Kurd Laßwitz
Traumkristalle
Kurd Laßwitz

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Die entflohene Blume

(1910)

Eine Geschichte vom Mars

»Was fehlt dir denn, mein Dukchen?« sagte die kleine Ha. »Willst du mehr Sonne haben, oder soll ich dir ein Wölkchen vorziehen?«

Ha sprach nicht zu einem anderen Kinde oder zu ihrer Puppe, sondern zu einer Pflanze, die mit dunkelroten Blättern und zwei radförmigen Blüten, größer als Has Kopf, in ihrem Zimmer stand. Diese Pflanze hieß Dukchen. Sie wiegte die Stiele ihrer Blätter und Blüten anmutig hin und her und ließ dabei sangartige Töne vernehmen. Und nun verstand Ha, was die Blume ausdrücken wollte.

Dukchen und das kleine Mädchen wohnten nämlich nicht auf der Erde, sondern auf dem Planeten Mars. Dort sind die Bewohner, die Martier, ebenso wie die Pflanzen schon viel weiter vorgeschritten als hier auf der Erde. Die Martier wissen längst, daß die Pflanzen auch beseelte und fühlende Geschöpfe sind, und haben gelernt, ihre Bewegungen und Töne zu verstehen, durch die dort die Pflanzen sprechen vermögen.

»Ich bin traurig«, sang die Pflanze; »ich weiß, daß du es gut mit mir meinst, aber ich war doch eine freie Bergpflanze und bin nun hier gefangen. Ihr habt mich hinweggenommen aus der Blumenschlucht, wo ich mit meinen Verwandten wohnte. Und nun ist meine Blütenzeit wieder da; meine Blüten wollen sich ablösen und ins Freie fliegen, um sich dort ins Erdreich zu setzen und neu zu wurzeln.«

»Aber Dukchen, ich habe mich doch so sehr gefreut, daß ich dich endlich bekam! Nein, ich kann deine Blüten nicht herauslassen. Aber ich will dir frische Erde hersetzen, daß sie wurzeln können.«

»Nein, Ha, das würde mir nichts nützen. Sie müssen ins Freie, und wenn du mich nicht hinaus läßt, so müssen sie ohne deine Erlaubnis fortfliegen.«

»Das duld' ich nicht, Dukchen. Fenster und Türen sind geschlossen. Aber ich will dir gleich frischen Boden verschaffen. Sei nur brav!«

Ha lief hinaus. Nach längerer Zeit kehrte sie zurück, gefolgt von ihrem um drei Jahre älteren Bruder Hei, der eine große Kiste mit Erde herbeischleppte. Während es noch beschäftigt war, diese durch die Tür zu schaffen, vernahm er plötzlich, daß Ha einen Schrei ausstieß, und über ihn hinweg flatterte es wie zwei große, gelb und grün leuchtende Vögel. Es waren die Blüten von Dukchen, die sich inzwischen abgelöst hatten. Sie flogen mit dem abgelösten Ende des Kelches voran, die Luft zerteilend, und wirbelten aus sich selbst, so daß ihre steifen, schräg gestellten Blütenblätter wie eine Schraube wirkten und ihre langen Staubfäden hinterher zogen und als Steuer dienten. Das ging um so besser, als auf dem Mars die Schwerkraft nur ein Drittel so groß ist wie auf der Erde.

Ha begann zu weinen, aber der Bruder hatte schon den Kasten hingestellt und rief: »Komm schnell, Ha, wir fangen sie wieder ein. Mein Kletter-Auto, mit dem ich eben aus der Schule kam, steht noch fix und fertig draußen. Komm wie du bist, es ist alles drin, was wir brauchen.«

Eilends stürmten die Kinder in das Fahrzeug. Hei lenkte, Ha saß neben ihm. Das Haus lag, wie alle Privathäuser der Martier, fern von den großen Geschäftsstraßen im Freien zwischen Parkanlagen. Die Blüten waren freilich nicht mehr zu sehen. Aber Hei tröstete die Schwester: »Ich weiß, woher die Pflanze stammt, dahin fliegen die Blüten unbedingt, in das Bergloch auf der Wüste Burr.«

Hei vermied die großen Industriebezirke des Mars und lenkte das Auto nach der Grenze der bewohnten Niederung, wo sich steil die kahlen Felsen erhoben, die zur Hochebene der Wüste Burr hinaufführten.

