Elisabeth Langgässer
Triptychon des Teufels
Elisabeth Langgässer

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Mars

In O., einer kleinen Stadt am Rhein, trug sich im Jahre 1920, während der französischen Besatzung, folgendes Begebnis zu:

Eine junge Wirtsfrau, nachts in den Kissen sitzend, weil sie hochschwanger und daher beim Atmen behindert war, glaubte plötzlich entferntes Trommeln zu hören, das, je nach der Richtung des Windes, sich bald zu nähern, bald zu entfernen schien.

Einen Herzschlag lang erschrocken, wie es natürlich ist, wenn die Nacht sich fremder Laute bedient, entsann sie sich gleich danach, daß für die nächste Zeit wieder Einquartierung angesagt und schon vor Tagen auf die Häuser verteilt worden war: »Hommes«, »Chevaux« und »Officiers«, bedeutungsvolle Worte für die Einwohner des grauen Städtchens, leuchteten, noch ehe die Träger derselben leibhaftig eingerückt waren, von den meisten Türen herunter und trugen eine Kreideziffer davor, deren Höhe sich nach den Räumlichkeiten und dem Besitzstand des Eigentümers richtete und leicht hätte verwischt oder geändert werden können, wenn nicht der Umkreis des Schreckens größer gewesen wäre als die sichtbare Reichweite seines Arms. 10

Gleichsam zur Rechenschaft aufgefordert, überdachte die Wirtin noch einmal alle Vorbereitungen in Küche, Keller und Kammern, die halb dazu gedient hatten, die ungebetenen Gäste würdig zu empfangen, halb jener Übung von alters her gefolgt waren, Wertvolles zu verbergen, obwohl man aus vorangegangenen Wochen wohl wußte, daß eine Plünderung im Kleinen nicht zu befürchten war. Doch ist es Menschenart, in Erwartung großer Dinge die ersten Bräuche zu üben und dem Schauerlichen den Reiz kindlicher Spiele beizumischen, welche mit kecker Begierde das Schicksal umflattern wie Amor den Helmbusch und die Rüstung seines Vaters.

Ein Windstoß aus Südwesten blähte die gestärkten Fenstergardinen, und während sich gleichzeitig, durch eine Veränderung seiner Lage, das Ungeborene heftig bewegte, schien es der Frau, als ob jenes dumpfe Trommeln von Oboen, Flöten und Hörnern allmählich aufgehellt und höhergetrieben würde, bis es über einem Orte stillstand, den die Wirtin, der Herkunft des Schalles nach, als das Beinhaus neben der Kirche zu erkennen glaubte – ein unterkellertes Steingewölbe, dessen Wände mit Totenschädeln und gekreuzten Knochen ausgekleidet und in angemessenen Abständen von splitterigen Rosetten unterbrochen waren. Dorthin pflegte man bisweilen nach dem 11 Hochamt hinabzusteigen, um mit angenehmem Schauder die Überreste der Spanier von denen der Schweden abzusondern: jene waren kleiner und von vollkommener Rundung wie Kegelkugeln, diese nach hinten ausgewölbt und von zärterem Bau.

Jetzt freilich verkehrte die nächtliche Stunde den Genuß in sein Gegenteil, und von der Vorstellung toter Krieger hinweg, wandte sich die Wirtsfrau ihrem friedlich schlummernden Gatten zu, einem Mann in den besten Jahren, dessen mutterlosem Söhnchen sie ein voreheliches Kind als Spielgefährtin zugebracht hatte, die einen sanften, aber starken Einfluß auf den Knaben ausübte und seinen unvermittelt auftretenden Zornesausbrüchen wohltätig entgegenwirkte.

Erst am verflossenen Tage war die merkwürdige Leidenschaftlichkeit des Siebenjährigen wieder einmal deutlich geworden. Man war gerade dabei, einige sehr alte, schön geschliffene Römer in den Keller hinabzutragen, wo sie unter dem Stroh eines halbverfaulten Lattengestelles verborgen werden sollten, als der Kleine mit dem Schwesterchen hinzukam und, verlockt von dem grünlich schimmernden Glas, mit geschicktem Zugriff einen entwendete, um ihn an der Hofpumpe aufzufüllen, unter Prosten den Inhalt hinabzustürzen und dann den betrunkenen Mann zu spielen, welcher, 12 heimkehrend, seine Frau verprügelt, wobei er sich auf das Mädchen stürzte und, anfangs nur im Spiel, dann immer heftiger werdend, das arme Kind so jämmerlich bedrängte, daß es laut zu weinen begann und durch sein Geschrei den Vater aufmerksam machte.

Der Wirt, von Natur einer der gutmütigsten Menschen, hob den Knaben mit einer Hand empor und hätte ihn vielleicht nicht so hart gestraft, wie er es tat – er schlug ihn nämlich mit dem Lederriemen – wenn nicht die allgemeine Not der Zeit und der ständige Anblick der Bedrückung des Schwächeren ihn reizbarer gemacht hätte und empfindlich gegen jede Art von Vergewaltigung. Erst als die Mutter bestürzt und schwerfällig hinzugeeilt war, hatte er von dem Knaben abgelassen; doch wollte, nachdem das Pärchen schon lange, friedlich umschlungen, eingeschlafen war, die Verstimmung über dieses Vorkommnis und vielleicht auch über die eigene Zügellosigkeit nicht von ihm weichen und hatte wie Alpdruck über den ersten Stunden seiner Ruhe gelegen.

Als ihn jedoch die Frau, das Kinn auf die Faust gestützt, jetzt betrachtete, gab er wieder ganz das Bild jenes Mannes ab, dem der schwarze kleine Schnurrbart, an den Enden leicht emporgekräuselt, und das burgunderrote Netz der Wangen so wohl anstanden, daß das Gefühl der Lebenssicherheit, welches vor den 13 gespenstischen Tönen entflohen war, in die Adern der Frau nicht nur zurückkehrte, sondern, gespeist aus keinem anderen Grunde als ihm selbst, sich fast zu leichtem Übermut steigerte. Den hohen Schoß vorschiebend, glitt sie zum Bett hinaus, schlug die Gardinen zurück und sog mit Mund und Ohren das laue Tosen der Nacht in ihre Sinne ein, die sich der Lust schon lange entwöhnt hatten und nur noch dem diebischen Handwerk frönten, den Wein und die Speisen der Gäste zu kosten, durch freundlich-rasches Blicken zum Trinken zu ermuntern und schon beim Einkassieren den Tagesverdienst zu ertasten.

Die Trommeln über dem Beinhaus waren nicht mehr zu vernehmen; doch wie, wenn das schlummernde Schicksal, erst einmal angerührt von einer Möglichkeit, dieselbe übertrifft, warf nun der wachsende Sturm ein tausendfaches Echo der kriegerischen Musik aus Gassen und Winkeln zurück, pfiff, stöhnte und heulte in dem Hohlweg um die Kirche und trieb die Wolkenhügel so plötzlich von der Szene, daß aus dem rosigen Mauerwerk die angehaltnen Chimären herauszufahren schienen und mit der Zunge bleckten.

Ein Gewitter zog vom Rhein her, und indem sich die Wirtin hinausbog, um den Laden vorzulegen, stieß sie das Fenster an und hörte ihren Gatten mit leisem Knurren in die Höhe fahren. 14

»Horch«, kam sie ihm zuvor, »die Franzosen sind schon da.«

Der Mann sprang eilig auf, fuhr in die Unterhosen und lauschte lange auf die dunkle Straße, als wäre, was beide fürchteten, den sausenden Geschossen, die von weither kommen, ähnlich und schickte seiner Ankunft ein Warnungssignal voraus.

»Du bist wohl nicht ganz klug«, wies er dann seine eigene Täuschung ab und suchte nach Männerart den Fehler auszugleichen, indem er auf die nackten Füße der Frau schalt, auf ihre Leichtgläubigkeit, und es unbesonnen hieß, daß sie sich in diesem Zustand der Nachtluft ausgesetzt hatte. Die Frau, das dunkelblonde Haar zu einem Knoten schürzend, erwiderte ihm nichts und ging, als er den Arm um ihre Schultern legte, gehorsam zum Lager zurück, wobei sie den Nacken tiefer senkte, als es sonst ihre Art war, und dort mit angezogenen Knien in die Finsternis starrte, welche jetzt immer häufiger von Blitzen zerrissen wurde, denen ein schwacher, noch weit entfernter Donner folgte.

Der Mann, bereits wieder im Gleichgewicht, versuchte sie niederzulegen und tastete über den zuckenden Leib nach ihrer Brust empor, in welche die Milch schon eingeschossen war und das Hemd darüber durchnäßt hatte. Betroffen fuhr er zurück, als habe er unversehens 15 ein glühendes Eisen berührt, das soeben in Wasser geworfen und erhärtet worden war. Hierauf, sich mühsam bezwingend, sprach er ein Ave Maria und dann die Anrufung Michaels, des keusch gepanzerten Fürsten, entfernte sich haßerfüllt von dem Ansprung seiner Begierde und fiel sofort in einen traumlosen Schlummer, aus welchem ihn erst der Lärm des Hauses erweckte, das von dem Erdgeschoß bis unter den Boden zitterte, dröhnte und stampfte wie ein Pferd, das vor dem Reiter bebt.

