Kurd Laßwitz
Traumkristalle
Kurd Laßwitz

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Die drei Nägel

Heide und Kiefernwald rechts und links – die Heide gedörrt von der Julisonne, der Wald weithin verkrüppelt vom Raupenfraß – mitten durch eine endlose gerade Doppellinie, darauf jagt donnernd eine Wolke von Rauch und Staub – –

Der Eilzug hat seine größte Geschwindigkeit angenommen, als wollte er dieser Gegend so schnell wie möglich entfliehen. Endlich taucht es von ferne auf wie Hügel, einzelne Fichten mischen sich unter die Kiefern, ein einsames Wärterhaus huscht vorüber wie ein flüchtiger Streif – jetzt ein paar kurze Stöße – dann verdeckt ein Einschnitt die Aussicht – –

»War hier eine Station?« fragt ein Reisender, aus seinem Schlummer auffahrend.

»Nur eine Weiche«, sagt der Herr ihm gegenüber. »Die Strecke ist umgebaut, die Kurve war zu eng für den Schnellzugverkehr.«

»Sie kennen diese Gegend?«

»Ich denke – habe das ganze Frühjahr hier gelegen. Übrigens ganz nette Wohnung beim Förster. Jetzt muß ich wieder her. Morgen geht die Vermessung hinter Schrobeck an.«

»Schrobeck?« fragt der erste. »Was ist das?«

»Die Ruine dort oben – wenn Sie zurückblicken – sehen Sie? Eben ist sie vorbei.«

»Habe noch nie davon gehört.«

»Kennen Sie nicht die Sage von den Nägeln von Schrobeck? Es haust ein Gespenst da oben.«

»Mache mir nichts aus solchen Sagen, es ist eine wie die andere« brummte der Reisende und lehnte sich wieder zurück.

»Habe auch keine Zeit mehr, sie zu erzählen,« sagte der Baumeister seinen graublonden Vollbart zurechtzupfend. »Muß gleich aussteigen.«

Und er schickte sich an, seinen leinenen Staubmantel zusammenzupacken.

In der Gegend wußte jedes Kind, was es mit der Ruine auf sich hatte. Es gab freilich nicht viele Kinder hier herum, ausgenommen die beim Förster und bei den paar Holzhauern drüben in Niederstein. Es gab überhaupt nicht viele Leute in der Gegend, sie alle aber wußten es, daß der letzte Ritter von Schrobeck verhext war, als grauer Zwerg umzugehen bis auf den heutigen Tag, und sie wußten auch, wie er erlöst werden könnte. Und wem das gelang, der machte sein Glück. Seltsam, daß es noch keinem gelungen war – – aber nicht jeder hatte die Eigenschaften, die dazu gehörten, oder die Umstände trafen nicht zusammen, oder es war etwas bei der Beschwörung versehen worden, oder – ja, das mochte es wohl eigentlich sein, was die Leute abhielt – sie glaubten selbst nicht recht an die Geschichte, die sie jedermann zu beteuern bereit waren.

Es war aber ganz einfach.

Man mußte nur, wenn der Mond schien, in der Nacht des achten Sonntags nach Trinitatis zur Ruine Schrobeck hinaufsteigen, dort vor der Tür des verfallenen Turmes ein Tuch auf die Erde breiten, an die Mauer klopfen, dann langsam neun Schritte rückwärts gehen und dreimal rufen: »Drei und frei!« Wenn man dies, mit der gehörigen Zwischenpause, zum dritten Male gerufen hätte, so würde unweigerlich der Herr von Schrobeck in Gestalt eines grauen Zwerges erscheinen und auf das Tuch die drei goldenen Nägel legen, deretwegen er verflucht worden war. Er hatte sie nämlich einst, um sie zu verspielen, aus dem Sarge seiner Ahnfrau gezogen. Wer aber diese drei Nägel besaß, der hatte damit drei Wünsche frei. Wenn er einen Nagel fortwarf und dabei einen Wunsch aussprach, so geschah sofort, was er wollte. Und beim Fortwerfen des dritten Nagels wäre dann der Geist erlöst gewesen.

 

Der Bahnwärter an dem einsamen Häuschen war ein alter Mann. In die neuen elektrischen Apparate an den Blockstationen hatte er sich nicht mehr finden können. So hatte man ihm hier einen Posten gegeben, wo er nicht viel anders zu tun hatte, als regelmäßig seine Strecke abzugehen.

