Else Lasker-Schüler
Die Wupper
Else Lasker-Schüler

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Zweiter Akt

Ein blühender, gepflegter Garten mit Beeten und Rosensträuchern und im Hintergrund ein Springbrunnen auf einer kleinen, künstlich hergestellten Anhöhe; im Hintergrund ein Pavillon mit bunten Fenstern, den man kaum sehen kann. Rechts ein weinumrankter Treppeneingang, der in die alte Villa Sonntag führt. Links im Vordergrund ein Zelt mit Tisch, Bank und Stühlen. Zwischen Gartenzaun und Nachbarmauer zieht sich eine in die Stadt führende, schmale Gasse. An der Nachbarmauer ist ein Blechschild angebracht mit üblicher Warnung; aber es ist schon alt und ruiniert und seine Aufschrift unleserlich.

Frau Sonntag; Heinrich; Eduard; Marta, Carl Pius; Mutter Pius; Auguste und Berta; die drei Herumtreiber: Pendelfrederech, Lange Anna, der gläserne Amadeus.

 

Mutter Pius: Lassen Se mir ihm zwischen de eurigen sehn, das freut so 'n altes Großmutterherz.

Berta (gnädig und geziert): Unsere Frau ist auch so freundlich zu ihm und erst (respektvoll) der Herr Eduard.

Mutter Pius: Was Se sagen – aber, is er das vielleicht nich wert? In de Früh um fünf kömmt euer junger Herr und holt ihm aus dem Nest und fragt ihm hie und da wegen dem Examen.

Berta (schnippisch): So klug ist der Carl?

Mutter Pius (überlegen): Wann er mein Enkelsohn ist? Berta lacht vorlaut. Sie will Mutter Pius verlassen, stellt das Tablett mit dem Abendgeschirr auf die Bank – die Servietten vergeßlich unter dem Arm haltend.

Mutter Pius: Hab'n Se 's so eilig, Berta, sonst verzählen Se sich doch so gern mit mich?

Berta: Ich habe keine Zeit.

Mutter Pius: Sie haben wohl den Kopf vom Schatz voll?

Berta: Wer sagt Ihnen, daß ich einen Schatz habe?

Berta pflückt sich eine Kamille vom Beet und läßt dabei zwei Servietten fallen.

Mutter Pius: Wer das sagt? Raten Sie ens! – Die Karten.

Berta stemmt neugierig die Hände in die Seiten. Mutter Pius hebt die zwei herabgefallenen Servietten auf und liest wohlgefällig den Namen auf dem Serviettenring.

Mutter Pius (zu sich): Wie en Kind im Haus – – –

Berta (schmeichlerisch): Na, was sagen denn die Karten all, Mutter Pius?

Mutter Pius (läßt Berta ein bißchen zappeln): Das möchten Sie wohl wissen, Berteken?

Berta nickt geziert.

Mutter Pius: Dein Schatz wird dich untreu, aber eine weite Reise machst de übern Ozean, und ein reichen Millionär lernst de kennen.

Berta: Donnerstag! (Verwundert) Unser Fräulein hat mir zwei Nächte hintereinander im Schiff gesehen.

Mutter Pius: Siehst de!!

Berta: Aber zu Auguste haben Sie am Sonntag gesagt, mein Schatz war ein robuster Mann mit einem Schnauzbart.

Mutter Pius: Ich hab das gesagt? Laß mir ens besinnen – –

Berta (geziert): Aber er ist von kleiner Statur und trägt einen hellen Spitzbart.

Mutter Pius (weissagend, komisch): Un adlig is er.

Berta: Donnerstag! (Verwundert.)

Mutter Pius: Das dumme Weib, geärgert hat sie sich, daß der Coeurkönig nich bei ihm lag und es zwanzig Jahr auf einen warten muß. Un da hat es dir vor Neid angeschmiert. Nä, Berteken, daß de so dumm bist!

Berta: Ich werd's der besorgen!

Mutter Pius: Laß man, es is ja en arm Dier mit sein scheeles Aug und seine schiefe Schultern, laß man, Berteken.

Auguste (steht im Seitengang, der aus der Küche in den Garten führt. Zu Berta): Wo bleiben Se denn? Mutter Pius gewahrend, eilt sie zu ihr.

