Else Lasker-Schüler
Die Wupper
Else Lasker-Schüler

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Vierter Akt

Im Arbeiterviertel wie im ersten Aufzug. Schornsteine dampfen und pfeifen in der Ferne jenseits der Wupper. Die Wupper ist bewegt und dunkelrot gefärbt. Fabrikarbeiter und Arbeiterinnen sind auf dem Wege zur Fabrik. Jungen ziehen Milchkarren, und Kinder laufen in die Bäckereien, Frühstück auszutragen. Über die Brücke geht, dem Häuschen von Pius zu, Eduard.

Eduard; Carl; Lieschen; August Puderbach; Mutter Pius; Frau Amanda Pius; Großvatter Wallbrecker; Gretchen Stomms.

 

Eduard (erblickt Lieschen, das zur Bäckerei gehen will): Lieschen!

Lieschen (läuft entzückt zu ihm): Herr Eduard! Herr Eduard!

Eduard: Wohin gehst du denn so früh?

Lieschen ist noch immer zu freudig, um zu sprechen, es hält Eduards Hand fest und springt beständig in die Höhe.

Eduard: Freust du dich denn so, mein Kind?

Lieschen: Sicher!

Eduard: Sieh mal! (Er schwingt eine Rolle hoch in der Luft.) Komm, wir setzen uns hier auf die Bank.

Sie setzen sich vor Pius' Haus auf die Bank. Eduard öffnet die Rolle.

Lieschen: Is aus England, nich?

Eduard nickt.

Lieschen (bewundernd): Wie ist das schön gemalen!

Eduard: Welche von den Puppenmüttern gefällt dir am besten, Lieschen?

Lieschen (freudig): De mittelste, die hat so große Augen, wie Sie habn.

Eduard (streichelt ihr Haar): Das Bild mußt du dir an die Wand hängen, mein Kind.

Lieschen: Über unser Bett kömmt es zu hängen, un der alte Herr Jesus fliegt auf 'n Oller mit seine rotgeheulte Augen.

Eduard: Aber Lieschen – – –

Lieschen: Er guckt wie der Vater, wenn er von de sündige Welt predigt.

Eduard: Es kann auch nur ein frommer Maler unsern Heiland so schön malen, wie er gewesen ist.

Lieschen (etwas dreist): Meine Mutter sagt, Sie möchten uns en goldenen Rahmen bei das Bild kaufen.

Eduard: Hat das deine Mutter gesagt?

Lieschen (ihre Dreistigkeit fühlend, kleinlaut): Molz!

Eduard (spricht zärtlich, gütig): Aber daß du gestern nicht das kleine Christkind besucht hast, Lieschen, darüber bin ich sehr traurig.

Lieschen (erschrocken): Das dürfen Se nich sein; lieber bleib ich mein Leben lang in de Kirche auf de Stein liegen dreihundertundfünfundsechzig Tage (besinnt sich) und all die Stunden und die Minuten.

Eduard (gerührt): Unsere liebe Mutter hat dich auch besonders gern, Lieschen.

Lieschen: Ich bin doch ens so schäbig angezogen.

Sieht auf ihr Kleid herunter, Arbeiter grüßen Eduard ehrerbietig.

Eduard: Darauf sieht unsere liebe Mutter nicht; sie sagte mir, du habest ein himmelblaues Herzchen, Lieschen, und sie möchte so gern, daß es nicht fleckig würde.

Lieschen: En himmelblaues Herzken – – – habn Sie einmal so eins gesehn?

Kinder rufen Lieschen an.

Erstes Kind: Lieschen!

Zweites Kind: Lieschen!

Sie laufen wieder fort.

Eduard: Nur einmal bei einem kleinen Engelchen, das trug es ganz vorsichtig in einem seidenen Tüchelchen in den Händen.

Lieschen: Aber denn könnt es doch nich mehr klopfen?

Eduard: Gewiß, es pochte ganz, ganz leise, lauter Perlen.

Lieschen: Sicher?

Eduard: Und das Engelchen konnt es immer sehn, und so mußt du auch dein Herzchen wohl behüten, verstehst du mich, Lieschen?

