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Bill Petersen kam sich an der Dornerschen Tafel entschieden deplaciert vor. Gegen die Überröcke Berthold Dorners und des Oberzahlmeisters a. D. Emanuel Schneider, die in ihrem verschwenderischen Faltenwurf hartnäckig an dem breiten Genick ihrer Träger hochkletterten, fühlte er sich in seinem untadeligen Smoking und der blaßlila Weste mit den Amethystknöpfen wie der Mann, der unter die Räuber fiel. Während er die wuchtige Erscheinung Berthold Dorners, die untersetzte Gestalt des aufgeschwemmten Oberzahlmeisters und die reizlos dürftige Figur seines Sohnes, des Sekretärs im Patentamt, betrachtete, dachte er mit heimlicher Genugtuung an die straffe Linie, die ihm sein Spiegel daheim zurückwarf. Denn der Reserve-Ulan legte hohen Wert auf diese militärische Schlankheit, mit der seine scharfgeschnittenen, bartlosen Züge so wundervoll harmonierten. Wie oft schon hatte man ihn um dieses rassigen Gesichts willen für einen Berserker gehalten, der prinzipiell auch die leiseste Kränkung in dem Blute des Gegners abwusch, obwohl er doch mit jedem gut Freund war und keiner Fliege mutwillig etwas zuleide tat. Bisweilen freilich wurde diese Dissonanz, die zwischen seinem Äußeren und Inneren herrschte, ihm unbequem, besonders den Frauen gegenüber, die in erwartungsvollen Schauern diesem psychologischen trompeur de dames genaht waren und dann enttäuscht erkannten, daß sie sich ganz umsonst bei dem völlig harmlosen Bill in Unkosten gestürzt hatten.

Während Frau Thekla Dorner unter gespannter Aufmerksamkeit der Tafelrunde den Schweinebraten zerlegte, dessen allzu scharf geratene Krusten sie in endlosem Wortschwall beklagte, betrachtete Bill gottergeben die gelbe, rotgeblümte Tapete des Eßzimmers, von der die Kreidebilder der Dornerschen Ahnen mißbilligend aus ihren Goldrahmen auf ihn herabstierten. Und im Geiste sah er sein Hamburger Vaterhaus, den hohen, durch zwei Stockwerke reichenden Eßsaal, die silberbeschwerte, blumengeschmückte Tafel, sah er die Diener lautlos hinter den hohen, eichengeschnitzten Lederstühlen hin und her gleiten; und das Kasino des Stader Ulanenregiments, bei dessen Reserve er stand, tauchte vor ihm auf, mit seinem durchlauchtigsten Kommandeur, den hochadligen Kameraden, für die der Mensch erst mit dem Baron anfing, die aber auch genau wußten und durch ihre Wahl so manchesmal anerkannt hatten, daß Hamburgs Patriziersöhne mit keinem Baron zu tauschen brauchten.

Es blieb doch eine unglaubliche Kateridee seines hochgeschätzten Erzeugers, des Senators, ihn bis auf weiteres als Volontär bei diesem Berthold Dorner, seinem Berliner Geschäftsfreunde, in Sack und Asche Buße tun zu lassen. Nun ja, es war wohl ein bißchen bewegt gewesen, die letzten zwei Jahre, teils dieserhalb, teils außerdem; aber die väterliche Firma, dieses größte Hamburger Getreidehaus, konnte es wahrhaftig doch gleichmütig vertragen, wenn der einzige Erbe auch einmal etwas heftig über die Stränge schlug. Und trotzdem hatte der Senator ihm, als er von seinem improvisierten, äußerst gelungenen Trip nach Biarritz mit der durchaus nicht naiven Naiven des Thalia-Theaters zurückgekehrt war, eine geradezu unqualifizierbare Rede gehalten: Erstens, daß die Bummelei nun definitiv ihr Ende habe, zweitens, daß Bill nach Berlin gehen werde, um endlich einmal arbeiten zu lernen, drittens, daß sein Jahreswechsel für diese Zeit auf zwölftausend Mark verkürzt sei, und viertens und letztens, daß ihn der Vater endgültig fallen lassen werde, wenn in Berlin auch nur das Geringste vorkomme. Bill sah den alten Herrn mit seinem weißen Römerkopf und seiner beherrschten Stimme noch heute vor sich, wie er ihm mit erstaunlicher Ruhe diese geradezu sadistischen Eröffnungen machte, – erstens, zweitens, drittens ... Anfangs wollte sich Bill gegen die väterliche Barbarei zur Wehr setzen; aber nachdem er sich die Sache beschlafen und die Fabel von dem eisernen und dem irdenen Topf ins Gedächtnis zurückgerufen, hatte er als der Klügere nachgegeben, scheinbar ungebeugt, tatsächlich völlig zerschmettert sein Ränzel in Gestalt eines halben Waggons voll Möbel gepackt und seinen Schwerpunkt nach Berlin verlegt, und zwar nach Berlin W, Kurfürstendamm, Ecke Nestorstraße, bei Frau Moser, erster Stock, ungeniertes Wohnzimmer nach vorn, noch ungenierteres Schlafzimmer nach hinten.

»Sagen Sie mal, meine sehr verehrte Frau,« hatte er beim Mieten gefragt, und in seinem hageren Gesicht mit den siegessicheren blauen Augen hatte keine Muskel gezuckt, »Sie kennen gewiß das Wort des heiligen Augustin: Solus cum sola non praesumitur orare paternoster?«

Frau Moser war in ihrer resoluten Behäbigkeit eine echte Berlinerin. »Jawohl,« erwiderte sie ohne Besinnen, »das kenn' ich ganz genau.«

»Und wie übersetzen Sie das?« hatte Bill, nun doch etwas perplex, weitergefragt.

»Wenn ein feiner Herr, wie Sie, kommt und mieten will,« hatte Frau Moser mit voller Sicherheit geantwortet, »dann kann er Spanisch oder Botokudisch reden, – die erste Frage ist, ob auch die Zimmer sturmfrei sind.«

Darauf hatte Bill die Frau in ungeheuchelter Wertschätzung angesehn; und dann hatte er ihr begeistert die Hand geschüttelt und erwidert: »Verehrte Frau, Sie sind mein Mann.«

Drei Tage später, als seine Möbel von Hamburg anlangten, war er aus dem Cumberland-Hotel zu dieser Frau Moser übergesiedelt.

 

Bill ließ den Blick über die Tafel schweifen. Ihm gegenüber saß Berthold Dorner, sein verehrter Chef, der self-made man in Reinkultur, der ihn bei seinem ersten Besuch im Kontor an einem heißen Maitage in Hemdsärmeln, den Hemdkragen um das Tintenfaß gelegt, empfangen hatte. Übrigens trotz seiner mehr als zwei Millionen eine wahre Seele, die ihm mit vollem Verständnis entgegengekommen war.

»Wissen Sie, lieber Herr Petersen,« hatte er phlegmatisch gesagt, »rein geschäftlich gesprochen, wenn es nicht Ihrem hochverehrten Herrn Vater zuliebe wäre, – meinetwegen hätten Sie sich nicht nach Berlin zu bemühen brauchen. Die Firma C. B. Dorner ist, ehrlich gestanden, bisher auch ohne Sie verhältnismäßig gut ausgekommen. Sehen Sie sich also ohne allzu große Angst um unser Gedeihen hier um, seien Sie so pünktlich, wie Sie können, und wenn es Ihnen möglich ist, lernen Sie was. Sollten Sie mal verhindert sein, so studieren Sie – was denn nun?«

»Jura, Cameralia, Nationalökonomie,« antwortete Bill, ohne mit der Wimper zu zucken.

»Sehr schön,« fuhr der alte Herr, den Schalk in den Augen, fort, – »aber ist das nicht ein bißchen viel auf einmal?«

»Nein,« antwortete Bill, »bei meiner Art des Studiums nicht.«

»Das konnte ich mir eigentlich selbst sagen,« antwortete Berthold Dorner ganz ernsthaft. »Ich werde Sie jetzt mit meinem Prokuristen bekannt machen, dem können Sie Ihre arbeitslechzenden Wünsche verraten. Im übrigen heiße ich Sie herzlich willkommen.«

Und er hatte ihm die Hand so kräftig gequetscht, daß Bill auf ein Haar aufgeschrien hätte.

Das war also im Mai gewesen. Und heute, drei Monate später, war er bei einer ebenso tropischen Temperatur zum erstenmal in die Dennewitzstraße geladen, wo im ersten Stock des Vorderhauses die Dornersche Wohnung lag, während die Bureaus sich im Erdgeschoß weit nach hinten, fast bis zur Bahn entlangzogen.

»Ja,« hörte er Berthold Dorner gerade erzählen, »im ersten Jahre habe ich vierhundert Taler verdient und zweihundertfünfzig ausgegeben, im zweiten sechshundert über gehabt und dreihundertzwanzig gebraucht, und so ist es vorwärtsgegangen.«

»Damals, als Reinhold sich verlobte,« antwortete der Oberzahlmeister geschmeidig, »kam einmal gesprächsweise im Skatklub die Rede auf dich, da hieß es einfach: Gut für jede Summe. Donnerwetter, da hab' ich Respekt bekommen.«

»Hm,« antwortete Berthold Dorner etwas von oben herab, »meine Frau liebäugelt schon längst mit einem Auto; ich hab's ihr auch versprochen, sobald die Elektrischen abgeschafft sind. Und im nächsten Mai soll es nach Marienbad gehn, unserer Wespentaillen wegen, und weil ihr der Sanitätsarzt für ihre Nerven ein paar hundert Meter Höhe verordnet hat. Dabei geht sie doch sowieso immer in die Luft. Ich hab' ihr geraten, sich lieber gleich oben auf den Schornstein zu setzen, aber sie meint, das Dach trägt sie nicht.«

Bill warf einen Blick auf Frau Thekla Dorner, eine schwere, vollbusige Frau mit rotem Gesicht, die sich sichtlich nur mühsam zurückhielt, ihrem Mann seinen gutmütigen Spott heimzuzahlen. Bill hatte sie bei seinem Antrittsbesuch verfehlt, aber er kannte sie aus dem Bureau, durch das sie von Zeit zu Zeit in ihrem Schlafrock hindurchfegte, wenn niemand vom Personal auf sie gefaßt war, um dann im Privatkontor ihres Mannes über ihre Beobachtungen Bericht abzustatten.

Zu ihrer Rechten saß der Oberzahlmeister a. D. Emanuel Schneider. Ihm reihte sich Reinhold Schneider mit seiner jungen Frau an, – ein Feld-, Wald- und Wiesenpaar, wie tausend andere.

Bill langweilte sich immer mehr. Die Hausfrau, augenblicklich in neuer Aufregung über einen zusammengefallenen Pudding, schien ganz in der Sorge um das Essen aufzugehen. Wenn Bill daran dachte, daß er um dieser Einöde willen heute die kleine Erna ausgeladen hatte, die sonst ihn jetzt auf seiner gemütlichen Bude mit ihren blitzblanken Zähnen anlachen würde: »Dumm bin ich, aber hoho!«, so hätte er sich die Haare ausreißen mögen.

Und zu alledem kam noch eine Enttäuschung. Er hatte fest geglaubt, in diesem Kreise Sensation zu erregen; das war aber leider durchaus nicht der Fall, ja, er meinte bei Schneider senior und junior eine ausgesprochene feindselige Stimmung gegen ihn zu bemerken. Die Art, wie sie ihn vorhin von Kopf bis zu den Füßen angestarrt hatten, war direkt impertinent gewesen. Man schien überhaupt unangenehm genau über ihn informiert zu sein; die ganze Tafelrunde, den alten Dorner ausgenommen, hielt ihn offenbar für eine Art verlorenen Sohn, der von Rechts wegen sich mit Trebern zu nähren hatte. Kurz, ihm fehlte hier der Resonanzboden der Sympathie, die er sonst überall gewohnt war im Fluge zu gewinnen.

Einige Aperçus, die er ohne Überhebung glaubte als glänzende bezeichnen zu dürfen, waren total ins Wasser gefallen; nur die junge Frau hatte bei einer dieser Leuchtkugeln sich vorgebeugt und einen Blick zu ihm herübergesandt, mit einem blitzschnellen Lächeln auf dem schüchternen Gesichtchen. Und was ihm am unbehaglichsten war, – es fehlte diesen in Ehrbarkeit getauchten Philistern in ihrer Unterhaltung ganz die leise, erotische Oberstimme, die er in seinen Kreisen so sehr gewohnt war mitklingen zu hören; sie taten wahrhaftig so, als sei noch niemals ein Mensch barfuß zu Bett gegangen.

Aber am meisten fiel ihm Herr Schneider junior, der junge Ehemann, durch die Beharrlichkeit auf die Nerven, mit der er immer wieder Bills durch Tiefquarten zerhackte Wange mit einem Ausdruck streifte, als hätte er einen sich berufsmäßig selbst verstümmelnden Derwisch vor sich. Auch war es einfach widerlich mitanzusehen, wie er – noch mehr als ein Vater – vor Berthold Dorner kroch; andererseits beobachtete Bill freilich auch mit Genugtuung, wie wenig dieses Kotaumachen seinen Zweck bei dem alten Herrn erfüllte. Und als Reinhold Schneider sich jetzt herausnahm, in einer unangenehm herablassenden Art eine Unterhaltung mit Bill anzuknüpfen, machte der kurzen Prozeß mit ihm.

Es war im Anschluß an Marienbad die Rede darauf gekommen, daß sich der Mensch Bewegung machen müsse. Und Reinhold Schneider wandte sich zu Bill:

»Sagen Sie mal, Herr ... Herr Petersen, Sie scheinen ja mächtig trainiert, Sie laufen wohl gern?«

»Nicht 'nen Schritt,« antwortete Bill kurz.

»Dann turnen Sie wohl?«

»Nicht 'nen Klimmzug.«

»Aber rudern?«

»Nicht 'nen Schlag,« erwiderte Bill. »Sonst noch Wünsche?«

Reinhold Schneider schwieg pikiert.

Plötzlich fragte Berthold Dorner über den Tisch zu Bill hinüber:

»Mir ist doch so, Herr Petersen, als habe ich Sie heute unten nicht gesehen?«

»Sie glauben nicht, wie ich wissenschaftlich in Anspruch genommen bin, Herr Dorner,« antwortete Bill prompt. »Übrigens werde ich mich morgen im Geschäft entschuldigen.«

Berthold Dorner schmunzelte. »Sie brauchen wohl Zeit, um eine Ausrede zu finden?«

»O nein,« erwiderte Bill ruhig. »Erst sucht man sich einen Grund, und dann erst schwänzt man.«

»Sie wissen ja verflucht Bescheid,« entgegnete Berthold Dorner.

»Sonst würde ich einmal einen miserablen Chef abgeben, Herr Dorner.«

Berthold Dorner lachte auf und wandte sich zum alten Schneider. »Ein merkwürdiger junger Mann, dieser Herr Petersen,« sagte er zu ihm. »Bei seinem Eintritt hat er dem Kontorpersonal ein Fest gegeben, daß sie drei Tage nicht zu brauchen waren. Seitdem ist er entweder gar nicht zu sehen, oder er kommt zu spät und geht zu früh, zwischendurch hält er die ganze Gesellschaft mit seinen faulen Witzen auf. Und eines Morgens, so ganz nebenbei, die Hände in den Taschen, bringt er mir eine Idee, die bar Geld ist.«

Bills Bescheidenheit wurde durch dieses Lob auf keine Probe gestellt; denn in demselben Augenblick hob Frau Thekla die Tafel auf, und man wanderte in die Vorderzimmer, wo die Zigarren und Zigaretten auf die Herren warteten.

Nachdem Bill nach einem Blick auf die Banderole der Zigarettenschachteln sich verstohlen eine seiner eigenen herausgeholt hatte, pflanzte er sich in einen der Plüschsessel und beschloß, tapfer weiter auszuhalten. Auch diese Orgie mußte ein Ende nehmen, und in Berlin war die Nacht lang.

Nun ja, Seezungen und Schweinebraten mit Rotkohl, ganz schön! Aber der Apfelmus mit eingesteckten Rosinen und Mandeln, und das Obst ohne Wasserschalen hinterher, – Gott segne das deutsche Haus! Und das ihm, dem Sohne der freien Republik!

Sein Blick glitt über die breiten Rücken der alten Herren, auf denen der Überrock jetzt, nach dem Essen, sich noch beängstigender spannte, über die grünseidene Bluse der Hausfrau, auf der die Brillanten herausfordernd funkelten, über die altmodisch tapezierten Wände und wuchtigen Mahagonimöbel.

Ein echter Leistikow zwischen militärischen Gruppenbildern, ein venezianischer Spiegel neben Zinkguß und buntem Steingut, das aus einer Würfelbude zu stammen schien; auf echtem Perser verblaßte Plüschsessel, an denen hier und da eine Quaste fehlte. Und diese Leute waren Millionäre! Aber über allem lag doch zugleich ein suggestiver Hochmut, der Bill aus jedem Stück entgegenzuschreien schien: Wir brauchen nichts anderes; hier wohnt und lebt Berthold Dorner, der gut ist für jede Summe.

Und so sehr sich Bill auch wehren mochte, ihm imponierte diese Umgebung, wie einst die Menschheit in Ehrfurcht auf Friedrichs des Großen vertragenen, mit Tabak übersäten Rock blickte, weil eben ein König und Held ihn trug.

Bill sah zu den dreien hinüber, die sich an den in der Mitte des Herrenzimmers stehenden Spieltisch gesetzt hatten. Berthold Dorner, der Riese, mit mächtigen Gliedern, das graue Haar kurz geschoren, braune, kluge, energische Augen über der fleischigen Nase, einen gutmütigen Zug im bartlosen Bulldoggesicht; Emanuel, der Vater Reinholds, rund und klein, kahl, mit mächtigem graumelierten Schnurrbart, die Brust mit dem Kronen- und Roten Adlerorden aufgebläht, aus dessen Reden der offenkundige Wunsch sprach, für einen ehemaligen Husarenoberst gehalten zu werden; stets wieder hörte Bill sein: »Mein altes Regiment ... Wir roten Husaren ...« über den Tisch dröhnen. Und endlich dieser unterernährte Sekretär, der jeder Bewegung seines Vaters ängstlich folgte und auf jedes Wort Berthold Dorners angestrengt lauschte, wie ein Hund, der die Peitsche am Stuhl seines Herrn hängen sieht.

»Lieber Herr Petersen,« rief Berthold Dorner zu Bill hinüber, »machen Sie mit? Ein kleiner, solider Skat zum Viertelpfennig?«

Dem jungen Hamburger, der schon nach manchem Rennen auf dem Horn in einer Nacht Tausende verspielt, rann ein Schauer den Rücken entlang. »Untröstlich,« antwortete er, »ich rühre nie eine Karte an.«

Berthold Dorner war sichtlich froh, der Gefahr entgangen zu sein, daß ein blutiger Anfänger ihm den Abend verdarb. »Nun,« sagte er vergnügt, die Karten mischend, »Sie sind ja wohl mehr ein Freund der Damen. Bitte, bedienen Sie sich, – ich glaube, meine Frau ist nebenan. Die Schnäpse stehen da drüben.«

Schneider senior und junior markierten ein devotes Lachen. »Tournee?« – »Hab' ich.« – »Passe« ... »dito ...« Und schon krachte die erste Karte auf den Tisch.

Im Wohnzimmer plauderten die beiden Frauen. Bill fiel die Stimme der jüngeren auf, und jetzt ihr silbernes Lachen. Wie Musik klang es, so rein und kindlich und hell. Es war eine Art Idiosynkrasie von ihm, die Frauen nach der Stimme zu beurteilen, und er bildete sich ein, sich niemals hierin getäuscht zu haben.

»Herrgott, Hanna, was hast du denn bloß fortwährend zu lachen?« hörte er Frau Thekla jetzt etwas bissig sagen.

»Ich weiß nicht,« antwortete die junge Frau, sofort abbrechend, mit ihrer sympathischen, immer verhaltenen Stimme. »Ich bin heute so vergnügt.«

Das Mädchen rief Frau Dorner ab, der Biersyphon wollte nicht funktionieren; und nachdem diese ihre Schuhe erangelt hatte, die sie, wo sie auch saß, mechanisch abzustreifen pflegte, verschwand sie eiligst nach hinten. Und jetzt kam Hanna durch die Tür an Bill vorbei, mit dem unsicheren Gange der Frau, die sich beobachtet weiß.

Erst wollte er sie ansprechen. Aber während seine Augen ihr folgten, schlug seine Stimmung plötzlich um. Was sollte er sich mit dieser hausbackenen kleinen Ehefrau erzählen, deren Kulturniveau im günstigsten Falle das Kino und die Markthalle war, – einer Frau, die es fertiggebracht hatte, diesen Hanswurst zu heiraten, der sich dort drüben, die Ellbogen auf dem Tisch, herumräkelte, mit seinen Fußröllchen, alias Gummizugstiefeln förmlich protzte und die Zigarre zur Hälfte im Mundwinkel verschwinden ließ. Nein, – er hatte nun einmal nichts bei diesen Proleten zu suchen.

Wieder kämpfte er einen Augenblick mit dem Drange, einfach aufzustehen und sich auf englisch zu drücken, mochten sie es ihm noch so sehr verargen; er hätte ja nachträglich ein plötzliches Unwohlsein vorschützen können. Tatsächlich kam er sich auch scheußlich elend vor, wie ein Regimentsgaul, der in den Milchkarren gespannt ist; und er schwor einen heiligen Eid, daß er zum ersten und zum letzten Male hier gewesen sein sollte.

Hanna war zögernd an ihm vorbeigegangen, zu ihrem Manne hinüber. Er sah, daß sie einen auffallend kleinen Fuß hatte. Er liebte diesen Reiz der Frau; und unwillkürlich blieben seine Augen an ihr hängen.

Sie stand neben ihrem Gatten, der gar nicht daran dachte sich nach ihr umzuwenden. Und während Berthold Dorner mit der jungen Frau beim Kartengeben seine Scherze machte, grübelte Bill, wie sich wohl in dem Köpfchen solcher kleinbürgerlichen, sittsamen Frau die Welt malen möchte. Ihm war diese Spezies absolut fremd; und in der Verzweiflung, mit der ihn der stumpfsinnige Abend nun einmal erfüllte, nach seiner Gewohnheit, auch in unliebsamen Momenten des Lebens to make the best of it, beschloß er, sich diese junge Frau doch einmal genauer anzusehen.