Der Gasthof »Zum Kappenkerl«, wie er sich nannte, hatte ursprünglich zu dem Wirtschaftsgebäude eines Klosters gehört, das während der Reformationszeit säkularisiert worden und in den darauffolgenden Religionskriegen bis auf die Grundmauern niedergebrannt war; nur eine kleine Kapelle innerhalb der Klausur, deren schöngeschweifter Bogen St. Martin mit Schwert und Mantel, Gloriole und Bettler im Zwickel trug, hatte den Flammen widerstanden und diente jetzt, da sie stets trocken und von gleichmäßiger Kühle war, als Aufbewahrungsraum für ungeräuchertes Fleisch. Auch setzte hier der Wirt den feinen Klosterlikör an, dessen Rezept einer seiner Vorfahren, welcher den Mönchen bei der überstürzten Abreise behilflich gewesen, aus den Händen eines Laienbruders empfangen hatte. Dies und die Überlieferung eines printenartigen Gebäcks, 16 welches um Weihnachten weithin verschickt wurde, sollten, wie man erzählte, Ursprung des heutigen Wohlstandes sein.

Weinberge, deren Lage berühmt, und Äcker, welche dem Anbau jeder Art von Gemüse dienlich waren, hatten sich im Laufe der Zeit hinzugefunden, und der jahrzehntelang geübte Brauch, angrenzendes Besitztum oder gleichgeprägte Münze durch Heirat zu erwerben, wie man Schmuckhälften oder Schwert und Schild zusammenfügt, mochten schließlich den Reichtum der Familie so bedeutend erhöht haben, daß der jetzige Besitzer ein armes, doch flammend-schönes Mädchen, an welches ihn Zuneigung, Pflicht und Dankbarkeit gleicherweise banden, zur Ehe nehmen konnte.

Diese seine zweite Gattin war kurz nach dem Heimgang der ersten Frau als Haushälterin zu ihm gekommen und wurde ihm bald mehr, ohne ihn jedoch das sanfte Antlitz ihrer Vorgängerin vergessen zu machen, von deren Sterbebett hinweg er in das Heer eingezogen und an die Westfront verschickt worden war.

Dort hatte man ihn bald, seiner wirtschaftlichen Kenntnisse wegen, in die Etappe zurückgezogen und in dem üppigen Überschwang der ersten Siegesfreude auf einem alten Landhaus, dem Standquartier hoher Offiziere, als Koch und Kellner beschäftigt. Dieses weitgebaute Schloß, von verschnittenen Bäumen umgeben, 17 lag in den Ausläufern der Ardennen, die sich gerade hier, einem Seitental der Aisne folgend, in die Ebene hinabsenken, und besaß eine Orangerie, die der entflohene Besitzer als Rebentreibhaus benutzt und mit einer Warmwasseranlage hatte versehen lassen.

Abwechselnd ging dort der Gute zwischen den verwaisten Schößlingen einher, sich um das Geheimnis ihrer Kreuzung bemühend, und den Tafeln der Offiziere; trug den gekühlten Wein von der zerschossenen Balustrade, wo traurige Nymphen nur mehr die Gebärde ihrer Arme an holde Brüste hoben, zu den abendlichen Orgien des Militärs und vermied es, jenes Weibliche anzuschauen, das nackt und geduldig über den Knien der Offiziere lag, als atmender Kartentisch diente und, wenn flüchtig ein weißes Taschentuch über sein Haupt geworfen wurde, dem Torso einer Göttin ähnlich sah.

Wiederholten Urlaub nützend, fand der Wirt sein Eigentum ruhig und friedlich verwaltet, das Söhnchen in treuester Obhut und die inzwischen geborene Tochter ihm selbst so wunderbar ähnlich, daß er nach Beendigung des Weltkriegs nicht länger zögerte, sich nicht nur vor der Natur, sondern auch vor dem Gesetz der Menschen und dem Hochaltar der Kirche mit der jetzigen Frau zu verbinden und an die verflossenen Jahre nur wie an einen 18 Traum, oder besser: mit einem so vagen Gefühl zurückdachte, wie es ein Mädchen haben mag, das im Dunkel umarmt worden ist.

Auch durch die rasch nachrückende französische Besatzung hatte sich das Bild des Krieges, wie der Wirt ihn gesehen, nicht wesentlich verändert – nur daß die Rollen vertauscht waren und die Siegerkostüme gewechselt hatten. Mit dem Fatalismus desjenigen, der stets Gewinner bleibt, wie auch die Würfel fallen, sah der Wirt die Soldaten kommen und gehen, kaufte und verkaufte, handelte und wandelte im Schatten des Schicksals und glich jenen römischen Marketendern, die den Heereszügen der Legionäre gefolgt waren und am Rhein gesiedelt hatten, ohne selber die Geißel, das Blutopfer und die Blendung der Gottheit erfahren zu haben.

Nur, wenn ein Truppenteil abgezogen und der folgende noch nicht eingerückt war, in jenen stilleren Zwischenräumen, wo der Wellengang sich beruhigte und das leere Boot der Tage dem Nachthimmel offenlag – überkam den Wirt ein Schauder, den er nicht deuten konnte. Oft schrak er dann, die Decke abwerfend, empor und glaubte den längstvergessenen Namen einer französischen Ortschaft auszusprechen, während seine Gattin ihn fragte, warum er nach ihr gerufen habe. Beide Namen aber sanken ihm dann sofort wieder unter, und er 19 erinnerte sich am Morgen weder jenes Ortes, an den ihn der Traum entrückt, noch der schlafgetränkten Gebärde, mit der die Angesprochene sich auf ihn niedergebeugt hatte.

Johanna hingegen, die Frau, verhärtete sich tagelang nach solchen Stunden der Schwäche; zwar nicht so, daß sie auf den Mann losfuhr oder ihn vor den Augen des Gesindes herabsetzte, sondern eine Stille breitete sich über ihr ganzes Wesen, die erschreckend war, weil die jähen Züge ihrer Seele, welche sich sonst auf der lebhaft bewegten Oberfläche des Daseins harmlos tummelten, nun fest und geronnen hervortraten wie Adern in einem geflammten Stein.

Häufig geschah es dann, daß sie ein schlecht gereinigtes Gefäß hochhob, als wolle sie es zerschmettern, um es gleich danach achtsam niederzusetzen oder den ängstlich wimmernden Hund an beiden Ohren emporzog, hierauf ihm in die Schnauze blies und mit verächtlichem Schlag auf seinen Rücken davonging.

Auch liebte sie es, in zornigen Worten von jenen Männern zu reden, die den Feind im Lande ertrügen; kam aber ein neuer Zug, so trieb sie geheime Unrast zur Bürgermeisterei, wo die Quartierzettel ausgeteilt wurden, und zusammengestellte Bajonette wie eiserne Garben zum Himmel starrten.

Scheinbar völlig unbeteiligt, bezahlte sie dort 20 eine Steuer oder dingte auf dem Arbeitsamt eine Aushilfskraft für den Hof, der sich ständig vergrößerte und zur Zeit, wo diese Begebenheit spielt, zum erstenmal Offizierspferde aufnahm, deren Reiter in den Gastzimmern einquartiert und in einem Sälchen bewirtet werden sollten, das hierdurch gewissermaßen zum Offizierskasino der Stadt gestempelt wurde.

Die Zimmer hatte Johanna schon vor Tagen richten lassen und, wohl wissend, was den Herren genehm war, mit eigener Hand jene kriegerischen Bilder entfernt, die Blüchers Rheinübergang bei Caub oder die Erschießung der Schillschen Offiziere darstellten, und dafür Rasierspiegel zwischen den Fensterpfeilern aufgehängt, das obligate Tintenfaß nachgefüllt und die altertümlichen Ruhebetten, auf welche sich das Militär mit Sporen und Stiefeln hinzustrecken pflegte, sorgfältig überdeckt.

Trugen somit die Schlafzimmer den Anstrich einer nüchternen Zweckmäßigkeit, die sich im Grunde mehr um die eigene Sicherheit als um das Behagen der Gäste sorgte, so war der kleine Saal in einem Stand verblieben, der die Einziehenden über die wahre Gesinnung ihrer Wirte täuschen oder mindestens zu unbestimmten Vermutungen reizen konnte.