Lieschen (verzückt und erstaunt): Ja – – –

Kinder: Lieschen, es ist half sieben; wir sagen es wieder!!

Lieschen rafft sich auf.

Lieschen: Ich muß nu laufen, Herr Eduard.

Gretchen Stomms kommt herbei, nähert sich etwas dreist den beiden und sagt Lieschen etwas ins Ohr.

Lieschen: Das is doch der nich.

Wird schüchtern, will fortlaufen mit Gretchen Stomms.

Eduard: Eine Hand darfst du mir doch noch geben.

Lieschen: Mir haut der Vater, wenn ich trödel'.

Gretchen Stomms (altklug): Es kriegt heute seine Löhnung.

Eduard nickt, Wichtigkeit markierend. Lieschen verläßt ihn befangen. Die beiden Kinder laufen, die Arme gegenseitig über Kreuz im Rücken, fort. Großvatter Wallenbrecker kommt. Er trägt altmodisch grüngestickte Pantoffeln und die neue Pfeife in der einen Ecke im Mund. Arbeiter kommen wieder an Eduard vorbei.

Einer der Arbeiter (brutal auf Eduard zeigend): Der muß auch bald ins Gras beißen.

Großvatter (erblickt ihn): Guck einer an, der junge Herr, so früh. (Nicht Antwort abwartend, nach dem Dachfenster sich aufstreckend) Carl, steh auf, Faulenzer, dicker Plumpsack, steh auf! Amanda!

Eduard (will ihn beruhigen): Lassen Sie sie noch friedlich schlummern, Großvater.

Großvatter: Tum Tingelingeling! – – – (Er drängt Eduard, sich wieder auf die Bank niederzusetzen.)

Eduard: Was meinen Sie, Großvater, wenn ich mir auch ein Pfeifchen anzünde?

Großvatter (streicht ein Schwefelhölzchen an der Wand des Häuschens an): Schlecht sehn Se mal wieder aus, un es fehlt doch nix bei Sie; wo der Teufel einmal drinsitzt! – – – Was sag ich, der Teufel? Wallbrecker, bist du doch en dämlich Roß, aber was muß das für en Satans in Sie sein?

Eduard (schelmisch): Wer den wohl erlegen könnte, Großvater?

Großvatter: En Heiligen sind Sie, der heilige Laurentius sind Se, un Kaffee müssen Se bei uns trinken, sonst beleidigen Se meine Tochter Amanda.

Er zeigt auf Amanda, die mit einem Tisch aus dem Häuschen kommt, ihn vor die Bank zu stellen.

Frau Amanda Pius: So 'ne Ehre, geehrter Herr Eduard!

(Stellt den Tisch vor die Bank und reicht ihm die Hand. Zu Wallbrecker) Wo is de Carl?

Großvatter: Er schläft noch. Ruf du ihm.

Frau Amanda geht ins Häuschen.

Großvatter: Er will nu Pastor werden, nehmen Se's ihn nich übel, lieber Herr Eduard.

Amanda kehrt mit Kaffeekanne, Tassen, Butterbrot usw. zurück. Es wird immer heller. Arbeiter und Arbeiterinnen, unter ihnen Färber mit grün-, rot- und gelbglänzenden Händen und bleichen Gesichtern, ziehen vorbei.

Großvatter (zu einigen Arbeitern): Guten Tag zusammen!

Arbeiter: Auch schon aufgestanden?

Amanda: Wenn uns der junge Herr – – –

Carl (unterbricht sie): Ich bin gleich unten.

Amanda: Wenn uns der junge Herr die Ehre schenken will un en Köppchen Kaffee mit uns trinken will?

Eduard (gütig): Ich bin ordentlich durstig, liebe Frau Wirtin.

Amanda: Es fiel mich ja im Traum nich ein, daß de junge Herr heut kommen könnt, ich hätt sonst en Lot mehr gemahlen.

Carl (man hört ihn oben sprechen): Meinen Kragenknopf kann ich gar nicht finden.

Mutter Pius (guckt aus dem Dachfensterchen): Was seh ich – (Sie tritt wieder vom Fenster zurück) nu halt man still, ich kann dir doch nich mehr auf en Arm nehmen un dir antrecken.