Mutter Pius (zu Berta): Ich hab auch de Madame schon rufen hören.

Berta geht geziert ins Haus. Mutter Pius nähert sich gewandt dem Pavillon, bückt sich, um durch die Ritzen besser sehen zu können.

Mutter Pius (zu Auguste): Ich habe ihm nur durch die Ritzen gesehen, ich muß mir jetzt beeilen; das Liesken von Puderbach hat de Windpocken.

Auguste: Was se nich alles verstehen! (Glotzäugig, gläubig.) Mutter Pius nimmt ihr Körbchen am Arm und reicht Auguste die Hand.

Auguste: Hab'n Se denn unsere Frau schon gesprochen?

Mutter Pius: Das sehen Se doch an de schmierige Spitzen (aufs Körbchen weisend).

Auguste (glotzäugig, gläubig): Was Se nich alles verstehn!

Mutter Pius: Alles muß man verstehen, das Feinste und das Gröbste.

Auguste schüttelt bewundernd den Kopf. Mutter Pius wendet sich geringschätzend und diabolisch lachend noch einmal zu Auguste herum.

Mutter Pius: Hab'n Se molz en flotten Kerl gefunden, trotz de Karten?

Auguste: Nä, leider nich, Eure Karten sind reine Teufels, Mutter Pius.

Mutter Pius: Kommen Se doch ens wieder bei mich, vielleicht kriegen wir Gewalt über den Zauber, Auguste.

Auguste: Wenn ich mich erlauben darf.

Man hört Husten aus dem Pavillon; sie horchen beide erschreckt nach der Richtung.

Auguste: Das is Herr Eduard nich, das is de Marta, die guckt zu lang in de Nacht aus 'en Fenster.

Mutter Pius (lauernd): Euer Fräulein soll ens lieber schlafen.

Auguste: Sie möcht auch von Euch de Karten gelegt haben.

Mutter Pius (freudig): Eine Gräfin war bei mich.

Auguste (sie anstaunend): Wenn Se 's nich wieder sagen, zeig ich Euch ne neumodsche Photographie von de Marta – splitternackt, wie's erste Weib unterm Baum.

Frau Sonntag und Heinrich treten unbemerkt aus dem Haus.

Mutter Pius: Du hältst die Mutter Pius wohl für dumm?

Auguste: Ihre Freundin, das Fräulein Oberbürgermeister, hat se so abgenommen. –

Mutter Pius: Lauf wacker! (Auguste eilt fort durch die Seitentür, Mutter Pius ruft ihr nach): Ich leg dich auch fein die Karten, Auguste – – –

Mutter Pius bemerkt die Kommenden, Heinrich nähert sich dem Zaun und nimmt von einer Frau die Abendzeitung entgegen, drückt ihr flüchtig ein Geldstück in die Hand, indessen Frau Sonntag zum Zelt schreitet.

Mutter Pius (gewandt): Verzeihen Se, Ma'm Sonntag, daß ich noch hier stehn tu, ich wollt mein Enkelsohn Addjüß sagen.

Frau Sonntag nickt freundlich herablassend und geht rechts, die Rosen betrachtend, weiter. Mutter Pius kommt auf Heinrich zu, klopft ihm vertraulich auf die Schulter.

Heinrich: Schockschwerenot, Frau Pius, wie geht es Euch bei den schlechten Zeiten?

Mutter Pius: Davon wissen Sie doch nix, Herr Heinrich.

Heinrich: Un immer jünger werden Se.

Berta tritt aus dem Haus, den Tisch zu decken.

Mutter Pius: Sie Schmeichler.

Heinrich (zynisch, gutmütig): Frau Pius, was meinen Se zu uns zwei?

Berta kichernd.

Heinrich (zu Mutter Pius): Lassen Se den Kickindewelt lachen, er weiß von de Liebe nix.

Frau Sonntag nähert sich zerstreut dem Zelte.

Mutter Pius: So en jungen reichen Herrn un ich?

Heinrich: Schockschwerenot, es is mein heiliger Ernst. Eine verständige Frau muß ich haben.

Frau Sonntag: Frau Pius, laß Sie sich von meinem Sohn nicht zum Besten halten.

Mutter Pius: Ich uz mir gern mit ihm, Ma'm Sonntag, lassen Se ihm die Freude.