Nicht, daß vom vergangenen Winzerfest her, das trotz der Notlage in bescheidenem Ausmaß 21 und als Entschädigung für die verlorene Fastnacht gefeiert wurde, noch künstliche Rebengirlanden und Glastrauben von der Decke herniederhingen und die Vorhänge mit bunten, jetzt schon verstaubten Papierrosetten besteckt waren – nicht diese Maskerade war das eigentlich Fremdartige des Offizierskasinos.

Vielmehr, zunächst kaum bemerkbar, dann aber höchst augenfällig, mußte eine Pfropfensammlung des Wirts die Aufmerksamkeit jedes Beschauers zu sich hinlenken und seine Blicke auf ihr verweilen lassen.

Es waren zum Teil sehr alte und wertvolle Figürchen auf Korkpfropfen, die von einer Nadel durchbohrt und für gewöhnlich in dem Samtbelag einer Vitrine aufgespießt waren – nun aber überall, bald vereinzelt, bald zu Gruppen geordnet, an Spiegelrahmen, Polsterlehnen und auf dem Gläsertisch staken und eine gespenstisch-frohe Gesellschaft bildeten, eine Runde frecher Püppchen, die nicht willens schien, den Eindringlingen Platz zu machen. Hier warf eine kleine Fortuna das lockige Haupt in den Nacken und sah, spöttisch über die Schulter gewandt, einen bärtigen Ziegenbock an, der sich nach den Früchten des Füllhorns reckte und kläglich auf den Hinterhufen stand; dort tanzten einander zwei derb Verliebte zu; ein schön gekrümmter Hund leckte sich unterm Schwanz, und der 22 dickbäuchige Silen schien ernsthaft darüber nachzusinnen, ob sich der Wein durch den gestreckten Phallus nicht ebensowohl wie durch den Spund der Flasche ergießen könnte.

Niemand anders als der Wirt mochte sich diesen Scherz erlaubt und das kleine Gesinde hier aufgestellt haben, denn er allein besaß den Schlüssel zur Vitrine und verfügte darüber mit einer Ausschließlichkeit, die Johanna in dem Gefühl völliger Zurückhaltung bestärkte, das sie als Eingenistete sehr tief besaß, wo es sich um Eigenheiten oder einen von alters her ererbten Besitz ihres Mannes handelte. Zwar gab es dieser Vorrechte nicht viele, und der Wirt suchte sie eher zu verschweigen als fühlbar zu machen – wie denn auch er es war, der die neue Schwangerschaft seiner Frau länger zu verbergen trachtete als sie selbst, die allen Dingen mit offenen Sinnen stürmisch vorauseilte und nur durch die Begegnung mit dem Geheimnis des Mannes, sei es Besitz oder Zeugung, gefügiger wurde und anhielt.

Mochte nun der Wirt, wie er es in Zeiten der Ruhe manchmal tat, sich mit seiner Sammlung beschäftigt und dann die Figuren einzuräumen vergessen oder sollte er sie, die eigenen Träume beschwörend, den Ankömmlingen absichtlich hingerückt haben – erwartend, wer Spielzeug und Spieler sei – soviel stand fest, daß Johanna dieselben unberührt an ihrem 23 Platz beließ, als sie das Sälchen vor einigen Tagen lüftete, die Überzüge von den Polstern wegnahm und das mechanische Klavier, welches auf einen Groscheneinwurf hin »Ännchen von Tharau« spielte, wieder aufzog. Die Arme unter der Brust gekreuzt, hatte sie, vielleicht zum erstenmal mit vollem Bewußtsein, die Sammlung ihres Mannes betrachtet und neben dem Gefühl für den Wert derselben eine unbestimmte Lust, sie zu zerstören, empfunden, eine leise Eifersucht, die sie auch wieder beglückte und mit der süßen Pein erhoffter Züchtigung tränkte. Dann plötzlich, noch ehe sie nachgedacht hatte, schob sich das ferne Bild der Soldateska dazwischen und trieb sie an andere Arbeit, indessen der kleine Saal wie ein uneingelöstes Versprechen unter Traubengirlanden versank.

Sie war keine andere, als sie an diesem Morgen dem Einzug der Gäste entgegensah, indessen der plötzlich erwachte Mann mit unrasiertem Gesicht die Treppe herunterstürzte und Befehle durch das Haus schrie, die lange überholt oder deshalb sinnlos waren, weil sie bereits getroffenen Anordnungen widersprachen.

Bei den Stallungen sprangen die Reiter ab und büßten ihren Übermut, von der Straße her eingezogen zu sein, mit Flecken an den hellgelben Gamaschen, denn das Wasser stand hier in Tümpeln, erfüllt von Strohhalmen, Mist und 24 verschlepptem Hühnerfutter, grell überglänzt von einem föhnigen Licht, das zugleich brannte und schläfrig machte. Sehr helle Stimmen durchpfeilten jetzt den Hof mit ihrem scharfen Akzent und schienen einander bald zu verstärken, bald übertönen zu wollen, wobei auch das fremde Ohr begriff, daß es sich darum handelte, dem eigenen Pferd die geräumigste Box zu sichern und die tunesischen Burschen zur Eile anzutreiben.

Ein wunderliches Getümmel von mostrichfarbenen Uniformen und schweißigen Pferdeleibern schien jeder ruhigen Besinnung und der Möglichkeit zu entbehren, einen friedlichen Ausgang zu nehmen – wer aber genauer hinsah, vermochte zu erkennen, daß die eingeborene Lust, eine Unterkunft aufzustöbern und sich prahlerisch zu gebärden, auch vor den männlichen Gesten des Kriegerhandwerks nicht anhielt, und was Verzögerung, Zorn oder Unwillen schien, nur ein Treiben des tollen Blutes erhitzter Knaben war, die Zaumzeug und Pulver gerochen hatten.

Überall gleichzeitig, drängten andere um den Wirt, wechselten Geld und verlangten zu baden oder eilten, hemmungslos schwatzend, zu ihren Zimmern hinauf, um sie mit Lärm und Lachen anzufüllen und auf unerklärliche Weise durch ein paar flüchtige Griffe für sich in Besitz zu nehmen. Auch wurde warmes Frühstück 25 gefordert, und während Johanna eine Schürze voll Eiern zur Küche trug, wo schon mächtige Schinkenstücke in flammendem Schweinefett brieten, folgte ihr das farbige Volk der Gemeinen nach und belud seine Weißbrotschnitten mit flüssiger Marmelade, die zwischen den kindischen Händen und von dem weißen Gebiß der Braunen heruntertropfte. Auf dem Hof trugen Knechte Arme voll Heu herbei, um die Pferde zu füttern, die wiehernd und dröhnend mit den Hufen an die Bretter schlugen, und der grau gefellte Hund des höchsten Offiziers, ein riesiger Wolf mit allzu schmalen Flanken, zwischen denen die Rippen zuckten, hatte das zitternde Tier vor der Hütte gestellt, welches laut zu heulen begann.

Der kleine Sohn des Wirts, das Schwesterchen an der Hand hinter sich herziehend, trat heftig auf ihn zu, erschrak aber tief vor den glühenden Augen des Wolfes, die sich prüfend gegen ihn wandten und berauschte sich dann entzückt an der unbegreiflichen Freundlichkeit, mit welcher der Gefährliche ihm plötzlich zuzuwedeln begann. »Nora, hierher!« rief jetzt die Schwester scharf, griff in das Halsband der Schäferhündin, die auf dem Bauch herangekrochen kam, und führte sie, zwischen ihr und dem Bruder gehend, mit leichter Mühe zur Waschküche hin, um sie dort einzuschließen, dem Kleinen um den Hals zu fallen und ihn unter Tränen, 26 die unvermittelt hervorbrachen, anzuflehen, nicht mit dem Wolfshund zu spielen. Dem anfangs erstaunten Brüderchen schwoll daraufhin der Kamm. »Natürlich tue ich es!« rief er mit trotziger Stimme, als habe ihm erst die Schwester diese Möglichkeit entdeckt und fügte überlegen, in tröstendem Tonfall hinzu: »Doch nicht, wenn du dabei bist, Lenchen, und wieder zu weinen anfängst.« Das Mädchen, klein und fest, sah ihn von unten herauf mit einem schiefen Blick, der in tränensüßer Feuchte schwamm, ergeben und listig an. »Wenn du erst groß bist . . .« sagte es dann leise, und ein blasses Wetterleuchten saß ihm im Augenwinkel.

Als hätte der Kappenkerl die Haube zurückgeschlagen und ließe sein Reitergesicht und unter dem Mönchsgewand den Schnitt einer Uniform sehen, entpuppte sich der Gasthof als überaus günstige Unterkunft für die fremde Einquartierung.

Die Gastzimmer, in einem Seitenflügel gelegen, hatten Fenster sowohl nach der Straße und den Clairons-Signalen als auch zum Hof hinaus, wo die strohbeworfenen Burschenkammern, dicht neben den Stallungen, lagen. Gewaltige Eichenschränke, die nach Kräuterbüscheln rochen, beherbergten Peitschen, Monturen, Reitstiefel, Sporen, Maulkörbe, und die breiten Aufsätze der Waschkommoden trugen die 27 Toilettengegenstände: Bürsten, Schwämme und halb aufgerissene Schachteln, die Puder und Seife enthielten.