Alle lachen unten.

Großvatter: Mich is so dämlich im Kopf.

Amanda: Du bist auch schon alt, Vatter.

Mutter Pius kommt.

Mutter Pius (zu Eduard): Bleiben Se man sitzen, tun Se, als wenn Se zu Hause wären.

Eduard hustet.

Großvatter: Da meld er sich.

Eduard (hustet stärker): Der alte Satansdrachen, was, Großvater?

Mutter Pius: De alten Doktors kurieren an Sie herum, die Mutter Pius aber wird Herr Eduard auf de Beine bringen, jeden Morgen und Abend en Köppken von de junge Weizensaat müssen Sie trinken. Ich will es Ihren Personal sagen.

Eduard (gütig): Das mag wohl zuträglich sein, Mutter Pius.

Großvatter: Un jetzt man, wo wir Vollmond haben, soll es am tauglichsten sein.

Mutter Pius (herrisch und verächtlich): Misch dir nich in mein Praxis, Großvatter Wallbrecker.

Eduard (besänftigend): Das nehmen alle Mediziner übel, Großvater, wir sind doch mal nur Laien.

Großvatter (könnte aufplatzen vor Lachen): Tum Tingelingeling, tum Tingelingeling – – –

Carl (frisch, markig, primanerhaft, pathetisch): Ich grüße dich, Gottesmann, der du fürlieb nimmst mit unserer Speise und Trank.

Eduard (leuchtend schelmisch): Friede sei deinem Haus, mein Bruder.

Großvatter spricht auf Amanda unverständlich ein; Mutter Pius versorgt sich mit Kaffee und streicht Carl Butterbröte.

Eduard (legt Amanda ein Kuvert auf ihren Schoß): Von meiner Mutter.

Großvatter (neugierig): Laß ens gucken!

Amanda (stößt ihren Vater mit dem Ellbogen unsanft zurück): Nä, Ihre Frau Mutter is engelgut.

Eine dicke Träne fließt über ihre Backe.

Großvatter (nickt dazu, fortwährend Amandas Worte bestätigend): Tum Tingelingeling, tum Tingelingeling, tum, tum, tum, tum!

Carl und Eduard unterhalten sich leise. Aus der Seitengasse, dem Zimmer im obersten Stock, das Puderbachs bewohnen, dringt Lärm. Ein Haufen Kinder sammelt sich lauschend vor dem Haus an.

Mutter Pius (spricht lauter): Vielleicht trinkt Herr Eduard auch noch ein Köppken?

Der Lärm läßt nach.

Eduard (nickt Frau Amanda zu): Er ist außergewöhnlich gut gebraut, ich möchte das Rezept unserer Auguste sagen.

Mutter Pius (katzenfreundlich zu Amanda): Er schmeckt aber auch gut heut, Amanda.

Amanda: Vatter, hol noch wacker was Zucker aus die Blas, (er steht langsam auf) nu eil dir man ein bißchen!

Lärm dringt wieder stärker aus der Seitengasse, man hört weinen, und es ist, als ob Porzellan zerbricht. Arbeiter und Arbeiterinnen gesellen sich neugierig zu den Kindern vor der Gasse.

Amanda: Geh doch ens rüber, Carl, du verstehst dir doch mit den Scheinheiligen. Bist dich doch eine Otoridät.

Carl (hart): Laß mich zufrieden!

Eduard verlegen.

Amanda: Wat redest de rauh!

Der Lärm läßt nach. Großvatter Wallbrecker kommt zurück, in seinem roten Taschentuch den Zucker wie in einem Beutelchen tragend.

Amanda: Bist de toll, Vatter?

Carl und Eduard lachen.

Mutter Pius: Ich sag garnix mehr.

Großvatter: Wat soll ich denn? Ich schlabbere ja mit de Löffels, (zu Amanda) ich schütt ihn doch so in 'em Reisbrei.

Carl (sich belustigend): Ich bin Zeuge! Großvatter kallt de pure Wahrheit.

Amanda: Glauben Se 's nich, Herr Eduard, (auf Großvatter zeigend) er träumt immer.