Es war ein merkwürdiges Ding, das Kletter-Auto. Räder hatte es nicht; am ehesten hätte man es mit einem riesigen Insekt vergleichen können, das die stattliche Länge von drei Metern besaß. Denn es lief auf drei Paar Beinen und galoppierte darauf über die Ebene viel schneller als ein Rennpferd. Es brauchte dazu keine gebahnten Wege. Auch jetzt, als es den felsigen Abhang des Gebirges hinaufklomm, kletterte es mit seinen sechs Beinen schnell und sicher in die Höhe. Zuletzt aber kam eine fast senkrechte Felsmauer, die ein Alpinist nur mit großer Mühe und mit Hilfe des Seils bewältigt hätte. Aber auf einen Handgriff Heis richtete sich das Auto auf den Hinterbeinen empor, während der schaukelartig herabhängende Sitz sich von selbst einstellte. Die langen Vorderbeine vorstreckend, schritt es auf die Wand zu, wo es sich mit den Fußenden festsaugte, in die Höhe zog und dann mit den übrigen Beinen sich ebenso festhielt und aufwärts schob. So kletterte es wie eine Wespe an der Wand empor. Nun war die Hochebene erreicht, und es ging wieder im Galopp vorwärts, bis Hei vorsichtig vor einer tiefen, trichterförmigen Einsenkung halt machte. Steil senkte sich hier der Boden, in bunten Farben leuchteten die Wände der Senkung. Die Reisenden befanden sich vor einer der Pflanzenoasen der Wüste Burr, in denen sich das ganze Jahr hindurch Feuchtigkeit sammelte und hielt.

»Hier unten wohnen die Dukchen«, sagte Hei. »Die Blüten haben wir natürlich überholt, ohne sie zu sehen, da sie sehr hoch geflogen sind. Aber ehe wir hinunterkommen, werden sie schon anlangen und sich festsetzen, denn sehr lange halten sie es in der Luft nicht aus. Wir können auch nur ein kleines Stück mit dem Auto hinab, dann fängt das dichte Gebüsch an, und wir müssen zu Fuß klettern. Ich kenne den Platz, wir waren voriges Jahr mit unserem Naturlehrer hier.«

»Ach«, rief Ha, »als du die eßbaren Steine mitbrachtest? Die will ich auch suchen, die schmeckten zu gut!«

»Wir wollen sehen.«; –

Am Gebüsch angelangt, verließen die Kinder den Wagen und kletterten zwischen Sträuchern und Steinen abwärts. An einer Stelle zeigte sich eine Felsenspalte. »Hier geht's hinein«, sagte Hei lächelnd.

»Zu den Dukchen?« fragte Ha.

»Nein, zu; –« Hei machte eine Pantomime, als stecke er etwas in den Mund.

»Eßsteine! Ach, bitte, bitte!«

Die Spalte erweiterte sich zu einer geräumigen Höhle, die von oben her Licht erhielt. Hei suchte an den Seitenwänden, dann brach er eine Platte des mürben, schieferartigen Gesteins ab. »Da«, sagte er, »du mußt es in kleine Stücke zerbrechen.«

Ha griff eifrig zu. »O, fein, fein! Herrlich schmeckt das. Woher kommt der Stein?«

»Vor vielen Millionen Jahren wuchsen hier große Wälder mit vielen, vielen Blüten; dort legten zahllose Bienen große Vorratskammern von süßem Saft an. Später wurden die verschüttet, es kamen die trocknen Wüstenzeiten, der Saft wurde fest, und er hielt sich – er ist sozusagen versteinerter Honig.«

Die Geschwister erquickten sich an den Steinen und sammelten eine reichliche Menge. Denn kehrten sie in die Senkung zurück und stiegen weiter hinab.