Hanna kam zurück, und wieder glaubte er eine leichte Befangenheit an ihr zu bemerken. Er war sich über den Grund nicht unklar; da drinnen im Nebenzimmer, unter vier Augen, hatte Frau Thekla bestimmt mit einigen kräftigen Strichen und aufgesetzten Lichtern das liebevolle Bild seiner Übeltaten vervollständigt. Vermutlich hatte ja sein Vater, als er ihn in Berlin anmeldete, Berthold Dorner einigermaßen auf das Glück, das ihn erwartete, vorbereitet, und abgesehen hiervon hatte die Firma C. B. Dorner genug andere Beziehungen zu Hamburg, die sie über die neue Perle von Volontär genügend aufklären konnten. Und daß auch im Fischerdorf Berlin der Klatsch erfreulich blühte und gedieh, das war Bill schon aus den kurzen Unterhaltungen mit seiner Wirtin, der wackeren Frau Moser, klar geworden, das bewies ihm auch heut das Verhalten dieses Spießbürgers von Schneider junior; aber gerade daß dessen Frau vermutlich ebenso über ihn dachte, ihn als eine Art Werwolf, als verkommenes Sujet betrachtete, reizte ihn, sich mit ihr zu beschäftigen.

Er stand auf, er zwang sie halt zu machen.

Sie hob ihre grauen Augen zu ihm empor. »Sie spielen nicht Skat, Herr Petersen?« fragte sie zögernd.

»Im Spiele hab' ich kein Glück,« antwortete er keck.

Sie sah ihn einen Augenblick fragend an, dann errötete sie.

Er nötigte sie mit einer Handbewegung in seinen Sessel und zog sich einen Stuhl heran.

»Ich weiß gar nicht, wo die Tante bleibt,« sagte sie ängstlich, nach dem Wohnzimmer blickend.

»Wie sind Sie eigentlich mit Dorners verwandt, gnädige Frau?« fragte er, ohne sich um ihr heimliches Widerstreben zu kümmern.

»Meine Mutter war Onkel Bertholds Schwester,« antwortete Hanna. »Der Vater ist vor fünfzehn Jahren gestorben, die Mutter vier Jahre später. Da nahmen mich Onkel und Tante zu sich.«

»Also gewissermaßen des Hauses Töchterlein?«

»Ach nein,« erwiderte Hanna, »das ist ja Cilly. Die ist schon bald zwei Jahre fort, ein Jahr in der Pension, in Evian am Genfersee, dann in Paris, und jetzt in London.«

»Alle Achtung,« antwortete Bill. »Die junge Dame nimmt sich für ihre Ausbildung reichlich Zeit.«

Hanna zuckte die Achseln. »Tante Thekla ist etwas nervös,« erwiderte sie leiser, »und Cilly hat ihren Kopf für sich. Da ist das vielleicht das Beste so. Sie kommt aber nächstens zurück, hörte ich heut.«

Eine Pause. Dann fragte Bill:

»Wie lange sind Sie eigentlich verheiratet, gnädige Frau?«

»Ich?« erwiderte sie noch zurückhaltender, als liebte sie es nicht, von sich zu sprechen. »Im Juni war es ein Jahr.«

»Also noch himmelhoch jauchzend,« erwiderte er, halb fragend.

Die kleine Frau errötete wieder. Sie gefiel ihm jetzt ganz gut, in ihrer sichtlichen Hilflosigkeit, die ihr etwas Gretchenhaftes gab. Und es machte ihm mit einmal Spaß, mit ihr zu plaudern, ihre Scheu zu überwinden.

Als guter Soldat wählte er die Umgehung. »Ihr Gatte scheint ein eifriger Skatspieler zu sein,« sagte er.

»Ja,« antwortete sie unbefangen, aber mit einem leisen Klang des Bedauerns in der Stimme. »Jeden Montag abend hat er seinen Skatklub. Er läßt mich nicht gern allein, aber es ist seine einzige Erholung.«

»Und warum gehen Sie nicht auch aus?« fragte Bill, als sei das selbstverständlich für ihn.

»Ohne ihn?« erwiderte sie, förmlich erschreckt.

»Sie haben doch Freunde?« wandte er ein.

»Nein,« sagte sie offen. »Onkel Berthold, Tante Thekla und meinen Schwiegervater, sonst niemand.«

»Allmächtiger! Und das nennen Sie leben?« stieß Bill unwillkürlich aus.

Sie blickte stumm vor sich hin.

Vom Tisch nebenan klang jubelnd Emanuel Schneiders Kommandostimme: »Herzen und noch mal Herzen und Aß, – 'raus mit der Zicke!«

»Kein Theater, keine Oper?« fragte Bill, noch immer ehrlich erstaunt.

Sie sah ihn mit ihren grauen, sehnsüchtigen Augen an. »Ich möchte so furchtbar gern,« antwortete sie mutlos. »Ich habe erst neulich meinen Mann gebeten, zum Hochzeitstag, aber er hat es wohl vergessen. Wir sind noch Anfänger, und in Berlin ist alles so umständlich und teuer. In den Lichtspielen und im Lessingtheater vorigen Sommer und im Siechenbräu sind wir schon öfter gewesen. Und Kempinsky hat mir mein Mann versprochen.«

Vor Bill tat sich eine neue Welt auf. Eine junge Frau, die sich nach einem Theaterbillett verzehrte! Und dort drüben dieser Banause von Mann, der gar nicht wußte, was er an ihr hatte. Impulsiv, ohne jede Nebenabsicht, packte ihn der ritterliche Wunsch, der jungen Frau eine Freude zu bereiten.

»Gnädige Frau,« sagte er mit seiner weichen, eindringlichen Stimme, »Sie müssen mir etwas erlauben, was ja doch gang und gäbe ist. Ich möchte Sie einmal in die Oper führen.«

Sie hob entsetzt beide Hände hoch. »Nein, nein,« sagte sie hastig. »Daran ist nicht zu denken. Mein Mann erlaubt das nicht.«

»Eifersüchtig?« fragte Bill lächelnd.

Sie schüttelte den Kopf. »Ich gebe ihm keinen Grund dazu,« antwortete sie. »Es wäre auch schlecht von mir. Er ist so gut.«

»Nun,« erwiderte Bill, »ein großes Verdienst ist das nicht. Und wenn er Sie lieb hat, dann gönnt er Ihnen auch einmal eine harmlose Freude.«

»Er tut es nicht,« antwortete sie niedergeschlagen. »Es ist in unseren Kreisen nicht üblich.«

»Auch nicht allein, ohne mich?«

Sie schwieg. Ihre Augen schienen ihm feucht zu schimmern.

»Ich will Ihnen einen Vorschlag machen,« sagte Bill entschlossen, und er kam sich dabei schrecklich selbstlos vor. »Ich schicke Ihrem Gatten einfach das Billett für Sie. Will er nicht, so ist das auch kein Unglück, dann verfällt es eben. Aber ein wenig unter dem Pantoffel sollten Sie ihn doch haben.«

Sie lächelte wehmütig. »Ich bin nicht erzogen, Ansprüche zu machen,« antwortete sie. »Ich bin dankbar für das, was mir das Schicksal gegeben hat.«

»Achtundvierzig, zweiundfünfzig, zweiundsechzig!« Ein wilder Freudenausbruch schallte vom Spieltisch her. Berthold Dorner hatte einen Grand mit Dreien verloren.

»Gnädige Frau,« sagte Bill warm, in einem Ton, der jeden Widerspruch ausschloß, »entweder sind Sie nicht ehrlich oder Sie belügen sich selbst. Wer solche Augen hat, dem ist das Leben etwas schuldig geblieben, und der weiß das auch. Der weiß, in einsamen Stunden, wie dort draußen das wahre Leben lacht, farbenschimmernd, lichtüberglüht, in jauchzendem Glück. Sie sind ja lebendig begraben.«

Es war nur sein ungeheucheltes Empfinden, dem er Ausdruck gab. Er glaubte Gutes damit zu tun, er vergaß, daß niemand sich in fremdes Schicksal mischen, niemand Gedanken und Wünsche wecken soll, die nur leise schlafen.

»Ja oder nein?« fragte er kurz.

Sie wußte, was er meinte. Sie schwankte. Dann sagte sie:

»Ich habe keine Hoffnung.«

»Nun,« antwortete Bill in raschem Entschluß, »ich denke besser von Ihrem Manne als Sie.« Er hatte das dunkle Gefühl, daß er nicht mehr zurück konnte, ohne den Schein einer Niederlage auf sich zu ziehen, sich möglicherweise verkannt zu sehn.

Er erhob sich und trat an den Spieltisch.

»Pardon, Herr Schneider,« sagte er in seiner bestimmten Art, die ihm zur zweiten Natur geworden war, »wir kamen eben darauf, daß ich ab und zu Billetts zur Oper zur Verfügung habe. Wollen Sie mir die Ehre erweisen, mir Ihre Frau Gemahlin für einen Abend anzuvertrauen?«

Ein peinliches Schweigen entstand. Schneider senior und junior sahen Bill mit offenem Munde an. Der junge Ehemann kämpfte sichtlich, ob er Bills Anerbieten höflich oder sacksiedegrob abweisen sollte. Ungewiß glitten seine Augen zum Vater hinüber.

Schneider senior fing diesen Blick seines Sohnes auf, der förmlich zu schreien schien: Vater, ich rufe dich! Er räusperte sich. Dann, ganz Husarenoberst, reckte er sich auf. »Mein Herr,« antwortete er, »solche ausgefallenen Scherze wollen wir doch lieber lassen. Mit Dank abgelehnt.«

Bill straffte sich jäh auf. Aber ehe er einen Entschluß fassen konnte, griff Onkel Berthold ein.

»Sachte, sachte! Wo brennt's denn?« sagte er mit gerunzelter Stirn. O nein, so töricht war der Chef der Firma C. B. Dorner denn doch nicht, daß er den Sohn und Erben seines besten Geschäftsfreundes in seinem Hause brüskieren ließ, und in Geldsachen gab es keine Verwandtschaft. »Wenn mich für meine Person auch keine zehn Pferde in das Gedudel bringen,« fuhr er fort, »– ich finde das sehr nett von Ihnen, lieber Petersen, und nehme im Namen meiner Nichte mit Dank an. Du ja wohl auch, Ober, was?«

Der Oberzahlmeister erinnerte mit einem Schlage durchaus nicht mehr an einen Kommandeur. »Wenn du meinst, daß wir dem Herrn die Umstände machen dürfen,« knurrte er verlegen, »verstehn tut die Hanna ja doch nichts ... Aber mir kann's ja recht sein ...«

»Na also,« schloß Berthold Dorner, »denn man los, Herr Petersen. Merkwürdig, daß mir kein Mensch meine Alte mal abnimmt.«

Reinhold Schneider war überhaupt nicht zu Wort gekommen.

Als Bill sich vom Spieltisch zurückwandte, sah er in Hannas schneeweißes Gesicht, in zwei graue Augen, aus denen ihm eine grenzenlose Bewunderung entgegenleuchtete.

Kurz darauf verabschiedete er sich.

»Wollen Sie schon gehn?« fragte Berthold Dorner.

»Wenn Sie gestatten,« antwortete Bill. »Morgen heißt's wieder arbeiten.«

»Da bin ich wirklich neugierig,« erwiderte der alte Herr. »Dann wandern Sie aber auch nach Haus und schlafen Sie sich aus. Gute Nacht, und viel Vergnügen noch.«

»Ich danke verbindlichst,« antwortete Bill mit unerschütterlichem Ernst.

Als Bill in der lauen Sommernacht durch die Linkstraße der Stadt zufuhr, war er noch immer wütend. Wütend über sich, über Hanna, die ihn zu seiner Dummheit verlockt hatte, wütend über diese Kaffern, die beiden Schneider. Und er schwor sich, den Teufel zu tun und sich noch mehr Ohrfeigen zu holen.

Eine Stunde später saß er beim Sekt und gab sich alle Mühe, Dorners und Schneiders und den ganzen unglückseligen Abend zu vergessen.

 

Zu gleicher Zeit lag Hanna schlaflos in ihren Kissen. Neben sich hörte sie das tiefe Atmen ihres Mannes, der zum erstenmal in ihrer Ehe an diesem Abend ihr nicht »Gute Nacht« gesagt hatte.

Sie war bisher mit ihrem Schicksal eigentlich recht zufrieden gewesen; und wenn sie Bill gegenüber etwas anderes durchblicken ließ, so hatte eben ein wenig Koketterie mitgespielt, ein wenig Angst auch, gar zu sehr als Gänschen zu erscheinen, allen den entarteten Frauen gegenüber, von denen heut abend die Tante mit rotem Kopf getuschelt hatte, die in endlosem, sündhaft schimmernden Reigen durch sein bewegtes Leben geglitten sein mußten. Denn alles in allem hatte sie keinen Grund zur Klage; sie war Frau, war gesund, sie hatte ihr Auskommen, ihr Mann war trotz mancher Schwächen, wie alle Menschen sie nun einmal haben, herzensgut; sie hatte sich auch ganz an den Gedanken gewöhnt, daß ihre Zukunft in ebenso ruhigen Bahnen verlaufen würde, bis an ihr seliges Ende.

Aber heut abend war doch etwas in ihr aufgewühlt worden, was ihr den Schlaf raubte, sie zum Nachdenken zwang. Und in abgerissenen Bildern zog ihr schlichtes Leben an ihr vorbei.

Ihr Leben, – das waren hauptsächlich die zwölf Jahre, die sie bei Onkel Berthold und Tante Thekla verbracht hatte, und dann die Brautzeit und Ehe.

Von ihren Eltern wußte sie nicht allzuviel, und Tante Thekla war immer nervös geworden, wenn Hanna nach ihnen fragte. Aber im Laufe der Jahre hatte sie doch das Hauptsächlichste erfahren. Als Onkel Berthold noch ein einfacher Handlungsgehilfe gewesen, mit Tante Thekla, der Tochter seiner Stubenwirtin, als seiner hoffnungslosen Dauerbraut, war der junge Geiger mit Hannas Mutter, Onkel Bertholds Schwester, durchgebrannt, war seine Kunst immer mehr für Weib und Kind nach Brot gegangen, bis er nach einem Nomadenleben, stets in Not, stets in Sorge um die Zukunft, als Mitglied der Kapelle eines Stadttheaters am Blutsturz starb und die Seinen der Gnade ihrer Verwandten überlassen mußte.

Ein Künstler war er gewesen, den der Alltag erstickt; von ihm hatte Hanna das Träumen und Sinnen, das unruhige Blut, das sich heimlich hinaussehnte aus dem grauen Einerlei der Pflicht.

Sie wußte nicht viel von ihm. Ein einziges Bild stand ihr noch vor Augen: Nachmittag war es, durch das offene Fenster lachte der Lenz. Draußen in der Küche schaltete und waltete die Mutter. Sie selbst saß an dem gelben Fichtentisch und zog ihr Püppchen aus und an. Am Fenster aber stand ein hoher, blasser Mann, mit dichtem Haar, das er beständig mit kurzem Ruck aus der Stirn warf. Und der Mann spielte. Hanna war noch viel zu klein, um zu wissen, wie sein Spiel war. Aber das Kind sah die grauen Augen, die sie geerbt hatte, so sehnend in die Weite blicken, über Berg und Tal, in das Märchenland der Kunst hinein, daß sie leise das Püppchen hinlegte, zum Vater eilte und sich an seine Knie schmiegte. Viel später erst hatte die Mutter ihr erzählt, daß er ein Auserwählter war, daß aber eine unbezwingliche Scheu, öffentlich, allein vor einem ganzen Saale zu spielen, ihm den Weg zum Ruhm verschloß. Und seitdem wußte Hanna, daß auch ihre Schüchternheit ihres Vaters Erbteil war.

Dann, nach des Vaters Tode, sah sie sich in Berlin, die Mutter vorzeitig gealtert, immer leidend. Die Kluft zwischen ihr und den wohlhabend gewordenen Verwandten war notdürftig überbrückt; aber Hanna wußte noch genau, wie fest die Mutter die blassen Lippen zusammenpreßte, wenn sie klein Hanna an einem Sonntagmorgen blitzblank anzog, um notgedrungen sich bei der gestrengen Tante Thekla in Erinnerung zu bringen. Nie kam die Tante zu ihnen; nur Onkel Berthold tauchte häufig schweratmend abends bei ihnen auf, oben im dritten Stock der Möckernstraße, auf seinem Wege zum Skat. Und wenn er schied, sagte er jedesmal zur Mutter: »Thekla braucht nichts davon zu wissen, hörst du, Helene?«

Vor Tante Thekla hatte Hanna damals schon Angst gehabt; aber ihre ganze Liebe gehörte dem Onkel Berthold.

Und dann wurde die Mutter krank und kränker, der Husten immer böser, und eines Tages brachte Onkel Berthold eine Schwester in blütenweißer Haube und blauem Kleid, ein großes rotes Kreuz auf der Brosche, und nahm die weinende Hanna zu sich ins Haus.

Sie hatte von ihrer Mutter nichts wieder gesehen, als den braunen Sarg in der Leichenhalle am Kreuzberg.

Und so war sie bei Dorners geblieben.

Tante Thekla war durchaus keine böse Frau; sie sorgte nach Kräften für das verwaiste Kind, das sie ohne Sentimentalität, aber auch ohne Härte erzog. Aber Tante Thekla hatte Eigenschaften, die fast schlimmer waren, als Fehler des Herzens.

Die kleine Cilly, die fast ganz Hannas Obhut anvertraut war, wuchs zu einem seltsamen Mädchen heran. Sie war aus der Dornerschen Art geschlagen, schlank, blaß, mit schwarzem Haar und großen dunklen Augen, auffällig klug und verschlossen. Für Cilly gab es keine Märchen, keinen Weihnachtsmann, keine frommen Lügen. Sie war die einzige, vor der die Mutter mit ihren Launen zurückwich.

Um so mehr aber hatte Hanna den guten Onkel unter ihnen leiden sehn.

Ja, Berthold Dorner hatte es nicht leicht, und gar oft wurde seine Hoffnung zuschanden, im Frieden des trauten Heims seine Zigarre rauchen und seine Zeitung lesen zu dürfen. Wenn Tante Thekla ihren Tag hatte – und sie hatte ihn recht häufig – dann legte sie los, in endlosem, unaufhaltsamen Fluß, gleich der Bienenkönigin, die einmal befruchtet, Jahre hindurch Tag für Tag Tausende von Eiern legt. Von Leuten redete sie, die Berthold nicht kannte, von Dingen, die ihm gleichgültig waren, von Erinnerungen aus ihrer fernen Jugendzeit, Bewerbern, für die es nur die göttliche Thekla oder die Kugel gab, die aber sämtlich noch lebten, bis auf zwei, die an Aderverkalkung und Darmkatarrh gestorben waren. Von dem verwerflichen Phlegma des Gatten, der einst, in wundersel'ger Zeit, so ganz anders, so viel aufmerksamer gewesen, von Untugenden und unsittlichem Lebenswandel der Dienstboten, zerbrochenem Geschirr und sonntäglichen Unteroffizieren, von Hausbewohnern und Visavis, von ihren eigenen phänomenalen Leistungen im Haushalt, steter Überwachung, Sparsamkeit, Sauberkeit, aufreibender Fürsorge für den Mann, von ihren heldenhaft getragenen Leiden, müden Füßen, Herzklopfen, Schwindelanfällen und dem merkwürdigen Schlafbedürfnis, das sie bald als Jungbrunnen rühmte, bald als Todesmenetekel bejammerte. Und wenn dann Berthold ihre oratorischen Kaskaden nur mit Hm! und Ja! beantwortete, während er verzweifelt zum fünfzigsten Male dieselbe Zeile las und nichts begriff, dann war das Drama fertig, dritter Akt, die große Szene. Früher, in jenen vergangenen Tagen, auf die der heute mit dreifachem Erz gepanzerte Berthold schaudernd zurückblickte, hatte er in Güte und Ernst versucht, beruhigend auf sie einzuwirken; aber jedes Wort gab neuen Zündstoff, jede Bitte neue Klagen, jede Ermahnung neue Entrüstung. So hatte er denn schließlich von selbst das Allheilmittel gefunden, das ihm die Ruhe gab: Merkte er, daß der Vesuv mit einem Ausbruch drohte – und auch hierin machte Übung den Meister –, so flüchtete er sich in sein Kontor, und abends war dann regelmäßig Skatklub oder Kirchen- oder Waisenratssitzung, bei der er unmöglich fehlen durfte. Nur bei den Mahlzeiten half ihm das alles nichts, da mußte er standhalten.

Am schwersten aber ertrug er eins, und zwar die Fragewut seiner Frau. Sie hatte diese Kunst bis zur Virtuosität ausgebildet, kannte in ihr keine Hemmung, keine Schonung, kein Erbarmen.

Hanna dachte an den ersten Morgen im Dornerschen Hause, der sich dem Kinde natürlich besonders tief eingeprägt hatte.

Onkel Berthold hatte mit ihr beim Kaffee gesessen, als Tante Thekla in ihrem langschleppenden Schlafrock hereinrauschte.

Sie nahm sich gar nicht die Zeit, guten Morgen zu sagen.

»Hast du kein Weißbrot gegessen?« fragte sie Onkel Berthold mit einem Blick über den Tisch.

»Nein,« antwortete er lakonisch. Er wußte, was ihm blühte.

»Warum nicht?« forschte sie, schon aufgeregt, weiter. Ihre Stimme ging um eine kleine Terz höher.

»Weil ich keinen Hunger hatte.«

»Woher denn?«

»Das weiß ich nicht.«

»Hast du garnichts gegessen?«

»Jawohl.«

»Was denn?«

»Wurst.«

»Leberwurst?«

»Nein, Schlackwurst.«

»Und die Leberwurst ist so schön. Die hab' ich extra für dich gekauft. Hast du die nicht liegen sehn?«

»Jawohl.«

»Und nicht gegessen?«

»Nein.«

»Warum denn nicht?«

»Weil ich Schlackwurst gegessen habe.«

»Schmeckt dir die Leberwurst nicht?«

»Ich habe sie nicht gekostet.«

»Dann tu's doch.«

»Nein.«

»Weshalb denn?«

»Weil ich satt bin.«

»Du kannst ja gar nicht satt sein. Du hast doch kein Weißbrot gegessen.«

Onkel Berthold schwieg. Die Krisis war da.

»Dazu quält man sich nun und rackert sich von morgens bis abends ab, und kein Mensch dankt es einem,« jammerte Tante Thekla auf.

Onkel Berthold leerte seine Tasse, faltete die Zeitung zusammen und erhob sich. Und schon war er hinaus, auf dem Wege zum Kontor.

Und dort hatte Onkel Berthold einen Menschen, der mit ihm fühlte; das war der alte Voigt, das Faktotum in Fabrik und Haus, der auch oben bei Dorners die Kachelöfen heizte.

Eines Tages meldete sich Voigt zu ungewohnter Stunde, gerade als Hanna von der Tante mit irgend einem Auftrag zum Onkel hinuntergeschickt war.

»Nun, Voigt, was bringt Sie her?« fragte Onkel Berthold.

Der alte Voigt druckste und druckste. Schließlich kam es heraus.

»Herr Dorner, ich möchte zum Ersten kündigen.«

Berthold blickte hoch. »Sie sind wohl verrückt, Voigt,« antwortete er drastisch.

»Herr Dorner,« erwiderte Voigt bedächtig, »es wird mir ja selbst nicht leicht, nach zweiundzwanzig Jahren. Aber –«

»Aber?« fragte Berthold Dorner zurück.

