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IV. Neue Körper. Lyrika. Die Weltformel

Während das im vorigen Abschnitt aufgezeichnete Zwiegespräch am Meeresgrunde gepflogen wurde, wogte das rastlose Leben des 39. Jahrhunderts über den großen Städten, deren zahllose Häuser in fast stetigem Zusammenhange die Kontinente bedeckten. Unablässig verkehrten die Luftschiffe mit ungemeiner Geschwindigkeit, zwischen ihnen bewegte sich das Gewühl der Luftschwimmer. Das Material des Schwimmapparats bestand aus einer Platin-Silizium-Kohlenwasserstoff-Verbindung, einem kompliziert zusammengesetzten Körper, der bei außerordentlich geringem spezifischen Gewichte die Eigenschaften des Platins mit der Durchsichtigkeit des Glases und der Biegsamkeit des Kautschuks verband, aber auch wie dieser gehärtet werden konnte. Dieser Körper führte seiner Nützlichkeit wegen den Namen Chresim (von χρησιμος = brauchbar) und fand die mannigfaltigste Anwendung in den Gewerben. Eine völlig durchsichtige, den Körper umhüllende, innen luftleere Glocke von Chresim, der »Luftschwimmgürtel«, hielt den Körper im Gleichgewicht. Nach vorn ging der Apparat keilförmig zu und diente zugleich als Schirm gegen die mit größter Geschwindigkeit durchschnittene Luft. Von ihm hingen zwei Steigbügel herab, in denen die Füße einen Stützpunkt fanden, während eine große auf der Rückseite befindliche Schraube (von gehärtetem Chresim) dem Körper eine Geschwindigkeit erteilte, deren Richtung durch geschickte Bewegungen beliebig zu lenken war. Die treibende Kraft gab eine Büchse voll flüssigen Sauerstoffs, den man bei sehr tiefer Temperatur durch einen ungeheuren Druck bis zur Kondensation komprimiert hatte und nun als lang anhaltenden Kraftvorrat verwenden konnte. Jeder hatte natürlich seine Luftschwimmschule durchgemacht, und die Eleganz des Fliegens galt nicht nur als ein Zeichen guter Erziehung, sondern war auch eine wichtige Bedingung zum Fortkommen in der Welt.

Aus dem Fenster eines großen Gebäudes im mittleren Deutschland bewegten sich in bequemem Fluge zwei Herren. Es waren Typus Propion, den wir schon während seines Besuches bei Direktor Strudel kennen gelernt haben, und sein Schwager Atom Schwingschwang, ein Chemiker von großem Rufe. Propion war Besitzer der Eiweiß- und Fettfabrik, aus welcher sie jetzt kamen. Diese so genannten organischen Körper wurden dort, wie schon erwähnt, in reichem Maße und auf sehr billige Weise direkt aus den Elementen dargestellt. Wasser, Luft, kohlensaurer Kalk waren die hauptsächlichsten Rohmaterialien, aus denen man Sauerstoff, Wasserstoff, Stickstoff und Kohlenstoff gewann und zu wohlschmeckendem künstlichen Fleisch und Brot verarbeitete.

Propion hatte Funktionata, Atoms Schwester, geheiratet, und Atom verkehrte täglich in seinem Hause und leitete die eigentlich wissenschaftliche Seite der Fabrik. In lebhaftem Gespräch flogen jetzt beide der Wohnung Propions am Gestade der Nordsee zu.

»Ich muss dir Recht geben«, sagte Propion, »die Fabrik bedarf der Erweiterung, und zwar speziell zur Sauerstoff-Fabrikation. Denn ich bin überzeugt, sein Preis wird bald bedeutend steigen, er wird ein täglicher Verbrauchsartikel werden; sein Verhältnis zum Stickstoff der Atmosphäre gestaltet sich jährlich ungünstiger, seitdem wir Pflanzenwuchs nur noch in einigen Gebirgsgegenden Zentralafrikas und Asiens sowie des Nordkontinents besitzen. Übrigens müssen wir dann auch an ein anderes Herstellungsverfahren des Sauerstoffs denken, wenn wir ihn nicht mehr einfach aus der Luft erhalten können, sei es nun durch Lösen von Luft in Wasser vermöge der verschiedenen Löslichkeit von Sauerstoff und Stickstoff in demselben, sei es durch die Diffusion oder sonst wie.«