Jetzt stand er mit seiner zusammengerollten Signalfahne im Arm neben dem Wärterhäuschen, als der Eilzug vorüberbrauste. Sein Blick war mit ängstlicher Spannung auf jedes Fenster der Wagenreihe gerichtet, ob nicht eines sich öffnete, ob nicht ein Tuch herauswinkte – es kam kein Zeichen. Und nun folgte sein Auge dem letzten Wagen, dessen Rückseite im Enteilen sich rasch zusammenzog, bis er im nächsten Einschnitt entschwand.

Lange noch stand der Wärter in die Ferne starrend – nur zuweilen hob sich seine Brust stärker unter einem Seufzer – –

Wie viel Hunderte von Menschen fliegen hier jeden Tag an ihm vorüber! Am Morgen haben sie die Sonne über dem Meere aufgehen sehen, am Abend wird sie ihnen von Schneegipfeln widerleuchten, vor wenigen Stunden rauschte um sie der Lärm der Großstadt, – er aber stand unmittelbar neben dem Weltverkehr einsam und abgeschnitten von der Lebenswelle. Nichts drang zu ihm als das eintönige Signal der Glocke und das Gerassel der Räder, und sie brachten ihm keine Nachricht. Er sah nach der Uhr. Längst mußte der Zug die nächste Station erreicht haben. Ob er einen Brief mitgebracht hatte? Über drei Stunden hatte der Bote von dort bis zu ihm zu gehen, und heut' am Sonntag ging er überhaupt nicht.

»Paul«, rief es aus der offnen Tür der Hütte.

Er trat ein. Auf dem alten Lehnstuhl an dem kleinen Fenster saß eine müde Frau mit grauem Haar und vergrämten Zügen. Sie blätterte in einem Kalender.

»War er nicht darin?« fragte sie.

Der Mann schüttelte den Kopf.

»Er hätte gewiß herausgewinkt«, sagte sie. »Ich ängstige mich Tag und Nacht. Es sind schon über vier Wochen, daß der Brief kam. Gestern waren's vier Wochen, und in vier Wochen wollt' er bei uns sein. Mit Frau und Kind. Das liebe Würmchen – ach! Und alle Not hat ein Ende!«

»Ich glaub's nicht, ich glaub's nicht!« sagte der Mann und setzte sich schwer auf die Bank am Ofen. »Es wäre zu viel Glück. Ich kann deinen Traum nicht los werden von dem verunglückten Zuge.«

»O Gott, o Gott, noch im letzten Augenblick, wenn wir ihn da verlieren sollten, unsern Otto! Zwölf Jahre ist er fort, zehn Jahre haben wir nichts von ihm gehört, bis jetzt vor vier Wochen. Es geht ihm gut, er kommt wieder, und jetzt sollten wir ihn verlieren? 's ist wahr, es droht ihm ein Unglück, – aber man kann es abwenden. Du weißt meinen andern Traum, den vom grauen Zwerge. Das bedeutet jedesmal etwas Gutes, wenn ich den träume. Und du solltest es doch tun!«

»Es ist ja Unsinn, laß mich in Ruh' damit.«

»Und wenn's Unsinn wäre – schaden kann es doch nichts. Heut' ist der Achte nach Trinitatis, es ist Mondschein, Vollmond, heute könnt' doch sein mit dem Schrobeck. Und wenn's nicht ist, so war's ein Spaziergang.«

»'s ist eine Versuchung.«

»Du solltest es doch riskieren. Wenn ich nur laufen könnte, ich tät's gleich. Aber mit dem Hinkefuß – ich komm' nicht mehr den Berg 'nauf.«

Sie schwieg. Dann ging sie wieder an: »Daß es gerad' so zusammentrifft, der Tag und der Mondschein, und gerad' mit unserm höchsten Wunsche! Ich kann nicht davon los. Wenn du die goldnen Nägel bekommst, dann kannst du gleich wünschen, daß der Otto gesund hier ist. Dann kann ihm nichts mehr geschehen. Tu's zu meiner Beruhigung!«

»Alte, du weißt, ich glaub' nicht dran, darum nützt es auch nichts. Ich tät' mich nur schämen vor mir selbst.«

»Tu mir's zu Liebe, ich glaub' dran.«

»Wenn der Traum nicht wäre, ich dächt' überhaupt nicht dran. Deine Träume freilich, damit hat's etwas an sich, das ist schon wahr. Aber ich kann auch nicht fort von der Strecke.«

»Heute kannst du schon. Der Güterzug fällt heute aus, und der Kurierzug kommt erst um zwei. Um eins schon kannst du längst wieder hier sein.«

Der Mann stopfte sich eine Pfeife und schwieg.