Voigt schluckte. »Ich halte das mit Ihrer Frau nicht mehr aus.«

Eine Pause. Dann sagte Berthold zu ihm:

»Verdenken kann ich's Ihnen nicht, Voigt. Nur, sehen Sie mal, Ihnen geht's doch viel besser, als mir; Sie können kündigen, ich aber nicht. Wenn Sie ein bißchen Optimist sind, dann müssen Sie zugeben, Sie haben es gegen mich beneidenswert.«

Voigt sah seinen Brotherrn lange verblüfft an. »Da haben Sie eigentlich recht,« antwortete er dann in ehrlichem Mitgefühl. »Von der Seite habe ich die Sache noch gar nicht besehen. Und wenn Sie meinen, Herr Dorner, dann will ich's eben weiter versuchen.«

»Onkel,« fragte die kleine zwölfjährige Hanna, als Voigt sich empfohlen hatte, »was ist das, Optimist?«

»Ein Optimist?« wiederholte der Onkel lächelnd. »Das ist ein Mensch, der auf einer Hühnerleiter sitzt und denkt, es ist ein Thron. Und guckt immer in die Luft, nach der goldenen Krone, die ihm auf den Kopf fliegen soll, und merkt nicht, wie sich die Hühner auf seinen Schädel setzen.«

»Und?« fragte Hanna verständnislos.

»Und schließlich bricht regelmäßig die Leiter, und pardautz, liegt er da. Dann steht er auf, wischt sich den Schädel ab und sucht sich eine neue Leiter. Und hält sie wieder für einen Thron und wartet auf die Krone.«

»Und dir haben die Hühner sich auch auf den Kopf gesetzt, Onkel?« fragte die kleine Hanna teilnehmend.

»Eins, mein Herzblatt, ein einziges,« antwortete der alte Herr ganz ernst. »Immer dasselbe, seit langen Jahren. Und ausgiebig, das muß ich sagen.«

»Und die Krone ist nicht gekommen?«

»Die Krone – nein.« Onkel Berthold beugte sich zu den großen, grauen Kinderaugen hinab und küßte das rote Mündchen. »Aber eines Tages kam mir ein Täubchen, weiß und blond und rosig, ans Herz geflattert. Und das Täubchen, Liebling, heißt Hanna.«

 

Hanna war es unerträglich heiß; sie warf die Bettdecke zurück. Nicht umsonst hatten ihre Gedanken gerade heut solange bei der Tante geweilt; sie wußte nur zu gut, daß diese Frau nicht nur die eigene Tochter vor zwei Jahren aus dem Hause gescheucht, nein, daß sie auch für Hannas ganzes Leben bestimmend geworden, das treibende Moment gewesen war, das Hanna zu ihrer Heirat bewogen hatte.

Gewiß hatte Hanna vieles Gute von der Tante empfangen, ihr fast alles zu verdanken, was sie in der Führung des Haushalts gelernt. Aber von morgens bis in die Nacht auf den Beinen, immer gehetzt, selten nur ein Wort der Anerkennung, das jeder Mensch braucht, der nicht erlahmen soll, in dieser schwierigen Zwitterstellung, halb zur Familie gehörig, halb von der Tante als Dienstbote benutzt – es waren recht ernste Jahre, die sie bei Tante Thekla durchzumachen gehabt.

Aber ganz freudlos war ihre Jugend doch nicht gewesen; das Erbteil des Vaters, die goldene Phantasie, hatte sie ihr verklärt.

Wenn Hanna ihr Tagewerk hinter sich hatte und sich wohlig in ihren Kissen streckte, wenn sie die Lampe ausblies, den langen, schweren Zopf nach vorn warf und die Augen schloß, dann kam das Schönste vom ganzen Tage, die Märchenstunde der Erfüllung. Dann gaukelten durch ihren Mädchenkopf die Träume – bunte Träume, die vor dem Morgenlicht verblichen, Wünsche, wie sie ein Kind hegt, ohne auf Erfüllung zu rechnen, romantische Phantasien, die sie als heimliches Glück empfand, als einen Ersatz für das, was ihr das Leben versagt hatte. Ein Graf warb um sie, hochgereckt, mit ehernem Antlitz, in klirrender Wehr. Und dieser Graf verfügte über unzählige Schätze, besaß ein blinkendes Marmorschloß, in das er sie auf schnaubendem Roß als sein junges Weib führte. Und nun kam das Herrliche, das Hanna Nacht für Nacht in den Schlaf wiegte. Ein hohes Gemach, ein goldenes, von schweren roten Samtvorhängen überdachtes Lager. Und in allen Schränken und Kästen hoch aufgehäuft seidene Prunkgewänder, kostbare Truhen, mit blitzenden Edelsteinen und köstlichem Geschmeide gefüllt, zarte durchbrochene Wäsche, die sich durch einen Ring ziehen ließ; Kammerfrauen, die ihrer harrten, die ihr mit duftenden Essenzen, den Geheimnissen Indiens, das erquickende Bad rüsteten, mit weichen Tüchern ihr die Haut glätteten, sie in das feine, spitzenbesetzte Nachtgewand hüllten. Und strahlend von Jugend und Frische, in ungeduldigem Bangen lauschte sie auf die hastigen Tritte des liebestrunkenen Grafen. Aber dieses Bangen der erschauernden Schloßherrin im spitzenbesetzten Nachtgewande war völlig überflüssig; denn ehe der von Sehnsucht glühende Graf sporenklirrend eintreten und die sich tief verneigenden Kammerfrauen mit herrischer Gebärde vom Lager der Geliebten scheuchen konnte, war Hanna regelmäßig schon in den festen, gesegneten Schlaf der Jugend gesunken. Das hinderte jedoch nicht, daß am nächsten Abend der Graf sie von neuem sah, sich wahnsinnig in sie verliebte und sie auf das Schloß mit den Märchenschätzen entführte, um sie dann zwecklos in duftenden Essenzen baden zu lassen.

So brachte Abend für Abend der kleinen Hanna das Glück.

Bis weit in ihre Mädchenzeit vergoldete sich Hanna die nüchterne Prosa des Lebens mit diesen harmlos schimmernden Phantasien. Sie war rein geblieben in der Fülle der Pflichten, die tagtäglich ihrer warteten, und das Ungewisse ihrer Zukunft hatte sie der Außenwelt gegenüber scheu gemacht. Sie wußte, daß sie alles, Heim und Schule, Nahrung und Kleidung der Güte ihrer Verwandten zu danken hatte, fühlte, wie sehr sie von deren Gnade abhing. Und das hielt sie ab, sich in der Schule ihren glücklicheren Schwestern anzuschließen, schützte sie aber zugleich davor, durch die von Mund zu Mund geflüsterten Enthüllungen vergiftet zu werden, mit denen das heranwachsende Kind den Schleier von dem Geheimnis des Werdens zu lüften brennt. Immer unter den Augen der Tante, immer dazu angehalten, ihrer so viel jüngeren Cousine ein Vorbild zu sein, hatte sie gelernt ihr ganzes Innenleben, so unschuldig es auch war, tief in sich zu verbergen. Dadurch war langsam ein Riß in ihr entstanden, etwas Zwiespältiges, das ihr immer mehr die Sicherheit nahm; ihr Denken verwarf ihre Träume als eitle Luftschlösser, und doch wehrte sich ihr Herz gegen diese Erkenntnis, hoffte es hartnäckig auf das Ersehnte, das Wunderbare, die jauchzende Liebe. Und das Herz behielt das letzte Wort.

Eines Tages – Hanna war nun schon zweiundzwanzig geworden –, als die sechzehnjährige Cilly eben ihren Willen durchgesetzt hatte und nach Evian in die Pension gegangen war, brachte der Oberzahlmeister a. D. Schneider, der eine Dreizimmerwohnung im dritten Stock des Dornerschen Hauses seit mehr als fünf Jahren inne hatte, wie allmonatlich auf die Minute pünktlich bei seiner Rückkehr von der Pensionskasse die Miete. Aber während er sonst unten im Kontor zahlte und die schon bereitliegende Quittung einsteckte, machte er heute Frau Thekla im ersten Stock seinen Besuch und blieb fast eine Stunde.

Wenige Tage später wußte Hanna, daß Emanuel Schneider angeklopft hatte, wie sich Dorners zu seines Sohnes Werbung um Hanna stellen würden.

Sie hatte praktisch nie an solche Möglichkeit gedacht. Nur zu oft hatte sie von der Tante hören müssen, daß sie nichts besaß, und daß arme Mädchen selten heiraten. Häufig war der Wunsch in ihr aufgetaucht, sich selbst eine Existenzmöglichkeit zu schaffen, als Gesellschafterin, als Lehrerin oder sonstwie; aber Tante Thekla hatte von solchen Plänen nichts wissen wollen; denn vorläufig war ihr Hanna unentbehrlich, und sie liebte es, Menschen um sich zu haben, die von ihr abhängig waren.

Hanna hatte wohl hin und wieder den jungen Schneider auf der Straße, auf der Treppe getroffen, aber kaum auf ihn geachtet. Sie standen auf Grüßfuß, weiter nichts; und sie begriff nicht, wie er gerade auf sie als seine künftige Frau gefallen war.

Sie wußte ja nicht, daß Reinhold Schneider nicht viel mehr Anteil an diesem Plane hatte als sie; sein Vater hatte ihn genau so erzogen, wie er vor langen Jahren als Unteroffizier seine Rekruten gedrillt hatte, und Reinhold war es gewohnt, ihm blindlings zu gehorchen. Und als der Alte seines Jungen Laufbahn gesichert sah, schaute er sich nach einer Gehilfin für ihn um, die um ihn sei. Seit zwei Jahren Mitglied des Klubs, in den Berthold seinen Mieter als Matador des Skatspiels eingeführt hatte, war er durch gelegentliche Bemerkungen über Hanna unterrichtet und hatte seitdem diesen Plan in seinem Herzen bewegt. Denn wenn sie auch nichts besaß – er kannte Berthold Dorners gutes Herz und noch besseres Bankkonto, und er wußte, dieser würde die Nichte nicht vergessen, am allerwenigsten in seinem Testament.

Und so hatte er sich denn mit immer gesteigertem Nachdruck seinen Sprößling vorgenommen; er kannte Reinholds Unselbständigkeit, die er ja selbst zu seiner Bequemlichkeit begünstigt, und er hatte keine Lust, eines schönen Tages, zu erleben, wie dieser von irgendeiner heiratswütigen Jungfrau sich einfangen lassen würde. Geschickt hatte er deshalb Reinhold auf Hanna scharf zu machen gesucht. Und wirklich hatte dieser sich aus der Entfernung immer mehr für das hübsche, gut erzogene Mädchen begeistert; aber die Angst, etwas zu verderben, die Befürchtung, sich einen Korb zu holen, nahm ihm den Mut, eine Annäherung zu suchen.

Schneider senior war entzückt, als er seinen Sohn einverstanden sah. »Glaube mir,« sagte er, ganz von Wichtigkeit erfüllt, »das ist die richtige Frau für dich; das Mädel ist gesund, hübsch und kräftig und weiß zu wirtschaften und mit Kindern umzugehn. Das ist keine, die vormittags Körper- und nachmittags Seelenkultur treibt, um abends durch die Lappen zu gehn. Die faßt zu und spart und sorgt für dich und pariert aufs Wort. So hab' ich mir deine selige Mutter gezogen, und so kannst du es auch haben.«

Acht Tage nach dem Besuch des Oberzahlmeisters traten Schneider senior und junior feierlich zum Abendessen bei Dorners an. Und wie auf Verabredung taten alle, als ob die Sache perfekt und jedes Wort darüber überflüssig wäre.

Nur Onkel Berthold ließ sich eines Tages Hanna in sein Bureau kommen und sprach in seiner herzlichen Art zu ihr. Er lobte Reinhold Schneider als einen anständigen, strebsamen Menschen, er sprach von seinem eigenen Alter, seinem Wunsch, Hanna für das Leben versorgt zu sehen, aber versicherte ihr zugleich, daß sie selbst sich den Gatten wählen solle und keinem Druck von dritter Seite nachzugeben brauche. Hanna wußte, daß er auf Tante Thekla anspielte, die jetzt, wo Cilly in der Pension war und Hanna immer entbehrlicher wurde, das Heiratsprojekt mit Feuereifer aufgenommen hatte. Und dann sprach Onkel Berthold ernst und liebevoll von der Bedeutung eines solchen Schrittes.

»Ja,« sagte er, »kleine Hanna, ich glaube, ich kenne dich, und die Märchen, die hab' ich in deinen hübschen Augen da schon lange spuken sehn, – in diesen Augen deines Vaters. Und hab' mir gesagt: Wieder so ein tastendes, irrendes Menschenkind, wieder der alte Weg, den wir alle gehn, an dessen Ende der Verzicht, das Sichbegnügen steht. So ein kleiner Bengel, wenn du den fragst, der will Husarengeneral werden und endet im grauen Haar als Briefträger; und ihr Mädel, ihr macht wohl alle denselben Traum, denselben Taumel durch, hofft auf die große, alles überwindende Liebe, bis ihr dann still und zufrieden eurem Alten die Strümpfe stopft. Und wenn du etwa heute noch, mit deinen zweiundzwanzig Jahren, auf einen Lohengrin wartest, – glaube mir, die Sorte sind schlechte Ehemänner, und der Schwanenritter hat es ja auch nur knapp eine Nacht ausgehalten, um sich dann wieder meuchlings zu empfehlen. Wir heiraten alle für den Alltag, mein Kind, nicht für die hohen Feste, wir brauchen Brot zum Leben, nicht ewig Kuchen. So, Hannchen, nun überleg' dir das, alt genug bist du ja. Und dann sag' mir Bescheid.«

Und Hanna kämpfte, auf sich gestellt, den entscheidenden Kampf ihres Lebens.

Sie hatte doch so lange auf das Glück gewartet, wie die Knospe im Lenzfrost auf den Sonnenschein hofft, hatte so endlos auf das Wunderbare, Unfaßliche geharrt, das dem Weibe die Krone der Verklärung auf das Haupt drückt; sie fühlte einen so quälenden Hunger nach Liebe in sich, eine so grenzenlose Sehnsucht nach weichen Händen, die sie sanft durch das Leben trugen, nach einem gütigen Herzen, das ihr die Bangigkeit nahm, ihr Kraft und Mut und Stolz gab, wollte so gern an einer Brust gebettet sein, wie das Vöglein im heimlichen Nest, beschützt vor all dem Harten und Schweren und Grausamen, das den unerbittlichen Kampf um das Dasein da draußen erfüllte!

War dieser wachsende Drang, dieses sich immer steigernde Bangen nicht schon die Liebe?

Liebe ... Sie hatte nur wenig Vorstellungen von ihr. Dunkel empfand sie, daß die Sprache mit diesem einen Wort eine Welt von Empfindungen umfaßte, Freude und Jammer, Himmel und Hölle. Aber wissen tat sie das eine: Lieben hieß für die Frau ihrer Kreise, dem Manne untertan sein, hieß ihm gehorchen, ihm dankbar sein, sich mühen für ihn, der mit fester Hand das Steuer führte, in guten und bösen Tagen. So war es von Anfang an gewesen, so schrieb es das eigene Gewissen vor, so lehrte es die Kirche. Und wenn sie einmal Ja gesagt hatte, dann war es ein Ja für das ganze Leben, bis daß der Tod sie schied.

Wenn sie Ja gesagt hatte ... Aber durfte sie das auch tun? In kühlem Überlegen, mit schwankendem Herzen?

Gewiß, sie achtete Reinhold Schneider. Aber Achtung – du lieber Gott! Daß die allein nicht das Rechte war, das konnte Hanna sich wohl sagen. Achtung hatte sie vor vielen, mit denen sie nicht hätte Tag um Tag, Jahr für Jahr in engster Gemeinschaft leben mögen, eine Seele, ein Leib ... Und plötzlich erwachte etwas in ihr, das auch in dem reinsten Mädchenherzen schlummert, der Instinkt der Jungfrau, die Abwehr gegen einen Mann, von dem sie ahnt, daß er ihr ewig fremd bleiben wird, gleichgültig, vielleicht verhaßt.

Aber dann zweifelte sie wieder an sich selbst. Alle taten sie doch so, als sollte ihr ein unerwartetes Glück widerfahren, als habe sie vollen Grund, dem Schicksal aus tiefstem Herzen zu danken. Und trotzdem empfand sie keine Spur eines solchen Gefühls. Sie konnte sich hundertmal am Tage sagen, was Onkel Berthold ihr vorgestellt, daß Reinhold ein ehrlicher, guter Charakter war, daß sie keine Gefahr bei ihm lief, – immer wieder kam dieselbe Beklemmung über sie, wenn die Stunde seines Kommens nahte, fror sie an seiner Seite, fühlte sie sich wie von glühendem Eisen gebrannt, wenn er sie auch nur flüchtig, absichtslos streifte, schreckte sie mit Entsetzen vor dem Augenblick zurück, an dem dieser nüchterne Mensch das Recht haben würde, sie in seine Arme zu schließen.

Nein, sie liebte Reinhold nicht, würde ihn nie lieben können. Und wenn sie das fühlte, wenn sie ihn bloß deshalb nahm, weil er sie zum Weibe begehrte, sich ihm preisgab, nur um versorgt zu sein, so betrog sie ihn, war sie um nichts besser, als das Geschöpf der Straße, das sich verkauft, um seinen Hunger zu stillen.

Und dennoch, – wie sehnte sie sich hinaus, fort von dieser Tante, die ihr das Leben so wenig leicht machte, vor der sie beständig Angst hatte! Wer weiß, ob je wieder einer kam, der sie zum Weibe begehrte. Sie war ja doch kein Backfisch mehr, und noch hatte keiner außer Reinhold um sie geworben, war keiner bereit gewesen, sie herauszunehmen aus diesen Verhältnissen, die ihr den Lebensmut nahmen, jetzt mehr als je; denn in der nervösen Sorge, sie für immer auf dem Halse zu behalten, begann Tante Thekla ihr das Leben so unerträglich zu machen, daß Hanna mehr und mehr verzagte.

Es war nicht Bosheit von Tante Thekla. Sie war wirklich überzeugt, etwas Gutes zu tun, wenn sie Hanna zu dieser Heirat bestimmte; und Tag für Tag bohrte sie ein Stück weiter, schmiedete sie das Eisen, höhlte sie tropfenweis den spröden Stein.

»Du redest dir doch wohl nicht ein,« sagte sie in sichtlicher Erregung, »daß du so leicht an den Mann zu bringen bist?«

Hanna schwieg bekümmert.

»Gerade du!« zankte die Tante. »Für einen einfachen Handwerker dankst du doch sicher, oder für 'nen kleinen Heringsbändiger? Dazu trägst du die Nase ja viel zu hoch. Und ein Mann, der eine prima Position hat, soll auf die Tochter eines gescheiterten Geigenfritzen reinfallen? Da laß dir die Zeit nur nicht lang werden!«

Eine Pause, in der Tante Thekla verzweifelt nach ihren Schuhen unter dem Tisch angelte.

»Unsereins hatte freilich etwas bescheidenere Ansprüche,« fuhr sie dann majestätisch fort. »Weißt du, was wir zu verzehren hatten, als wir uns heirateten?«

»Nein, Tante.«

»Fünfunddreißig Taler Gehalt im Monat,« triumphierte Tante Thekla, »außer meinen dreihundert Mark Spargeld im Strumpf. Und heute? Weißt du, daß die beiden, der Onkel und der Marmor-Krüger nebenan, allein in der ersten Klasse wählen? Und daß der Onkel den Kerl rausgeschmissen hat, der ihm für fünfzigtausend den Kommerzienrat andrehen wollte? Weißt du das alles?«

»Jawohl, Tante.« Wenn man zwei Jahre hindurch allwöchentlich dieselbe Geschichte mit fast denselben Worten anhören mußte, dann pflegt man sie im allgemeinen zu kennen.

»Und nun kommt in letzter Stunde dieser Mensch, der junge Schneider, wie vom Himmel runtergeschneit und schnappt auf dich ein. Ausgerechnet auf dich, mit deiner Stupsnase! Ja, bist du denn ganz von Gott verlassen, daß du da nicht mit beiden Händen zugreifst? Willst du denn absolut sauer kochen, dich ewig durchfuttern lassen, wie?«

Hanna dachte erbittert daran, wie sie von morgens bis abends sich plagte, aber sie wagte der Tante nicht zu widersprechen.

»Es gibt doch auch noch 'ne Dankbarkeit,« zürnte Tante Thekla in steigendem Pathos, »wenigstens unter anständigen Menschen. Wenn du von der eine blasse Ahnung hättest, dann wüßtest du, was du zu tun hast.«

Hanna faßte Mut. »Ich kann nicht,« sagte sie entschlossen, »ich hab' ihn nicht lieb.«

»Lieb! Herrgott, wenn man so etwas hört!« Tante Thekla hob entsetzt beide Arme zum Himmel. »Wer heiratet denn heutzutage noch aus Liebe? Grüne Bengel und dumme Gören. Kommt erst die Not ins Haus, dann fliegt die Liebe zum Fenster hinaus. Und geht's schon mal nicht ohne Liebe, so ist doch die Hauptsache, daß man geliebt wird; wenn das der Reinhold aber nicht täte, so würde er dich weiß Gott nicht nehmen, nackt wie einen neugebornen Spatz. Und schließlich, du albernes Ding,« – Tante Thekla lachte etwas gezwungen auf – »bei Nacht sind alle Katzen grau.«

Hanna schüttelte sich förmlich. »Ich kann nicht,« stammelte sie, »ich kann nicht.«

Tante Thekla verlor den letzten Rest von Ruhe. »Ich begreife dich einfach nicht,« polterte sie los. »Nimmst du den Reinhold, so stattet der Onkel dich aus und gibt euch die Zinsen von dreißigtausend Mark. Dann habt ihr alles in allem eure vierundeinhalbtausend. Das ist ein anständiger Posten; ehe den ein studierter Mann hat, kann er alt und grau werden. Wahrhaftig, mein Kind, du bist auch eine, die zu ihrem Glück gezwungen sein will. Und wenn die Schneiders heut abend kommen, dann bitt' ich mir aus, daß du liebenswürdig bist, – verstanden?«

Hanna war keine Heldin und diesem Guerillakrieg nicht gewachsen. Und eines Abends nach dem Essen, als Onkel Berthold und der Oberzahlmeister mit einem offenbar zu diesem Zweck geladenen Gaste sich zum Skat gesetzt hatten und Tante Thekla sich völlig unnötigerweise in der Küche beschäftigte, saß Hanna allein mit Reinhold im Wohnzimmer, fühlte sie aus seinem hilflosen Schweigen die Entscheidung nahen, hörte sie ihn endlich etwas Unverständliches stottern. Und ehe sie recht wußte, was sie tat, hatte sie Ja gesagt.