Mutter Pius (großmütig, heuchlerisch):: Wat sagst de, Wallbrecker, ich nehm mich doch en Löffel davon in mein Köppken?

Eduard klopft Mutter Pius auf die Schulter.

Großvatter: Ich hab mir seit von Tag nicht drin geschnauzt.

Alle lachen wieder herzlich. Aber furchtbar dringt der Lärm aus dem Hause der Seitengasse.

Amanda: Entweder geh du oder ich (bittend).

Carl (unerbittlich): Wenn er sie ens tüchtig verwichsen tät.

Großvatter: Du willst en Pastor werden, Carl – – ich hab gleich gesagt, Gesellen mußt de haben.

Der Großvatter erhebt sich.

Mutter Pius: Wegen dat schlumprige Weib drüben lassen wir uns beim Kaffee stören.

Der Großvatter ist im Begriff, herüberzugehen.

Eduard: Bleiben Se sitzen, Großvater, der Carl wird Ruhe schaffen.

Der Großvatter läßt sich aber nicht aufhalten.

Mutter Pius (neidisch auf Großvatter weisend): Das tut er mich zum Ärger.

Amanda: Nu lauf man rasch den Großvatter nach, Carl!

Carl (ärgerlich): Steh du doch deiner Freundin bei!

Carl hält Eduard zurück, der sich schlicht erheben will.

Carl: Er kommt ja gleich wieder heil zurück. (Der Großvatter naht.) Salve Cäsar! Statt den Lorbeer das Käppken auf den Kopf und Lieskens Present in de Schnute.

Alle lachen, auch hört man keinen Lärm mehr.

Großvatter: Ich hab all wieder gestillt, Kinderkes. Bleiben Se man sitzen, Herr Eduard.

Er bemerkt gar nicht, daß Eduard auf seinem Stuhl sitzt.

Amanda (geschwätzig): Was bloß aus dem Liesken werden soll? –

Eduard: Lassen Sie mich erst über den Berg sein.

Mutter Pius (listig): Da lassen Se man die Finger von.

Carl: Der Apfel fällt nicht weit vom Stamme.

Mutter Pius (zynisch, halb zu sich zum eignen Amüsement): Herr Eduard ist doch kein Feinschmecker!

Eduard: Meine Schwester soll sich des Kindes annehmen.

Amanda (devot): Ihr Fräulein Prinzessin Schwester?

Eduard (nickt stolz): Ist sie nicht eine Prinzessin, Carl?

Carl errötet, ist benommen.

Mutter Pius: Dem Weib bin ich zu gut, ganz genau de Mama aus dem Gesicht geschnitten.

Großvatter (bestätigend): Tum Tingelingeling, tum Tingelingeling, tum, tum, tum.

Wieder gehen Männer vorbei. Es sind die Helfershelfer, die Lange Anna zu Hilfe kamen am ersten Abend.

Großvatter: Nehmt man de Bein auf en Nacken.

Der Herumtreiber (höhnisch): Na, wie schmeckt es euch denn?

Großvatter: Carl, hast de das gehört?

Mutter Pius (zu Carl, ängstlich, er könnte sie hauen): Ärgere dir man nich darüber, Carl, das sind die nich wert.

Carl (benommen): Ich hab garnix gehört.

Großvatter: Daß se mich nich en gemütlichen Abend gönnen, Herr Eduard. Fünfundzwanzig Jahr hab ich mit dem Liesken sein Großvatter am Webstuhl gesessen, (weinerlich) und doch war das Leichentuch zu klein für uns beide.

Carl: Mutter, gib mir meine Kappe!

Eduard (gütig, schelmisch zum Großvatter): Wir werden noch oft zusammen ein Piepken schmöken, Großvater.

Alle lachen, nur der Großvatter nickt ernsthaft.

Großvatter: Jetzt leb ich von de Gnade meiner Tochter un die (er zeigt auf Mutter Pius).

Mutter Pius: Ich bin doch gewiß nobel für dich!

Amanda: Daß er das viele Tabakschmöken nicht lassen kann.

Carl: Für de Arbeit sind de Frauleut da!

Frau Amanda greift Carls Kappe durchs Fenster und setzt sie ihm auf.