Heinrich: Wenn Se alles innes Lächerliche träkken, liebe Frau Pius, wir passen doch aufs Haar zusammen.

Mutter Pius (weiß nicht, wie sie es auffassen soll): Ein reiches Fräulein muß Herr Heinrich heiraten. Titichens will de Großmama (zeigt auf Frau Sonntag) wieder in Arm wiegen (sie macht mit dem Arm die Wiegebewegung).

Frau Sonntag: Nun laß Frau Pius zufrieden, Heinrich.

Mutter Pius: Auf de Messe aber dürfen Se mir Johanni mit die Freunde in meine Bude besuchen. Ich servier diesmal (nickt Heinrich heimlich zynisch zu) en extra feine Delikatesse –

Berta (bescheiden zu Frau Sonntag und Heinrich): Ein Kind mit zwei Köpfen – – –

Mutter Pius (bemerkt endlich Auguste, die schon längere Zeit erfolglos aus dem Seiteneingang winkt): 'n Abend zusammen, ich muß bei meine Leute!

Frau Sonntag setzt sich auf die Bank an den Tisch, und Heinrich bleibt neben ihr stehen.

Heinrich: Ein Unikum ist die Olle!

Mutter Pius entreißt Auguste das Bild – Kabinettgröße – und entfernt sich aus der Zauntür. Auguste bleibt verdutzt stehen.

Frau Sonntag: Du ziehst sie aber auch beständig auf, Heinrich.

Auguste: Wie 'n Wind (geht ins Haus).

Heinrich: Spaß muß sein, Mama Charlottchen.

Frau Sonntag: Macht dir das solch einen Spaß?

Heinrich: Du sagst das so melancholisch.

Frau Sonntag: So, das weiß ich gar nicht.

Heinrich (kleine Pause): Dieses Jahr wird die Bilanz gut werden, Mama Charlottchen.

Frau Sonntag (lebhafter): Du belügst mich, Heinrich?

Heinrich: Bei meinem verrosteten alten Säbel.

Frau Sonntag: Du bist ein Junge!

Heinrich: Wir wollen ein Pulleken darauf trinken, Mama Charlottchen!

Frau Sonntag schüttelt lächelnd den Kopf.

Frau Sonntag schüttelt lächelnd den Kopf.

Heinrich: Schad, daß Pius' Großmutter nicht mehr da ist; sitzen die noch immer darin?

Er zeigt auf den Pavillon.

Frau Sonntag: Man muß sich nicht gemein machen mit diesen Leuten.

Heinrich: Mittags promeniert sie vor meinem Büro vorbei, bis ich rauskomm.

Frau Sonntag: Warum?

Heinrich: Sie liebt mir –

Frau Sonntag: Schwätz keinen Unsinn, Heinrich.

Heinrich lacht.

Frau Sonntag: Laß die arme alte Person in Frieden, ich möchte die Neckerei um Eduards willen nicht. Du kennst doch seine Sympathie für Pius.

Heinrich: Pius kennt die alte Schrulle ganz genau.

Berta trägt Schüsseln mit kalten Speisen auf.

Frau Sonntag: Taisez donc!

Heinrich: Ich sag ja nichts.

Er nähert sich dem Pavillon, Marta ist gerade im Begriff, aus der Türe zu treten – die Geschwister stoßen sich fast.

Marta: Hast du mich erschreckt!

Heinrich (neckisch): Ein unschuldiger Mensch erschrickt nicht, beichte!

Marta: Esel!

Heinrich (plötzlich leise mit Erregtheit, die sich steigert bis zum Jähzorn): Ich will dir mal was sagen, erfahre ich noch einmal, daß du in meiner Abwesenheit im Büro gewesen bist, so bekommst du ein paar Backpfeifen von mir.

Marta (ein wenig verblüfft): Ich tu doch gar nichts da.

Heinrich: Du weißt, Simon ist mein Angestellter, ich wünsche, daß er Respekt behält vor uns, verstehst du! (Wieder munter) Schockschwerenot!

Marta: Herr von Simon ist stets höflich zu mir.

Eduard und Pius treten in den Pavillon.