Hei hatte eben eine rot leuchtende Stelle vor ihnen, die Blumenschlucht, als den Standplatz der Dukchenpflanzen bezeichnet, da rief Ha, sich umblickend, plötzlich: »Sieh, was von dort oben herabfliegt, sind das nicht –?«

»Gewiß, das sind unsere Blüten. Warten wir, bis sie vorüber sind.«

»Aber da unten, was ist denn dieses Graue, das da hervorkriecht?« Hei starrte hin. Vom Grunde des Trichters her schob sich eine graue Masse und zog sich um die ganze Einsenkung wie ein schlangenförmiger Wulst herum. Von dort wälzte sie sich höher und höher. »Um Gotteswillen!« stöhnte Hei. Er ergriff Has Hand und zog sie nach sich. »Nach oben, so schnell uns die Füße tragen!«

»Was ist, was ist?«

»Der Tiefenwurm! Es kann nichts anderes sein. Wenn er uns einholt, sind wir verloren! Wir müssen das Auto erreichen!«

Es gab keine Zeit zu Erklärungen. Beide rannten, so schnell sie konnten, den Abhang hinauf. Aber schneller noch war der Tiefenwurm. Zu gewissen Zeiten quellen vom Grunde des Bergkessels her Nebel empor, mit Gasen vermischt, die der Mensch nicht einatmen kann, ohne zu ersticken. Da sie ähnlich einer riesigen Schlange am Abhange hinkriechen, nannte man sie den Tiefenwurm. Hei hatte zwar davon gehört, glaubte aber, daß sie nur am frühen Morgen aufstiegen.

Näher rückte die Masse. »Ich kann nicht mehr!« rief Ha. Sie stürzte. Hei versuchte sie auf den Arm zu nehmen. »Nur noch ein paar Meter, dann sind wir am Auto!« Er warf einen Blick rückwärts. Da wehte es heran, eisig – jetzt war es da – zwei Schritte noch, da brach er mit der Schwester zusammen. – – Der Tiefenwurm kroch über die Kinder hinweg.

Wenige Minuten später war die Stelle wieder frei. Der Nebel erreichte den Rand der Einsenkung und verlor sich unschädlich in der Wüste.

Die Kinder lagen bewußtlos, nahe an ihrem Kletter-Auto. Aber seltsam – ihre Gesichter waren völlig bedeckt, jedes von einer großen, dichten, gelb- und grünschimmernden Haube. Jetzt bewegten sich diese Hauben, sie lösten sich ab, die Kinder begannen wieder zu atmen – jetzt schlugen sie die Augen auf – sie waren gerettet. Die fliegenden Dukchenblüten hatten die Kinder bemerkt und die Gefahr, in der sie schwebten. Den Pflanzen schadet der Tiefenwurm nichts, im Gegenteil, sie gedeihen gerade in diesen Gasen. Da hatten sich die Blüten im rechten Augenblick auf die Kinder gestürzt und ihr Gesicht bedeckt und geschützt, so daß sie nur den heilsamen Duft der Blüten atmeten.

»O, ihr lieben Blüten, du liebes, liebes Dukchen!« sagte Ha, als sie zur Besinnung kam. »Ihr habt uns gerettet, und wir wollten euch fangen! Nein, nie wieder wollen wir einer Pflanze die Freiheit rauben! Das verspreche ich euch«, sagte Hei. »Habt Dank, habt Dank!« – –

Das Auto galoppierte mit den Kindern davon; noch einmal winkten sie oben vom Rande der Schlucht.

Die Blüten aber flogen hinab und siedelten sich fröhlich in ihrer Heimat an.


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