Mutter Pius (lacht): Du frecher Bullenbeißer!

Großvatter (zu Carl): Du bist noch jung, ich aber bin en altes, kränkliches Roß. (Er hüstelt und spricht für sich): Hab das Wiehern eigentlich schon vergessen.

Er will aufstehen und ausspeien.

Amanda (zum Großvatter): Versteck dir rasch, siehst de nich?

Der Großvatter beugt sich schnell hinter den Strauch neben dem Haus. Der Kaplan kommt vom Spaziergang in den Wald über die Wiese links; er hat einen schwankenden Gang. Er bemerkt die Gesellschaft vor dem Häuschen nicht.

Eduard: Warum soll sich der Großvater vor dem sanften Kaplan verstecken?

Mutter Pius (weist auf ihn): Wie 'n kleines Prozessionsboot über 'n evangelisch Meer.

Eduard: Er ist sehr unglücklich, deiner Abtrünnigkeit wegen, Carl.

Carl (sarkastisch): So viel Kummer hat sich noch keiner um meine Seele gemacht.

Eduard: Was sagen Sie dazu, Mutter Pius?

Mutter Pius: Daß Se lieber wieder nach unseren Luther hören sollen, was wollen Se allein herumschiffen?

Eduard (zu Carl): Die Mütter!

Amanda: Aufstehen, Vatter, wir müssen auf die Wies.

Großvatter (seufzend zu Eduard): De Wäsch legen.

Eduard erhebt sich auch.

Mutter Pius (zu Eduard): Bleiben Se doch noch en bißchen bei de Mutter Pius, Herr Eduard.

Eduard: Morgen geht 's Examen los, ich muß noch mathematische Zahlen rechnen.

Mutter Pius: Was nich de Schulmeister all wollen, zu meiner Zeit war es noch nicht halb so schlimm.

Carl (sarkastisch): Deshalb bist de auch kein Pastor geworden!

Eduard (Großvatter und Amanda, die zögernd warten, die Hand reichend. Die beiden gehen ins Häuschen): Wir sind alle Pflugtiere. Kommst du mit mir, Carl?

Carl nickt.

Mutter Pius: Mit de Schluffen an de Bein, Jung?

Carl (kleinlaut): Ich war wahrhaftig in Gedanken so gelaufen. (Zu Eduard): Ich hab die Stiefel beim Schuster.

Mutter Pius (zu Eduard, wie zu einem kleinen Jungen): De Mama wird schon bang sein – dafür kenn ich ihr.

Mutter Pius reicht Eduard ermahnend die Hand, Carl begleitet ihn bis zur Ecke. Eduard winkt noch einmal Mutter Pius zu.

Mutter Pius (ruft durchs Fenster): Gib mir meine Valentiaspitzen und Poingtskrägen. Se liegen in de Fase auf en Schrank, daß de Mietze nich damit spielt.

Großvatter reicht die Spitzen heraus und zeigt in die Ferne, wo am Rand des Waldes die drei Herumtreiber: Pendelfrederech, Lange Anna und der gläserne Amadeus um eine Laterne gehen, deren Licht noch nicht ganz erblichen ist.

Großvatter (dämlich): Da gehen die drei Erzengel in de Ferne un blasen aus de Laterne.

Mutter Pius: Du fängst auch wohl an zu reimen, wie de Carl?

Carl kommt zurück.

Mutter Pius (zu Carl): Lang macht der auch nicht mehr mit.

Großvatter (nickt beständig zustimmend): Tum, tum, tum, tum.

Carl: Ich würd dem schon ein Stück von meiner gesunden Brust geben.

Pause.

Mutter Pius: Sag ens, Carl, wen hast de lieber, mir oder ihm?

In der Richtung blickend, die Eduard eingeschlagen hat.

Carl (lacht): Du träumst wohl, Großmutter, ich bin noch der Carl in deinem Schoß.

Mutter Pius: Mir überkömmt es man so.

Carl: Dich?

Großvatter: Tum Tingelingeling!!

Mutter Pius: Meinst wohl, de Großmutter war nie wehmutsvoll gewesen?

Carl: Na, was is denn los?