Als Johanna später hinaufstieg – das Militär war zu den Übungen ausgeschwärmt – fand sie genug zu ordnen. In dem unbestimmten Gefühl, die Gegenwart der Soldaten gleichsam hinauszubeschwören, wenn sie den Charakter der Zimmer änderte, begann sie aufzuräumen, ergriff hier ein Paar Handschuhe, die keck und lässig umherlagen, dort eine Schnurrbartbinde und warf sie hastig in die halb geöffneten und schon überquellenden Schubladen, strich Bettbezüge und Kissen glatt und blieb endlich vor einem Waschtisch stehen, der in seiner bunten Überladenheit jeder Beschreibung spottete.

Er trug die gemeinsame Habe zweier junger Offiziere, die zum erstenmal verschossen waren und daher an Wangenschöne, Figur und Nagelpflege Narziß und Adonis beschämten. Erstaunt nahm Johanna einen Expander wahr, der dazu dienen sollte, die Knabenbrust zu weiten und mit überdehnten Spiralen an dem Bettpfosten hing, und ging, sich mühsam im Gleichgewicht haltend, wie ein schwankendes Schiff auf den eingelassenen Spiegel zu, welcher alle Gegenstände verdoppelt zurückwarf und an den Rändern verzerrte.

Mit spitzen Fingern hob sie ein Döschen auf, 28 das lockeren Puder enthielt und las darauf »Houbigant«, drückte den Wattebausch gegen die Nase und leckte dann hastig den Staub von der Oberlippe wie ein Kind, das Zucker genascht hat; es schmeckte scharf und süß und erinnerte die Frau an den Geruch von Flieder, dessen Blütchen sie abzureißen und auszusaugen pflegte, als sie ein junges Mädchen und noch so unbändig war, daß jeder Bursche sich scheute, sie zum Walzer aufzufordern – – Nun ja, das hatte ein Ende, als das erste Kind sich regte und der Hof auf ihren Schultern lag, vier schwere Jahre hindurch. Wenn man es richtig ansah, so hatte sie ihn verdient und durfte ein wenig mißachten, was ihr als höchstes Gut und Inbegriff aller Wünsche bisher erschienen war . . . ihre Hände tasteten weiter und ergriffen mechanisch eine abgeschraubte Zinntube, welche Zahnpasta enthielt, rollten langsam das untere Ende auf und schoben den gelblichen Strang gedankenlos heraus. Freilich, der Mann war gut und nur ganz selten betrunken . . . dieses Rote hier mußte Mundwasser sein und war, seiner Etikette nach, in Mainz, auf der Ludwigstraße, gekauft worden. Das konnte man noch ein Leben nennen, als man damals zur Narrensitzung in die große Stadthalle ging und sie sich ein Kostüm aus bunten Lappen nähte, das Einer »Windsbraut« nannte – die Unterseite des Röckchens war ganz aus 29 Silberflitter und blitzte wie diese Kristallflasche da – –

Hier war der Spiegel stumpf von einem Seifenflecken; sie rieb mit dem Ärmel daran und faßte sich ins Auge, schob die gefährlichen Brauen über der Nasenwurzel zusammen und starrte unbeweglich auf ihr schönes Ebenbild. Die Stirn war kühn und frei und weit zurückgewölbt; das Haar sprang in spitzem Winkel, fast rötlichblond, hinein und dunkelte erst nach dem Nacken zu, wo der Knoten lastete. Die etwas kurze Nase stand über einem Mund, der aussah, als wäre er kleiner gedacht und von irgendeinem Schrecken an den Winkeln zerrissen worden – er schloß sich nur selten ganz und ließ immer die Zähne sehen, welche leicht auseinanderklafften, scharf, spitz und bläulichweiß wie Hundezähne waren . . . Eine namenlose Verzweiflung, von der sie selbst nichts wußte, lag über diesen Formen und verlor sich im Hintergrund der schiefergrauen Augen, die erst lebendig wurden, wenn die Pupille sich weitete und dann festhielt, wen sie wollte. Der Flecken nahm nicht ab, obwohl sie dagegen hauchte; es mußte ein Kratzer sein, der soeben das neue Spiegelglas häßlich verunziert hatte. Verdammte Männerwirtschaft! Sie sah die Milchbärte vor sich, wie sie in törichtem Ungeschick mit dem Käppirand entlang streiften. Eine grenzenlose Wut stieg in Johanna 30 empor, auch schmerzte sie die angedrückte Brust, und das Lachen eines Pferdejungen, der auf dem Hof mit Magdalenchen scherzte, war Grund genug für sie, das Fenster aufzureißen und zornig hinunterzuschreien, es sei ein wahrer Jammer, daß solche Burschen wie er nicht mehr Soldat zu werden und zwei Jahre zu dienen brauchten – doch sie werde ihn schon das Striegeln lehren und seine Mähne kämmen.

Indem sie sich zurück- und in das Zimmer wandte, schlug der beklemmende Duft aus Männerparfüm und Puder aufs neue zu ihr hin und machte ihr plötzlich übel. Die Hand auf das Herz gepreßt, tat sie rasch ein paar Schritte zum Bettrand hin und sank trunken darauf nieder. Ihre Sinne verbrausten allmählich, und ihr ganzes Wesen trieb aufgelöst an die entfernten Ufer heroischer Gestade. Sie hörte FIötenmusik und schmetternde Signale, den Takt eines mutigen Marsches und das Wiehern steigender Pferde, sah sich als kleines Mädchen auf einem Schecken reiten, der bockend nach hinten ausschlug und sammelte sich erst mühsam, mit der Stirn an die Holzstatt schlagend, als die Einquartierung zurückkam und die vorderen Räume der Gastwirtschaft, wie Schwalben den Draht, besetzte.

Es waren auch Gemeine da, die Zigaretten kauften und im Stehen etwas tranken, um über das Glas hinweg die Wirtin begehrlich zu 31 mustern, welche hinter dem Schanktisch hantierte, der ihre Schwangerschaft verbarg und nur die prächtigen Schultern und das gleichmütig-stolze Gesicht freiließ. Ihr Mann ging ab und zu und brauchte sein bißchen Französisch von der Bürgerschule her, um die Offiziere zum Trinken der besseren Schnäpse anzuhalten und ihnen Wechselgeld aufzuschwatzen, das einen höheren Kurs vorsah als den eben gebräuchlichen; auch wußte er, daß menschlichere Gesten sich einzustellen pflegen, wenn die trennenden Sprachmauern fallen und ein gemeinsamer Raum entsteht, in welchem Plüschmöbel, Tische und Stühle besser geborgen sind, weil sie dem Sieger vertraut und wie sein Eigentum klingen. Dazu kam, daß in diesem Grenzland die Namen des Gesindes vielfach noch Jean oder Jacques, Claire und Lisettchen hießen – und er versäumte nicht, sie munter anzurufen, vorübertanzen zu lassen und schließlich die Offiziere durch den klappernden Klang des Klaviers in das hintere Sälchen zu locken, wo auch ein Billardtisch stand und verschiedene Brettspiele dazu aufforderten, gesellige kleine Gruppen zu bilden.

Es dämmerte bereits; Regen, mit Schnee vermischt, troff lau und zögernd vom Himmel; eine Magd legte umständlich Feuer an, und die Offiziere schoben sich plaudernd über die Schwelle . . . 32

Der Comte de Villaneuf schnipste hörbar mit den Fingernägeln und pfiff die ersten Takte der Marseillaise dazu; ein dicker Südfranzose mit vorgewölbten Augen und schmerzlichem Rüsselmund legte ächzend den Kopf in den Nacken und schüttete ein Pulver, das furchtbar nach Kampfer roch, den kurzen Hals hinunter, indessen sein Milch- und Waffenbruder ihn mit der Reitpeitsche juckte, und ein rosiger junger Leutnant wie verrückt nach Sauerkraut schrie. Der Wirt wollte Licht einschalten, vergriff sich jedoch und entflammte, sein Ungeschick verwünschend, die bunten kleinen Birnen der üppigen Weingirlande, so daß eine blendende Dunkelheit das niedre Gelaß erfüllte, dessen unbedeckte Fenster sich schwarzblau verfinstert hatten.

»Oh la la!« rief der Dicke und riß etwas aus dem Gürtel; ein krachender Schuß fuhr los, das Rebengehänge schaukelte, und eine rötliche Traube rieselte klirrend herab . . . Donner und Blitz war eines; dann jubelten alle dem Schützen zu und trugen ihn auf den Schultern zur Tafel hin, die schon gerüstet war und zweierlei Gläser für die abendliche Hauptmahlzeit vorgesehen hatte.