Heinrich: Das will ich auch hoffen. (Heinrich reicht Carl Pius die Hand.) Hab doch wahrhaftig wieder die Marken vergessen.

Eduard (zu Carl; Heinrich umfassend): Er schwitzt den ganzen Tag für uns, Carl, er ist der selbstloseste Mensch auf der Welt.

Heinrich tut beschämt wie ein Backfischchen, bei seinem robusten Äußeren sehr ulkig wirkend.

Marta (geht dem Tisch des Zeltes zu): Mama, ich habe schreckliche Augenschmerzen (sie öffnet sie graziös affektiert) vom Nachschlagen.

Frau Sonntag: Ich bewundere schon lange deine Ausdauer.

Pius geht ungeschickt auf Frau Sonntag zu und verbeugt sich tief vor ihr. Frau Sonntag reicht ihm die Hand.

Marta: Herr Pius will vor dem Abendbrot nach Hause gehn, Mama.

Frau Sonntag: Aber warum das, Herr Pius?

Carl: Wenn ich so frei sein darf?

Marta bietet ihm den Stuhl neben sich an; Heinrich setzt sich links von Marta – Eduard nimmt neben seiner Mutter auf der Bank Platz. Berta serviert den Tee und bedient usw.

Marta: Findest du nicht die Hornbrille scheußlich für Herrn Pius, Mama? Er sieht aus wie ein Dorfschullehrer.

Frau Sonntag: Marta, schwätz nicht soviel Unsinn. Carl verlegen.

Frau Sonntag: Ich habe noch gar nicht bemerkt, daß Herr Pius eine Brille trägt.

Carl: Seit kurzem.

Eduard: Bitte nimm sie mal ab. (Carl zögert.) Ich bin auch kurzsichtig.

Frau Sonntag: Deine Rehaugen – – –

Heinrich (ulkig einen Backfisch imitierend): Das laß ich mir nicht mehr gefallen, mir macht kein Mensch den Hof.

Berta kichert leise auf, Frau Sonntags Blick streift sie rügend.

Heinrich: Sie denken an Mutter Pius, Berta, was? Eine Großmutter haben Sie, Pius, prima!

Carl verlegen.

Heinrich: Ich glaube sogar, sie ist eine ganz kluge Frau?

Eduard (zu Carl): Von köstlichem Humor.

Marta: Eduard sagt, sie versteht lateinisch.

Frau Sonntag: Auf welchen Tag fällt ihr Examen, Herr Pius?

Carl: Am Mittwoch, einige Tage nach Johanni, Madame Sonntag.

Eduard: Du regst dich mehr auf, wie wir beide und die ganze Prima zusammen.

Frau Sonntag: Mein Sohn sagt mir, Sie machen sich Ihrer Studien wegen Sorge?

Carl ist verlegen um Antwort.

Eduard: Du wolltest dich doch für weiteres verwenden, Mutter?

Frau Sonntag (nickt freundlich Eduard zu, ihr Blick fällt plötzlich auf Heinrich, der interessiert in der Zeitung liest): Was interessiert dich in der Zeitung (rügend) während des Tisches?!

Heinrich: Ich bitte um gnädige Verzeihung, Mama Charlottchen.

Marta: Hältst du dein Versprechen, Heinrich?

Heinrich: Gerad mein Pferd muß stürzen.

Marta: Du schwindelst mir immer was vor.

Heinrich (neckisch): Im Gegenteil, du mußt den Verlust tragen helfen!

Marta: Esel!

Heinrich: Danke!

Frau Sonntag: Du kannst doch das Spielen nicht lassen.

Heinrich: Es ist, mit Herrn Schiller gesagt, »mein Spaziergang«.

Eduard: Er sitzt auch viel zu viel im Büro.

Marta: Und dick bist du, wie der Wirt vom Schützengarten drüben.

Carl: Warum reiten Sie nicht, Herr Sonntag?

Frau Sonntag: Du hast doch wirklich sonntags Zeit.

Heinrich: Der Hengst scheut ja, wenn ich mich ohne Uniform draufsetz, Kinder.

Carl: Fußtouren wären Ihnen auch zuträglich.

Eduard: In den Tiroler Alpen; was, Carl?

Carl: Zum Schneerössel rauf.

Eduard: Zehn Kilometer müßtest du täglich steigen; faktisch, das tät ihm gut.