»Das wird bald gefunden sein«, fuhr Atom fort, »Wir brauchen ihn nicht gerade aus der Luft zu filtrieren. Mache dir keine Sorge, die Pflanzen sollen darum nicht geschont werden. Nichts törichter als diese Klagen der Romantiker um ihre grünen Pflänzchen. Das mochte einen Sinn haben, als man der Pflanzen bedurfte, zur Nahrung sowohl als zur Regelung der atmosphärischen Verhältnisse. Für diese haben wir jetzt besser gesorgt. Wozu also diese Winkelexistenzen ihr Dasein fortfristen lassen, während wir den Platz so nötig brauchen? Sie mögen ihre historische Bedeutung behalten, aber als solche gehören sie ein für allemal in das Gebiet der Paläontologie, in die Museen und wissenschaftlichen Gärten.«

»Gut, dass dich Kotyledo nicht hört«, antwortete Propion, »er wäre unglücklich. Ich habe ihn übrigens lange nicht gesehen. Er meidet mein Haus seit einigen Wochen, und ich glaube, Funktionata trägt die Schuld. Was ist zwischen ihnen vorgefallen?«

Atom gab eine ausweichende Antwort.

»Wer weiß«, sagte er, »was Funktionata wieder berechnet hat. Kotyledo teilt dasselbe Schicksal wie sein Steckenpferd, die Pflanzenwelt. Er gehört zu jener Menschenklasse, die auf den Aussterbe-Etat der Natur gesetzt ist; und ich muss gestehen, ich halte es einfach für Pflicht der Majorität, über solche Leute rücksichtslos hinwegzuschreiten. Ich habe mit ihm neulich ein Gespräch über seine Zukunft gehabt, vielleicht habe ich ihn verletzt. Solche Gemütsmenschen bleiben im Einzelnen für unsereinen unberechenbar, trotz Funktionatas Formeln.«

»Ihr habt von Lyrika gesprochen?«, fragte Propion.

»Nur indirekt. Du weißt, ich vermeide dies Gespräch, insbesondere mit Kotyledo. Es ist der einzige Punkt, wo mir mein überlegender Verstand versagen kann und ich Gefahr laufe, dass die unlogischen Partien des Gehirns zum Vorschein kommen. Lieber gehe ich dem Reize überhaupt aus dem Wege.«

»Sich dich nur vor, Atom, dass nicht hier doch deinem Verstande ein Streich gespielt wird. Lyrika gehört nicht zu den logischen Naturen, und ich bin überzeugt, dass Kotyledos Winkelexistenz bei ihr den richtigen Winkel zur Existenz gefunden hat.«

»Das macht mir keine Sorge«, erwiderte Atom. »Es wäre traurig, wenn diesen blinden Gewalten des Gefühls nicht das Licht des Erkennens gewachsen wäre. Ich hoffe, dir bald die Überlegenheit rationaler Berechnung durch die Ereignisse der nächsten Tage beweisen zu können.«

Eine kurze Pause war eingetreten. Dann begann Propion wieder: »Gut, wir wollen abwarten. Aber ich habe eine andere Frage auf dem Herzen, Atom. Sage, wie weit bist du heut mit deinen Privatuntersuchungen über das Diaphot gekommen?«

»Sie machen rüstige Fortschritte, obwohl die Arbeiten im Zentraltunnel meine beste Zeit in Anspruch nehmen. ich hoffe, in den nächsten Tagen eine erste Veröffentlichung wagen zu können. Pflanzenfaser und Muskelbündel erhalten durch meinen neuentdeckten Stoff vollständige Durchsichtigkeit und Farblosigkeit, und der lebende Organismus absorbiert das Diaphot rasch. Ein Kaninchen, das ich damit fütterte und zugleich äußerlich einrieb, erschien nach drei Stunden als reines Skelett, indem alle übrigen Teile außer den Knochen vollständig durchsichtig geworden waren. Es zeigte jedoch noch einige Farbenzerstreuung und Brechung des Lichtes, weil seine optische Dichtigkeit von der der Luft noch ein wenig verschieden war. Als ich aber noch drei Prozent Homorhachion zusetzte, erhielt ein zweites Kaninchen ganz genau den Brechungskoeffizienten der Luft, sodass man durch das Auge absolut nichts von dem Körper wahrnahm. Ich tränkte meinen Rock mit der Flüssigkeit und kann ihn nun leider nicht mehr tragen, denn jeder wurde glauben, ich sei in Hemdärmeln.«

»Das ist brillant«, rief Propion, »eine Entdeckung von kolossaler Tragweite. Denke an die Medizin!«

»Und ich möchte noch weitergehen. Ich hoffe, auch die Knochen durchsichtig machen und ihnen die Brechbarkeit der Luft geben zu können. Wenn man dann erst ein Mittel hat, das Diaphot wieder aus dem Körper zu entfernen, so kann man sich ohne Gefahr völlig unsichtbar machen. Es ist aber vorläufig ein gefährliches Experiment, und seine Folgen müssen erst näher untersucht werden. Ich möchte daher auch diese letzte Konsequenz womöglich geheimhalten.«

»Das ist richtig«, meinte Propion, »aber es ist nicht Sitte. Doch wir werden ja sehen.«

»Nicht sehen vielmehr.« Atom lachte. »Nun, ich hoffe, morgen schon mehr zu wissen.«

Wohlgelaunt näherten sie sich indes mit großer Geschwindigkeit der Wohnung Propions.