Sie kam erst ganz zum Bewußtsein dessen, was geschehen, als sie die Karten auf dem Spieltisch zusammengeworfen sah, an dem anscheinend längst schon bereitgehaltenen Verlobungssekt nippte und eine gewaltige Heiterkeit erregte, weil sie zu ihrem Bräutigam »Herr Schneider« sagte.

Hand in Hand mit ihm sitzend, wie es sich für ein Brautpaar gebührt, blickte sie ihn heimlich von der Seite an. Er war mittelgroß, in seiner knochigen Magerkeit fast dürftig; er hatte schlichtes, glattanliegendes braunes Haar über der niedrigen Stirn, schwarze, ein wenig hervortretende Augen, die ihm einen unsicheren, beständig überraschten Ausdruck gaben, einen winzigen Schnurrbart unter der schmalen Nase, und ein auffallend kleines, zurücktretendes Kinn. Er sah nicht gerade schlecht aus, aber seine Züge hatten etwas Ausdrucksloses, Schematisches, etwas, was man ein Dutzendgesicht zu nennen pflegt. Ihm fehlte die abgeschlossene Männlichkeit, die Ruhe und Bestimmtheit in Haltung und Sprache, die den festgefügten, jeder Lage gewachsenen Charakter verrät. Besonders wenn sein Vater mit ihm sprach, erschien er befangen, überhastet, nervös; vielleicht kam heute noch hinzu, daß auch ihm die neue, ungewohnte Situation recht wenig behaglich sein mußte.

Der Oberzahlmeister a. D. hatte das Ereignis des Abends mit ungeheurer Genugtuung begrüßt, ganz als Heldenvater drapiert, hatte sich völlig überrascht gestellt, Hanna in seine Arme geschlossen und in dramatischem Tone den sichtlich sorgsam vorbereiteten speech vom Stapel gelassen:

»Kinder, merkt euch beide fürs Leben: Der Mann ist die Eins in der Ehe, die Frau ist die Null. Hält sie sich an der ihr verordneten Stelle, gibt sie der Eins den zehnfachen Wert; drängt sie sich vor, macht sie die Eins zum Zehntel und bleibt doch eine Null. Stimmt das?«

»Jawohl, Vater,« hatte Reinhold sich beeilt zu versichern.

Und Hanna hatte den grauen Schnauzbart ihres Schwiegervaters auf ihrer Stirn gefühlt, während sein Embonpoint sie genierte.

Reinhold kam Sonntags zu Tisch und wöchentlich zwei- bis dreimal am Abend, immer mit demselben Veilchenbukett, über das Hanna jedesmal neue, freudige Überraschung heucheln mußte.

Allmählich begann sie sich an ihn zu gewöhnen, aber zugleich erkannte sie auch seine Schwächen. Sie vermochte dies trotz ihrer bescheidenen Menschenkenntnis um so leichter, als Onkel Berthold, der einzige Mann, an dem sie Reinhold messen konnte, so ganz anders als dieser war. Immer mehr schien ihr das Beherrschende in Reinholds Wesen eine künstlich aufgebauschte, ihr unbegreifliche Eitelkeit zu sein, die trotz aller seiner Bemühungen, sie zu verhehlen, bei jeder Gelegenheit zutage trat. Beständig erzählte er von seiner Karriere, seinen Aussichten: Er habe drei Jahre als Supernumerar gearbeitet, sei nach bestandener Prüfung zum Sekretär ernannt und vor kurzem, mit achtundzwanzig Jahren, fest angestellt; er werde es bis zu achttausend Mark und bis zum Geheimrat bringen und einst womöglich mit dem Kronenorden zweiter Klasse zum Halse heraus in Pension gehen. Das war gewiß sehr schön, aber Hanna verstand doch nicht, warum er auch bei jeder Gelegenheit mit fast leidenschaftlichem Nachdruck hervorhob, daß er sich die Berechtigung zum Einjährigendienst erworben habe, und seine Qualität als Kaiserlicher Beamter fast ehrfurchtsvoll betonte. Erst im Laufe der Zeit erkannte sie, welch ein brennender Ehrgeiz in diesem Manne lebte, wurde ihr klar, daß dieser Drang, sich durchzusetzen, seine guten Eigenschaften zu überschatten drohte, daß er innerlich jedes Ereignis seines Lebens nur von dem einen Gesichtspunkt aus beurteilte, ob es seiner Laufbahn zum Vorteil oder zum Schaden gereichen könnte. Und immer deutlicher trat die Gehässigkeit, der Neid zutage, mit der er jene glücklichen »Schmarotzer« betrachtete, die mit dem goldenen Löffel im Munde geboren, denen der Weg zur Höhe durch Geburt und Gunst geebnet war. Von diesen Gefühlen der eigenen Wertschätzung und zugleich der Angst, nicht ganz für voll zu gelten, hin und her getrieben, konnte er selbst bei harmlosen Fragen sich Hanna gegenüber in eine Rechthaberei, einen manchmal geradezu lächerlichen Eigensinn verbohren, mit dem er seine Autorität als Mann zu wahren und den künftigen gestrengen Eheherrn herauszukehren suchte.

Inzwischen betrieb Tante Thekla, um die Zeit der Brautschaft, die ihr recht lästig war, nach Möglichkeit abzukürzen, mit Feuereifer die Hochzeitsvorbereitungen. Und sie bestimmte und dirigierte, ohne Hanna viel zu fragen, fast als ob es ihre eigene Einrichtung gelte.

Im Grunde war diese froh, daß Tante Thekla ihr die Sorge um die Ausstattung abnahm. Ihre Bescheidenheit sträubte sich dagegen, selbst zu wählen, auf die Kosten einzuwirken, mit Tante Thekla über jedes einzelne Stück zu debattieren.

Lange und lebhafte Erörterungen rief aber die Dienstbotenfrage hervor. Tante Thekla war für eine Aufwartung. Wenn man bloß ordentlich aufpaßte, daß die nicht mit dem leeren Korbe kam und mit dem gefüllten ging, dann konnte man eine Menge Geld sparen; und einer jungen Frau sei es nur gesund, wenn sie sich tüchtig tummeln müsse. Umsonst habe sie sich nicht mit Hanna die langen Jahre hindurch abgequält. Besser klein angefangen, als klein aufgehört!

Hanna wagte nicht der Tante zu widersprechen, um so weniger, da diese bei jeder derartigen Gelegenheit ungemein deutlich auf Onkel Bertholds generösen Zuschuß hinzuweisen liebte; auch konnte sie nichts anderes erwarten, als daß Reinhold, dessen Sparsamkeit auch da, wo es ihn nichts kostete, fast bis zum Geiz zutage trat, der Tante begeistert sekundieren würde. Aber merkwürdigerweise war er diesmal anderer Ansicht und hatte zum ersten Male den Mut, der Tante hartnäckig zu opponieren. Sie habe zwar von ihrem Standpunkt aus vollkommen recht, er stimme ihr sachlich durchaus bei; aber den einen, persönlichen Punkt habe die verehrte Tante zweifellos übersehen: Er sei Kaiserlicher Beamter, er habe auf seine amtliche Stellung Rücksicht zu nehmen. Es sei durchaus nicht ausgeschlossen, daß sich in kollegialen Kreisen einmal ein Verkehr anbahne, vielleicht sogar mit Vorgesetzten, und dazu gehöre ein Dienstmädchen unbedingt. Derartiges spreche sich im Hause herum und gehe weiter, und es sei nicht von der Hand zu weisen, daß seine Zukunft darunter leiden könnte. Er habe zehnmal mit seinem Vater, dem Oberzahlmeister, ihr künftiges Budget durchkalkuliert; es gehe sehr gut mit einem Mädchen, nötigenfalls müsse an anderer Stelle gespart werden.

Tante Thekla hörte Reinhold recht gekniffen zu und musterte ihn nicht gerade sehr freundschaftlich von oben bis unten. Aber sei es, daß Reinhold bereits die Trümpfe in der Hand zu haben glaubte, sei es, daß er in dieser Frage seinen Vater hinter sich wußte, – in jedem Falle setzte er seinen Willen durch, und Tante Thekla schwenkte plötzlich um und erklärte, sie allein mit ihrer großen Erfahrung sei imstande, die – übrigens noch immer ihrer Ansicht nach durchaus entbehrliche – Perle ausfindig zu machen, und sie werde auch dieses Opfer bringen.

Nur die Sorge für die Wohnung blieb dem Brautpaar überlassen. Reinhold fand eine, die ihnen beiden gefiel und deren Preis ihren Verhältnissen entsprach, in einem altmodischen Hause der Kurfürstenstraße, zwischen Potsdamer- und Dennewitzstraße. Sie lag links im dritten Stockwerk des Hauses; über ihr befand sich nur noch das Dachgeschoß, so daß keine Unruhe zu befürchten war. Trat man in die Wohnung, so stand man in einem schmalen Korridor, der sich zur Rechten hin erstreckte. Links führte eine Glastür in das nach der Straße gelegene Wohnzimmer mit seinen drei Fenstern Front, geradeaus ging es in das als Eßstube bestimmte Berliner Zimmer, das mit dem vorderen in Verbindung stand. Rechts den Korridor entlang schloß sich an die Eßstube das Schlaf- und Mädchenzimmer an, während gegenüber Badezimmer und Küche, anstoßend an die Hintertreppe lagen. Alle Wohnräume außer dem Vorderzimmer gingen auf einen tief unten liegenden, großen Garten hinaus, der das Haus umgab und mit seinem blühenden Rotdorn sie sofort für die Wohnung einnahm.

 

Eines Morgens, Anfang Juli, fuhr Hanna, von einem harten Klopfen hochgeschreckt, aus tiefem Schlafe auf; und plötzlich fiel es ihr ein, daß heute ihr Hochzeitstag war.

Trübe schien ein grauverhängter Himmel durch die Gardinen; trotz der Sommerzeit war es kalt im Zimmer. Draußen auf dem Flur hörte sie Tante Thekla mit den Mädchen zanken; durch das offene Fenster des Nebenzimmers klang der Lärm der Straße, das Stampfen und Läuten der elektrischen Bahnen, das Rasseln der Vorortzüge.

In Hanna war keine Spur von Feierlichkeit, nur ein banges, unbehagliches Gefühl, wie wir es vor jedem ernsten, unwiderruflichen Schritt empfinden. Und während sie, von dem gesunden Schlaf ihrer Jugend noch benommen, auf dem Bettrand saß, kamen und gingen ihre Gedanken.

Heute abend ...

Sie kannte ihren Verlobten nun genau genug, um sich zu sagen, daß er wie alle Menschen seine Eigenarten hatte, mit denen es ihre Pflicht sein würde sich abzufinden. Aber so recht klar konnte sie sich ihre Ehe doch nicht vorstellen. So unwissend war sie ja nicht, daß sie von dem Verhältnis zwischen Mann und Weibe überhaupt nichts geahnt hätte; sie lebte in der Großstadt, las die Zeitungen, war jahrelang in enger Berührung mit den Dienstboten geblieben, und Tante Thekla liebte es auch gerade nicht, ein Blatt vor den Mund zu nehmen. Aber das alles, was sie hier und da einmal aufgegriffen, war immerhin etwas Unklares, Geheimnisvolles geblieben, und so hatte sie denn in letzter Zeit, in der ihr Denken und Sinnen unwillkürlich stets wieder auf die kommende Hochzeit hingelenkt worden war, die dürren Zweige ihres Wissens nach alter Weise mit den leuchtenden Blumen der Phantasie umrankt. Sie hatte es ja auch deutlich empfunden, daß in den Augen der Leute eine Braut mehr galt als andere Mädchen, hatte gesehen, wie diese neue Würde selbst fremde Menschen doppelt lieb und gütig zu ihr machte, und wie auch die Tante ihr seit ihrer Verlobung weniger schroff entgegengetreten war. Die Ehe mußte also etwas sein, das eine Frau erhob, mußte ein Mysterium bergen, von dem Hanna noch nichts wußte, das sich heut abend ihr entschleiern sollte.

Und mit einmal fühlte sie sich vor diesem Unbekannten einsamer, verlassener als je. Wie ein Unmögliches, Unerhörtes, Brutales erschien ihr das Schlafgemach dort in der Kurfürstenstraße, von dem sie alle wie von Selbstverständlichem sprachen, dieser enge, fast ganz von Betten, Waschtisch und Schränken erfüllte Raum, der sie widerstandslos in die Arme eines Mannes warf, dessen Wille von nun an Gesetz für sie war. Was würde mit ihr geschehen? Wie würde es morgen um diese Zeit sein? Mußte sie ihm wirklich künftig in allem gehorchen, wie eine Sklavin, ohne eigenes Recht? Wohin sie auch sah, tappte sie im Dunkeln; und kein Mensch auf Erden, der sich ihrer annahm, ihr seinen Rat gab.

Die Uhr schlug neun. In Eile kleidete sie sich an. Und während ihr das Mädchen die Taille zuhakte, blickte Hanna in den Spiegel.

Sie sah blaß aus, zu blaß für ihr dunkelblondes Haar; aber das neue dunkelgrüne Tuchkleid stand ihr gut.

Und nun saß sie befangen am Frühstückstisch, Tante Thekla gegenüber.

Die Tante, noch im wallenden Schlafrock, fixierte sie mit durchdringenden Augen, wie ein altes, von Schmissen zerfetztes Semester den etwas nervösen Leibfuchs mustert, der heute seine erste Mensur schlägt.

»Nun, Hanna, wie ist dir denn so?« fragte sie mit ihrer gewohnten Zartheit.

Hanna schoß das Blut ins Gesicht. Einen Augenblick hatte sie die törichte Furcht, daß ihr die Tante die heimlichen Gedanken, die sie soeben in ihrem Stübchen gehegt, von der Stirn ablesen könnte.

»Danke, gut, Tante Thekla,« antwortete sie verlegen.

»Eins will ich dir raten,« fuhr die Tante resolut fort, während sie den Zucker in ihrer Tasse geräuschvoll umrührte, »sieh bloß zu, daß ihr ein paar Jahre allein bleibt. Kinderkriegen ist heutzutage ein teurer Spaß; wo erst so ein Wurm da ist, da hat der Taler nur noch zwanzig Groschen.«

Hanna wußte nicht, was sie erwidern sollte. Sie kaute mühselig an ihrem Brötchen.

»Ich meine es gut mit dir,« predigte die Tante weiter, »als alte, erfahrene Frau, darum sag' ich dir das. Die Männer, bei denen ist der Verstand bald mal heidi, und dann heißt's jedesmal, die Frau hat schuld. Schon ehe die Kinder auf die Welt kommen, ist die Geschichte zum Brechen. Und wer hat später jeden Ärger auszubaden? Immer die Mutter. Was gut an den Gören ist, das haben sie natürlich vom Vater, und alles Schlechte von uns. Und wachsen sie erst heran, dann zwitschern sie, wie sie den Vater singen hören, und trampeln selber auf uns herum. Wahrhaftig, die Frau, die Kinder kriegt, die sollte noch Prügel dazu haben.«

»Aber du hast doch selbst deine Cilly?« antwortete Hanna beklommen.

»Jawohl,« schmetterte die Tante zurück, »die Cilly und noch drei tote hinterher. Aber wenn wir Alten Dummheiten gemacht haben, braucht ihr's da auch? Die Frau ist doch keine Kuh?«

Es läutete. Und Tante Thekla in ihrem halbgeschlossenen Schlafrock brach schleunigst ab und fegte hinaus.

Wie durch einen Schleier sah Hanna ihren künftigen Schwiegervater mit seiner schreienden Ordensschnalle im Knopfloch des Gehrocks eintreten, hinter ihm Reinhold, in seinem neuen Anzug noch unfertiger aussehend als sonst, einen Strauß weißer Rosen in der Hand, der ihn sichtlich genierte. Dann wurde Onkel Berthold, der mit Schneider senior als Brautzeuge fungieren sollte, aus dem Bureau gerufen.

Eine kurze, gezwungene Unterhaltung, als ob sie alle sich vor einander schämten ... Ein hastiger Abschied von Tante Thekla, eine Autofahrt von wenigen Minuten ... Der kahle Warteraum des Standesamts mit der Riesenkarte Groß-Berlins an der Wand, das Amtszimmer mit dem großen grünbezogenen Tisch, ein freundlicher alter Herr dahinter, der feierliche Worte spricht, Hanna Schneider zum erstenmal ihren neuen Namen schreiben läßt, ihr die Hand reicht und gratuliert ... Und schon fahren sie wieder heim, langen sie an, sitzen sie beim hastig eingenommenen Frühstück.

Dann eine schreckliche Stunde, das Anziehen zur Trauung, rings um Hanna die Mädchen, die unter dem Vorwande, helfen zu wollen, nur schlecht ihre Neugier verbergen. Tante Thekla, die ohne Aufhören das Brautkleid kritisiert, auf die Schneiderin schimpft, absolut Hanna den halben Brautschleier auf den Klopf packen will und ihr dreimal vor den kichernden Dienstboten einschärft, daß Reinhold sich die Hände waschen soll, ehe er ihr am Abend das Kleid aufhakt.

Die kleine Sakristei, die bis auf eine Schar alter Weiber öde Kirche, die eilige Predigt, von Pflichten der Frau und wieder von Pflichten, als ob der Geistliche die Kriegsartikel vorlese ... »Der Herr segne euch, der Herr lasse sein Angesicht leuchten über euch, er erhebe sein Angesicht auf euch und gebe euch Frieden. Amen ...«

Ein langer weißgedeckter, festlich mit Blumen geschmückter Tisch in Dorners Eßzimmer, als Mittelpunkt an der Seite ihres Gatten Hanna in Kranz und Schleier. Unten an den Tischenden einige zusammengetrommelte Bekannte Reinholds, die sich leise die neuesten Mikoschwitze erzählen, nach jeder Pointe unisono aufbrüllen und wie die Schwämme trinken. Helles Klingen, Todesstille, Onkel Berthold ... Er spricht schlicht, bewegt, wie ein Vater zu seiner Tochter. Er sagt, daß er und seine Frau mit Liebe die Waise in ihr Heim aufgenommen und ihr die Liebe bewahrt, daß diese Liebe nun mit ihr hinausziehe in ihr eigen Nest, und daß Hanna erst später, als Hausfrau, als Mutter in ganzem Umfange erkennen würde, was sie der Tante schulde. Er heißt Reinhold als Neffen willkommen, er mahnt ihn, seiner Frau ein fester Halt zu sein, auch wenn sie, die Alten, längst dahin sind. Und er faßt alles, was er dem jungen Paare wünscht, in den Spruch zusammen: In der Welt ein Heim, im Heime die Welt!

Zum erstenmal an diesem Tage fühlt Hanna, wie ihre Augen sich feuchten, zum erstenmal wird sie sich klar, was dieser Tag für sie bedeutet. Als Tante Thekla sie beim Anstoßen küßt, sieht sie auch in ihren Augen die hellen Tränen, und in ihrer weichen Stimmung bittet ihr Hanna stumm alles ab, was sie ihr lange Jahre hindurch nachgetragen.

Aber schon mischt sich in ihre Rührung ein Mißklang. Das Hoch ist erschollen, von den jungen Leuten, die diese wohl nicht allzu häufige Gelegenheit des Sekts à discretion ausgiebig wahrgenommen haben, im verunglückten Chorgesang aufgenommen. Mit roten Köpfen, das Glas in der Hand, stehen sie jetzt um das Brautpaar herum. Und Hanna hört seltsame, unverständliche Worte, die sie Reinhold zuflüstern:

»Nun mal 'ran an die Gewehre, mach's gut, alter Junge.«

»Wenn du einmal verhindert sein solltest, Schneider, ich bin nicht so, ich übernehme die Prokura.«

»Ich auch! Ich auch! Kollektivprokura!« Sie wiehern förmlich.

Die Tafel wird aufgehoben. Und schon schießt Tante Thekla, wieder in übelster Laune, auf Hanna los.

»Die sind ja ganz außer Rand und Band, die Lümmel da hinten! Mach' bloß, daß ihr bald wegkommt, damit wir die Bengel loswerden.«

In Hanna steigt ein bitteres Gefühl auf, als jage man sie noch in letzter Stunde aus dem Hause. Aber ein Blick auf Tante Thekla zeigt ihr, daß sie ihr unrecht tut; die Tante fürchtet sichtlich, daß die recht animierten jungen Leute selbst vor der Braut mit ihren Scherzen nicht haltmachen könnten.

Wie zwei Diebe stehlen sie sich zum Küchenausgang hinaus, eilen sie die Treppe hinab, in den harrenden Wagen hinein. Stumm fahren sie nebeneinander her, steigen sie aus, tappen sie beim dürftigen Licht eines Streichholzes die dunklen Treppen hinauf.

Im Heim ... Marie, die »Perle«, die Tante Thekla ausgesucht hat, hat alle Flammen angesteckt, empfängt das junge Paar, zeigt ihnen noch einmal die Wohnung, fix und fertig mit dem Teppich in der Wohnstube, den der Oberzahlmeister geschenkt hat, ganz als ob sie alles eingerichtet hätte. Und wieder sieht Hanna das eigenartige Leuchten aus wissenden Augen, das ihr schon einmal heute weh getan. Endlich wird Reinhold energisch, läßt die Gasflammen ausdrehen und schickt das Mädchen zu Bett.

Und wie ein Schleier legt es sich über alles. Hannas Augen irren über die von der rosa Ampel beschienenen Nußbaummöbel, die aufgeschlagenen Betten; undeutlich sieht sie das verhangene Fenster, dann wieder am Boden neben ihren neuen, zierlichen Pantöffelchen ein Paar große Morgenschuhe.

Und während sie mit zitternden Händen die Kleider abstreift, sich abgewendet in ihren Kissen zusammenduckt, während ihr Mann sich ihr nähert, sie ungeschickt küßt, wandern ihre Gedanken immer weiter und weiter, huschen längst vergessene Bilder aus der Jugendzeit an ihr vorbei, tanzen und verlöschen wieder. Ein Marmorschloß, von Märchenschätzen gefüllt, ein stolzer Graf, hochgereckt, in klirrender Wehr ... Sie will schreien, sie kann es nicht. Sie fühlt sich in einen Abgrund sinken, tief und kalt und dunkel.

So, ohne einen Herzschlag der Liebe, wird sie sein Weib.

 

Im Wohnzimmer schlug die Uhr zwei. Noch immer ließ Hanna ihr Leben an sich vorüberziehen, lag sie schlaflos neben ihrem lautatmenden Gatten.

Und ihre junge Ehe tauchte vor ihr auf.

Das erste, was sie in ihrem neuen Heim empfand, war Langeweile; sie war so viel allein, und Marie, der »neue Besen«, kehrte so gut, daß ihr nur wenig zu tun blieb. In den ersten Tagen hatte Hanna sich damit beschäftigt, die Zimmer wohnlich und bequem einzurichten, dieses oder jenes Möbel umzustellen, in Kästen und Schränken alles handlich zu gestalten. Aber bald kannte sie jeden Winkel ihres Heims, saß sie mit schlaffen Händen da. Sie konnte doch nicht den ganzen Tag lesen. Und so stellte sich denn gar bald die Sehnsucht nach den alten, gewohnten Verhältnissen bei ihr ein; im Dornerschen Hause war der Tag wie im Fluge vergangen, war alles so sicher gefügt gewesen, so ganz ohne kleinliche Angst um den Groschen, ohne das stete Bangen um die Wechselfälle der Zukunft. Und heimlich wünschte sie die Vergangenheit zurück, deren Schattenseiten ihrem Gedächtnis schon fast entschwunden waren.