Heinrich: Ich werde mich gleich im Schützengarten wiegen lassen, ich glaub, ich habe schon durch eure guten Ratschläge abgenommen.

Zwei kleine Mädchen stehen, von allen unbemerkt, am Gartenzaun.

Frau Sonntag: Mit ihm ist kein ernstes Wort zu reden.

Eduard: Pack doch einfach seinen Koffer, Mutter.

Die kleinen Töchter vom Wirt verschwinden ungesehen wieder.

Heinrich: Und wer soll unterdessen für die Kleinen sorgen?

Frau Sonntag: Du hast doch einen Stellvertreter. Marta lobte ihn gestern noch.

Heinrich: Sie soll sich lieber um die Haushaltung bekümmern.

Marta: Esel!

Heinrich: Danke! Freuen Sie sich, Pius, daß Sie keine Schwester haben.

Carl (seltsam aufflammend, antwortet etwas schüchtern): Und ich beneide Sie darum.

Frau Sonntag (lächelnd): Hörst du 's, Heinrich?

Heinrich schlägt Marta zärtlich auf den Rücken. Pause.

Frau Sonntag: Ich würde ja öfters in die Fabrik gehen – – –

Heinrich (neckisch): Weißt du eigentlich, wo sie ist, Mama Charlottchen?

Frau Sonntag (scherzend): Wie er mich schlecht macht!

Marta: Herr von Simon ist energischer, wie du bist mit den Arbeitern.

Heinrich: Wenn ich dabei bin.

Alle lachen, nur Marta schmollt.

Heinrich: Den Willem, meinen fleißigsten Arbeiter, hab ich seinetwegen herauswerfen müssen.

Marta: Der drang betrunken ins Büro und wollte ihn dort totschlagen.

Heinrich: Die Sache ist mir auch noch nicht klar.

Frau Sonntag: Wenn dir nur mal nichts passiert, Heinrich.

Eduard: Ihn haben sie alle gern; zu dir haben sich öfter doch Arbeiter geäußert, Carl?

Carl: Ich steh mit all den Leuten kaum auf Grußfuß.

Frau Sonntags Blick streift ihn mißtrauisch.

Frau Sonntag (zerstreut): Wollen Sie wirklich evangelischer Geistlicher werden, Herr Pius?

Carl: Ja, Madame Sonntag.

Frau Sonntag: Ihre Großmutter wünscht es wohl?

Carl: So ernste Fragen pflege ich allein zu erledigen.

Frau Sonntag (unbewußt in herablassendem Tone): Versprechen Sie sich eine schnellere Karriere?

Carl (primanerhaft): Ich bin mit den Dogmen der katholischen Kirche in Konflikt geraten. Frau Sonntag nickt zustimmend hin zu Eduard.

Eduard: Iwo, Mutter, er will heiraten.

Heinrich: Ich geh noch was rüber kegeln.

Marta: Die kleinen Blagen standen schon vormittags am Zaun. Sie hätten heute Eisbein mit Sauerkohl, ließe ihr Vater Herrn Leutnant sagen.

Heinrich (zu Carl): Er war mein Untergebener.

Frau Sonntag: Das sind also die Kinder vom Wirt?

Heinrich: Ich kauf den Püppkens manchmal Schokolade.

Er erhebt sich und macht eine lange Gähnbewegung mit Mund und Armen.

Marta (schnellt vom Stuhl auf): Wollen Sie das Kissen mal sehen, was ich Eduard (zu Carl sich wendend) zum Examen schenke?

Carl: Ich bitte darum.

Er erhebt sich freudig.

Frau Sonntag: Aber, Marta, wie kindisch, wie können Herrn Pius deine Stickereien interessieren?

Carl: Ich habe sogar als Knabe mit Vorliebe weibliche Handarbeiten selbst ausgeführt.

Frau Sonntag verzieht ihr Gesicht ungläubig.

Eduard: Faktisch, Mutter! Mutter Pius zeigte mir ein großes Kreuz, was er gestickt hat.

Heinrich schreitet, die Hände in den Taschen, dem Hause zu, wendet sich um.

Heinrich: Addjüß, Kinder!

Marta und Carl schlendern um eins der Beete.

