hörte er. In Sorge um Lyrikas Befinden eilte Kotyledo nach der Wohnung Propions. Er traf Funktionata allein und berichtete das Geschehen. Funktionata versuchte noch einmal, Kotyledos Sinn zu ändern, aber sie richtete nichts aus. So versprach sie denn, wiederholt die ganze Rechnung zu prüfen, obwohl sie keine Hoffnung habe. Doch bewunderte sie den Entschluss der Liebenden; er war eine tragische Tat, vor welcher auch der Andersdenkende mit Achtung und Rührung stehen musste. Von Lyrika wusste sie jedoch keine Auskunft zu geben, und beide begannen ängstlich zu werden.

Während sie sich in Vermutungen erschöpften, flog ein Blatt in das Zimmer. Wer es hereingeworfen hatte, war nicht zu ersehen, doch galt es als keine seltene Erscheinung, dass Briefe im Fluge durchs Fenster geschleudert wurden.

Kotyledo hob das Blatt auf und warf nur einen Blick darauf. Lautlos ließ er es sinken. Funktionata nahm es auf und las:

»Seid unbesorgt. Lyrika ist euch nahe, doch niemals werdet ihr sie wieder sehen. Ich darf nicht Dein sein, Kotyledo, und doch bin ich's. Du aber wirst leben – habe Mut!

Lyrika«

Ratlos sahen sich Funktionata und Kotyledo an. Was sollte das? War Lyrika nicht mehr am Leben? Sie hatte sich geopfert, um nicht ihrem Versprechen untreu zu werden oder Kotyledos Untergang herbeizuführen. Aber ihr Geist sollte bei ihnen sein, sollte in Kotyledo fortleben und die Erinnerung ihm Mut zur Arbeit geben. Anders waren wohl die Worte kaum zu verstehen. Und doch wollte Kotyledo seine Hoffnung, die Geliebte wieder zu finden, nicht aufgeben, bis er nicht jeden Winkel der Erde nach ihr durchsucht. Vielleicht hatte sie sich nur verborgen, um ihn zu retten; er aber wollte sie gewinnen, ohne Rücksicht auf sein Los.

Kotyledo verließ Funktionata und begab sich zuerst zu Propion und Atom, die er in ihrem Laboratorium zu treffen dachte. Ausnahmsweise war die Tür verschlossen, und er musste eine Zeit lang warten, ehe Propion zum Vorschein kam. Atom, sagte Propion, sei heute noch nicht da gewesen, er habe gerade am Zentraltunnel, der in Afghanistan begonnen wurde, zu tun. In Kotyledo regte sich ein Verdacht gegen Atom. Hielt er Lyrika versteckt? Doch sein Verdacht legte sich bald; denn noch während er mit Propion sprach, kam Atom wieder, und beide zeigten ein aufrichtiges Erschrecken. Sie wussten offenbar von Lyrikas Verschwinden noch nichts. Das Schicksal Lyrikas beschäftigte beide so sehr, dass selbst Atom seine Eifersucht zu vergessen schien und zunächst nur besorgt war, Lyrika aufzufinden. Das war nun freilich auch für ihn die Hauptsache. Alle drei taten sofort die nötigen Schritte bei den Behörden der öffentlichen Ordnung, und es gab keinen Ort oberhalb und unterhalb der Erdoberfläche, wohin nur Menschen zu dringen pflegten, der nicht nach Lyrika durchsucht worden wäre. Weder lebend noch tot war eine Spur zu finden. Nach vier Pentaden Eine Pentade gleich fünf Tage. Ein Jahr gleich 73 Pentaden. Diese Einteilung gewährt den Vorteil, dass der Zeitraum der Woche (Pentade) im Jahr ohne Rest aufgeht. gab man die Versuche auf, und auch die näheren Freunde beruhigten sich. Nur Atom und Kotyledo machten eine Ausnahme; sie vergaßen Lyrika nicht, Kotyledo hatte sich zunächst ganz aus dem Verkehr zurückgezogen. Nur selten erschien er im Botanischen Garten, dessen Leitung er vorstand, und besorgte die wichtigsten Geschäfte; sonst wusste man kaum, wo er war. Aber Atom wusste es. Eine Ahnung, was mit Lyrika vorgegangen sei, war ihm allein aufgestiegen, und er hatte Grund, die Bestätigung seiner Vermutung zu erwarten. Aber er bewahrte seinen Verdacht als ein tiefes Geheimnis und beobachtete unausgesetzt heimlich alle Beschäftigungen Kotyledos.