Denn erst jetzt erkannte sie, wie pedantisch Reinhold im Grunde war. Er bestimmte das Haushaltungsgeld, ihm mußte sie Rechenschaft ablegen; und es kochte in ihr, wenn er, über das Wirtschaftsbuch gebückt, Posten um Posten durchging, mit kurzem Räuspern seiner Mißbilligung über jede unnötige Ausgabe Ausdruck gab, oder wenn ihr das Geld vor der Zeit ausging und sie wie eine Sünderin vor ihm stand, seinen Unmut sah, bis er endlich widerwillig die Münzen auf den Tisch warf. Es ging ihr schließlich auf die Nerven, wie er beständig, immer von neuem den Jahresetat aufstellte: Miete 875 Mark, Wirtschaft 1800, Kleidung 500, Steuern, Gas, Arzt, Diverses, Unvorhergesehenes, notwendige Reserve.

Und auch sonst lastete sein Wille auf ihr. Wie dies oder jenes im Elternhause gehandhabt worden war, genau so sollte es auch bei ihm sein; nach Hannas Geschmack und Wünschen fragte er dabei nicht. Seine Arbeit daheim war ein Gottesdienst; wenn er vor seinen Akten saß, mußte es totenstill in der Wohnung sein. Deshalb hatte er ihr auch die Mietung eines Klaviers ausgeredet. An sein Pult durfte niemand rühren, und doch regte er sich über jedes Stäubchen auf. Und für alles, was das Mädchen nach seiner Ansicht verschuldet hatte, machte er Hanna verantwortlich. Wie ein Uhrwerk mußte die Wirtschaft gehn, in unerschütterlichem Gleichmaß; Punkt acht wurde geweckt, schlag halb neun verlangte er seinen Kaffee und die Zeitung, um neun ging er in das Amt, und wenn er um halb vier zurückkam, hatte die Suppe schon auf dem Tisch zu stehn. Um vier legte er sich im Wohnzimmer auf den Diwan; um fünf trank er Kaffee, arbeitete bis acht, saß bis halb neun beim Abendbrot, und dann las er entweder das Abendblatt oder ein Buch – denn er war eitel darauf, daß er sich ständig weiterbildete –, oder aber, was beinah die Regel war, er arbeitete an seinen Akten weiter. Um halb elf ging es zu Bett. Er besaß einen bewundernswerten Schlaf, und wenn er nicht seine neun Stunden Ruhe gehabt hatte, war er verdrießlich.

Und so Tag für Tag. Nur Sonntags schlief er bis nach neun und machte vor Tisch seinen Marsch; um zwei wurde gegessen, meist mit dem Oberzahlmeister als Gast. Dann aber setzte der Alltag wieder ein, Reinhold schlief, nahm nach dem Kaffee seine Akten vor, und alles verlief im altgewohnten Gleise.

So hatte denn Hanna wenig von ihrem Gatten; ja, manchmal fragte sie sich erbittert, warum er sie überhaupt genommen. Sie sehnte sich nach einem Menschen, vor dem sie sich nicht zu ängstigen brauchte, der nicht beständig an ihr herummäkelte; nach einem Menschen, der sie verstand, dem gegenüber sie sich erschließen, sich frei geben durfte, an dessen Charakter und Wissen sie sich bilden, ihre Anschauungen erweitern und klären konnte. Und ein böser Gedanke glomm in ihr auf. War diese Ehe nur das Resultat einer kühlen Berechnung von Vater und Sohn, Reinhold die Puppe in seines Vaters Hand? War beiden diese Rente, dieses Legat die Hauptsache gewesen, hatte Reinhold die Mitgift geheiratet und sie, die Frau, nur in den Kauf genommen?

Aber während sie so ihrem Mißmut nachgab, fühlte sie doch, daß sie Reinhold unrecht tat. Er war ein Mann, der mit den Gaben, wie sie Natur ihm eben verliehen, seine und seines Weibes Zukunft auf festen Grund zu bauen sich bemühte, ein Mann, der in der Pflichterfüllung, in Arbeit und Genügsamkeit ihr gemeinsames Glück erstrebte. Er wünschte sein Weib nach seinem Geiste zu formen, es sich zu einem treuen Kameraden zu erziehen, der in gleichem Schritt mit ihm durch helle und dunkle Tage ging. Und wenn er und sein Vater darauf gesehen hatten, daß sie nicht ganz mit leeren Händen kam, wer konnte ihm das verargen? Er wäre ein Tor, ein Leichtsinniger gewesen, wenn er bei seinem Gehalt, ohne Aussicht auf ein nennenswertes Vatererbe, mit einem ganz armen Mädchen einen Hausstand gegründet hätte. Und es war nicht nur sein Recht, es war seine Pflicht, dafür zu sorgen, daß sie sich beide nach der Decke streckten.

Aber er vergriff sich in der Form, ihm mangelte der Sonnenschein, der die kleinen Sorgen des Lebens wie Schatten verscheucht; sein Fehler war die Unsicherheit, die Ängstlichkeit, mit der er dem praktischen Leben gegenüberstand, und die er doch nicht merken lassen wollte. Ihn drückte die ungewohnte Last der Verantwortung, er hatte noch keinen Überblick über die Bedürfnisse eines Hausstandes, einer Frau. Und wie eine Zwangsvorstellung beherrschte ihn die Furcht, es könnte irgend etwas sich ereignen, das Onkel Berthold ihnen den Zuschuß und die Aussicht auf das Erbe entziehen ließ. Er wußte, sein Vater hatte vor der Hochzeit einmal versucht, diese Zusage von Onkel Berthold schriftlich zu erhalten; aber dieser, bei dem, wie bei so vielen self-made men, in Geldsachen die Gemütlichkeit aufhörte, hatte ihm mit so niederschmetterndem Blick geantwortet: »Ich war bis heute der Meinung, mein Wort ist bar Geld!«, daß der Oberzahlmeister es schleunigst aufgab noch weiter in ihn zu dringen. Und so hatte denn Reinhold die Unterwürfigkeit, die er noch immer dem Vater gegenüber bewies, unwillkürlich auf den Verkehr mit Onkel Berthold und Tante Thekla übertragen; es reizte und empörte Hanna manchmal, wie weit er diese Demut trieb, die ihm nur zu oft den Spott des Onkels eintrug. Und als dieser ihm eines Tages, einem plötzlichen Einfall nachgebend, den Vorschlag machte, dem Skatklub beizutreten, in dem ja auch sein Vater seit Jahr und Tag Mitglied war, hatte er nicht den Mut gehabt nein zu sagen, obwohl er innerlich die Kosten und die verlorene Arbeitszeit beklagte.

Jeden Montag versammelte sich dieser Skatklub in einer Weinstube auf dem Hohen Steinweg, deren enge Zimmer mit den gewölbten Decken noch die Zellen eines ehemaligen Klosters erkennen ließen. Hier war das Spiel kein Zeitvertreib, sondern eine Staatsaktion, wurde jeder Kunstfehler als ein Verbrechen angesehn; hier rannen die Stunden in feierlichem, nur durch kurze Fragen und Antworten und ab und zu durch ein stürmisches Freudengeheul unterbrochenen Schweigen, wurden die Karten hastig gemischt und ausgeteilt, um nur nicht den Bruchteil einer Minute dem löblichen Zweck des Zusammenseins zu entziehn.

Eigentlich paßte er, der Kaiserliche Beamte mit der Qualifikation zum Einjährigen, recht wenig in diesen Kreis von schwerreichen Männern der Industrie, die sich fast ohne Ausnahme aus kleinen Verhältnissen, oft vom Handwerker, hochgearbeitet hatten, mit Behagen von ihrer dreijährigen Kommißzeit erzählten und ohne jede Feindseligkeit die Ansicht vertraten, daß sie mit ihren Steuern die Drohnen des Wirtschaftslebens, die Herren Beamten futtern mußten. Aber Reinhold war klug genug zu erkennen, daß jeder dieser Männer ihm einmal im Leben nutzen konnte; deshalb ertrug er es ohne Klage, wenn er sich mit dem Zuschauen begnügen mußte, so oft die Krösusse nach alter Gewohnheit zum Schluß noch ein Stündchen den Point zu zehn Pfennig mit Kontra und Gegenkontra berechneten, so daß ein verlorenes oder gewonnenes Spiel Hunderte von Mark bedeuten konnte, und wenn er neben seinem Säuerling die staubbedeckten Schloßabzüge seiner Klubgenossen protzen sah. Sein Vater brauchte sich nicht so sehr zurückzuhalten; der hatte in fast vierzigjähriger Dienstzeit sein Skatspiel zu künstlerischer Vollendung ausgebildet, so daß die anderen ihn immer wieder neckten, er lebe von seinem Raube wie ein Fürst und lege die ganze Pension für die Enkel auf die hohe Kante.

 

Hanna schlug die Augen auf. Schon graute der Morgen fahl durch das Fenster.

Aber noch immer fand sie keine Ruhe. Es war ihr unerträglich heiß. Und wieder nahmen die Gedanken sie gefangen.

Das alles, was sie an ihrem Manne auszusetzen hatte, wäre noch zu ertragen gewesen. Aber über eins kam sie nicht hinweg: Was war ihr Reinhold, dieser fremde Mann? Wie Öl und Wasser erschien ihr ihre Ehe. Sie mußte es gewaltsam sich stets von neuem in den Kopf hineinhämmern: Das ist dein Gatte! Wie eine Haushälterin, wie eine Magd kam sie sich vor; sie begriff es nicht, daß der Machtspruch eines Standesbeamten, der Segen eines Geistlichen zwei Menschen so unauflöslich, für Lebenszeit aneinander knüpfen könnte. Ihr Herz bangte nicht nach ihm, wenn er fern von ihr weilte, jubelte nicht, wenn er bei ihr war.

Nein, Reinhold war nicht dazu geschaffen, ein Weib zu berücken, ihm fehlte die Poesie, die auch den Alltag mit goldenem Licht überflutet, das Temperament, der eigenartige Zwiespalt im Wesen des wahren Mannes, der die Frau berauscht und betäubt, – dieses weiche, wohlige Nachgeben und hart daneben der brutale Wille, dieses kindlich, sorglos Fröhliche, unter dem der aufflammende Zorn schlummert, dieses demütige Werben aus flehenden Augen, in deren Tiefe die Siegesgewißheit blitzt. Es mußte noch etwas geben, jenseits über den Bergen, etwas Himmelstürmendes, Gliederlösendes, über alles Verstehen Gewaltiges, Köstliches. Eine Liebe, die jauchzend das Weib in die Arme riß, den Gürtel ihr löste, ihr ungeahnte Seligkeiten schenkte. Eine Kraft, die alles im Sturmlauf vor sich zerschlug, Moral und Sitte und Vorurteile, die die dumpfen Mauern sprengte, die helle Sonne über Trümmer und Schutt leuchten ließ, eine Macht, von der die alten, indischen Liebeslieder singen, die Bibel kündet, die der Dichter Mund durch die Jahrtausende rühmt und preist, ewig wie die goldenen Sterne, mächtig wie die stürmende See, lind wie die träumende Sommernacht ... Warum hatte das Schicksal ihr dies Erleben versagt? War sie nicht jung und stark und schön? Warum hatte der Mann, der dort neben ihr schlief, noch niemals vor ihr gelegen, bittend, dankend, anbetend im Taumel des Glücks? Sollte sie wirklich verblühn, vergehn im ewigen Einerlei, bis in die Jahre hinein, in denen sie müde und welk geworden, Tag um Tag, Monat um Monat, unwiederbringlich dem Alter entgegen? Dem Alter mit seinem Verzicht, dem Nichts, der Reue ...

Und ein Mann tauchte vor ihr auf, in unklaren Umrissen, ein Mann, der das jauchzende Leben, das sehnende Weib kannte, dem nichts Menschliches fremd war, ritterlich, tapfer, verschwiegen. Ein Mann, der zu ihr sprach: »Ich will dich hegen und herzen, mit Küssen dich bedecken. Ich will dir alle Schätze der Liebe schenken, ein Märchenglück vor dir ausbreiten. Einmal, ein einziges Mal. Dann will ich dich von mir ziehen lassen, und mein Mund soll versiegelt sein. Du aber wirst eine Erinnerung mit dir nehmen, in den grauen Alltag hinein, die keiner dir rauben kann, von der du dein Leben hindurch zehren und träumen und jung bleiben sollst. Und wenn sie vom Paradiese sprechen, dann wird dein Auge verstohlen leuchten, dein Herz in heimlicher Wonne schlagen, und leise wird es in dir jubeln und klingen: Ich habe das Leben gegrüßt, in dunkler Nacht, die doch tausendmal strahlender war, als alle eure Tage.«

Und sie dachte mit Neid an die Männer, die frei durch die prangende Welt gehen und wählen dürfen, wie ein Blumenfreund an bunten, duftenden Beeten entlangschreitet, mit kundigem Auge die schönste Blüte sich bricht, Männer, die sich selbst ihr Schicksal schaffen, ihr Recht nehmen, Männer, wie ... wie dieser Bill Petersen ...

Bill Petersen ...

Und plötzlich begann das Märchenbild ihrer Jugendträume, das ihre tastende Phantasie ihr so oft vorgegaukelt, mit Bills Erscheinung zu verschmelzen. Als sie endlich einschlief, nahm sie dies neue Bild in ihren Schlummer mit hinüber.

Und keine innere Stimme sagte ihr, daß niemals ein Mann vor ihr bestehen, keiner sie glücklich machen würde, nicht Reinhold Schneider, nicht Bill Petersen, nicht irgendein anderer, weil keine Wirklichkeit, kein Wille, keine Kraft an dieses Märchenbild der ewigen, ungetrübten, von Leidenschaft durchglühten Liebe, an diese schimmernde, trunkene Welt ihrer Phantasien heranreichen konnte, die ihr in jahrelangen Träumen die Fähigkeit geraubt hatten, sich nüchtern, bescheiden, tapfer in das Leben, in seine Unzulänglichkeiten und Enttäuschungen zu fügen.

Im hellen Morgen wachte sie von dem Plätschern und Prusten ihres Mannes am Waschtisch auf. Und erstaunt fragte sie sich: Was hab' ich nur im Blute? Bin ich denn ganz von Sinnen?

Nein, wirklich, Hanna fand sich selbst unglaublich. Wie konnte sie in solcher Weise an diesen fremden Menschen, diesen Herrn Petersen denken? Nie würde sie etwas tun, das sie zu bereuen hätte, nie ihre Vergangenheit verleugnen, ihre Zukunft auf das Spiel setzen. Und nie wieder würde sie sich in ihren Träumen so maßlos gehen lassen.

Aber als ihr die Augen wieder zufielen, im wohligen Gefühl, noch einige Minuten hindämmern zu können, da tauchten die Bilder der Nacht nur noch lebendiger in ihr auf.

Sie fuhr hoch, als Reinhold sie anrief; und ein Gefühl heimlicher Schuld, der Wunsch, sich zu ihm zu retten, regte sich in ihr.

»Reinhold, hab' mich doch einmal lieb,« stammelte sie, in unwiderstehlichem Impuls.

Er wandte sich gar nicht um. »Erstens, mein Kind,« antwortete er gewichtig, »will ich mir eben die Zähne putzen, zweitens bin ich schon fünf Minuten im Rückstand, und drittens hab' ich dich immer lieb.«

Und er begann sich gewissenhaft über dem Nachteimer das Gebiß zu scheuern.

Sie wandte sich zornig in ihren Kissen um.

Und ein böses Empfinden stieg in ihr auf. Warum kam er nicht zu ihr, warum küßte er sie nicht? Nein, – »erstens, zweitens, drittens,« nichts anderes hatte er für sie übrig. War es denn eine Gnade, wenn der Mann sein Weib herzte? War es nicht ein Recht, auf das sie Anspruch hatte, eine Gunst, für die er ihr danken mußte? Und wenn sich das Weib dann dieses Recht suchte, draußen, wo hundert Blicke auf jedem Gange durch die Stadt um ihre Gunst warben, durfte sich solch ein Gatte beklagen?

Sie ballte die Hände unter der Decke. So häßlich, so alt war sie denn doch nicht, daß er im satten Selbstgefühl des Eheherrn nicht um sie zu bangen brauchte. Das Weib will täglich neu erobert sein, hatte sie einmal gelesen; sie wurde fast täglich neu zurückgestoßen. Er trumpfte sichtlich auf ihre Treue, wenn er so wenig sich um sie kümmerte, bis spät in die Nacht bei der Arbeit saß, um dann auf leisen Sohlen hinter ihr her in das Schlafzimmer zu schleichen, wie ein Klotz in den Schlaf zu fallen; trumpfte auf ihre Treue, wie man den Gaul frei weiden läßt, dessen steife Knochen längst den übermütigen Galopp über Graben und Hürde verlernt haben. Sie aber war noch jung, vor ihr lag noch das Leben, lachend, verheißend ...

Doch diese gefährlichen Gedanken verschwanden ebenso rasch, wie sie aufgetaucht waren. Verstimmt stand sie auf, als Reinhold das Schlafzimmer verlassen hatte; sie schämte sich vor ihm, sie zögerte so lange mit dem Anziehen, bis sie ihn gehen hörte. Und den ganzen Tag über blieb sie bedrückt und unzufrieden.

 

Vier Wochen später, an einem Sonnabend, als Bill nach der »Salome« wieder einmal still bei sich feststellte, daß diese Kunst erheblich über seinen Horizont ging und daß er gescheiter getan hätte, sich mit der Musik im Kaisersaal des »Rheingold« zu begnügen, fiel ihm mit einmal sein Versprechen wieder ein. Aber diese Erinnerung an Hanna weckte durchaus keine freudigen Gedanken bei ihm. Er konnte sich überhaupt kein rechtes Bild mehr von ihr machen; sie verschwand für ihn in dem allgemeinen peinlichen Eindruck, den jener unglückselige Abend noch lange in ihm hinterlassen hatte; denn – wenn er sich die Wahrheit gestehen wollte – eigentlich hatte er, der Stader Ulan, doch eine glatte moralische Ohrfeige eingesteckt, und hätte Berthold Dorner ihn nicht noch einigermaßen herausgepaukt, so wäre er bei diesen Banausen zweifellos in Teufels Küche geraten. Merkwürdigerweise fühlte er gegen den Oberzahlmeister, der doch am aggressivsten gewesen war, den wenigsten Groll; von diesem ehemaligen Unteroffizier konnte man eben nichts anderes erwarten. Aber der Sekretär, dieser Reinhold Schneider, der sich doch auf den Gebildeten herausspielte, – Bill konnte das unsäglich freche Gesicht nicht vergessen, mit dem dieser Bonze ihn gemustert hatte.

Den ganzen peinlichen Auftritt hatte er doch nur seiner grenzenlosen Gutmütigkeit zu verdanken. Was zum Teufel gingen ihn anderer Leute Frauen überhaupt an? Was hatte er sich in die Ehe des p. p. Schneider zu mischen?

Aber Bill war nicht so geartet, daß er einmal Geschehenes in Ewigkeit bejammerte, statt einfach mit Tatsachen zu rechnen. Und Tatsache war erstens, daß er durch Schneiders eine Schlappe erlitten, zweitens, daß Berthold Dorners Autorität ihn sachlich rehabilitiert hatte. Blieb also die persönliche Differenz mit Reinhold Schneider, aus der Abneigung und Gereiztheit zweier Menschen heraus, die instinktiv empfinden, daß eine Welt sie trennt. Diesen Zeitgenossen, der sicher seitdem alltäglich vor seiner Frau auf Bill Petersens Kosten den chevalier sans peur et sans reproche mimte, bis aufs Blut zu ärgern, ihm seinerseits eine regelrechte Abfuhr zu erteilen, das war eigentlich ein Ziel, aufs innigste zu wünschen.

Und mit einmal ward es Licht in Bill. Alles in allem hatte er Reinhold Schneider ja ganz in der Hand. Der hatte doch offensichtlich Angst, ihm seine Frau mitzugeben, und mußte es trotzdem, wenn er es mit dem reichen Onkel nicht verderben wollte; der saß also jetzt als moderner Damokles unter dem drohenden Schwerte der Einladung, und Bill brauchte nur Ernst zu machen, um zuletzt und somit am besten zu lachen. Und so wahr er diesen Menschen nicht ausstehen konnte, das wollte er tun. Noch während er die Linden hinunterschlenderte, entschied er sich, so rasch als möglich loszuschlagen.

Er trat an die Säule und suchte das neue Wochenprogramm. Opernhaus ... Sonntag ... Montag: »Bajazzo« mit Caruso, dann »Puppenfee«. Sehr schön! Da würde wenigstens Ohr und Auge auf ihre Kosten kommen.

Er ging zu Adlon hinein, dessen Portier ihn genau kannte, und gab ihm den Auftrag, um jeden Preis bis zum nächsten Mittag zwei Billetts zu beschaffen. Ein teurer Spaß, aber das war ihm gerade recht, diesem Herrn Schneider gegenüber. Und Hanna würde ihr lebelang an den unvergeßlichen Abend zurückdenken.

 

Am nächsten Tage war große Aufregung bei Schneiders.

Natürlich hatte Reinhold noch lange Zeit nach dem Dornerschen Abend den Zusammenstoß zwischen ihm und Bill, obwohl ihn Hanna ja miterlebt hatte, immer von neuem in förmlichem Siegesrausch geschildert, aus der Schamade eine Fanfare gemacht. »Hast du gesehn, wie ich den Burschen angestiert habe, wie er ganz blaß wurde? Wirklich, hast du das auch genau gesehn? Der kommt mir nicht so leicht wieder in die Quere.« Und dann hatte er eine längere Philippika gegen alte Herren angeschlossen, die »Würdelosigkeit genug besitzen, um vor Hamburgs Geldsäcken Kotau zu machen.«

Wochenlang hatte er sich so gebrüstet; und dann war allmählich das Thema erschöpft, der ganze Vorfall vergessen worden.

Und nun war wie ein Blitz aus heiterm Himmel am Sonntagabend ein Rohrpostbrief an Reinhold gekommen, mit einer kurzen, sehr korrekten, sehr höflichen Mitteilung auf Bills Visitenkarte, er bäte um die Ehre, sein Versprechen einlösen und die gnädige Frau morgen, Montag, in den »Bajazzo« führen zu dürfen.