Marta: Ich habe ein Bouquet Kamillen nach der Natur darauf gestickt.

Carl: Sie sind selbst eine Kamille (leise) man möchte Sie immer fragen – – – Und es paßt auch viel besser für Sie, mit bunten, seidenen Fäden zu spielen, als uns zwei Kandidaten Examenarbeiten zu helfen.

Man versteht die letzten Worte kaum mehr, sie biegen in den Seitenweg des Gartens ein.

Eduard: Mutter, warum bist du nicht freundlicher zu Pius?

Frau Sonntag: Aber, Kind, ich gebe mir doch die erdenklichste Mühe. (Sie legt ein Tuch um seine Füße.)

Eduard (scherzend): Wenn ich mal oben im Himmel bin, wirst du abends heraufkommen und das große Sternenfenster schließen, Mütterchen.

Frau Sonntag: Wie du sprichst – – –

Eduard: O, ich habe noch viel, viel zu erledigen.

Er legt seinen Arm lächelnd um ihre Schulter.

Frau Sonntag: Du solltest mehr an dich denken, die vielen Nachhilfestunden, die du wieder für Pius übernommen hast! – Ich gebe ihm lieber das Geld.

Eduard: Das würde ihn beschämen; mir macht es faktisch Vergnügen; Pius ist zu gesund, Geduld zu üben. – (Kleine Pause) – Er hat mächtige Wellen, Mutter, die überstürzen sich.

Frau Sonntag: Dir tun seine Schüler leid, ich kenne dich, Eduard.

Eduard (lächelt): Hier waltet nur höhere Gerechtigkeit.

Frau Sonntag: Du dichtest ihn dir, Eduard.

Eduard (scherzend): Wie sollte der, der den Himmel verkündet, nicht ein Dichter sein. – (Kleine Pause) – Dich stört seine breite, ungeschickte Art.

Frau Sonntag: Ich verlange von ihm doch keine weltmännischen Finessen.

Eduard: Seine einfache Umgebung selbst respektiert instinktiv seine geistige Stärke.

Frau Sonntag: Seine geistige Stärke – Kind, Kind, diese Leute haben nur Respekt vor Fäusten.

Eduard: Denke an Petrus, Jakobus – – –

Marta und Carl werden sichtbar.

Frau Sonntag: Du glaubst nicht, wie unsympathisch es mich berührt, wenn ich ihn neben Marta sehe. (Eduard erhebt sich betrübt. Er hustet leicht.) Willst du zu Bette gehen, Eduard?

Eduard (kleine Pause): Durch den Garten wollen wir wieder wandeln, Mutter, weltentrückt, wie durch einen duftenden Psalm.

Frau Sonntag: Du machst mir das Herz schwer – – –

Eduard: Das will ich nicht. Dein Herz ist ein Teil meines Himmels, darum werde ich dir ja bleiben, Mutter.

Frau Sonntag und Eduard biegen um die Rosen ein. Pius und Marta treten in den Vordergrund – sie setzen sich auf eine Bank vor dem Springbrunnen.

Carl (streng, schüttelt energisch den Kopf): Seinen Glauben respektier ich.

Marta: Aber Mama weint immer, er will doch in den strengsten Orden eintreten, barfuß geht er dann, und seine schönen Locken werden ihm abgeschnitten.

Carl (neidvoll): Das empfinden Sie wohl am schmerzlichsten?

Pause.

Aber Sie erzählten mir doch, die Ärzte sagen, es käme nicht dazu.

Marta: Denen kann man ja nicht glauben – und Mama haben sie es verschwiegen, sie würde sterben an seinem Tod.

Carl (sarkastisch): Also der Tod wäre demnach Ihrer Frau Mutter sicher.

Marta: Bitte, spotten Sie nicht!

Carl: Ich bin nicht zum Spotten aufgelegt.

Marta (forschend): Ist er eigentlich schon katholisch geworden?

Carl: Fragen Sie ihn doch selbst.

Marta: Sie sind frech!

Carl (theatralisch, primanerhaft): Darum will ich auch der Welt den Schoß der Mutter nehmen.

Marta macht eine Bewegung des Unverständnisses.

Carl: Darum will ich evangelischer Verkünder werden.

Marta: Ich glaube, Sie werden furchtbar schimpfen von der Kanzel.