Eine eigentümliche Veränderung hatte mit Kotyledo stattgefunden. Der besonnene, exakte Forscher war fast zu einem Einsiedler geworden, der seine Heimat nicht auf dieser Erde, sondern in geträumten, himmlischen Regionen hat. Ein neues Reich, von den Menschen nicht gekannt und nicht geglaubt, schien sich ihm aufgetan zu haben, das Reich der Geister, in welchem jetzt der Schwerpunkt seines Verkehrs lag. Er wollte es nicht glauben, und doch war es tatsächlich so: Lyrika, von der Erde verschwunden, verkehrte mit ihm noch als Geist.

Oft, wenn er in seinem Zimmer mit Nachdenken beschäftigt saß oder auf einsamen Spazierflügen sich erholte, glaubte er neben sich die Gegenwart Lyrikas zu spüren. Deutlich hörte er ihren leisen Seufzer, einen tiefen Atemzug oder das Rauschen ihres Gewandes, ja, mitunter glaubte er ihre Stimme in sanftem Gesange zu vernehmen. Anfänglich waren ihm diese Äußerungen einer Verstorbenen im höchsten Grade unheimlich; er konnte sie nicht naturgemäß erklären und musste sie also für Einbildungen seiner aufgeregten Fantasie halten. Eines Abends hatte er sich nach einer weiteren Spazierfahrt auf jenen Felsvorsprung niedergelassen, wo er das letzte Mal mit Lyrika zusammen gesessen hatte. Auch jetzt vernahm er sicherlich das Rauschen von Lyrikas Gewand, er fühlte ihren leisen Atem an seiner Wange und ihren Kuss auf seinen Lippen. Er griff mit den Armen in die Leere hinaus, aber es gelang ihm nicht, etwas zu erfassen, schon hatte sie sich ihm entzogen. Nachdenklich starrte er fast eine Stunde lag in die See hinaus. Ist wohl jetzt schon der Augenblick eingetreten, fragte er sich, wo die Rindenschicht deines Gehirns zerfällt? Hat Lyrikas Opfer nichts genützt? Bist du nicht mehr deines Verstandes sicher, und ist es der Wahnsinn, der dir schon seine gespenstischen Gebilde vorgaukelt?