Der Wirt eilte zitternd herbei, um die Karte vorzulegen, drehte den Lüster an und die leidigen Glühbirnen ab, wodurch die grünbraunen Blätter wie Motten zusammenfielen und 33 gab die Wünsche nach Rießling, Burgunder und Nackenheimer, gesottenem Hühnchen und Reis, Salat und jungen Tauben, Rehrücken mit Preißelbeeren und was dergleichen mehr war, nach Küche und Keller weiter, heimlich zuerst den Wein und dann das Wild befehlend, in der Hoffnung, daß ein Gaumen, der schon getrunken habe, nicht mehr zu wählerisch sei. Ein Offizier mit graumelierten Schläfen winkte den Wirt herbei und flüsterte ihm etwas ins Ohr, wobei seine Zunge sichtbar wurde, als prüfe er Federweißen. Bald danach trug ein schönes Kind, die Tochter des ersten Knechtes, die bestellten Getränke herein, wich geschickt den tastenden Händen aus und tat sparsamen Bescheid, ohne die Prostenden zu verletzen oder furchtsam aufzuschreien, wenn Einer ihr an die Waden griff.

Die Offiziere, noch alle ziemlich nüchtern und gelangweilt vom hungrigen Magen her, tippten bald da-, bald dorthin, wo die Brettspiele standen, setzten Schachfiguren auf, um sie gleich wieder umzuwerfen und prüften den kleinen Saal mit jener Männerblindheit, die erst am sinnlichen Anreiz und aus gesteigerter Laune für etwas sehend wird. Ein paar schoben Billardkugeln aus lustlosem Handgelenk; der Provençale dagegen, der als sehr ehrbar galt, hatte die merkwürdige Entdeckung gemacht, daß aus dem Walzenklavier »Ännchen von 34 Tharau« trat, wenn er statt des verlangten Groschens die Klinge eines Taschenmessers fest gegen den Einwurf drückte – ein Umstand, der seinen Patois zu ungeheuerlichen, doch fast nur ihm allein verständlichen Zoten reizte.

Inzwischen hatte der Saal sich erwärmt, die Vorhänge waren geschlossen und die Gerichte aufgetragen worden. Das junge Mädchen mußte sich unbemerkt entfernt haben, denn sein Amt versah jetzt der taube Jean, ein alter Flaschenspüler, der ängstlich die Tablette hob und sie klirrend niedersetzte. Bald nahm die Mahlzeit alle Männer in Anspruch, und ob sich auch der eine oder andere bemühte, ein Tischgespräch in Gang oder einen Trinkspruch auszubringen, hatte jeder so viel mit dem zarten Fleisch der Poularde und nachher mit dem Benagen und Saugen der Knochen zu tun, daß eine andere Stimmung als die animalischer Freuden nicht eigentlich aufkommen konnte. Auch der Wolfshund des Vicomte war plötzlich unter den Schmausenden, schob sich mit hungrigem Eingeweide zwischen unwillig zuckenden Knien hin und zerknirschte ruckweise, was man ihm gönnte. Geruch von gebratenen Speisen, verdunstenden Weinflaschen und Männerbrüsten, die unter der gelockerten Uniform dampften, lag über dem kleinen Saal und verdichtete sich allmählich zu jenem Gefühl der 35 Trauer, das nach siegreich geschlagener Mahlzeit die Satten überfällt. Träge damit beschäftigt, schon weggeschobene Reste noch einmal herzunehmen und auf letzten Behang zu prüfen, überkam schon einige Ekel und das Verlangen nach Schnaps. Sie forderten Curaçao, Zigarren, Mokka double und begannen wieder aufzuleben, wie Geflügel herumzuflattern und mit der Zunge zu schlagen . . .

Dem Wirt perlte Stirne und Hand. Er öffnete ein Fenster, und sofort blähte sich der weiße Bauch der Gardinen schamlos ins Zimmer hinein. Rauchige Nebelluft, mit Teer vermischt, strömte nach. Eine Schiffspfeife heulte lange wie ein gestochenes Schwein, klagte, dünner werdend, aus und ließ das bange Gewimmer der Abendglocke zurück, welches von ihr übertönt worden war. Der Wirt schlug verstohlen ein Kreuz und deckte leicht mit der linken Hand jene Stelle, wo unter der Weste das Skapulierband ruhte, und wandte seine Neugier von den frechen Anekdoten ab, die bald wie luftige Blasen aus gefüllten Wänsten stiegen.

Der Elsässer Jean-Baptiste, ein hübscher brauner Junge, begann halb französisch, halb deutsch: »Sainte Marie« sagte mein Liebchen, »qui a conçu sans pêcher: gib, daß ich sündige – – »sans concevoir« lachten alle, und der nußbraune Jean fuhr fort: »Ein Fuchs ging in 36 den Weinberg« – »tü ta tü Lafontaine«, unterbrach ihn der Vicomte – »Ah non! Dort war eine Falle!« »Eine Falle für den Fuchsschwanz« sang der fette Provençale, ließ sich aufs Sofa fallen und schnellte gleich darauf mit einem quieksenden Schrei entsetzt und jammernd empor; dann griff er, als ob eine Wespe da säße, vorsichtig an den Hintern und zog einen Pfropfen heraus, der mit der Nadelspitze dort eingedrungen war. Sofort umringten alle den Dicken, welcher sich inzwischen gefaßt und aus seiner Lage das Beste gemacht hatte, indem er die kleine Fortuna mit spitzen Fingern emporhob, unter zierlichem Pfeifen dem Ansturm wehrte und ihre Brüste zu rühmen begann, zwei unwahrscheinlich runde und hohe Äpfelchen, die jeder begutachten durfte.

Es kam, wie es kommen mußte. Hat einer die erste Wanze oder eine Beere im Gras gefunden, dann sieht er bald überall noch mehr von der gleichen Art. Das elbische Gesinde war im Augenblick entdeckt, und indem man es beschaute, hin- und herwandte oder sich leicht an den Nadeln verwundete, drang das süße Gift der Verführung zwar nicht zum Innersten vor, wohl aber regte es in dem schlafenden Stier der Wollust jenen zürnenden Übermut auf, den das feine, gefährliche Brennen der tückischen Pfeile verursacht. Die jüngeren Offiziere umschlangen einander und fingen mit jenem 37 Ausdruck zu tanzen an, den Matrosen haben, die schon lange an Bord und von den Frauen getrennt sind; andere spießten die Figürchen auf den grünen Filz des Billardtisches, um sie dort in unanständige Beziehung zueinander zu setzen und jene alte Vermählung von Tier und Mann zu feiern, die in der Gestalt des Kentauren ihren Ausdruck gefunden hat.

Jetzt war der Zeitpunkt gekommen, wo man nach alten Weinen und Kupferberg Gold verlangte. Der Wirt stieg selbst in den Keller, um die mittleren Sorten zu holen, welche älter etikettiert und an verborgener Stelle aufbewahrt wurden, und ging, während er das taghell beleuchtete Hauptgewölbe hinter sich ließ, mit der Taschenlaterne in einen Seitengang, der tiefer gelegen war und einst den Keller mit dem Refektorium verbunden hatte.

Dort unten fand er sein Weib. Johanna war ihm vorangeeilt und schien von seiner Absicht unterrichtet zu sein, denn mit hastigen Worten erzählte sie, daß einer der Offiziere sich auf Weine verstehen müsse. Als man nämlich die Tablette mit den Gläsern herausgebracht hatte, fanden sich in einem derselben eine Anzahl Stanniolköpfe vor, die das edle Siegel sehr teurer und feiner Gewächse trugen und deutlich zu sagen schienen, der Spaßvogel wisse Bescheid. Man tue also gut, sich jetzt noch vorzusehen, damit aus der Überklugheit nicht 38 Schande und Schaden erwüchse. Der Wirt, wie Männer sind, die sich etwas vorgenommen und den Nutzen schon berechnet haben, gab ärgerlich zurück, er denke nicht daran, die Gäste zu hofieren, suchte aber gleichzeitig einen Korkzieher hervor, riß den Pfropfen gewaltsam hoch und schenkte zwei Römer ein, die Johanna ihm schweigend entgegenhielt.

Mit den Schultern dicht aneinandergepreßt, tat Einer dem Andern Bescheid. Der Wirt vergaß Zeit und Stunde, schmeckte lange prüfend ab und ließ den Wein zwischen den Zähnen hin- und herrollen; es gab einen gurgelnden Laut, der die Stille deutlich durchdrang. Von dem Hauptgewölbe her kam eine schwache Helle und hob das Gesicht der Frau aus tiefem Dunkel empor – der Mann bog sich trunken darüber und flüsterte ihr zu: »Siehst du, nun feiern wir dir zuliebe die falsche Hochzeit von Kana und schenken zuerst den guten, dann den gemischten Wein.« »Ich wußte ja, daß du mich hören würdest«, gab die Frau mit furchtbarer Zärtlichkeit, ihm zugebogen, zurück.