Reinhold war beim Lesen das Blut zu Kopf gestiegen; er fühlte sich in der scheußlichen Lage eines Menschen, der zwischen zwei Dummheiten wählen muß, den nichts vor der Lächerlichkeit rettet. Sagte er nein, so ging dieser Petersen beleidigt zu Onkel Dorner, und dann war das Unglück fertig; sagte er ja, so mußte selbst die harmlose Hanna erkennen, daß er trotz seiner großen Worte dem fremden Zwange nachgab, daß dieser Petersen der Stärkere geblieben war. Und im tiefsten Herzen, uneingestanden, kam noch die Angst hinzu, daß dieser Mensch, dessen protzige Visitenkarte natürlich aller Welt und ihm im besonderen den Leutnant d. R. mit deutlicher Absicht unter die Nase rieb, im Falle der Ablehnung ihn persönlich stellen könnte.

Jeder andere hätte wohl einfach zu seinem Frauchen gesagt: »Jawohl, mein Herz, ich bin eifersüchtig; ich hab' dich eben zu lieb. Aber ich darf den Onkel nicht vor den Kopf stoßen. Sei gut, sage selbst ab. Mein Wort, nächste Woche gehn wir beide zu ›Carmen‹.« Wer weiß, ob Hanna nicht ohne weiteres zugestimmt hätte. Aber das litt seine Eitelkeit, die Sorge um seine wankende Autorität nicht. Und unschlüssig, in äußerster Verstimmung biß er sich auf den dünnen Schnurrbart, während Hanna mit glänzenden Augen in ängstlicher Spannung auf ihn blickte.

»Ich kann mir nicht helfen,« sagte er schließlich, indem er eine Scheibe Brot so energisch mit dem dünnen Gänseschmalz bestrich, daß es ihm auf die Hand durchsickerte, »ich finde das direkt zudringlich. Ich habe dem Menschen doch deutlich genug meine Meinung gezeigt. Das muß ich sagen, nach alledem, wie ich den abgefertigt habe, gehört eine eiserne Stirn zu dem Wisch da.« Er leckte das Schmalz gereizt von den Fingern.

»Herr Petersen konnte ja gar nicht anders, nachdem ihn der Onkel geradezu aufgefordert hatte,« antwortete Hanna mit klopfendem Herzen. »Und wenn einem eine Freude bereitet wird, so soll man doch dankbar sein.«

»Dankbar?« brauste ihr Mann auf. »Auf Almosen sind wir denn doch noch nicht angewiesen. Und,« fuhr er mit merkwürdiger Logik fort, »wenn dieser Mensch eine Spur von Takt besäße, hätte er uns beiden Billetts geschickt.«

»Es macht ihm wohl selbst Freude, mir die Oper zu zeigen,« wagte Hanna einzuwenden. Sie fürchtete ein Verbot ihres Gatten, sie kämpfte mit ihrer Enttäuschung.

»Das glaub' ich,« antwortete er noch schroffer. »Mir will er eins auswischen, und mit dir will er protzen. Nimm mir's nicht übel, Kind, – mir geht die Geschichte höllisch gegen den Strich.«

»Das will ich nicht, Reinhold,« erwiderte Hanna. »Dann bleib' ich eben hier.« Aber die hellen Tränen liefen ihr über die Wangen.

»Dann bleib' ich eben hier,« wiederholte er in heller Wut. »Wenn ich schon die Heulerei sehe! Verfluchte Zucht!« Der sonst so ruhige Mann war ganz aus den Fugen.

Ein langes Schweigen entstand. Wie betäubt, ohne zu essen, saß Hanna vor dem frugalen Abendbrot. Aufdringlich schimmerte das rosa Billett auf dem weißen Tischtuch. Unentschlossen, in Erbitterung über seine Zwangslage, aß Reinhold stumm ein Schmalzbrot nach dem anderen.

Zwei zaghafte Menschen saßen sich gegenüber, zaghaft geworden unter dem Druck der Erziehung; der Mann, der dieses Gefühl der Willensschwäche, des Versagens der Außenwelt gegenüber vergebens durch schroffes Auftrumpfen, herrische Anmaßung zu verdecken suchte, die Frau, die ganz Abhängigkeitsbedürfnis, ganz Unselbständigkeit war, die unter der Schwäche des Gatten litt. Zwei schüchterne Menschen, die sich zum Kampf des Lebens verbunden hatten, wie die Germanenpaare in Schlachtennot sich aneinanderketteten, und die doch keiner eine Stütze am andern fanden.

Und bei dem dritten Schmalzbrot begann Reinholds Widerstand zu wanken. Der Montagabend, der würde vorübergehn, aber Onkel Bertholds Rente, die blieb. Der Petersen würde Hanna ja nicht gleich auffressen. Sie war nicht die Frau, die sich etwas vergab, und er hatte die ganze Sache entschieden zu schwarz angesehn.

Er streifte sie mit einem flüchtigen Blick. Sie sah so todunglücklich, so ergeben aus, daß ihn seine Härte reute.

Er räusperte sich.

»Wenn mein Vater hört, daß ich dich habe gehen lassen, so ist der Teufel los,« sagte er wesentlich milder. »Dann kann er mir mit Recht vorwerfen, daß ich ihn blamiert habe.«

»Ich geh' ja auch nicht,« antwortete Hanna, ein wenig herb.

»Du gehst nicht, du gehst nicht,« echote Reinhold wieder nervös. »Und dabei sitzt du wie ein Häufchen Unglück da. Man darf wohl noch überlegen. Ganz umsonst ist die Geschichte doch auch nicht.«

Hanna war keine Leuchte; aber so töricht war sie nicht, um nicht zu merken, daß Reinhold den Rückzug antrat. Und mit der angeborenen Klugheit der Frau schwieg sie fein still.

»Denn wenn du schon einmal gehst,« fuhr Reinhold hochtrabend fort, »dann mußt du auch anständig auftreten.«

Hanna schlug das Herz vor Freude hoch. Sie warf blitzschnell einen Blick auf das Billett. Erster Rang.

Wieder schwiegen sie. Dann begann er von neuem:

»Daß etwa der Mensch noch alles mögliche für dich bezahlen soll, das gibt es auf keinen Fall. Das rechnest du mit ihm ab. Da schneit so ein Nichtstuer hier 'rein und nimmt einem bloß die Ruhe. Ich bin bald dreißig geworden und habe keinen ›Bajazzo‹ gebraucht. Selber ›Bajazzo‹!«

Hanna hütete sich zu widersprechen.

Aufgeregt ging Reinhold hin und her. Und plötzlich schien ihn ein Gedanke zu erschrecken. »Und wenn der Kerl etwa Auto mit dir zurückfahren will, das sag' ich dir, unter keinen Umständen! Dem Liederjahn trau' ich alles zu. Hast du verstanden?«

»Jawohl,« erwiderte sie fügsam.

»Am einfachsten ist,« überlegte er weiter, »ich hole dich ab. Dann kann keiner dir was nachsagen.«

»Tu das doch nicht, Reinhold,« antwortete Hanna bittend. »Wenn du deshalb deinen halben Skatabend aufgibst, dann ärgert sich Onkel Berthold wieder. Und das müßte doch auch den Herrn Petersen kränken.«

»Kränken!« brauste Reinhold auf, aber seine Stimme klang weniger sicher. »Was heißt kränken? Schließlich hab' ich auf unsere Reputation zu achten. Ich bin Beamter.«

»Ich setze mich sofort in die Bahn,« erwiderte Hanna, »und wenn ich irgend kann, sehe ich zu, daß mich Herr Petersen allein fahren läßt. Das ist dir doch gewiß das Liebste, Reinhold.«

»Mir ist das Liebste, wenn wir hier sitzen und unsere Ruhe haben,« antwortete Reinhold. »Dazu hab' ich doch nicht geheiratet, daß jeder Schürzenjäger mit meiner Frau bummeln geht. Und ausgerechnet Montag! Denkst du, ich merke den Braten nicht?«

»Woher soll er das wissen?« erwiderte Hanna, nicht ganz ohne Schuldbewußtsein. Denn sie erinnerte sich, davon gesprochen zu haben. »Und wenn er es täte, hat er es sicher gut gemeint, damit du hier nicht den ganzen Abend allein bist.«

»Gut gemeint?« Reinhold lachte zornig auf. »Der Bursche? Der meint es nur mit sich gut, der hat uns vorläufig noch nichts als Ärger gebracht.«

Hanna ging zu ihm herum. »Du bist so lieb, daß du mir das erlaubst,« sagte sie demütig. »Nun sei doch auch wieder vergnügt. Ich wäre ja auch zu Hause geblieben, aber du glaubst nicht, wie ich mich auf die Oper freue.« Und mit heißen Lippen küßte sie ihn. »Ich bin dir so schrecklich dankbar.«

»Darauf rechne ich auch,« antwortete er, noch immer unwirsch. »Leicht wird das mir nicht.« Es ärgerte ihn, daß sie sich so auf den Abend freute. »Ich begreife bloß nicht, wie du es so weit kommen lassen konntest. Ich muß dir ehrlich gestehn, etwas mehr Takt und Zurückhaltung hätt' ich von meiner Frau denn doch erwartet.«

Und Hanna konnte tun was sie wollte, ihm immer wieder erklären, wie alles gekommen war, ihn um Entschuldigung bitten, er blieb verknurrt und gab ihr mürrische Antworten. Wieder gingen sie um Bills willen im Unfrieden zu Bett.

Am nächsten Morgen, dem Montag, lag es wie Gewitterstimmung über dem kleinen Heim. Noch niemals hatte Hanna ihren Mann in so scheußlicher Stimmung gesehn. Nichts war ihm recht, die Stiefel nicht blank, das Wasser zu kalt, der Kaffee zu heiß, der Hut nicht gebürstet. Und in dem Bedürfnis nach einer Auslösung schnauzte er Marie, das Mädchen, so maßlos an, daß die Wände zitterten und sie heulend in die Küche flüchtete.

Hanna atmete auf, als er sich endlich auf den Weg machte. Und kaum hatte er die Tür krachend hinter sich zugeschlagen, als sie zu ihrer Kommode eilte und das Briefpapier hervorsuchte, das ihr einer der zur Hochzeit geladenen Kollegen Reinholds geschenkt hatte und das sie so wunderschön fand. Aber als sie den hellila Bogen vor sich liegen sah, saß sie mit eingetauchter Feder lange unschlüssig da. Dann suchte sie sich ein Blatt Konzeptpapier und begann ein Schreiben zu entwerfen, in dem sie Herrn Petersen mit enthusiastischen Worten dankte.

Doch als sie fertig war, gefiel ihr das Schreiben nicht; sie hörte förmlich die Stimme ihres Mannes: »Etwas mehr Takt und Zurückhaltung hätt' ich von meiner Frau denn doch erwartet!« Ein zweiter Entwurf, der in seiner übertriebenen Höflichkeit geradezu eisig wirkte, fand ebensowenig ihren Beifall. Und so schrieb sie denn ein drittes, einfaches Briefchen:

»Sehr geehrter Herr!

Sie haben mir mit Ihrer freundlichen Einladung eine große Freude bereitet. Ich komme gern und werde um ¾ 8 im Opernhaus sein.

Hochachtungsvoll
Ihre ergebene
Hanna Schneider.

P. S. Auch mein Mann läßt vielmals danken und sich bestens empfehlen.«

Mit dieser Fassung, nicht allzu frostig, nicht allzu warm, gerade richtig temperiert, war sie außerordentlich zufrieden; von der Empfehlung ihres Mannes, diesem Produkt ihrer Phantasie, war sie besonders entzückt. Und die Zunge ein wenig zwischen den Lippen hervorschiebend, zog sie den lila Briefbogen heran und malte eifrig Buchstaben auf Buchstaben. Dann stand sie auf, suchte Bills Visitenkarte heraus, legte sie vor sich hin und schrieb auf den lila Umschlag die Adresse. Es machte sich geradezu prächtig, und sie war stolz auf das gelungene Werk.

Sie ging hinaus, tröstete Marie über Reinholds schlechte Laune, erzählte ihr von dem Genuß, der ihr heut abend bevorstand, und schickte sie zum Postamt; selbst wenn der Brief drei Stunden brauchte, mußte Bill ihn schon gegen Mittag erhalten.

Jeden Morgen pflegte Hanna im Wohnzimmer Staub zu wischen, im Schlafzimmer die Betten zu machen und nach dem Essen zu sehn. Aber heute hatte sie zu nichts Lust. Müßig saß sie und träumte, unerträglich langsam schlichen die Stunden. Und doch klang und sang es in ihr, wie vor langen Jahren am Heiligabend, wenn endlich, endlich die Dämmerung herabsank und Onkel Berthold die Weihnachtslichte ansteckte.

Um halb vier kam Reinhold heim. Es hatte tüchtig geregnet, er mußte die nassen Stiefel ausziehn; und in seinen gestickten Morgenschuhen und der Hausjoppe setzte er sich mit finsterem Gesicht zu Tisch.

Nach dem Essen ging er mit der Zigarre in das Wohnzimmer, legte sich auf den Diwan, nahm ein Buch und deckte sich selbst zu. Sonst war dies stets Hannas Aufgabe, aber heut wies er sie zurück, erschien sie ihm dessen unwürdig. Es dauerte lange, bis die Decke richtig lag, das untere Ende unter die Füße geschlagen, um den Diwan zu schonen, rechts und links in gleicher Breite und ohne Falten. Und in seinem Ärger darüber, daß er sich selbst das Leben schwer machte, schalt er laut vor sich hin.

Es wallte auf in ihr, brannte ihr auf den Lippen: Du möchtest wohl alles tun, um mir meine Freude zu verderben? Aber sie schwieg, den Groll im Herzen; sie ahnte ja nicht, wieviel Liebe gerade aus seinem Mißmut sprach.

Als Marie abgeräumt hatte, setzte Hanna sich wieder still im Eßzimmer hin und wartete. Endlich drang das erste Aufschnarchen durch die Tür.

Wie ein Blitz war Hanna auf. Und auf den Fußspitzen schlich sie in das Schlafzimmer.

Liebevoll nahm sie das blauseidene Staatskleid, Onkel Bertholds Weihnachtsgeschenk, aus dem Schrank. Und dann begann die Vorfreude, das Fest des Anziehens von Kopf bis zu Fuß. Doch als sie, noch in der Untertaille, ihr blondes Haar vor dem Spiegel flocht und um den Kopf legte, durchzuckte es sie wie ein Schmerz, daß keiner außer Reinhold sie so hübsch und appetitlich erblicken durfte, mit den rosigen Armen, dem runden Hals, und daß dieser Einzige so wenig davon zu sehen schien.

Schwer atmete sie auf. Ob wohl ein anderer Mann, der andere Mann ...?

Sie schüttelte sich. Sie schämte sich in ihre Seele hinein, schalt sich selbst tüchtig aus. Hatte sie denn nicht alles, was sie vom Leben erwarten durfte? Einen geachteten Mann, ein eigen Heim? War Reinhold nicht lieb, daß er ihr diese Freude gönnte? Wer weiß, ob es ihn nicht bitterlich schmerzte, daß er sich außer stande sah, ihr selbst solchen Genuß zu bereiten, daß er auf fremde Güte angewiesen war? Brachte er ihr damit nicht auch ein Opfer, größer als das des reichen Bill Petersen, der sie mit sich nahm?

Und sie faßte den festen Entschluß, Reinhold seine Güte zu vergelten, ihm heute abend Ehre zu machen.

 

Schon vor halb acht trat sie in das Vestibül. Noch standen und gingen nur wenige Menschen um sie herum. Am dunklen Schalter hing ein Schild: Ausverkauft!

Aber allmählich begannen die Menschen von allen Seiten herbeizuströmen, die Autos draußen in immer dichterer Kette vorzufahren. Wie eine Völkerwanderung war es. Hanna begriff nicht, daß das Haus diese Tausende von Zuschauern fassen konnte. In dem Gewühl hin und her geschoben, in der Sorge, ob Bill sie auch finden würde, kam sie sich schrecklich verlassen vor.

Eine frische, kecke Stimme: »Zur Stelle, gnädige Frau!«

Sie fuhr herum. Sie fühlte, sie mußte blutrot geworden sein.

Vor ihr stand Bill, im hellen Sommerpaletot, den Hut gelüftet. Er küßte ihr die Hand, und sie ärgerte sich, daß sie zur Schonung der weißen Handschuhe die alten Glacés noch anbehalten hatte.

Von der hastenden Menge umwogt, nahm er sie wie selbstverständlich leicht unter den Arm, führte sie über die gewundene Treppe zur Garderobe des ersten Ranges hinauf, legte Hut und Paletot ab und half ihr aus Mantel und Schleier. Sie warf einen Blick auf ihn. Er war bildhübsch in seinem Frack.

»Ich werde Ihr Spiegel sein, gnädige Frau,« sagte er, sie lächelnd musternd, als er die Damen sich vor den schmalen Pfeilerspiegeln drängen sah. »Haar ... tipp topp, Augen hell und klar, Stimmung fidel, all right! Sie machen sich famos.«

Er log, er fand sie ein wenig nach Provinz aussehend. Aber er hatte die Empfindung, wie sie ihn so ängstlich mit ihren großen, grauen Augen anblickte, als sehne sie sich nach einem Wort der Anerkennung.

Er hatte sich nicht geirrt. Hanna fühlte sich unglücklich in dieser ihr ungewohnten Pracht, mitten unter der glänzenden, selbstbewußten Menge, die um sie herum promenierte, sich begrüßte, plauderte und lachte. Und als sie wenige Minuten später vom ersten Rang aus in das hellerleuchtete Haus, in diese überwältigende Symphonie von Rot-Weiß-Gold starrte, wurde ihr das Herz noch schwerer. Sie hatte zu Hause sich wirklich hübsch gefunden, und nun kam sie sich in dieser die Brüstung umsäumenden, die Logen füllenden Reihe von blendenden Frauengestalten mit ihren märchenhaften Toiletten, den mattgepuderten Schultern und blitzenden Edelsteinen wie Aschenbrödel vor. Sie ärgerte sich jetzt über ihr blauseidenes, schüchtern ausgeschnittenes Kleid, das nichts von ihren Reizen verriet; und sie begriff nicht, daß Bill Petersen nicht einfach die Flucht vor ihr ergriff.

Der Saal verdunkelte sich. Die Musik setzte ein. Tonios wunderbarer Prolog begann, der Vorhang öffnete sich, der Chor der Landleute ... Dann ein Aufrauschen durch den Raum, als ob tausend Lippen einen Namen flüsterten. Der Gast war aufgetreten.

Und Hanna war zumute, gleich dem schlummernden Hänsel und Gretel, wenn sich der Himmel auftut und die lichten Engelscharen zu ihnen hinabsteigen. Wie so viele, die selten das Theater besuchen, empfand sie die Handlung als wirklichen Vorgang, lachte und weinte, hoffte und litt sie innerlich mit denen dort auf der Bühne. Sie hatte im Textbuch gelesen, daß das, was sich da unten abspielte, in atembeklemmender Folge, wirklich geschehen war; selbst Ort und Zeit waren angegeben.

In das kalabrische Dorf kommen an einem Festtag zur hellen Freude der Bauern die Gaukler auf ihrem Wagen, Canio, das Haupt der Truppe, Nedda, sein junges Weib, Tonio und andere Komödianten.

Die Landleute laden Canio zum Wein, Tonio bleibt unter einem Vorwand zurück. »Glaub's nicht,« so foppen die Bauern Canio, »allein bleibt er mit Nedda, um dir dein Weib zu stehlen.« Und aus dem Manne, der seine Frau anbetet, bricht jäh, fessellos die flammende Eifersucht. »Dort oben, auf der Bühne, bin ich Bajazzo nur; find't der sein Weib in Freundes Arm, als Tölpel zuletzt noch geprügelt, – gar schön ist euer Beifall. Im Leben aber brächt' es ihr den Tod. Achtet, daß das Spiel nie werde Wahrheit!« Er geht zum Trunk, Tonio bleibt, bestürmt Nedda mit Liebesworten. Sie schlägt ihm in das freche Gesicht; zurücktaumelnd schwört er ihr Rache. Silvio, ein junger Bauer, er, den Nedda liebt, schleicht sich zu ihr und überredet sie zur Flucht. Canio, von dem verschmähten Tonio herbeigerufen, belauscht das Paar, ohne Silvio zu erkennen. Vergebens sucht er Nedda den Namen des Flüchtigen zu entreißen, schon zückt er den Dolch; doch Tonio entreißt ihm die Waffe, die Landleute strömen hinzu, die Vorstellung zu sehen. Und während Canios schmerzdurchwühltes Lied erklingt:

Jetzt spielen, wo mich Wahnsinn umkrallet?

während das Haus unter seinem erschütternden Aufschrei erschauert:

Bist nur Bajazzo!
Hüll' dich in Tand und schmücke dein Antlitz ...

hätte auch Hanna aufschreien mögen in der Qual des Entsagens, des Verzichts auf all diesen Glanz, dieses Höhenleben, das für diese eine, flüchtige Stunde sie umschmeichelte.

Der erste Akt war zu Ende. Als der Applaus sich gelegt hatte, mit dem der berühmte Gast gefeiert wurde, und das Licht im Hause aufflammte, mußte sich Hanna erst besinnen, wo sie war. Und tief aufatmend, mit glückstrahlenden Augen blickte sie Bill an.

»Zufrieden?« fragte er freundlich.

Sie nickte nur. Aber ihre Augen schimmerten feucht.

Er nahm sie mit sich in das Foyer, und wieder tat sich eine neue Welt, ein neues Bild vor ihr auf.

Ringsum hörte sie das Gewirr der Stimmen und Sprachen, kreuzten sich die Gespräche. »Euer Durchlaucht befehlen?« klang es neben ihr; sie wandte sich um, sah einen Greis mit breitem roten Ordensband und Sternen auf dem Frack, der sie mit seinen weltklugen, gütigen Augen aufmerksam betrachtete.

Bill hielt einen hochgeschossenen Stader Ulanen an:

»Reineck, du in Berlin?«

»Herrgott, Petersen! Wie geht's? Ja, seit acht Tagen, sechs Monate Marstallkommando. Darf ich bitten?«

»Gnädige Frau, Graf Reineck.«

Der lange Ulan verbeugte sich tief vor ihr. Er maß sie mit einem Blick, sie schien Gnade vor ihm gefunden zu haben.

»Wie finden gnädigste Frau heut den Caruso?« fragte er. »Pyramidal, nicht wahr?«

»Ich kann gar nicht sagen, wie wunderbar,« hörte sie sich sprechen.

Der Ulan wandte sich an Bill:

»Furchtbar nett, daß ich dich hier getroffen habe, Petersen. Wie wär's, morgen um zwei, bei Hiller?«

»Abgemacht.«

Der Offizier schüttelte Bill die Hand. Und wieder klappte er vor Hanna zusammen.

Hanna war wie im Rausch. Das war das Glück, das Sonnenglück, rings um sie her. Ihr ganzes Ich schrie diesem Leben entgegen, dem Luxus, dem Genuß ohne Schranken, bis zum Vergehen.

Es läutete scharf durch den Saal. Das Publikum strömte hinaus.

Der zweite Akt begann, nahm Hanna wieder bis zum Selbstvergessen gefangen.