Inzwischen war eine atmosphärische Veränderung eingetreten. Mit Eintritt des herbstlichen Abends hatte der Westwind Feuchtigkeit in großem Maßstabe herbeigeführt; die Durchsichtigkeit der Luft hatte zugenommen, und tiefdunkel, scheinbar mit Händen zu greifen, erstreckten sich die entfernten Berge am Horizont. Die Sonne lag im Untergehen mit schrägen Strahlen auf der Felswand, die Kotyledo trug. Den Schatten eines kleinen Felsvorsprungs vor ihm warf sie gerade neben ihn auf den Fels. Als er seinen Blick zufällig auf die Spitze dieses Schatten richtete, bemerkte er eine wunderliche Erscheinung. Es bewegte sich darüber ein matter Schimmer, ein Wechsel von blassen Farben, farbigen Bändern, wie sie gebrochene Sonnenstrahlen erzeugen. Was konnte diese Brechung hervorrufen? Kotyledo sah jetzt genau nach dem Felsvorsprung, indem er so weit zur Seite ging, dass ihn die direkten Strahlen der Sonne nicht mehr blendeten. Und was sah er hier? Schwach und schattenhaft, einem leichten Luftgebilde gleich, aber in deutlich erkennbaren Umrissen, wie aus einer lichten Wolke geformt, saß Lyrikas Gestalt dort. Er griff sich an die Stirn, rieb die Augen, um zu sehen, ob er wache. Er veränderte seinen Standpunkt, aber die Erscheinung blieb. Sie hatte ihm den Rücken zugekehrt, den Kopf auf die Hand gestützt, sodass er nur einen Teil des fein geschnittenen Profils sah, während Lyrika selbst aufs Meer hinausblickte. Gerade wie an jenem Abend saß sie da, nur die goldene Spange im Haar fehlte – ein Tuch schien den Kopf einzuhüllen. Alles an ihr aber war matt, durchsichtig, es fehlten die natürlichen Farben, und das Gesicht musste sich anstrengen, die nebelhafte Gestalt zu erkennen; nur die Ränder der Figur zeichneten sich durch schwache Farbringe aus, die in Violett, Blau, Orange und Rot spielten und eine märchenhafte Wirkung hervorbrachten. Diese reizende, wahrhaft luftige, mit den zartesten Tinten des Regenbogens angehauchte Gestalt über der Meeresbrandung, dahinter den im Abendrot glühenden Himmel – alles dies wirkte auf Kotyledo so überwältigend, dass er lange Zeit wie verzaubert dastand. Jetzt aber regte sich die Gestalt. Sie erhob sich, schwebte auf ihn zu, offenbar ohne zu wissen, dass er sie bemerkte. Jetzt oder niemals! dachte er. Er stürzte auf sie zu, fasste sie in seine Arme – ein Schrei –, es war Lyrikas Stimme. Umso fester hielt er sie, obwohl er sie jetzt so dicht in der Nähe nicht mehr sehen konnte. Der farbige Schimmer der Gestalt war erloschen, aber den Körper hielt er in den Armen, er fühlte deutlich ihre Hand, ja, er glaubte das Pochen ihres Herzens zu vernehmen, als sie sich anstrengte, ihm zu entfliehen. Und jetzt hörte er ihre Stimme, ihre gewohnte, helle, bittende Stimme:

»Lass mich, Kotyledo, lass mich! Ich darf sonst nie wieder zu dir.«

Er wusste nicht, was er tat – er stand wie vom Blitz gerührt.

Seine Arme öffneten sich, er hörte noch: »Leb wohl, leb wohl...«

Wieder griff er um sich – sie war fort.

Seit jenem Tage bestand ein täglicher Verkehr zwischen Kotyledo und Lyrikas Schatten. Nie sah er wieder ihre Gestalt, auch ihre Stimme hörte er selten einmal, und dann nur wenige Worte, die einen herzlichen Gruß, einen beruhigenden Trostspruch enthielten. Das Rätsel löste sich ihm nicht. Unerklärlich war ihm ein häufiges, sich wiederholendes Aufblitzen von Lichtstrahlen, wie der Reflex von geschliffenen Gläsern. Eines Tages bemerkte er in der Luft seines Zimmers ein Blitzen wie von glänzendem Metall. Er blickte hin und sah nun den ihm bekannten Ring Lyrikas in der Luft schweben, gewöhnlich ruhend, dann hin und her gehende Bewegungen machend. Er fasste danach und fühlte Lyrikas Finger. Aber rasch wurden sie ihm entzogen, und nur den Ring behielt er in der Hand. Er glaubte ein Wort des Bedauerns von Lyrika zu hören und legte den Ring neben den Phonograph auf seinen Telegrafiertisch; bald darauf war er verschwunden.