Inzwischen war oben weitergegangen, was in dem geschürzten Symbole Fortunas begonnen hatte, und als der Wirt herauf kam, lagen große Generalstabskarten über alle Tische gebreitet, mächtige Blätter, die sich im Luftzug der geöffneten Türe bauschten und so winzig scharf gestochen waren, daß man, um das Birnenlicht 39 zu verstärken, einige Kerzen dazwischen aufgestellt hatte, deren Schein sich auf seltsame Weise mit der künstlichen Leuchte vermischte. Es war klar: man spielte Hauptquartier und hatte die Pfropfensammlung des Wirtes dazu benutzt, zwei Heerhaufen vorzutäuschen, wobei man kurzerhand Schwein, Hund, Bock und Silen auf die Seite der Boches gewiesen, das kleine Glück dagegen dem französischen Lager zugeteilt hatte.

Der Wirt wurde stürmisch empfangen, und nachdem die Flaschen geöffnet waren, und nach geraumer Zeit der eisgekühlte Sekt das Bombardement begonnen hatte, ergab es sich von selbst, daß der Deutsche den einen Haufen führte, und, die Regel rasch erfassend – eine witzige Verbindung von Schach- und Würfelspiel, die das Vorrücken einer Figur nicht allein von der Zahl der geworfenen Augen, sondern auch von ihrer Bedeutung abhängig machte – sich völlig in seine Rolle vertiefte.

Von Jugend auf an Brett- und Würfelspiele gewöhnt, ersah er bald seinen Vorteil und rückte, die Dame sparsam verwendend, in geschlossener Phalanx vor, dort einen Läufer, hier einen Bauern nehmend, welcher mit gefülltem Humpen seinen Standort verteidigte. Hierbei konnte es nicht ausbleiben, daß der Wirt, über die Kartenfelder gebeugt, auch die Namen der Flüsse, Städte und umkämpften Gebiete las 40 und sich daran erhitzte, ja sogar häufig, den höheren Nutzen außer acht lassend, alles darauf anlegte, eine ganz bestimmte Festung zu erobern oder ein Gelände einzunehmen, dessen Bezeichnung sich ihm damals eingegraben, aber eine so flüchtige Linie hinterlassen hatte, daß erst die zweite Begegnung den Griffel fester aufsetzte und jene Entzündung hervorrief, die längs der erweckten Spur vergangener Narben einhergeht. Die Mosel überschreitend, gelangten seine Truppen auf wohlbekanntes Terrain und befanden sich sehr bald in jenem Teil der Ardennen, wo der Wirt die andere Seite des kriegerischen Handwerks als Koch und Kellner erlebt und den abendroten Wein von der zerstörten Terrasse zu den Orgien des Militärs getragen hatte. Er sah sich selbst, trat vor den Zauberspiegel der eignen Vergangenheit, und schon im nächsten Augenblick berührte er das Glas.

Dies aber war jener Abend, wo er, vom Tal heimkehrend, den Schloßberg langsam hinanstieg und das Haus von bläulichen Bändern, die durch den Nachthimmel flossen, so dicht umschlungen sah, daß er nicht entscheiden konnte, ob hier ein Naturschauspiel: Elmsfeuer, Wetterleuchten – oder Scheinwerfer, springende Minen, das wandernde Lächeln des Krieges, die Fensterreihen erhellt und die kalkweiße Fassung der Flügeltüren bis zur Erde 41 hinunter sichtbar machte. Von innen her kam kein Licht, denn man schlug die schweren Damastvorhänge der Fliegergefahr wegen sorgfältig zu und saß sogar abends bei Kerzen, an denen kein Mangel war. Daher rührte es auch wohl, daß das Haus den Eindruck der Menschenleere und einer Verlassenheit machte, die um so gespenstischer wirkte, weil abgerissene Töne militärischer Musik aus seinem Mauerwerk drangen. Die weiblichen Sandsteinfiguren, schön in dem zarten Geheimnis der schmerzlichen Zerstörung, waren wunderbar belebt, ja eine von ihnen trat nun aus dem Kreis der Gespielen und lehnte das stürmische Haupt an die ockergelbe Wand. Es war eine junge Bäuerin, deren Mann in Flandern gefallen war, dem Wirte flüchtig bekannt, nicht genauer freilich als alle, die hier nächtlich gingen und kamen. Sie sah ihm erschöpft entgegen, und der Anblick ihrer Schwäche entzündete den Mann. Er eilte rasch auf sie zu, und während sie, schon bereit, das Hemd von der Schulter zerrte, sah er ohne alles Erstaunen, daß auch sie nicht mehr unverletzt, sondern in der Umarmung des Mars verwundet worden war. Nun riß er sie an den Locken und bog ihre Kehle zurück – der Apfel trat breit hervor und glänzte von leichtem Schweiß; dann schrie sie kurz und wild zwei-, dreimal in das Dunkel, warf sich an seine Brust und drängte ihn gegen 42 die Treppenstufen, das Bein wider seine Kniee gestemmt, so daß er taumelte und rückwärts herunterschlug. In dem näherzuckenden Flammenschein sah er ihr helles Gesicht mit den schaufelförmigen Zähnen, das zornig über ihm stand, griff sie an beiden Schultern und versuchte, sie niederzukämpfen, als mit einemmal oben die Flügeltür aufging und betrunkene Offiziere, die den Fall gehört haben mochten, die beiden brüllend umstanden . . .

Verflucht – er hörte ihr Lachen und den Vorwurf, er habe nicht aufgepaßt, sah die Kartenfelder zittern und wog die beinernen Würfel mit jenem Schwung der Hand, welcher lange Übung verriet und wohl bemessen war. Eine hohe Zahl rollte aus; er griff nach seiner Dame und rückte siegreich vor, gewann weiter Zug um Zug und sah, wie die Offiziere mit böse geronnenen Lippen den verlorenen Part umstanden.

Sogleich trug er neuen Wein, Hummer und Sekt hinzu; er plünderte seine Habe – unerhört in dieser Notzeit – um jenes Kampfes willen, den er bestehen mußte, und verriet die Höhe seines Besitztums an die, von deren Laune ihm alles abzuhängen und auszugehen schien. So gewann er sie endlich wieder und begann ein neues Spiel. Die Franzosen behielten das Käppi auf, mit dem sie sich am Ende des ersten bedeckt hatten, und der Wirt 43 trug jetzt seinen Stahlhelm, der über den Krieg hinaus gerettet und bis dahin im Keller aufbewahrt worden war.

Man erfand eine neue Art, einander auszustechen, hatte die Pfropfenfiguren an kurze Rebenstecken gebunden und ging fechtend gegeneinander. Weil Keiner die Regeln wirklich kannte, ergab es sich bald von selbst, daß man willkürlich faßte und zustieß. Überdies war das Zimmer voll Rauch, der jede Sicht verhängte, den Ungeschickten lockte, nur kurzerhand zuzustechen, dem Rohling Gelegenheit gab, sich ungestraft zu vergnügen und den Ängstlichen verwirrte.

Der Gastwirt warf seine Jacke ab, das Militär tat desgleichen, und schon floß da und dort Blut. Die jungen Offiziere, welche vorhin zusammen getanzt hatten, lagen sinnlos betrunken am Boden und saugten einander die Wunden aus, zerbissen sie von neuem und hielten sich gegenseitig für das Liebchen, nach dem sie seufzten. Der Provençale machte den Schiedsrichter und sprang lächerlich hin und her, feuerte bald den einen, bald den anderen an und prustete, wo ihm der Kampf zu hitzig wurde, den Raufhähnen Wein ins Gesicht, den er sehr geschickt durch die Zahnlücken spie.

Am hitzigsten focht der Elsässer; und vielleicht, weil die gleiche Sprache ihn mit dem Wirt verband, hatte er sich – man kämpfte jetzt zu 44 Paaren – mit diesem gegen den Vicomte und einen blassen jungen Menschen zusammengetan, der nicht nur besser zielte als alle, sondern auch, wenn es nicht nachzuweisen war, Finessen und Finten aus sicherem Hinterhalt brauchte, welche den Wirt zwar nicht ernstlich schädigten, jedoch in fiebrige Raserei und blinde Wut versetzten. Einige Male schon hatte er, wenn sein Gegner auswich und niederging, Wadenstiche empfangen und war an einem Hindernis abgeglitten, das seinen Rebendolch fortschob, als es ihm endlich gelang, den Blassen zu überführen und seine Hand festzuhalten, die ein Gummiband am Gelenk und daran ein Stilett befestigt trug, das gerade im Begriff war, zurückzuschnellen.