Im Wohnzimmer, einem hohen und geräumigen Saale, der in weiten, bis zum Fußboden reichenden Bogenfenstern nach dem Hofe sich öffnete, sagen Funktionata, die Gemahlin Propions, und ihre Freundin Lyrika, die wohlbekannte Psychistin. Die großen Scheiben von klarem, biegsamem Chresim, welche bei kühlem Wetter die Fenster luftdicht schlossen, waren aufgerollt und öffneten der milden Sommerluft den Weg ins Zimmer.

Lyrika blickte in den Hof hinaus, welcher von einer Reihe in fantastischen Formen wogenden Lichtwolken begrenzt war, es waren verdünnte, in biegsamen, durchsichtigen Chresimröhren strömende Gase, die im prächtigsten Farbenspiel im Feuer des elektrischen Funkens glühten und eine gewöhnliche Zierde der an die Stelle der Gärten getretenen Höfe und öffentlichen Plätze bildeten. Neben Lyrika saß Funktionata und arbeitete mit Muße an der Integrationsmaschine. Funktionata war nämlich Mathematikerin; die Arbeiten der größten Meister hatten es dahin gebracht, dass ungeheure Rechnungen, welche sonst das Leben eines Einzelnen ausgefüllt hätten, durch die Integrationsmaschine in wenigen Stunden und ohne jede Anstrengung des Denkens ausgeführt werden konnten. Die Methode der symbolischen Bezeichnung gestattete, die Arbeit zu einer mechanischen zu machen und jedes beliebige System von Differenzialgleichungen durch komplizierte Kombinationen des Maschinenwerks zu lösen, sodass die gesamte geistige Kraft des Forschers auf die Aufstellung der Probleme, ihre Darstellung in mathematischer Sprache und die Deutung der Integrale, unterstützt durch vorzügliche Tabellenwerke, verwandt werden konnte.

Jetzt unterbrach Funktionata ihre mathematische Handarbeit und folgte mit ihrem Auge den Blicken Lyrikas, welche Funktionatas dreijährigem Knaben Selen zusah. Dieser sollte, wie wir wissen, von morgen an die Hirnschule besuchen und machte jetzt unter Leitung eines Fliegmeisters seine Fliegübungen vor dem Fenster. Der Lehrer hielt den Kleinen an der Leine und lehrte ihn die Geschwindigkeit seiner Schraube regeln und Wendungen nach rechts und links, oben und unten ausführen.

Die glückliche Mutter lächelte, während sie die gewandten Bewegungen ihres kleinen Selen mit Interesse verfolgte, und zärtlich drückte sie die Hand Lyrikas, die jetzt wieder traurig und fast teilnahmslos in die Ferne starrte. Die schönen Verse ihres Lieblingsdichters, eines der modernsten Lyriker, welcher die zeitgemäße Staffage der Natur an Stelle des veralteten Blütenduftes und Waldesrauschens zu setzen verstand, kamen ihr in den Sinn:

Der Netzhaut Stäbchenscharen
Erbeben in leisem Schwang –
Ob in die Kapillaren
Das Blut nur stärker drang?

Was will dein sanftes Wallen,
Zart glühendes Hydrogen?
Ach, seine Schrauben hallen
Nicht mehr bei deinem Wehn. Ein Lyriker des. 19. Jahrhunderts hätte vielleicht gesagt:

Es gehen meine Tage
In Traumgebilden hin,
Nur meines Herzens Klage
Sagt, dass ich wachend bin

Was kommst du, Wind, mit Rauschen
Vom grünen Wald daher?
Ach, seinen Schritten lauschen
Werde ich nimmermehr.

So sang sie leise vor sich hin.