Fast täglich fand er jetzt sein Zimmer wie von Geisterhänden mit frischen Blumen geschmückt, mit diesem seltenen Luxus der Zeit, der ihm zugleich so lieb und teuer war. Oft schwebten Blumen und Kränze direkt durch die Luft zu ihm; er war überzeugt, dass Lyrika sie trug, aber er wagte nicht mehr, nach ihr zu greifen, teils weil er wusste, dass sie es nicht wollte, teils aus Furcht, sie zu verletzen, da er ja nicht sehen konnte, wohin sein ausgestreckter Arm reiche. Und dass ihr Körper wie früher undurchdringlich und dem Tastgefühl zugänglich war, wusste er bereits. Mitunter fand er Walzen in seinem Psychokineten eingesetzt, welche von Lyrika bereitet waren und ihm nun unmittelbar ihre Gefühle zuführten. Er empfand da, wie sie mit heißer, unzerstörbarer Liebe an ihm hing, wie sie um das bittere Geschick trauerte, das sie zwang, ihn ewig zu fliehen, und wie sie doch glücklich war in dem Bewusstsein, bei ihm sein zu können, unsichtbar ihn zu umschweben und mit geisterhafter Geschäftigkeit ihm tausend kleine Dienste zu leisten, ja mitunter einen Kuss auf seinen Mund zu hauchen.

Kotyledo fühlte sich jetzt fast glücklich bei seiner gespenstischen Braut, er hatte sich an ihre geisterhafte Existenz gewöhnt und grübelte nicht weiter über die Ursachen, welche eine so naturwidrige Erscheinung bewirken konnten. Zugleich schämte er sich, an diesen ihm so lieb gewordenen Verkehr mit einem Geist zu glauben, und behielt daher sein Glück für sich. Niemand machte er eine Mitteilung von dem Zustande, in welchem er Lyrika wieder gefunden. Aber wenn ihm auch so vereinzelte Stunden glücklich dahingingen, ja, wenn es selbst vorkam, dass er Lyrikas helles Lachen hörte, so verzehrte ihn doch eine unauslöschliche Sehnsucht nach ihr. Es waren ja immer nur flüchtige Minuten, in denen er Kunde von ihr bekam, und auch dann nur durch das Ohr oder den Psychokineten. Oh, gern hätte er sein späteres Leben darum gegeben, nur ein Jahr in Lyrikas wirklichem Besitz hinzubringen, wenn er auch nach Funktionatas Berechnung dann hätte sterben müssen. Noch immer gab er – trotz Funktionatas wiederholter Versicherung – die Hoffnung nicht auf, die Rechnung werde sich als falsch erweisen, und doch fürchtete er es wieder. Denn war nicht Lyrika doch für ihn verloren? Konnte er einen Geist als Gattin heimführen, der »jenseits der Styx« wohnte, wie sie ihm einmal auf seine Frage, wenn auch vielleicht nur im Scherz, geantwortet hatte? Oder gab es ein Mittel, Lyrika wieder in ihrer menschlichen Gestalt herbeizuzaubern? Würde sie wiederkehren, wenn sie nicht mehr zu befürchten brauchte, ihn durch ihren Besitz zu vernichten?

Oft quälten ihn diese Fragen, aber er brachte es nicht über sich, den Versuch zu machen, Lyrikas geisterhaften Zustand wissenschaftlich zu erklären. Nur über das eine musste er sich vergewissern: War Lyrikas Existenz wirklich auch für andere wahrnehmbar, oder war sie nur seine Halluzination? Er glaubte sich dies schuldig zu sein, da es eine Frage war, die seinen geistigen Gesundheitszustand und somit auch die Pflicht gegen sein Amt anging. Wen aber sollte er ins Geheimnis ziehen?

Da fiel ihm Strudel ein. Bei ihm fand er am leichtesten Verständnis, und zu seinem gewiegten Urteil hatte er Vertrauen. Er wusste, dass er ihn des Abends immer im Ozean fand, und dort beschloss er, ihn aufzusuchen. Lange war er nicht ins Meer hinabgestiegen, denn er hatte bald bemerkt, dass ihm Lyrika niemals dahin folgte; und da er sich ihr nicht freiwillig entziehen wollte, so blieb er gänzlich an der Luft.

Nun hatte er schon längere Zeit hindurch vergeblich auf Lyrika gewartet; sie war seit zwölf Tagen nicht mehr erschienen, und Kotyledos Ungewissheit hatte sich gesteigert. So legte er heute seinen Taucheranzug an, der den größten Wasserdruck aushielt und selbst fortwährend frische Atemluft erzeugte, bestieg den hydraulischen Train und begab sich nach den Gärten des Okeanos.


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