Hatten bis dahin alle auf seiten des Franzosen gestanden, so kehrte das leicht entzündbare, wankelmütige und in seiner Ehre getroffene Volk der Kameraden sich nun ebenso plötzlich um, bedrohte den Falschspieler mit Schimpfworten, Püffen und Hohngelächter, erzwang ein gezischtes Pardon von ihm und hob in dem nächtlichen Rausch von Großmut, Sekt und Verbrüderung den Wirt als Sieger empor, trug den Mann mit dem Stahlhelm zum Billardtisch und stellte ihn hinauf; dann drückte man ihm eine Pistole in die Faust und schoß mit trunkenen Händen, die krampfhaft zitterten, wohin er den ersten Einschlag gab. 45

Das Rebengehänge schaukelte, klirrte, und zertretenes Glas stäubte unter den Sohlen der Soldateska; von der Decke brach Kalk herunter, Sektpfropfen knallten dazwischen, und der Elsässer, grau im Gesicht, entleerte die Flasche in den Kühler, wusch seine Stirn in der prickelnden Flut und schluchzte laut vor sich hin. Bald hingen nur noch zerfetzte Schnüre im Saal, eine übriggebliebene Traube schwang, leise pendelnd, am Fensterkreuz, das Klavier fing wieder zu heulen an und vermochte nicht aufzuhören, weil das Taschenmesser steckengeblieben und die Klinge abgebrochen war. Eine Feder mußte verletzt sein, denn die meckernde Höllenmaschine lief jetzt wie rasend ab, und ihr ausgelassenes Klappern riß alle noch einmal empor.

Der Wirt, vollkommen nüchtern, doch wie in einem Traum, dessen scharfe Deutlichkeit ihn zerschnitt wie die Sauerstoffflamme den stählernen Tresor, begann von neuem zu schießen und setzte die Pistole blind auf sein Eigentum an. Holzrahmen splitterten, Birnen zersprangen, die Fenster der Vitrine stürzten ein, und das stumpfe Rot des Samtbelags bleckte wie eine Zunge, porig von den Stichen der Pfropfensammlung, hervor. Der kleine Saal bot ein Bild jenes männlichen Mutwillens dar, der um so gefährlicher wurde, als er in ein Gastmahl hereingebrochen war, dessen üppige Überreste 46 sich kupplerisch mit ihm vermischten und sich dem Militär zu neuer Stärkung anboten oder, wo sie am Boden lagen, die Füße straucheln machten und die Männer veranlaßten, den letzten Stuhl zu Stoß und Fall zu bringen. Schon verminderte sich das Licht, und schließlich brannte nur noch eine Birne von sehr geringer Leuchtkraft, bis endlich auch diese erloschen war und das Zimmer dunkel lag . . .

In dem wüsten Durcheinander des nächsten Augenblicks begann eine hohe Stimme das Lied von Malbrouck zu singen, der in den Krieg gezogen und nicht zurückgekehrt war. Sofort fielen andere ein, und während überall Taschenlaternen aufblitzten, deren unbarmherziger Strahl die Zerstörung sichtbarer machte, als ein verbindendes Licht es jemals getan haben würde, faßten Einige sich an den Händen und bildeten einen Zug. Zunächst ging es um den Billardtisch, auf welchem der Wirt mit schwappendem Bauch taktierte, dann unter seiner Führung in die vorderen Wirtschaftsräume, in denen kalter Rauch und der säuerliche Geruch des verlassenen Bierschanks lag, hierauf durch das Kellergewölbe zu dem Refektorium empor, das jetzt ein Pferdestall war, an der Kapelle vorüber, die im Zwickel den Kappenkerl trug, und zuletzt nach den Zimmern der Offiziere im neuen Anbau hin. Dort fiel, als ob man einen Beerenzweig schüttelte, einer 47 nach dem anderen ab; das Lied klang immer schwächer über Flure und Dielen hin, und schließlich war der Wirt mit dem Refrain allein . . .

Er lachte laut und vergnügt, lief die teppichbelegten Stufen hinunter, bog über den nassen Hof nach dem Hauptgebäude zu und empfand eine tiefe Zufriedenheit, welche dicht unterm Zwerchfell saß, eine süße Sättigung, die doch nicht stark genug war, um schon gestillt zu sein und in Ekel umzuschlagen. Der Wind kam jetzt mehr von Süden, und die gefährlich laue und nebelschwere Luft trug keineswegs dazu bei, den Berauschten zu ernüchtern. Zwar war der Wirt nicht eigentlich von Sinnen, doch mehr als dies: verwandelt und zwar in einen Andern, der sein früheres Leben verlassen hatte und einer Bewegung verfallen war, wie sie spielende Knaben kennen, die von dem Schwung der Kette beim Laufen abgeschleudert und weitergetrieben werden.

»Et il ne reviendra . . .« sang der Wirt entzückt vor sich hin, hielt aber erschrocken ein, als der Ton in der großen Stille wie geronnen stehen blieb, und zog, in vager Erinnerung an Heimkünfte ähnlicher Art, die Schaftenstiefel aus. Nun stand er in Wollsocken da, und seine Füße dünkten ihm zwei große graue Mäuse zu sein; er krümmte die Zehen empor und fand, dies seien die Ohren; lachte kindisch vor sich 48 hin und riß auch die Strümpfe ab. Dann ballte er sie zusammen, warf sie die Stufen empor und kletterte hinterdrein. Wo aber die Strümpfe lagen, mußten auch, so dachte er, der Rock und die Hosen sein. »Geht zum Teufel« – sie flogen zur Erde, hierauf seine wollene Weste und das flanellene Hemd mit den lilagrünen Streifen, so daß der Wirt zuletzt, nur noch mit einem Netzjäckchen bekleidet, das unter dem plumpen Stahlhelm wie ein Ringelpanzer wirkte, völlig nackt auf dem roten Läufer stand.

So würde er seiner Frau gefallen, dachte der Wahnsinnige und sah nach der Schlafzimmertüre, die glatt und rätselhaft in schwerer Angel hing. Daneben befand sich ein Wandschrank, in welchem Kognakflaschen: Kirsch, Kümmel und Pfefferminz aufbewahrt wurden. Man hatte sie gern des nachts zur Hand, um einen von fetter Feier oder häufigem Probieren geschwächten Magen zu trösten, und so griff jetzt auch der Wirt darnach – doch nicht, um sich zu beruhigen, sondern gänzlich zu befreien, was nur noch an einem Faden hing. Indem er sich selber zutrank und verschiedene Sorten mischte, kam ihm vor, als höre er atmen. Sein erster Gedanke war, es könne Johanna sein; dann aber entsann er sich aus seiner Knabenzeit, daß er damals oft dieses Rauschen gehört und in der Einsamkeit seiner Nächte zwei riesige Flügel gesehen, vielmehr 49 sich dieselben vorgestellt hatte, wie sie brausend nebeneinanderstanden, steil aufgerichtet und an den Enden zerrissen wie die Flügel einer Wildgans, die auf der Wanderschaft ist. Dieses Atmen war das letzte, woran sich später der Wirt noch entsann, bevor er die Türe aufriß und wie ein Mörder mit Netz und Kugel in Johannas Traum einbrach . . .

Was aber jener träumte, nachdem sie die Küche verlassen, sich in Kleidern auf das Bett geworfen und dem Schlaf überantwortet hatte, war folgende Begegnung: Sie lief als junges Mädchen, soeben der Schule entwachsen, auf einem Botengang durch das frische Morgenbachtal, den bewaldeten Höhenweg, der hinunter nach Bingen führt. Zuerst zwischen mächtigen Tannen, dann auf den Pfaden wandelnd, die noch aus der Römerzeit stammen und deren steinige Rücken, mit Wacholder und Ginster bewachsen, sich brennend in die Mittagssonne und über die Berge heben, war ihr plötzlich, als höre sie Schritte, die taktmäßig auf- und niederklangen, begleitet von einer Strophe, deren Inhalt sie nicht verstand. Ein Angstgefühl, mit Neugier untermischt, beschleunigte ihren Gang; sie sah der nächsten Biegung mit klopfendem Herzen entgegen und atmete freier auf, als in schwindelnder Tiefe der Rhein durch die dunklen Stämme floß. Nach einer Spanne Zeit – wer mißt sie in dem 50 Traum? – kam der Schritt wieder näher heran und endlich auch der Mann, dem er angehören mußte. Es war ein Waldarbeiter, rundköpfig, mit Wadenstrümpfen und einer kurzen Axt, deren Schneide bei jeder Bewegung blitzte, als ob eine kleine Flamme auf seiner Schulter säße. Sie sah seine nackten Kniee, in denen, schön eingesetzt, die glänzende Scheibe spielte, hierauf das blanke Eisen und dann einen mächtigen Sturmhelm über grausam entzündeten Augen, schrie einige Male gellend, doch, wie ihr deutlich bewußt war, völlig unhörbar auf und erblickte ihren Mann, der überlebensgroß in der offenen Türe stand.

Ein paarmal drehte sich alles im Kreis – – dann sank die Gestalt zusammen und wurde wie gewöhnlich, ja schließlich ein fetter Zwerg mit allzu dickem Kopf, der herangewackelt kam.