Hatte sie das wirklich erst vor kaum zwei Stunden verlassen, das nüchterne, stumpfsinnige Heim in der Kurfürstenstraße, den brummigen Mann in der abgetragenen Hausjoppe und ausgetretenen Morgenschuhen, der ihr Herr war, ein Recht auf sie hatte? Hatte sie alles das eben erst gesehen, oder war es Jahre, Jahrzehnte her?

Dort unten, auf der Bühne, beschließt Nedda als Colombine, das Weib des abwesenden Bajazzo, mit dem Geliebten im Spiel, dem Harlekin, die Flucht. Canio, der Bajazzo, überrascht sie; der Harlekin entwischt. Auch der Bajazzo verlangt in bebender Wut: »Den Namen deines Buhlen will ich wissen!« Und nun verschlingt sich Spiel und Leben zum herzbeklemmenden Drama. Der Name, den Bajazzo von Colombine heischt, das ist in Wirklichkeit der Name, den Canio seinem Weibe zu entreißen sucht, bald mühsam seine Rolle unter dem jubelnden Bravo der Zuschauer fortführend, bald in ausbrechendem Zorn über der eigenen Höllenqual das Spiel vergessend. Allmählich packt die Zuhörer ein Bangen, ahnen sie, wissen sie, daß dort auf der winzigen Bühne der Tod sich aufreckt. Und schon jagt der Bajazzo das Dolchmesser in Colombines Rücken, schon ruft sie mit ihrem letzten Röcheln den Namen des Geliebten: »Zu Hilfe, Silvio!«, verrät sie das Geheimnis, um dessentwillen sie den Tod erleidet, schon stößt der rasende Canio auch Silvio die rächende Klinge in das Herz.

Und während Hanna kein Auge von der winzigen Komödiantenbühne wandte, während ihr Ohr die fiebererfüllten Melodien trank, spann sie zugleich, von der Leidenschaft des Spiels berauscht, sich in unsinnige Träume ein. Was hatte eigentlich Bill Petersen bewogen, sie einzuladen? Obwohl ihr Gatte so schroff zu ihm gewesen, obwohl ihm sicherlich so viele Frauen zur Verfügung standen? Gab es nicht eine Liebe, wahllos, unbegreiflich, eine Liebe auf den ersten Blick, bis zum Wahnsinn? Was täte sie wohl, wenn er ihr solche Liebe gestand? Wenn er dann schweigend, nur mit den Augen sie beherrschend, sie mit sich nahm, zum Bahnhof entführte? Würde sie zittern, sich sträuben, um Hilfe rufen? Oder wird sie ihm folgen, die Treppen hinauf, durch das Gewühl, bis an den Nord-Süd-Expreß, dort rechts in der mächtigen, rauchgeschwärzten Halle, vor dem die Menschen sich zusammenballen, zwei riesige Maschinen in zitternder Ungeduld stöhnen? Ein Blick auf die Uhr, – hastig hebt er sie in den Wagen hinein, trägt er sie förmlich den langen, schmalen Gang hinab ... Ein kleines Abteil, lauschig, mit blauverhangenem Licht ... Draußen winken sie den Abschied, rote, grüne, weiße Lichter huschen vorüber, lautlos gleitet der Zug in die Nacht hinein, der Sonne, dem Glück entgegen ...

 

Unterdes saß Bill gleichfalls in wechselnden Gedanken neben Hanna. Alles in allem war sie durchaus nicht sein Genre, und diese Einladung erschien ihm jetzt eine Kateridee, mit einem verpfuschten Abend als Resultat. Ihm lag besonders diese nervöse Unsicherheit nicht, die deutlich aus ihr sprach, dies Sentimental-Sehnsüchtige und dann wieder unvermutet Vorwärtsdrängende einer Frau, die offenbar selbst nicht wußte, was sie wollte. Nein, diese unberechenbaren Stimmungen, von denen man in jedem unbewachten Augenblick mitgerissen oder zurückgeworfen werden konnte, dieses verstohlene und doch so durchsichtige Spiel mit der Gefahr, die keine war, – über solche Jugendeseleien war er denn doch schon eine ganze Weile hinaus, für solche Scherze dankte er sehr ergebenst. Und plötzlich fühlte Bill etwas längst Vergessenes, nie Entbehrtes, die heilige Moral, in seinem Busen neu erwachen. Beim Zeus, der Chloroformfriede des Schneiderschen Eheglücks sollte nicht durch ihn mit rauher Hand gestört werden; schließlich war er doch auch kein Asyl für obdachloses Minnebedürfnis. Und während er den Kopf zu Hanna wandte und ihr niedliches Profil betrachtete, stieg eine Art väterlichen Wohlwollens in ihm auf.

Aber in seinen Verzicht mischte sich doch ein leises Bedauern. Die kleinen Marodeurinnen der Liebe vom Ladentisch und Schreibmaschine, die leichte Kavallerie aus Konfektion und Kulisse, bei denen jedes Wort, jede Geste, jede Zärtlichkeit an ihre Vorgängerinnen erinnerte, so daß man seine liebe Not hatte, den bunten Schwarm in der Erinnerung auseinanderzuhalten, diese ewig sich wiederholenden Typen, die regelmäßig beim ersten warmen Abendbrot »Herr Doktor« sagten, beim ersten Kusse »Schatz«, in ihrer schwachen Stunde »Bubi«, und, wenn man ihnen kündigte: »Du Scheusal!«, die waren ihm im Grunde doch schon recht zum Überdruß geworden. Auch reizt ein jedes unbekannte Gelände den Forscher, und eine ausgesprochen anständige, regelrecht verheiratete Frau war absolutes Neuland für ihn. Eigentlich war es also schade, sich diese Gelegenheit, die sich so leicht nicht wieder bot, entschlüpfen zu lassen, mochte auch noch so wenig dabei herauskommen. Denn bis ans Ende gehen, – ausgeschlossen! Wer aber zwang ihn denn auch dazu? Er war ja doch kein Trottel, hatte sich in der Hand; und wenn alle Welt einem harmlos bleibenden Flirt so ängstlich ausweichen wollte, dann würde das Dasein noch blödsinniger werden, als es schon war. Es handelte sich für ihn ja lediglich um ein psychologisches Experiment, um eine platonische Studie, die aber für die Kenntnis der Frauenseele sicher hundertmal wertvoller werden konnte, als Herumgebalge mit all den kleinen, albernen Mäusen.

Er sah sich Hanna verstohlen noch einmal genau an. Sie war mittelgroß, schlank und doch rund, mit leicht geneigten Schultern, die ihr etwas Hilfsbedürftiges gaben. Die Nackenlinie, die sich in dem vollen, dunkelblonden Haar verlor, war feingebogen, das Näschen zierlich und kurz. Der Mund war nicht gerade klein, doch wie sie so in sichtlicher Spannung dasaß, mit ein wenig geöffneten Lippen die Vorgänge auf der Bühne verfolgte, sah er ihre Zähne weiß und regelmäßig hervorschimmern. Aber ihre Schönheit bildeten unstreitig die beiden graugrünen Augen mit ihren feingeschwungenen Brauen und schwarzen Wimpern, diese Augen, die so versonnen, so sehnsuchtsvoll in die Welt hinausblickten.

Unten auf der Bühne rollte das Dolchmesser zu Boden, mit dem der Bajazzo an seinem Weibe und dem Vernichter seines Glückes sich gerächt, klangen in Totenstille die herzerschütternden letzten Worte:

Geht alle heim, – das Spiel ist aus!

Einen Augenblick blieb das Haus wie gelähmt unter dem Banne einer siegreichen Kunst. Und dann ein Rasen durch das Haus, daß Hanna der Atem stockte, ein Jauchzen des Beifalls, wie der Aufschrei einer tobenden Menge; Herren, die sich wie im Rausche weit über die Brüstung lehnten, Frauen, die verzückt auf den einen Mann dort unten an der Rampe starrten, sich die Blumen von der Brust rissen, um sie dem Gottbegnadeten zuzuwerfen, der ihr Herz in seinem Leide hatte miterzittern lassen. Minutenlang währte der Sturm, ohne Ende, immer wieder sich an sich selbst belebend.

In der Pause, vor Beginn des Balletts, nahmen sie auf einem der niedrigen rotsamtenen Diwans, ganz in der Ecke, Platz und ließen die Menge an sich vorüberkreisen.

Über Hanna war eine große Traurigkeit gekommen. Noch eine Stunde, und der Traum war verflogen, die Lichter erloschen, die Töne verklungen, und der Alltag legte sich wieder wie ein Nebel über ihr Dasein. Der ewige Drang des Weibes, den es so oft nur unter der Schwelle des Bewußtseins empfindet, so oft leugnet, der Drang, sich restlos, mit Seele und Leib, einem Manne hinzugeben, der sie durch Kraft und Willen, durch Wissen und Geist überragt, dieser Drang, der auch in Hanna nach Erfüllung schrie, war durch Puccinis Oper, durch alle die Eindrücke des Abends neu in ihr erwacht, machte sie bang und schwach.

Bill sah ihr an, wie es in ihr gärte. Er schwieg, er wartete. Frauen sind ja der Gegensatz der Mondsüchtigen; ein lautes Wort zur falschen Zeit bewahrt sie vor dem Fall.

Und jetzt begann Hanna selbst zu sprechen.

»Ich bin Ihnen so dankbar,« sagte sie. »Ich werde den heutigen Tag nie vergessen.«

»Es hat etwas Rührendes, gnädige Frau,« antwortete er, »wie anspruchslos Sie sind. Ihr Gatte ist wirklich zu beneiden.«

»Gott,« erwiderte sie etwas verwirrt, »mein Mann ist selbst so bescheiden. Sein Skat, das ist ja alles, was er sich gönnt.«

»Und Sie sitzen also wirklich jeden Montag zu Hause?«

»Ja,« sagte sie schlicht. »Ich lese viel, Bücher sind meine Freunde.«

»Wahrhaftig,« antwortete er, »Sie sind ganz anders, als andere Frauen.«

»Inwiefern?« fragte sie etwas ängstlich. Sie glaubte aus seinen Worten einen Tadel herauszuhören.

»Nun,« erwiderte er lächelnd, »von zehn Frauen hätten neun mir längst schon vorgeschlagen: Lieber Freund, die ›Puppenfee‹, die schenken Sie mir freundlichst. Wenn Sie schon einmal A gesagt und mich aus meinen vier Pfählen losgeeist haben, dann machen Sie auch das Maß Ihrer Güte voll und zeigen Sie mir ein wenig von dem Sündenpfuhl Berlin. Sehen Sie, gnädige Frau, daß Sie noch gar nicht auf diesen an sich vortrefflichen Gedanken gekommen sind, das spricht ganze Bände.«

»Und« – Hanna atmete auf – »wohin führen Sie diese Damen, die ...?« Sie stockte.

»Die mehr Unternehmungsgeist haben als Sie?« ergänzte Bill. »Ja, gnädige Frau, so einfach ist das nicht. Jede Frau liebt es, verkannt zu werden. Aber jede Frau will auch individuell behandelt werden; die eine brennt darauf, sich im Bristol oder sonstwo als exotische Gräfin zu fühlen, die andere hat nur den einen Ehrgeiz, für eine Nacht im Palais de dance als Kokotte zu gelten.«

»Und das sind anständige Frauen?« fragte Hanna naiv.

Er zuckte die Achseln. »Es sind solche, denen niemand den Respekt versagen darf.«

»Und diese Frauen sind den Herren wohl die liebsten?«

Bill lachte. »Wenigstens die amüsantesten.«

Hanna sah ihn groß an. »Was müssen Sie schon erlebt haben,« stieß sie halb bewundernd, halb vorwurfsvoll hervor.

Wieder lachte er. »Je sais tout, mais rien de bon,« antwortete er.

»Und wie langweilig muß ich Ihnen sein,« fuhr Hanna fort.

Er sah ihr einen Moment lang fest in die Augen.

Sie fühlte von neuem dieses verhaßte Rot ihr Gesicht überfluten. »Sagen Sie selbst,« fuhr sie fort, und wieder kam eine große Traurigkeit über sie, »aber seien Sie bitte ehrlich, – was hat Sie dazu veranlaßt mich heute mitzunehmen?«

Er zögerte. »Eins sicher nicht, gnädige Frau,« erwiderte er dann endlich, langsam, überlegt, »eins nicht, die Lust nach Abenteuern. Denn – seien Sie mir nicht böse, ich bin immer offen – alles mögen Sie besitzen, nur nicht den Mut zur Sünde. Ich habe Sie damals, bei unserem ersten Zusammensein beobachtet, ich will sogar ganz aufrichtig sein, ich habe nur Ihretwegen so lange bei Dorners ausgehalten, und ich bin meiner Sache gewiß: Nie haben verbotene Träume Ihnen den Schlaf geraubt, nie werden sie es tun. Sie werden die breite, ebene Chaussee des Lebens dahinwandern, zufrieden mit sich und Ihrem Schicksal. Das ist eben Sache des Temperaments. Und ich meine fast, Sie haben damit das große Los gezogen.«

Es waren ruhige, sie ehrende Worte, aber jedes traf Hanna wie ein Hieb. Sie fühlte sich durch seine Meinung verkannt, herabgesetzt, gedemütigt. Und sie brachte es nicht über sich, dieses Urteil unwidersprochen zu lassen, das ihren Trotz wachrief.

»Ich glaube,« sagte sie, die grauen Augen zu ihm hebend, »es muß doch recht schwer sein, hinter einer Menschenstirn zu lesen.«

»Dem Himmel sei Dank dafür,« lächelte er. »Es wäre übel, wenn wir dort eine Glasplatte trügen.«

Seine leichte, spöttische Art trieb sie wider ihren Willen vorwärts.

»Wenn ich die hätte,« sagte sie, »würden Sie wenigstens sehen, wie gründlich Sie sich in mir getäuscht haben.«

»Ich lasse mich gern belehren,« antwortete er.

»Eine Frau ist eben nicht unabhängig,« fuhr Hanna fort. »Sie wissen ja, – er soll dein Herr sein! Nur wenn ich frei wäre, mich frei geben könnte, dürften Sie urteilen.«

»Sie sind ja doch frei,« antwortete er ruhig, »oder besser gesagt, tausend andere Frauen wären an Ihrer Stelle frei. Wenigstens ab und zu, für den Hausbedarf.«

»Wieso?« fragte sie zögernd.

»Ich möchte um alles in der Welt nicht persönlich werden. Bleiben wir objektiv. Nehmen wir eine Durchschnittsfrau, eine, die nach dem Leben hungert, nach Freude dürstet, – eine Frau X., nicht wahr?«

»Ja,« antwortete Hanna tonlos.

»Und diese Frau – immer Frau X., wohlverstanden! – hat einen Mann, der jeden Montag seinen Skat drischt und erst um –?«

»Um eins, halb zwei,« antwortete Hanna, wie unter einem Zwange.

»Also um eins heimkommt,« fuhr er bedächtig fort. »Was meinen Sie wohl, was diese Frau X. tun würde?«

Hanna schwieg.

»Sie sehn,« sagte er mit leisem Spott, »daß Ihnen dafür jedes Verständnis fehlt.«

Hanna war förmlich wie vor den Kopf geschlagen. Alles, was gut und rein in ihr war, lehnte sich gegen eine solche Möglichkeit auf; in diesem Augenblick empfand sie die ungeheure Kluft zwischen Traum und Wirklichkeit, zwischen Gedanken und Tat. Und trotzdem schlug ihr das Herz vor der Versuchung, wie ein Vöglein seinen Käfig plötzlich offen sieht und doch nicht wagt in Wind und Wetter hinauszuflattern; und zugleich fühlte sie mit dem feinen Instinkt der Frau, daß der verwöhnte Mann hier neben ihr, den eine Laune des Schicksals ihr in den Weg geworfen, sie nicht ohne Absicht vor den Scheideweg stellte, daß er, wenn sie versagte, sich nie mehr um sie kümmern, sie ihre »breite, ebene Chaussee« gehen lassen würde, im stumpfen Einerlei, im müden Schritt der Pflicht. Und tief erregt blickte sie ihn mit ihren großen, grauen Kinderaugen an, mit diesen Augen, aus denen die Furcht bat: Täusche mich nicht!

Er hielt ihren Blick ruhig aus. Er wollte sich heute amüsieren, wollte sie ein wenig aus ihrer Tugendlethargie wecken. Aber Böses wollte er nicht.

Als die Klingeln durch das Haus schrillten, wandte er sich lebhaft zu ihr:

»Nun, gnädige Frau?«

Noch eine Sekunde zögerte sie, – diese Sekunde, die über ein ganzes Leben entscheidet. Dann gab sie nach.

»Ich kann aber nicht lügen,« sagte sie, »wenn mein Mann mich nach dem Ballett fragt. Ich habe es nie gekonnt, auch nicht in den harmlosesten Fällen.«

»Du lieber Gott,« antwortete Bill, »die Geschichte ist in zwei Worten erzählt. Und nach den Ballerinen selbst wird Ihr Gatte, wie ich ihn kenne, wohl kaum fragen. Also, zum dritten und letzten Male: Puppenfee sehn oder sein?«

Und fest, mit blassen Lippen lächelnd, erwiderte sie:

»Ich habe doch Mut. Und ich vertraue Ihnen.«

Er neigte sich leicht vor ihr. »Das dürfen Sie, gnädige Frau.«

Ohne weiter zu fragen, ging er mit ihr zur Garderobe, half ihr sorgsam in den Mantel, knüpfte er ihr mit geschickten Händen den Schleier zu. Seine ihr ungewohnte, ritterliche Hilfe tat ihr wohl, ihr war, als ob ein festes innerliches Band sie seit wenigen Minuten mit ihm verknüpfte.

Als sie in den Regen hinaustraten, rief er ein Auto an. Und ohne einen Widerspruch zu versuchen, ohne auch nur an das Verbot ihres Mannes zu denken, ließ sie sich von ihm in den Wagen heben.

»Esplanade!«

Sie fuhren stumm durch die Nacht. Und jetzt wurde ihr doch wieder bang, auf diesem ersten Schritte in verbotenes Land; jeden Augenblick fürchtete sie, daß er den Arm um sie legen, sie an sich pressen würde.

Aber nichts geschah. Im scharfen Bogen fuhr der Wagen vor das Portal, ein Groom mit dem Regenschirm sprang hinzu, ein Geldstück dem Chauffeur, und schon standen sie im Foyer, legten sie ab, stiegen sie zwischen Blüten und Palmen an der Musik vorbei die Stufen zum weißen Saal hinauf.

Ringsum waren alle Tische besetzt, die Damen in großer Toilette, die Herren im Smoking und Frack, als habe das Opernhaus seine Gäste schon hergesandt. Uniformen blitzten dazwischen; verhalten klangen die Stimmen, wiegend, wie leises Werben, sangen die Geigen.

Bill schien in diesem Saale zu Hause zu sein; der Manager eilte auf ihn zu, fand einen Tisch für ihn; hier und dort wurde Bill von Gästen gegrüßt, forschende Augen wandten sich Hanna zu.

Ihr war beklommen zumute. Aber gerade dieses Gefühl gab ihr etwas doppelt Weibliches, Scheues, Reines; und mancher Blick, der über die zierliche, blonde Erscheinung flog, glitt neidisch zu ihrem Begleiter hinüber.

»Zwei Kuverts, Pommery?« fragte der Oberkellner, seiner Sache gewiß.

Ganz hinten saßen sie, von dem Treiben der großen Welt umrauscht, und doch wie auf einsamer Insel. Und zum erstenmal in ihrem Leben fühlte sich Hanna wirklich als Dame.

Anfangs blieb sie noch schüchtern, wagte sie kaum zuzugreifen, am Glase zu nippen; aber dann fand sie sich mit der wundervollen, so vielen Frauen eigenen Anpassungsgabe rasch zurecht. Und als sie auf sein Zureden das zweite, dritte Glas an die Lippen hob, lachten schon ihre Augen in sorglosem Glück.

Vor dem perlenden Wein, vor dem Glanz der Lichter war das Grau des Alltags gewichen.

Beide sprachen wenig; sie, weil zu viel des Neuen, Schönen auf sie einstürmte, er, weil er vollauf mit sich beschäftigt war.

Wo hatte er nur bisher seine Augen gehabt? Mußten denn immer erst die hungrigen Blicke der Neider einem Manne sagen, wie hübsch das Weib an seiner Seite war? Diese junge Frau, die da neben ihm saß, mit rotfeuchten Lippen und unschuldigen Augen, die war ja hundertmal hübscher, als viele, viele, die er umschwärmt und gewonnen. In impulsiver Huldigung hob er den flachen Kelch gegen sie: »Gnädige Frau, was wir lieben!«

Und Hanna antwortete aus tiefstem Herzen, für einen Augenblick ernst werdend:

»Lachen Sie mich bitte nicht aus, – ich glaube, Sie sind gut.«

Auch er wurde ernst. Und er meinte es ehrlich, als er erwiderte:

»Sie machen mich wahrhaft stolz.«

Dann legte er die Hand über ihr Glas. »Es ist genug, gnädige Frau,« sagte er ruhig und bestimmt, »sonst kommt Ihr Gatte doch noch hinter unsere Streiche. Wir müssen heim.«

Folgsam erhob sie sich.

»Chauffeur, halten Sie Dennewitzstraße, vor der Kurfürstenstraße.«

Im Auto begann er ihr kurz den Inhalt der »Puppenfee« zu erzählen; und während sie ihm zuhörte, ging es in immer gleichem Rhythmus ihr durch den Kopf:

Wird er mich zum Abschied küssen? Wird er mich zum Abschied küssen?

Bei einer scharfen Kurve wurde sie fast auf ihn geworfen. Sie richtete sich auf, schob sich in die tiefste Ecke ihres Sitzes. Zugleich bog er sich vor, und das elektrische Lämpchen an der Decke flammte auf.

Sie erwachte aus ihrem Traum. Nichts blieb von ihm zurück, als der korrekte Gentleman neben ihr, der die Frau in ihr ehrte und das Weib in ihr verschmähte.

Sie stiegen aus, gingen durch die nur noch spärlich fallenden Regentropfen Hannas Heim zu. Der Mond stand am Himmel, von dunklen Wolken umrahmt, die Straße war menschenleer. Von der Lutherkirche schlug es ein Viertel nach elf.

Vor ihrem Haus blickte sie zu ihrer Wohnung auf. Die Jalousien waren nicht herabgelassen; Hanna glaubte den Schatten ihres Mannes hinter dem Store zu sehen. Sie gab Bill den Schlüssel und trat schnell an die Haustür heran, so daß Reinhold sie beide nicht beobachten konnte.

»Gute Nacht, gnädige Frau,« sagte Bill.

»Gute Nacht,« antwortete sie gepreßt. »Und tausend Dank.«

»Adieu oder auf Wiedersehn?« fragte er, indem er ihr den Schlüssel zurückgab und ihre Hand festhielt.

Sie schwieg. Aber ein leiser Druck gab ihm Antwort.