Carl (sarkastisch, scherzend): Fegefeuer auf all die Sünder regnen lassen.

Marta: Sie stritten doch einmal mit Eduard, es gäbe keine Sünde.

Carl: Im Sinne der Natur gibts auch keine Sünde.

Marta: Warum wollen Sie dann strafen?

Carl: Weil ich sie nicht genießen kann.

Er wendet sich plötzlich jäh zu Marta.

Marta (erschrickt): Und schreiben so fromme Gedichte – – –

Carl: Haben Sie sie übersetzen können?

Marta: Mühsam, jedes Wort schlug ich nach.

Carl: Später sende ich Ihnen täglich Kamillensträuße. Schenken Sie mir eine aus Ihrem Gürtel, bitte.

Marta: Meinetwegen.

Carl: Sie paßt zu Ihnen, wie zur Amazone die Waffe.

Marta: Und sind ebenso gefährlich.

Carl: Wenn Sie die Blättchen fragen.

Man sieht Frau Sonntag und Eduard durch eine dichte Baumallee wandeln, der Villa zu.

Marta: Das tu ich schon lang nicht mehr.

Carl: Sie sind Ihrer Sache gewiß. (Er will ihre Hand küssen.) Sie spielen mit mir, Marta?

Marta: Wenn Sie noch einmal meine Hand berühren, schlage ich Sie.

Carl: Tun Sie das.

Marta bricht, unwillig auflachend, ein Stöckchen vom Strauch ab, sie berührt damit Carls Hand.

Marta: Wehren Sie sich doch!

Carl: Wie sollte ich mich wehren, einem Fräulein gegenüber.

Marta: Sie sind feig.

Carl: Allerdings.

Marta: Feigling!

Carl: Sie reizen mich.

Marta lacht mutwillig auf; Carl berührt mit seinem Bleistift leicht ihre Hand; Marta lacht ihn aus, Carl schlägt.

Carl: Verzeihung – o! (Er will ihre Hand küssen.)

Marta: Das war gemein. (Sie schlägt stärker zurück.)

Carl (wehrt ab): O!

Marta: Das war gemein, hier!

Carl: Ich fange gleich an zu weinen wie ein Kind.

Marta: Pfui!

Carl: Sie sind herzlos.

Marta: Und Sie vielleicht nicht?

Carl: Ich war hilflos.

Marta (leichtfertig, kindlich und kokett): Und wenn ich Ihnen alle (greift in den Gürtel nach ihrem Kamillenstrauße) schenke?

Carl: Sie legten sie nun auf ein Grab.

Heinrich kehrt durch die Gartentür zurück – er nähert sich den beiden.

Marta (erschrocken zu ihm): Wie ein Dieb.

Heinrich: Bei den Füßen (zeigt sie) müßte man schon taub sein. (Er gähnt in verschiedenen Tönen.) Pius, kennen Sie ein Subjekt namens Amadeus?

Carl noch in Gedanken.

Heinrich: Er kennt Sie.

Carl: Der Amadeus mit dem gläsernen Herzen.

Marta: Warum kommst du schon zurück?

Heinrich: Weil ich müd bin.

Marta (zu Carl): Auguste kennt seinen Großvater, der war Glaser, und er deutet Träume.

Heinrich: Er hat mir soeben den Tod prophezeit.

Carl (ironisch): Die Deutung schmutziger Gewässer.

Heinrich: Nä – – – (zynisch, gutmütig) ich hab von faulen Eierschalen geträumt; für 10 Groschen wollte er mich auch nicht am Leben lassen.

Carl: Er ist konsequent.

Heinrich: Das muß man ihm lassen.

Marta: Oft sollen gerade so Leute wahr prophezein; erzähl es nur nicht Mama.

Heinrich geht zwischen den Zahnen summend ins Haus; vorher verschließt er die Gartentür.

Marta: Ich glaub, er hat doch was Angst.

Carl (lacht auf): Er hat es schon längst vergessen. Die Katzen schreien.

Marta: Wie kleine Kinder!

Carl schweigt.

Marta: Weiße Angorakatzen sind himmlisch.

Berta und Auguste schleichen um das Haus mit Briefen in der Hand und klettern über den Zaun.