»Der Flischke war auch wieder hier«, begann die Frau aufs neue. »Ich glaube, er war angetrunken, er schimpfte. Und hinten am Busch wartete der braune Michel auf ihn. Die Kerle haben was vor. Er wollte dir's eintränken, sagte der Flischke, du hättest ihn aus dem Dienst gebracht. Auf deiner Strecke könnt' auch mal was passieren.«

»Es ist nicht wahr, daß ich ihn angezeigt hab', aber er hat nie richtig seinen Dienst getan. Du siehst, nun kann ich schon recht nicht fort, wenn die schlechten Kerle in der Gegend lungern. Daß sie den Michel wieder herausgelassen haben, ist ein wahres Unglück.«

»Es kann ja nichts passieren. Du bist wieder da, um deine Strecke abzugehen, mehr kannst du nicht tun. Und nun mußt du erst recht zum Schrobeck. Wenn du die Nägel hast, kann dir der Flischke nichts anhaben, und der Otto kommt morgen glücklich nach Hause. Tu's doch, Paul, tu's dem Otto zuliebe!«

»'s ist ja doch Unsinn«, brummte der Mann in den Bart. Aber er sagte es nicht mehr laut.

Mit ungewissem Dämmerschein lag das Mondlicht über der Hügellandschaft ausgebreitet, die Ebene im Norden verlor sich in nebliger Ferne. Kein Lüftchen regte sich; hin und wieder ein schwaches Wetterleuchten durch die Julinacht.

Silberne Punkte glänzten auf den Efeublättern, die sich um die verfallenen Mauern der Ruine Schrobeck rankten, undurchdringliche Schatten schoben sich zwischen lichte Streifen. Deutlich und klar hob sich die voll beleuchtete Seite des alten Turms ab; nur die Türöffnung gähnte schwarz darin, ein finsterer Eingang in geheimnisvolle Nacht.

Der Bahnwärter stieg schwerfällig über die wankenden Steinstufen des ehemaligen Burghofs. Atemschöpfend lehnte er sich an die Mauer und richtete seine Blicke auf die Öffnung des Turmes. Ein paar Fledermäuse schossen hin und her, sonst kein Laut. Der Mann an der Mauer verharrte lange unbeweglich. Doch jetzt fuhr er erschrocken empor. Aus dem Turm klang ein vernehmbares Poltern, als stürzten Steine herab – ein Schwarm Fledermäuse flog aus der Öffnung – dann wieder blieb es still. Der Wärter raffte sich zusammen und schritt langsam der Tür des Turmes zu. Er fühlte sein Herz schlagen, er wagte nicht, in den Turm zu blicken, als er sein Tuch vor der Tür ausbreitete und dreimal mit einem Stein an die Mauer pochte. Dann ging er langsam rückwärts. Seine Tritte knirschten auf den Kalktrümmern des Bodens, es war ihm, als antwortete ein gleiches Knirschen aus dem Turm. Er zählte halblaut seine Schritte; jetzt blieb er stehen und rief schnell, als wollte er ein ferneres Schwanken selbst abschneiden: »Drei und frei!«

Dumpf hallte der Ton von der Mauer nach. Sonst blieb alles stumm. Nach einer Weile rief er zum zweiten Male. Wieder kein Laut. – Er schüttelte den Kopf über sich selbst – wenn ihn jemand hörte, er mußte zum Gespött werden. Aber wer konnte ihn hier hören? Er dachte an seine Frau, an seinen Sohn, sah fest auf die Turmtür und rief laut zum dritten Male:

»Drei und frei!«

In demselben Augenblick prallte er in furchtbarem Schreck zurück und hielt sich krampfhaft mit den Händen an einem Mauerrest. Die Stille der Nacht unterbrach ein gewaltiges Krachen, eine weiße Wolke erhob sich aus der Tür des Turmes und schwankte gespenstisch im Mondenlicht, und in der Öffnung erschien hell beleuchtet eine graue, zwerghafte Gestalt. Dem Wärter stockte der Atem, er brachte kein Wort aus der Kehle, – nein, er täuschte sich nicht – deutlich erkannte er über dem grauen Mantel der kleinen Gestalt das Gesicht mit dem weißen Barte, den Kopf bedeckte eine graue Kapuze. Der Mann und der Zwerg standen sich ohne Bewegung gegenüber – da erhob der Zwerg langsam den rechten Arm, drei blitzende Gegenstände fielen auf das Tuch und im nächsten Augenblick war die Erscheinung verschwunden.