»Lyrika, sei mir nicht böse, liebe Lyrika«, erweckte Funktionata sie aus ihren Träumen. »Ich musste offen zu dir sein. Kotyledos Untergang ist unvermeidlich, die Formeln sprechen unwiderlegbar. Hier sind meine Rechnungen, ich stelle sie dir zur Verfügung, prüfe sie selbst. Sieh, dieser ganze Ausdruck wird imaginär; und hier die Zahlenbestimmung: in 623,7 Tagen zerfällt der Molekularkomplex C in der Rindenschicht des Gehirns Kotyledos. Es ist kein Zweifel.«

»Lass mich, Funktia!«, erwiderte Lyrika. »Deine Rechnung will ich nicht sehen; du weißt recht gut, dass es nur wenige gibt, die sie zu verstehen im Stande sind, und ich am wenigsten; was ich als Kind davon gelernt habe, ist zum größten Teil vergessen. Ich glaube dir; ich muss dir ja glauben. Aber es ist entsetzlich; armer Kotyledo – erst jetzt fühle ich, wie wert er mir war.«

»Aber du wirst doch selbst einsehen, dass es eine unaussprechliche Torheit wäre, eine Verbindung begünstigen zu wollen, die in noch nicht zwei Jahren mit Kotyledos sicherem Wahnsinn und Tode endet. Nur dein Verzicht kann ihn retten. Meine Formel ergibt in diesem Falle ein bedeutendes und im Allgemeinen beglücktes Leben für ihn – soweit ich eben im Stande bin, Prämissen in meine Rechnung einzuführen. Und ich muss es dir gestehen, auch für dich kann ich ein Glück nur dann erkennen, wenn du deine Neigung einem anderen schenktest.«

»Funktionata!«

»Ja, liebe, beste Lyrika. Du willst sagen, das kannst du nicht? – Das wird die Zukunft lehren! Ich kann es schon vermuten, und Kotyledo – hat ja seine Hoffnungen selbst aufgegeben. Atom hat ihm meine Berechnungen auseinander gesetzt. Freilich hält er sich noch an dich gebunden, obwohl er nie ein Wort der Werbung ausgesprochen hat; aber er weiß, dass du von seinen Gefühlen gegen dich überzeugt bist. Deshalb hält ihn seine strenge Gewissenhaftigkeit fest bei dir, obgleich er auch weiß, dass seine Erhöhung durch dich seinen Untergang zur Folge hat. Deine Pflicht ist es, ihm seine Freiheit und damit sein Leben zurückzugeben, indem du ihn mit aller Bestimmtheit und selbst gegen den Wunsch deines Herzens abweisest. Und vielleicht kannst du noch ein zweites Leben beglücken. Atom...«

»Sprich mir nicht von deinem Bruder«, fuhr Lyrika auf. »Er ist es, der an diesem ganzen Kassandra-Unheil schuld ist. Ohne ihn wärest du nie auf den Gedanken gekommen, Kotyledos Lebensgleichungen zu diskutieren; ohne ihn wären wir beide blind und glücklich geblieben.«

»Blind – ja, aber glücklich? Wie lange wohl? Eben die Sorge um dich, die Liebe zu dir allein trieb Atom dazu, den Schleier deiner Zukunft zu heben.«

»Und ich will keine Liebe, die erst ihre Formeln berechnen muss! Ich will in den Angelegenheiten meines Herzens frei sein, wenigstens für mein Bewusstsein, ich will dies Ideal wenigstens herausretten aus dem Mechanismus dieser Welt – ich will nichts wissen, will nur hoffen und fürchten!«

»Mama, Mama!« ertönte in diesem Augenblicke die helle Stimme Selens, der zur Nebentür des Zimmers hereingesprungen kam, den Flieggürtel noch um die Hüften; nur die hindernde Schraube hatte er abgelegt. »Meine Fliegstunde ist aus, ich kann schon auf dem Rücken fliegen. Guten Tag, Tante Lyrika, ich kann schon auf dem Rücken fliegen, und heut abend mache ich die Freiprobe.«

»Gut, mein Selen«, sagte die Mutter.

»Aber sieh, Mama, da kommt der Papa«, rief der Knabe weiter. »Papa und Onkel Atom! Guten Tag, Papa! Ich kann schon auf dem Rücken fliegen.«

»Und morgen«, sagte Propion, indem er den durch den Schwimmgürtel gewichtslosen Knaben sanft an demselben in die Höhe hob und küsste, »morgen wirst du zum ersten Mal in die Hirnschule gehen.«

»Hurra«, rief Selen, »in die Hirnschule! Bekomme ich da auch einen Kant, wie Vetter Tineol, der immer so groß damit tut?«

»Später, später, mein Sohn«, sagte Propion, indem er, während der Knabe weiter plauderte, seine Frau und Lyrika herzlich begrüßte. Förmlich erwiderte letztere Atoms Gruß, der, da er noch im Flieganzuge war, nach der Sitte der Zeit die Beine zum Willkomm kreuzte.


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