Carl: Haben Sie Ihre Dienstboten gesehen?

Marta: Es sind doch auch Menschen.

Carl: Darum müssen sie gehorchen.

Marta: Eduard sagt immer, es seien arme, weiße Sklaven.

Carl: Eduard ist ein Idealist.

Die Katzen schreien wieder auf.

Marta: Das war die alte, greise Katze!

Carl: Ich werde noch tobsüchtig – – –

Marta lacht mutwillig, kokett.

Carl: Lassen Sie das Vieh!

Marta: Wie Betrunkene – (sie schreien wieder).

Carl: Sie lecken zuviel an den süßen, bunten Kelchen.

Marta: Auf meiner Decke liegt des Morgens immer Blütenstaub.

Carl: Ich schlafe nicht.

Marta: Wegen des Examens?

Carl: Ich habe täglich ein schwereres zu bestehen.

Marta: Meine Mama – – –

Sie sehen beide gespannt zum oberen Fenster der Villa; Carls Arme sinken schwer herab. Marta atmet laut auf, Frau Sonntag ist wieder vom Fenster verschwunden, man hört murmeln außerhalb des Gartens.

Carl: Mädchen!

Er reißt Marta an sich, sie aber entwindet sich seinem Arm und stürzt ins Haus. Carl bleibt allein. Der gläserne Amadeus, Pendelfrederech, Lange Anna bleiben am Eingang der Gasse stehen.

Lange Anna: Fises Mensch, zwei Stunden hab'n wir uns in die Winkels vor de Türen gedrückt, in der Zeit du prophezeit hast, un nu gibst de uns so 'en schäbigen Lohn?

Pendelfrederech: Un mir kriegst de auch nich mehr mit zum Bangemachen.

Amadeus: Ich hab euch nich zu eingeladen, mit mich zu gehen; un du, Frederech, vertreibst mich de Kunden mit deine offne Bux.

Lange Anna (schmeichlerisch zu Amadeus): Ich bin doch immer mit dich gegangen, un nun sprichst de so (stößt ihn mit der Schulter vertraulich an). Es hat wohl lang nicht geklirrt in dein zimperlich Herz?

Amadeus: Na, da hast es, aber en halben Taler mußt de mich lassen.

Lange Anna dreht sich um und stellt sich vor die Mauer.

Amadeus: Siehst de denn nich (zeigt auf das Schild).

Lange Anna: Ich hab überall Passe-partout.

Die beiden Mädchen kehren zurück, sie wollen schnell über den Zaun springen, sehen die Männer und schreien auf.

Amadeus: Nu schreit man nich so toll, ihr herrschaftliche Hurweibers.

Lange Anna (ganz hoch): Sollen wir ens?

Berta: Herr Pius!

Auguste: Helfen Sie uns!

Carl beachtet ihr Hilferufen nicht.

Auguste: Der eine kriegt mir an de Bein!

Die Mädchen schreien abwechselnd auf, sie sind endlich über den Zaun, laufen zu Carl.

Berta: Haben Sie die drei gesehen?

Auguste: Ich kann nich mehr, ich kann nich mehr, nä, ich kann nich mehr! (Amadeus lacht.) Hat die Frau nach mich gerufen, Herr Carl?

Carl: Darüber kann ich Ihnen keine Auskunft geben.

Pendelfrederech murmelt grausig, Lange Anna spielt auf seiner Handharmonika: »O, du lieber Augustin, alles ist hin, hin, hin – – –« usw. Sie gehen weiter durch die Gasse der Stadt zu.

Berta: So hochnäsig. Sie bilden sich wohl ein, Sie sind der Herr Eduard selbst?

Auguste (gutmütig): Lassen Sie ihm, Berta, es is ja sein Freund; was, Herr Carl?

Berta (plötzlich gewöhnlich): Mach, daß du zu Haus kömmst, de Großmutter will das Enkelsöhnchen noch in Schlaf singen.

Auguste: Still, Berta, er wird schon wissen, warum er hier sitzen tut.

Berta: Aber beim Fräulein brennt doch schon de rosa Nachtampel.

Die Mädchen schleichen durch den Kellergang ins Haus. Die Katzen schreien nochmal auf, man hört in der Ferne noch Lange Anna spielen: »Alles ist hin, hin – – –«


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