Schweigen ringsum – die Wolke hatte sich verzogen, die Türöffnung gähnte leer und finster wie zuvor.

Einen Augenblick dachte der Wärter, es ist ein Traum – er ermannte sich und schritt auf das Tuch zu – er sah es darauf glänzen im Mondlicht – das Blut schoß ihm in den Kopf, eine furchtbare Angst ergriff ihn – er wußte nicht mehr, was er tat – er raffte das Tuch zusammen und stürzte fort. Die Steine polterten um ihn bergab, er floh weglos, durch den Wald, bis er den Fuß des Hügels erreicht hatte – da sank er erschöpft auf ein Felsstück und suchte sich zu sammeln. Noch hielt er das Tuch in der Hand geballt, deutlich fühlte er die Nägel darin, aber er hatte nicht den Mut, das Tuch zu öffnen. Immer ging es ihm durch den Sinn – ein Teufelsspuk, es bringt Unglück!

 

Es knackte im Gebüsch – er fuhr auf. Wo war er überhaupt? Nach welcher Seite lag die Bahn? Um Gottes willen – sein Dienst! Es war hohe Zeit, seinen Gang zu machen. Nur jetzt nicht verirren! Er steckte das Tuch in die Tasche und lief vorwärts – hier war dichtes Unterholz, hier kam er nicht durch, er mußte umkehren. Der Angstschweiß rann ihm von der Stirn, er rannte Hügel auf, Hügel ab – endlich, da lag die Bahnstrecke dicht neben ihm. Er kletterte hinab und stand auf dem alten Geleise. Aber nun war's nicht mehr weit zu der Weiche, die er zuerst revidieren mußte. Sie führte vom neuen auf das alte Geleise, auf welchem vor dem Umbau die Züge in enger Kurve gelaufen waren. Jetzt hatte man darauf, einige hundert Schritt weiterhin, einen Steinbruch angelegt, woraus Baumaterial abgefahren wurde. Deswegen war das Geleise bis dorthin erhalten worden.

Als der Wärter sich der Weiche näherte, befiel ihn ein neuer Schrecken. Die Laterne war verlöscht. Er erkannte deutlich, daß die Weiche auf das tote Geleise eingestellt war. Ein Mensch machte sich überdem an dem richtigen Geleise zu tun. Der Wärter rief ihn an.

Im selben Augenblick fühlte er sich rückwärts ergriffen, von vorn sprang der Mann vom Geleise herzu, und ehe er wußte, wie ihm geschah, war der erschöpfte Wärter überwältigt, gebunden, am Schreien durch einen Knebel gehindert. Es war offenbar alles sorgfältig vorbereitet. Die beiden Männer schleppten den Gebundenen ein Stück seitwärts in den Wald nach dem neuen Geleise zu und ließen ihn dort liegen, indem sie ihm höhnisch gute Nacht wünschten.

In ohnmächtiger Wut riß er an seinen Banden. Vergebens! Furchtbare Bilder jagten durch seine Seele. Höchstens noch eine Stunde, dann mußte der nächtliche Eilzug kommen. Er mußte auf das tote Geleise fahren, in den Steinbruch stürzen! Und mit ihm vielleicht sein Sohn – gewiß! – – Und keine Hilfe?

Er wand sich hin und her, bis ihm die Kraft versagte. Dann wieder lag er still, zermarterte sein Hirn – er betete aus tiefster Seele – nichts rührte sich um ihn.

Weiter und weiter rückte der Mond durch die Zweige – keine Hilfe? – Noch einmal! Sollten die Stricke sich nicht lockern lassen?

Er zerrt seine Hand gewaltsam empor und fühlt einen scharfen Schmerz, die Haut wird geritzt – Ach! Die Nägel! Die Nägel – jetzt erst erinnert er sich wieder daran – wenn es doch wahr sein sollte? – Wenn er einen Nagel fortstoßen könnte!

Er fühlte mit den Fingern – er kann von außen eine Spitze erreichen, sie dringt durch Tuch und Tasche – eine Anstrengung aller Kräfte – er kann den Nagel herausreißen! Ist es denn ein goldner Nagel? Was weiß er – er stößt ihn fort und denkt nur: Wär' ich frei!