Mutter Pius sitzt eine Weile schweigend, den Kopf herabgesunken auf die Brust; die drei Männer verschwinden in der Ferne im Wald.

Amanda (ruft): Wo bist du denn, Vatter?

Großvatter: Ich muß noch bei de Mutter Pius bleiben, sie hat Heiratsgedanken.

Mutter Pius (auffahrend): Du alter Sünder.

Großvatter: Wenn ich en Sünder bin, da hätten wir uns heiraten sollen.

Mutter Pius: Dir! Du schlapper Bock!

Carl: Haltet eure Mäuler, ich muß arbeiten.

Großvatter (holt einen Ausklopfer): Wart man, ich schaff dich Ruh! (Amanda zieht ihren Vater vom Fenster fort. Man hört ihn noch aus dem Hause reden, wichtig): Im Examen muß er steigen!

Carl nimmt Heft und Buch, Tintenfäßchen, Halter aus seiner Tasche und beginnt zu blättern; Mutter Pius glättet geschickt die Spitzen und schweigt grübelnd.

Carl (etwas neckisch): Ich glaub ens, der Großvatter hat recht gesprochen.

Mutter Pius: Ich altes Weib?

Carl (sie neckend): Mit dein jung Herz!

Mutter Pius (sich aufraffend): Temperatur hab'n alle Pius im Leib gehabt un du auch, Carl, siehst de, un de Großmutter weiß das. (Sie holt sorgfältig Martas Bild aus ihrer Ledertasche und hält es Carl hin.) Carl fragend, verblüfft.

Mutter Pius: Deine Flamme!

Carl tiefrot, zittert, reißt das Bild an sich.

Mutter Pius: Du Spitzbub, gib man rasch wieder!

Carl steckt es in seine Brieftasche. Kleine Pause.

Mutter Pius: Sie guckt sich nach dich die Augen aus.

Kleine Pause.

Carl: Wer sagt das?

Mutter Pius: Ich!

Carl: Das ist gelogen.

Mutter Pius: All de Leut sagen es in de Nachbarschaft.

Carl: Weibergeklatsch. (Kleine Pause. Flehentlich erregt): Wer hat dir das gegeben, Großmutter?

Mutter Pius: Weißt de nich genug, daß du es auf deine Haut trägst, Carl?

Carl (plötzlich glücklich): Großmutter! (Er küßt sie auf den Mund.) Du bist eine Teufelin!!!

Mutter Pius: Kriegt de Mutter Pius ens Schimpfe für die Gabe. – (Kleine Pause.) – Du heulst ja!

Carl (unterdrückt die Erregung): Ich glaub es dir bald!

Mutter Pius: Wat zitterst du denn?

Carl: Ich hab Angst, ich fall im Examen durch. (Plötzlich hart.) Ihr Weiber stört mich!

Kleine Pause.

Mutter Pius: Carl, ich muß dich was recht Intimes sagen. Keiner darf es hören.

Carl: Laß mich zufrieden.

Mutter Pius: Sprech mit deine Schwiegermutter.

Carl: Was?

Mutter Pius: Wenn du 's Examen bestanden hast.

Carl grübelt.

Mutter Pius: Sie weist dir nicht ab, glaub es Mutter Pius. – (Kleine Pause.) – Du guckst mir an, als wenn ich dir zum Narren halt.

Carl gespannt.

Mutter Pius: So en wackerer Mann, wie du bist, Carl – un de feine Herrschaften stärken gern man das Treibhausblut mit den natürlichen seines.

Carl immer gespannt.

Mutter Pius: Liest de dann nich in de Zeitung öfters, daß de Gräfinnen sich mit de Lakais einlassen?

Carl (naiv): Hinter den Rücken der Mütter?

Mutter Pius: Die Olschen wissen immer davon. (Listig) Mamma Sonntag weiß auch von das viele Leckers un de Zigaretten, was de Marta dich in de Manteltaschen stopft.

Carl (trotzig): Wer sagt dir, daß sie es hereinstopft!

Mutter Pius: Das riech ich im Dampf, Carl. Nä, wie ein kleines Gockel bist de noch!

Von der Seite kommen August Puderbach und andere Färber, mit bunten Händen, durcheinander redend, von der Fabrik zurück; sie bleiben vor Pius' Häuschen stehen.