»Schwein«, zischte Johanna böse und riß ihm die Flaschen aus der Hand, welche er bis dahin umklammert hatte. Der Mann geriet ins Taumeln und wäre fast gefallen, griff blindlings zu und packte die Frau an den Haaren, die sich augenblicklich lösten, auf ihre Schultern rollten und jenen Duft hergaben, der bis in die Wurzeln gedrungen war: Juchten- und Fliederparfüm, vermischt mit der kräftigen Bitterkeit, welche immer in ihnen wohnte. Dies mochte die frühe Johanna sein: wild, 51 haßerfüllt und jungfräulich – doch der jetzt über sie stürzte und sich in das rauhe Haar wie in einen Feldrain verbiß, den Zopf in seinen Mund nahm, als ob er Bilsenkraut kaue, und mit verwirrten Sinnen einer dumpfen Betäubung verfiel, war nicht mehr der Mann, den sie kannte, Franz Höhler, Hausherr im Kappenkerl.

Einen Augenblick lang gab sie nach und stemmte sich dann, beide Fäuste auf seine Brust gesetzt, erbittert gegen ihn. Er griff sie lachend am Hals, hielt dessen Wirbel fest und kraute die zarte Nackenrinne bis unter den Haaransatz. Geschickt wich sie plötzlich aus und ging mit dem glatten Kopf aus seiner täppischen Hand; er aber, ihre Schultern wie ein Rasender umklammernd, traf jetzt Johannas Kehle mit flüsternd geöffneten Lippen, kroch zu den Ohren hinauf und erfüllte die kleinen Muscheln, welche fest an den Schläfen lagen, mit Befehlen, Wünschen und Drohungen, die so fremd und schauerlich waren, daß ihnen die Frau wie den Reden eines Wahnsinnigen stillehielt, durch taubenkluge Fragen ihm listig auszuweichen, und als dies nicht helfen wollte, sich aus dem tollen Spiel mit Glück zu retten suchte, indem sie auf seine Seite herüberwechselte und grell belachte, was der Furchtbare vorschlug.

»Sauf!« sagte jetzt der Mann und goß ihr Kognak ein, den sie halb verschluckte, halb wieder 52 auszuspeien bemüht war, indessen er sie auf den Schoß zog und wohlgefällig bemerkte, wie ihr der Schweiß aus allen Poren brach. Dann setzte er die Flasche ab, tat selbst einen kräftigen Zug und schüttete den Rest in die Bluse der Frau hinunter. Sie kreischte halb erschrocken, halb hingerissen auf, wie die Mädchen beim Tanzen tun, wenn Einer ihnen zu nahe kommt, riß das nasse Kleidungsstück ab und flammte plötzlich hoch, als habe der wilde Feuerherd ihrer unersättlichen Seele das jählings verschüttete Öl der zerbrochenen häuslichen Krüge empfangen und schlüge nun, freigesprochen von jeglicher Verpflichtung, bis zum Kamin empor.

»Was machen denn die Franzosen ?« fragte Johanna leise und fügte lauernd hinzu: »Sieh nach, ob keiner horcht und die Türe verschlossen ist . . .«

»Ich habe sie in die Betten gejagt«, versetzte der Mann wie ein Hahnreih, der prahlen zu können glaubt, wo er verstehen sollte.

Sie zuckte übermütig mit den entblößten Schultern, glitt rasch von seinem Schoß und wandte die Soldatenbilder: den Übergang Blüchers bei Caub und die Schillschen Offiziere, welche mit dem Gesicht gegen die Wand gestanden hatten, wieder nach vorn und sah mit geblendeten Augen in Pulverdampf und blitzende Degenwälder. Der Mann trat eifersüchtig 53 erglühend hinter sie, kauerte gleichfalls zur Erde nieder, und während er sie von hinten umfaßte und den Ansturz ihres Körpers mit gebogenem Knie auffing, knurrte er: »Den möchtest du wohl haben – –« auf einen der Krieger deutend, welche, die Brust hervorgewölbt und das Gewehr im Anschlag, Tod und Verderben spieen.

Die Frau kam aus riesiger Ferne zurück, prüfte lange das Gesicht ihres Mannes und fand darin, was sie suchte. Er hielt ihren Kuß, der dem Biß einer Wölfin ähnlich war, mit blutender Lippe aus, gab ihn in gleicher Weise zurück und verletzte ihren Nacken, den Hals und die ehernen Schultern, wortlos den Blick auf das Bild gerichtet, als ob er sich daran übe. Sie griff mit der einen Hand nach dem klaffenden alten Rahmen, zog den schlecht verwahrten Öldruck heraus und wischte über das Glas. Nun spiegelten sich beide vor einem Hintergrund, der mit roher Pappe beklebt war, und ergötzten sich daran, die Wangen fest aneinandergeschmiegt, verdorbene Fratzen zu schneiden, von tierischer Bewegung entsetzlich überlaufen, indessen der Wirt sich bekreuzte, damit die Gesichter nicht stehen blieben.

Hernach, davon gelangweilt, begannen sie mit dem Alkohol klebrige Figuren auf das Glas und in die Handflächen ihres Partners zu malen: Kantinenbilder, die das ewig Gleiche so sicher trafen wie der Pfeil den Schild. 54

Johanna, Sturm in der Seele und eine Befreiung fühlend, welche quer durch ihren Schoß fuhr, als ob die Frucht sich löse, nahm eine Kognakflasche, zerschlug sie an der Wand und las die Scherben auf, gierig die scharfen Ränder beleckend, so daß ihre Zunge zu tropfen begann und der Mann ihr das Glas entwand. Sie erbettelte es zurück, zerschnitt sich auch die Hände und warf es ihm wieder zu – er fing es mutig auf, und beide spielten Fangball, bis der Schmerz in Verzweiflung überging und keine Grenze mehr war . . .

Als der nackte Mann mit dem Stahlhelm entsetzlich auf sie zukam, erschrak Johanna noch einmal, riß Schuhe, Strümpfe, Mieder und Hemd ab und warf sie ihm in den Weg, als vermöge ihn aufzuhalten, was seinen wilden Blicken bis dahin die Beute verhüllt hatte. Er aber, die Lumpen beiseite schiebend, sah in zuckenden Flammenbändern die fremde französische Frau mit dem verwundeten Hals, der sich nach hinten bog, und fing sie in haarigen Armen auf, als sie rückwärts über sein Bein zur Erde taumelte. Dann setzte er den Stahlhelm auf ihren hohen Leib, betrachtete martialisch ihr schmelzendes Gesicht – – und erbrach sich über ihr.

In der vierten Morgenstunde erhob sich die Befleckte und fühlte die mächtigen Zeichen der nahenden Geburt. Sie wusch sich mit kaltem 55 Wasser, zog Hemd und Mantel über und verließ den Raum wie ein Tier, das seinen Winkel sucht. Auf der Treppe hielt sie an, von drängenden Wehen geschüttelt – aber so, als ob sie aus eigener Kraft etwas abzuwerfen suche. An der Haustür schlug ihr ein Windstoß entgegen; die Luft war rein und klar, schon blaßblau gegen Osten, wo der Zwickel mit dem Kappenkerl am dämmernden Himmel stand. In den Ställen bewegte sich dumpf das hoffnungslose Vieh, und irgendwo krähte jammernd ein überwacher Hahn.

Die Frau ging mühsam weiter und tastete sich an der Mauer entlang nach dem Kapellenraum hin, der unverschlossen war. Dort gebar sie ihren Sohn, warf sich mit letzter Kraft, schon verblutend, nach vorne über und biß die Nabelschnur durch. Dann hob ihre freie Seele das zerfetzte Gefieder der Wildgans, und die geflügelte Nike verließ den schmutzigen Hof, wo das Wasser, vermischt mit Hühnerfutter, in trüben Lachen stand.

Der Wirt lag in tiefer Betäubung, als die Knechte den Leichnam der Frau und ein Neugeborenes fanden, das wimmernd zur Decke sah. Er wurde wachgerüttelt, erfuhr, was sich ereignet hatte und befestigte einen Strick hoch oben am gleichen Fensterkreuz, das in der vorletzten Nacht erschüttert worden war, als er mit seiner Frau den geisterhaften Flöten und 56 Hornsignalen lauschte. Dann knüpfte er bedächtig einen kunstvoll gewirkten Knoten und schwang in der Todesschlinge wie die letzte Traube im Saal . . .

Die Nachbarn erbarmten sich des nunmehr doppelt Verwaisten, der unter dem Schwerte Sankt Martins hinausgeboren war. Sie belebten, erwärmten und tränkten ihn an der Brust einer fremden Frau, und so kam es, daß der Mantel der Barmherzigkeit über den Knaben fiel, ehe ihn noch die erste Windel bedeckt hatte.

 


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