Da gleitet sein Arm aus dem Strick, mit dem er an seinen Leib gebunden war, er kann sein Messer erfassen – die Stücke sind durchschnitten, der Knebel entfernt – kaum traut er seinen Sinnen – –

 

So ist es doch wahr! So hat der Zwerg die Zaubermacht bewährt?; –

Frei! Er stürzt nach dem Waldrand. Er kann von hier die Weiche nicht sehen, aber drüben gar nicht weit schimmert das Licht von seinem Häuschen. Vielleicht ist es noch Zeit zu retten, zu warnen!; –

Er springt auf den Bahndamm – Zu spät! Dumpfes Rollen in der Ferne – schon blitzen dort hinten die Lichter des Zuges – keine Minute mehr, und das Unglück ist geschehen.

O könnt' er den Zug aufhalten! Wenn ein Wunder geschähe, daß er stehen bliebe – sonst ist keine Rettung!

In dieser Not greift er nach dem zweiten Nagel.

»Gott verzeihe mir!« murmelt er. »Zug, stehe still!«

Und horch – das Rollen hört auf, der Zug verlangsamt sichtbar seine Bewegung – zwar die Maschine schnaubt noch und arbeitet mit gleicher Kraft, ja noch heftiger, noch rascher stößt sie die Dampfwolken hervor – das Triebrad dreht sich wie rasend, aber die andern Räder stehen still, der Zug kommt nicht näher, er kann die schwache Steigung nicht überwinden, als hinge eine Riesenlast an ihm – nur ganz langsam, lautlos, gespenstisch, kaum merklich gleitet er vorwärts, während der Wärter atemlos ihm entgegenstürzt; –

Jetzt ist er an der Weiche – Wunder über Wunder! Die Weiche steht richtig. Zwar die Laterne brennt noch immer nicht, aber der Wärter überzeugt sich im hellen Mondlicht, die Weiche steht richtig – auf den Schienen kein Hindernis – alles in Ordnung; –

Da, im Taumel des Wunderbaren, denkt er wieder an sich, seines heißesten Wunsches, an seinen Sohn, an das Versprechen, das er seiner Frau gegeben; –

Wenn das Glück kommen soll, so ist jetzt die Zeit – er greift nach dem dritten Nagel, wirft ihn fort und ruft:

»Komm zurück, unser Sohn!«

Und siehe da, der Zug nähert sich wieder, wieder beginnen die Räder zu rollen, die Schienen donnern unter ihnen, in gewohnter Weise braust der Zug heran, ungefährdet in den richtigen Weg lenkt die Maschine; –

Der Wärter ist zurückgesprungen und starrt in die Fenster, und im letzten Wagen, im hell erleuchteten Abteil am offenen Fenster steht – sein Sohn!

»Otto! Otto!«

War er's denn wirklich? Ja, ja, es war keine Täuschung, er hat ihn deutlich erkannt. Noch starrt er dem Zuge nach, dessen Laternen schon entschwunden sind – dann stürzt er vorwärts seinem Hause zu – was wollte er eigentlich, ja richtig, die Laterne muß angezündet werden – und – und die Mutter muß es wissen – ob sie ihn auch gesehen hat?

Auf dem schmalen Rand am Geleise rennt er auf seine Wohnung zu – da – da ruft's ihm plötzlich entgegen:

»Halt! Vorsicht! Langsam!«

Er blickt auf.

Aus dem Graben am Bahndamm hat sich eine graue Gestalt aufgerichtet – der Zwerg! Der Zwerg!

Dem Wärter schwindelt es. Er will stehen bleiben, da tritt sein Fuß auf eine weiche, glitschige Masse – er gleitet aus und stürzt zusammen.

Die Gestalt im Graben richtet sich auf.

»Nur Ruhe, Ruhe, Mann! Ich bin nicht der Ritter von Schrobeck – der ist ja erlöst!«

Die Gestalt ist herangetreten und hilft dem Wärter auf die Füße. »Sie haben sich doch nichts getan? Nein? Na, 's ist mir auch so gegangen, bin auch ausgeglitscht und in den Graben gerutscht – war nur eben dabei, mir die Kleider etwas abzuputzen; –«

Der Wärter erholte sich.