August: Se streiken wieder.

Mutter Pius (ärgerlich): Und du?

Die Arbeiter (durcheinanderredend): Aufhängen soll man die Krakäler.

Carl: Das sag ich auch.

August: Sind wir ens einmal eine Ansicht.

Amanda kommt zurück, rechts vom Hause her; sie hat die letzten Worte gehört.

Amanda: Gut bist de dem Carl ens doch, August. Den Scheitel trägst de ja am Sonntag wie er an der Seit.

Einer der Arbeiter: Was hab'n wir von der Streikerei?

August: Drei un ein halben Taler weniger im Monat. Mich war de Arbeitszeit nich zu lang.

Mutter Pius: Das muß man dich lassen, ein fleißiger Jung bist de – aber was tust de auch zu Haus bei dein muckerigen Vater?

August (zu Carl): De Pastoren, die streiken nich, was, Carl? – Vielleicht sattle ich noch um.

Carl: Halts Maul!

Ein anderer Arbeiter: Was sollen wir machen, Mutter Pius, wir dürfen uns so nich zu Haus sehen lassen.

Mutter Pius: Kümmert euch doch nicht um eure Brüders.

Einer der Arbeiter: Was sollen wir machen gegen so viel Sozialdemokraten? Wir sind ja all Sozialdemokraten, aber darum brauchen wir doch keine Dummheiten machen.

Mutter Pius: Nä, wahrhaftig nich.

Derselbe Arbeiter: Was rätst de uns, Mutter Pius?

Amanda: Geht man wieder zurück zu euren Herrn und klatscht ihm die Vorgänge.

Ein anderer Arbeiter: Nä, verraten tun wir de Brüder nich.

Carl (herablassend, brutal): Schlagt euern Herrn tot, wie se 's in Rußland machen!

Derselbe Arbeiter: Un dann?

Mutter Pius (lachend): Dann wirst du der Besitzer, August.

Ein anderer Arbeiter: Lieber bleiben wir en Arbeiter, als en Herrn werden über se alle.

Mutter Pius: Ich würd schon mit ihm tauschen. Alte Schafsköpfe, wo man euch hintreibt, freßt ihr!

Einer der Arbeiter: Recht hat se man.

Ein anderer Arbeiter: Mein Jung soll lieber in unser eigenen Schweiß (er zeigt auf die Wupper) versaufen, als en Färber werden.

Einer der Arbeiter: Kannst du uns was borgen, Mutter Pius?

Ein anderer Arbeiter: Guck ens in dein Beutel nach – – –

Mutter Pius: Ich hab von Tag nich en Kastemänneken über. De Carl muß doch auf de Universität ne ganze Bux am Hintersten hab'n.

Lieschen läuft, vom Brotaustragen zurückgekehrt, zu August – er und die Arbeiter gehen weiter, sich zu beraten. Der Großvatter Wallbrecker kommt keuchend über die Wiese, er ruht sich vor der Brücke aus. Er trägt einen Wäschesack auf dem Rücken. Von der Gasse hört man Getrampel und Fluchen, eine Schar Arbeiter kommt auf Pius' Häuschen zu.

Mutter Pius (nimmt mit einem Griff Carls Bücher und ihre Spitzen): Komm wacker herein, Carl, ich muß mir neutral halten, un wenn Bebel selber mir um Rat fragen tät.

Der Großvatter sieht Lieschen, das noch vor dem Haus von Pius steht.

Großvatter: Lieschen!

Lieschen (mit raffiniertem Einverständnis zu Mutter Pius): Soll ich heut wieder helfen, Mutter Pius?

Mutter Pius ist aber schon im Haus und hat Lieschens Frage nicht gehört. Die Arbeiter verziehen sich. Lieschen geht der Gasse zu. Großvatter ruft; aber Lieschen will, scheint's, nicht hören; er pfeift den Pfiff, der Lieschen ein Signal geworden ist. Nun steht der Großvatter vor dem Häuschen.

Großvatter: Nä, wie sich das Blag verändert hat! Amanda, mein Buckel stürzt ein!

Er geht ins Haus.


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