»Um Gottes willen, wie haben Sie mich erschreckt! Wie konnt' ich wissen, daß Sie hier sind, Herr Baumeister!«

»Na, ich bin nicht weniger erschrocken – aber ich bin schuld daran – warum mußt' ich auf den dummen Spaß verfallen – na, seien Sie mir nicht böse, ich habe keine schlechte Angst ausgestanden, als ich Sie nicht auf der Strecke fand – und die Weiche verstellt – der Teufel möge die Schufte holen!«

»Wie? Da haben Sie die Weiche wieder in Ordnung gebracht?«

»Mit knapper Not. Wenn diese Nonnen hier – Aber nun lassen Sie uns erst einmal vorsichtig weiter am Damm entlang gehen, daß Sie Ruhe in Ihrer Bude bekommen. Wissen Sie denn, weshalb Sie hier gefallen sind? Weshalb ich Sie anrief?«

»Ich seh' es jetzt. Die verflixten Raupen sind's – ich hab' schon gestern einen Zug im Walde gesehen.«

»Ja, die Raupen von Liparis monacha, der Nonne, dem Fichtenspinner, die uns den Wald abfressen. Sie wandern jetzt, zu vielen Millionen in einem Zuge. Und heute Nacht sind sie auf die Idee gekommen, hier auf dem Bahndamm entlang zu spazieren.«

»'s ist gräßlich, man kann kaum treten.«

»Na, das ist nur eine kleine Seitenpartie, wir sind schon darüber fort. Der Hauptzug kriecht weiter unten, hinter Ihrer Bude, übers Geleise, und wir können Gott danken, daß er's tut; hätte er nicht den Zug aufgehalten – wer weiß, ob ich die Weiche rechtzeitig herumgebracht hätte, denn sie war richtig verkeilt. Aber diese Viecher haben ja das Geleise wie mit Öl geschmiert, da kann die stärkste Maschine nicht bergauf fahren.«

»Was? Wie?« fragt der Wärter stammelnd. »Die Raupen haben – – aber die Nägel – – Da sind Sie wohl gar selbst – Herr Baumeister – oben auf der Ruine; –«

»Ja, ja, leider. Na, hören Sie mal zu. Es versteht sich, wenn Sie Schaden gehabt haben, ich komm' für alles auf. Na, bestraft bin ich genug durch die Angst. – Also, ich komm' gegen Abend droben beim Förster an. Die herrliche Mondnacht lockt mich, noch zur Ruine hinauf zu steigen. Ich sitze wohl eine Stunde da. Prächtig! Da höre ich unten jemand den Berg herauf kraxeln. Ich denke, was sucht einer jetzt hier? Da fällt mir die Geschichte vom grauen Zwerg ein – sollte etwa? Ich rechnete nach, am 18. Mai war Pfingsten – richtig, heut' ist der achte Sonntag nach Trinitatis und Vollmond dazu – aha, denke ich, das siehst du dir mal an.

Ich krieche hinter die Türöffnung und schlag' meine Kapuze in die Höhe – und nun geht die Beschwörung los. Auf einmal zwackt mich der Übermut, ich denke, hast du nicht irgend was da, was als Nagel gelten kann? Ich such' in der Tasche und richtig, da find' ich noch ein paar Messingstifte. Na, und so weiter.

Nun der Schreck, als ich Sie erkannte, wie Sie den Berg 'runterrannten. Ich fürchte, der Mann verliert den Kopf und verpaßt den Dienst, und ich denke an die Strecke. Also ich nach. Aber ich kann Sie nicht finden. Ich gucke in Ihre Bude, Sie sind nicht da. Nun fällt mir die Weiche ein. Ich laufe die Strecke entlang. Da seh' ich, die Laterne brennt nicht. Sie hatte vorher gebrannt, ich hab's deutlich von oben gesehen. Ich mache mich also daran – und, Gott sei Dank, ich wurde noch fertig. Aber wo haben Sie denn gesteckt – –?«

»Mich hatten sie gebunden, und ich kam frei – durch den Nagel – –

Aber – Herr Baumeister – wenn das so war, mit dem Wunsche, so ein Zufall – daß ich von selbst frei kam, daß der Zug durch die Raupen fuhr, wenn das gar nicht die goldnen Nägel machten, so war's am Ende auch gar nicht der Otto; –«

Der Wärter starrte leichenblaß auf den Baumeister, der ihn fragend ansah.

»So ist der Otto gar nicht zurückgekommen?« schrie der Wärter und blieb stehen.

»Der Otto, der Otto!« rief eine Stimme. »Wo bleibst de denn, Paul?«

Die Frau des Wärters kam von der Bude hergehinkt.

»Ich hab's schon gemerkt, du warst oben. Der Otto war im Zuge ich hab' ihn deutlich erkannt – er fuhr ganz langsam vorbei – er hat mich gesehn – es war der Otto! der Otto!«


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