Und während sie das Tor von innen schloß, wurde ihr das Herz wieder schwer. Er hatte ihr die Hand geküßt, nicht die Lippen.

 

Als sie die drei Treppen hinaufgestiegen war, öffnete Reinhold die Tür.

»Guten Abend, Reinhold.«

»Guten Abend,« erwiderte er mürrisch.

»Bist du schon hier?«

Er antwortete nicht auf diese überflüssige Frage.

Im Eßzimmer war über die eine Ecke des Tisches eine Serviette ausgebreitet, auf der Teller und Besteck, Brot, Butter und Aufschnitt standen.

»Ich kann keinen Bissen essen, – es war zu schön,« sagte sie, sich auf das Sofa setzend.

Noch immer schwieg Reinhold. Er hatte einen schweren Abend hinter sich. Beim Spiel hatte er auf Kohlen gesessen und mehrfach durch seine groben Schnitzer Entrüstung erregt.

»Wie geht es Hanna?« hatte Berthold Dorner gefragt, während der Oberzahlmeister schmunzelnd Gewinn und Verlust ausrechnete.

»Danke, gut, Onkel Berthold,« antwortete Reinhold zögernd.

Berthold Dorner sah einen Augenblick vor sich hin, als suche er sich auf etwas Vergessenes zu besinnen. Dann, mit einmal, fragte er:

»War Petersen mit Hanna schon in der Oper?«

Reinhold lief es kalt den Rücken hinab. Sein Vater ihm gegenüber hob den Kopf. Aber völlig überrascht von der Frage, in dem Respekt, den er vor dem alten Dorner hatte, wagte Reinhold nicht ihn zu täuschen.

»Ja, heute abend,« erwiderte er mit dem Mute der Verzweiflung.

»Was?« stieß sein Vater gedehnt hervor.

»Das ist vernünftig,« sagte Onkel Berthold zu gleicher Zeit. »Also den Point zu zehn, Ober, du machst doch mit?«

Reinhold verabschiedete sich, obwohl es erst zehn war, unter dem Vorwand einer Unpäßlichkeit.

Als er draußen seinen Mantel anzog, kam der Oberzahlmeister zu ihm heraus.

»Sag' mal,« schnauzte er ihn an, »das ist doch eine unglaubliche Sache. Was dein Vater für 'ne Ansicht hat, scheint dir ja höllisch egal zu sein.«

Aber Reinhold war so zerquält, daß er zum erstenmal sich ihm widersetzte. »Ich konnte den Onkel nicht brüskieren,« sagte er energisch, »ich gönne auch Hanna die Freude.«

»So?« antwortete der Oberzahlmeister überlegen und strich sich, ganz Husarenoberst, den Schnauzbart hoch. »Gönnst du ihr die? Nun schön, mein Söhnchen, wie man sich bettet, so schläft man. Aber wenn du mal später dein blaues Wunder besehen wirst, dann rat' ich dir, komm nicht zu mir. Dummheit ist eine Gabe Gottes, nur mißbrauchen soll man sie nicht.«

Und so war Reinhold in recht trübseliger Stimmung nach Hause gekommen. Denn wenn er auch gegen den Vater aufgetrumpft hatte, – notgedrungen, wie sich ein scheues Wild, das keinen Ausweg mehr sieht, gegen seinen Verfolger zur Wehr setzt –, so kehrte jetzt angesichts dieses ersten, ernsthaften Konflikts seine altgewohnte Abhängigkeit doch doppelt stark zurück, um so mehr, da er im tiefsten Herzen ganz der Meinung seines Vaters war. Noch niemals hatte er es so sehr empfunden, wie aufrichtig er Hanna liebte, war die Eifersucht so heiß in ihm hochgeschlagen. Und aus all diesen quälenden Eindrücken des Tages heraus beherrschte ihn immer mehr eine dumpfe Wut gegen Hanna, der er die Schuld gab an allem, was er seit gestern durchlitten und noch durchlitt, – eine Wut, die ihn um so mehr aufbrachte, als er sie selbst als ungerecht empfand, nicht wußte, wie er sie an ihr auslassen sollte.

Er wartete auf ein ungeschicktes Wort von ihr, um sich Luft zu machen. Aber auch sie sagte nichts. Sie saß vornübergebeugt auf dem Sofa, die Hände verschränkt, mit großen, in die Weite gerichteten Augen, weltenfern von ihm und seinem Groll.

»Wie hat sich der Mensch denn benommen?« fragte er endlich gereizt, während er den Aufschnitt mit dem Teller zudeckte, um ihn frisch zu erhalten.

Sie schreckte auf. »Herr Petersen?« fragte sie scharf. Seine Art, von Bill zu reden, verletzte sie.

»Der heilige Geist doch nicht,« erwiderte er ebenso schroff.

»Herr Petersen war ein vollendeter Kavalier,« antwortete sie nachdrücklich.

»Dann war er was Rechtes,« erwiderte er höhnisch.

Sie lehnte sich in das Sofa zurück. Mit kühlen Augen blickte sie auf ihren Mann, der unruhig im Zimmer auf und ab lief.

Und in diesen wenigen Sekunden fühlte sie, daß etwas in ihr starb.

»Hast du das alles so gemacht, wie ich es angeordnet habe?« fragte Reinhold etwas milder. Er fühlte wohl, daß sein Empfang recht häßlich gewesen war. »Hast du die Straßenbahn genommen?«

»Du hast uns ja kommen sehn,« antwortete sie ausweichend.

»Darf ich das etwa nicht?« brauste er wieder auf. »Meinst du, es ist ein Vergnügen, hier bis in die Nacht zu warten?«

»Ich glaubte, du bist noch beim Skat,« entgegnete sie.

»Dann hast du eben was Falsches geglaubt,« antwortete er bissig. »Wann war der Klimbim denn aus?«

»Es wird nach halb elf gewesen sein,« erwiderte sie.

»Und dann seid ihr direkt hergefahren?«

Der Trotz bäumte sich in ihr auf, und schroff antwortete sie:

»Denkst du etwa, wir sind über Potsdam gekommen?«

Sie fing bitterlich an zu weinen.

Und in dem Manne, dessen Gedanken in den letzten, langen Stunden beständig bei ihr geweilt, der dann daheim eine halbe Stunde bald durch die beiden Stuben gewandert, bald an dem offenen Fenster gestanden, zuletzt bei jedem Paare, das vorüberkam, sich weit hinausgelehnt, sich fast die Augen ausgesehen hatte, schlug plötzlich die Stimmung um; er schämte sich, als er sie so hilflos schluchzen sah, als er empfand, wie sinnlos er ihr diesen schönen Tag verdorben hatte. Im Grunde genommen verstand er sich selbst nicht; er ging doch jede Woche einmal freiwillig von ihr fort, dachte bei seinen Karten stundenlang nicht an sie, – warum nur heut?

Er blickte zu ihr hinüber. Auch ihm fiel es jetzt auf, wie wundernett sie aussah. Und sein Gewissen schlug ihm.

Er war doch sonst so stolz auf seine Ruhe, auf die Beherrschtheit, die er seiner amtlichen Stellung schuldig zu sein glaubte, die ihm eine unleugbare Würde gab. Warum trieb ihm nur dieser Laffe immer wieder die Galle ins Blut? Dieser Grünspecht, der nichts im Leben verstanden, als seines Vaters Millionen zu vergeuden?

Und jetzt, wo er Hanna wieder daheim hatte, wo angesichts ihrer Tränen der Rückschlag in ihm eintrat, sagte er sich, daß er ein Narr gewesen, sich selbst geschadet hatte. Statt die Feierstimmung, die sichtlich noch in Hanna nachgezittert, wachzuhalten, an seiner Seite ausklingen zu lassen, statt eine Brücke aus der Welt der Kunst in den Alltag hinein zu schlagen, auf der er sie zu sich zurückführte, sie neu gewann, hatte er mit harten Worten die Freude in ihr erstickt, mit plumper Faust sie aus der Höhe zu sich hinabgerissen.

Er mußte seine Torheit wieder gutmachen. Und so flüchtete er sich denn zu der Macht seiner Rede. Während er ihr auseinandersetzte, daß ein bürgerliches Heim, das Haus eines Staatsbeamten, solche Exzesse, wie diesen Ausgang mit dem Petersen, wohl einmal, aber nie wieder dulde, daß die Ehe von Gott eingesetzt sei, um Freude und Leid zu teilen, während seine Worte inhaltslos an Hannas Ohr vorüberhallten, sah sie von neuem das Opernhaus, in Licht getaucht, die Palmen und Blüten des Esplanade, hörte sie eine weiche Stimme zu ihr sagen: »Sie machen mich wahrhaft stolz!« Und jetzt rauschte in nervenpeitschenden Akkorden das Orchester auf, brach jäh ab, und ernst und traurig klang es durch die Stille: »Geht ruhig heim, – das Spiel ist aus ...«

Sie sprang auf. »Ich bin müde,« sagte sie, »ich gehe schlafen.«

Mitten in seiner schönsten Satzperiode unterbrochen, starrte Reinhold sie verblüfft an. Aber er wollte es nicht noch mehr mit ihr verderben, und ohne Widerspruch folgte er ihr.

Doch als er im Dunkel nach ihrer Hand griff, sie an sich zu ziehen suchte, als sie in unverständlicher Erregung ihn anschrie: »Ich rate dir, laß mich in Frieden!«, da wußte er, daß sie ihm nicht verziehen hatte.

 

Zu gleicher Zeit hatte sich Bill in seinen Klubsessel versenkt, steckte sich schwermütig eine Zigarette an, legte den linken Fuß über das rechte Knie und ließ sich vom Glanze seines Lackschuhes in eine Dolce far niente-Hypnose versetzen. Er nannte das Nachdenken.

Diese infame Liebe, die in ewiger Unruhe, in ewigem Wechsel die Menschen nicht zu Atem kommen ließ! Dies Paradies und diese Hölle, diese Macht, der keiner entging, die unergründlich blieb, wie die Wahrheit des Pilatus. Und plötzlich sah Bill den endlos langen Freiherrn von Sanden wieder vor sich, im Klub, an einem Sommervormittag, nachdem sie sechzehn Stunden lang gepokert hatten, – damals, als der das letzte Hunderttausend seines Erbes verjeute, ehe er sich hinter den Fiebergürtel von Kamerun vergrub. Sah zum Greifen deutlich die Sonne durch die zugezogenen gelbseidenen Vorhänge schimmern, sah die übernächtigte Gruppe der Spieler hinter der Sektbatterie, hörte Sanden mit schläfriger Stimme vor sich hin philosophieren.

»Liebe,« hatte der gesagt, »ist nichts als Hörigkeit, – gegenseitige Hörigkeit, für die wir gegenseitig unsre Rache nehmen. Wir Männer beherrschen die Frauen mit der Kraft des Intellektes, solange wir nicht um sie werben; sie zwingen uns nieder, sobald wir sie begehren, mit ihrem physischen Reiz. ›Wir Mädchen sehn doch immer mit Vergnügen‹, sagt Wieland, ›die Weisheit eines Manns zu unsern Füßen liegen.‹ Aber ein Unterschied bleibt, über den sie nicht hinwegkommen, der ihre Achillesferse ist: Die Frauen schleudert jeder Liebesrausch in Hörigkeit zurück, uns macht er frei. Sie ahnen, sie fühlen das alle, und darum wehren, versagen sie sich; aber Natur ist stärker als sie und drückt sie immer wieder unter das Joch.«

»Herrlich! Etwas dunkel zwar, aber 's klingt recht wunderbar,« hatte der kleine Breda geantwortet, derselbe, dem später die Kugel des eifersüchtigen Gatten das Knie zerschmetterte. »Liebe, das ist auch so ein Sammelname für drei total verschiedene Dinge, Ehe, Verhältnis und Okkasion. Das eine fürs ganze Leben, das andere für höchstens sechs Monate, das dritte für flüchtige Stunden. Und bei allen dreien begehrt man und küßt man und glaubt zu lieben. Was ist denn Liebe? Der Jüngling, der mit pochendem Herzen den Spuren des Backfisches folgt, der Mann, der in der Qual der Eifersucht dem unschuldigen Weibe das Messer ins Herz pflanzt, sie alle reden von Liebe. Aber was sie auch sei, – missen möcht' ich sie nicht.«

Versonnen steckte sich Bill eine neue Zigarette an.

Von einem hatten die beiden nicht gesprochen. Ehe, Verhältnis, Gelegenheit, das war doch alles noch eine ehrliche Sache, keinem zuleide, war ein Bund, den Mann und Weib nur vor sich zu verantworten hatten. Aber eins gab es, das war infam; das war der Einbruch in die Ehe, der Diebstahl, der Betrug. Wer eines anderen Weib nahm, brach das Gesetz, brach Recht und Ehre.

Andererseits, – wenn Männer, die täglich Dutzende von Liebchen haben konnten, sich dennoch über Recht und Ehre hinwegsetzten, die Gefahr nicht achteten, ihr Leben aufs Spiel setzten, so gab das immerhin zu denken, mußte ein unersetzbarer Zauber damit verbunden sein. Wie heiß mochten solche Frauen lieben, die doch auch ihre eigene Haut zu Markte trugen, um einer seligen Stunde willen! Aber war nicht gerade diese besinnungslose Liebe eine zweischneidige Klinge? Lag hier der heikle Punkt nicht offenbar im Auseinanderbändeln, anstatt wie sonst im Anbändeln?

Bill seufzte schwer auf. Es ist im Leben häßlich eingerichtet, daß bei den Rosen gleich die Dornen stehn. Daß eine Liebesgeschichte stets himmelhoch jauchzend begann und stets zu Tode betrübt endete, das war ja nun einmal Menschenlos; das Dumme war nur, daß diese Auseinandersetzung stets den Schluß bildete, wie alles Unangenehme zuletzt kommt, erst das Leben und dann der Tod, erst der Rheinwein und dann die Gicht, erst die Hochzeit und dann die Wiege. Die kleinen Mädchen freilich, von denen zwölf auf ein Dutzend gehn, wenn die beim Abschied tragisch wurden, die lachte man einfach aus; und hatten die sich ausgeheult, so schimpften sie noch einmal das ganze Register bis zum Götz von Berlichingen hinunter, knallten die Tür zu und suchten sich schleunigst einen Tröster. Aber was machte man mit den anderen, den hartnäckigen, desperaten, zu denen verheiratete Frauen ja das Hauptkontingent zu stellen schienen?

Er dachte an den netten Rottberg, den thüringischen Leibdragoner, der wegen einer solchen sich an ihn klammernden Frau selbst seine Versetzung beantragt hatte, dem dann das Weib in seine neue Grenzgarnison nachgereist war, um sich auf seiner Bude zu erschießen, und den der Riesenskandal zum Abschied genötigt; dachte an Nostriz von seinem Regiment, der auch den Dienst quittiert hatte, weil ihn die Frau nach ihrer Scheidung nicht mehr losgelassen, ihn zur Ehe gezwungen; an Breda, den Liebling des Turfs, der heute Krüppel war, nie wieder in den Sattel steigen würde.

Und was hatten diese Frauen damit erreicht?

Liebe war da oder sie war nicht da. Und wenn sie erst einmal im Schwinden war, so rottete nichts sie so sicher im Manne bis auf den letzten Rest aus, als das Sichwehren, das Jammern und Toben einer verzweifelnden Frau. Aber freilich, was sollte sie sonst tun? Sich schweigend zurückziehen? Das duldete ihre letzte Hoffnung nicht. Mit allem, was sie besaß, immer neu, immer von neuem des Mannes Sinne fesseln? Das verbot ihr die Scham. In heißen Tränen um Erbarmen, um Gnade flehen? So viele taten es, im Totentanz der Liebe, und wußten nicht, was sie taten; wußten nicht, daß sie auch damit nur den Widerwillen steigerten, dem Gläubiger gleich, dem sein Schuldner einst in heißem Dank die Hände geküßt, und den er dann als lästigen Mahner von seiner Tür scheucht.

Wie man es also auch machte, das Ende war doch immer die große Szene, der Abschied, mit wirrem Haar und heißen Wangen, mit drohendem Mord und Selbstmord im Hintergrund, der glühende Haß, der aus erloschener Liebe, der Ekel, der aus gesättigtem Begehren entsprang.

Er trat an das Fenster und blickte auf die dunkle Straße. Und er verstand nicht, wie er sich so lange mit dieser kleinen Blondine hatte beschäftigen können. So eine Frau, die heute mit dem Liebsten die Ehe brach und morgen mit dem Gatten jenem die Treue, das war doch eine Wirtschaft, zu der sich kein anständiger Mensch hergab. Da blieb er schon lieber bei seiner Erna. Nein, Gott sei gedankt, – noch hatte man seine fünf Sinne zusammen! Während er sich, steif geworden, reckte, sagte er laut vor sich hin:

»Das könnte mir gerade noch fehlen! So ganz von allen Göttern verlassen bin ich denn doch nicht!«

Und damit war Frau Hanna Schneider für ihn erledigt.

 

Als Hanna am nächsten Morgen die Augen aufschlug, als sie Reinhold, leise über die Wäsche räsonnierend, die scharfen Kanten seiner Röllchen mit Glättolin behandeln sah, fiel es von neuem wie Mehltau auf sie, kam sie sich vor wie in der Jugendzeit, am Morgen nach den großen Ferien, wenn endlos wieder die Schule vor ihr lag. Aber als Reinhold gegangen, als sie mit ihren Gedanken allein war, klammerte sie sich doch wieder an das Hoffnungsfünkchen, das der Abschied von Bill ihr gelassen. »Auf Wiedersehn?« hatte er sie gefragt, tröstend, verheißungsvoll. Er hatte schon einmal sein Wort gehalten, er würde es wieder tun. Es war ja auch nicht anders möglich; es wäre zu grausam, zu unmenschlich gewesen. Nur Geduld mußte sie haben, nur warten mußte sie können.

Und Hanna wartete und wartete. Tage-, wochenlang durchlitt sie das schreckliche, zermürbende Martyrium. Jede Post, um acht Uhr früh, um elf, um zwei, bis in den Abend hinein, ließ die Hoffnung in ihr aufleben, schleuderte sie in die Enttäuschung zurück; jedes Läuten ließ sie hochfahren, jeder Bote machte ihr Herz klopfen. Oft ging sie wie im Traum an den Briefkasten in der Wohnungstür, öffnete sie ihn, spähte, faßte sie hinein, kaum zehn Minuten, nachdem die Post gekommen war und nichts als eine gleichgültige Drucksache gebracht hatte.

Und mit dem wachsenden Verzagen wuchs ein heißer Groll gegen Bill in ihr empor. Wenn er nun einmal nichts von ihr wissen wollte, warum hatte er dann mit ihr gespielt, sie auf die Höhen des Lebens geführt, ihr den Frieden genommen?

Als vierzehn Tage vergangen waren, erfüllte sie solch ein Lebensüberdruß, daß sie für Stunden förmlich zusammenbrach. Dann saß sie einsam da, weinte unhörbar vor sich hin. Hatte sie denn alle die Frauen vergessen, strahlend in Jugend und Schönheit? Was hatte sie auch den ganzen Abend zu sagen gewußt? »Ja«, und »danke« und »wunderbar«! Immer kleiner kam sie sich vor, immer unwürdiger dünkte sie sich, wie ein armes Menschenkind, dem das Leben die Augen öffnet, dem die Märchen der Jugend zerrinnen.

Und immer mehr wuchs in diesen Wochen die Entfremdung zwischen ihr und Reinhold, wich Hanna vor seinen Zärtlichkeiten zurück. Reinhold empfand das in seiner leicht verletzbaren Eitelkeit doppelt bitter. Allerhand äußere Unstimmigkeiten kamen hinzu. Die Wirtschaft schleifte tatsächlich, seitdem Hanna sich so gut wie gar nicht um sie kümmerte; und so ließ denn auch Marie, das Mädchen, bald nach, wurde sie unzuverlässig, unsauber, träge. Immerfort hatte Reinhold zu tadeln. Ihm war dieser Dienstbote jetzt, wo der erste Rausch verflogen war, unbequem, eine unnütze Ausgabe, die seiner Ansicht mit daran schuld war, wenn seine Frau auf dumme Gedanken kam, sich gegen ihren Eheherrn aufzulehnen wagte.

Aber Hanna, die seine Absicht merkte, hielt dem Mädchen die Stange.

»Was ist denn nur los mit Ihnen, Marie?« fragte sie eines Vormittags, als Reinhold wieder einmal hatte auf seinen Kaffee warten müssen. »Der Herr ist außer sich.«

»Gar nichts, Frau Schneider, gar nichts,« antwortete Marie. »Bloß, wenn Sie's wissen wollen, 'nen Schatz hab' ich. Und da denkt man natürlich an den und vergißt mal die Zeit.«

»Was ist denn Ihr Bräutigam?« fragte Hanna überrascht.

»Arbeiter auf 'm Bau,« antwortete Marie stolz. »Fünfunddreißig Mark und mehr verdient er die Woche.«

Arbeiter ... Hanna verstand nicht, wie man einen solchen Menschen in schmutzigem Hemd und Holzschuhen liebhaben konnte; Bills elegante, peinlich gepflegte Gestalt stand ihr vor Augen. Doch das Gefühl der Sympathie, das eine liebende Frau mit der anderen verbindet, ließ sie wohlwollend sagen:

»Aber dafür ist doch des Abends Zeit.«

»Abends?« erwiderte das Mädchen. »Da fällt unsereins wie tot ins Bett. Abends haben nur feine Damen für so etwas Zeit.«

Hanna stutzte. Las ihr das Mädchen die Gedanken von der Stirn? Torheit! Sie beruhigte sich rasch. Aber ein leiser Stachel, eine Unruhe blieb doch zurück, die ihr das Mädchen verleidete.

Und eines Tages, als die nette alte Frau, die jeden Morgen die Zeitung brachte, erst kurz vor dem Kaffee kam, weil das Einkassieren sie aufgehalten hatte, sagte sie mit verschmitztem Lächeln zu Hanna, als wüßte sie, was vorging:

»Sie sollten lieber 'ne Aufwartung nehmen, Frau Schneider. Ich würde gern zu Ihnen kommen. Lange macht es die Marie ja doch nicht mehr.«

»Marie? Warum denn nicht?« fragte Hanna erstaunt.

»Aber Frau Schneider!« Die Frau schlug die Hände über ihrem Zeitungspack zusammen. »Das haben Sie nicht gesehen? Die ist doch schon im fünften Monat.«

Hanna fiel aus den Wolken. Und mit einmal wurde ihr klar, warum das Mädchen so nachgelassen hatte. In ihrer Überraschung ließ sie die Frau weiterreden, über ihre Verhältnisse berichten, immer wieder ihre Dienste empfehlen. Die halben Kosten, ein wenig mehr Lohn, dafür aber kein Essen und Trinken, keine Wäsche und schließlich eine Stube frei. »Glauben Sie mir, Frau Schneider, Sie werden das nicht bereuen!«

Hanna hatte Not und Mühe, sich von der Frau frei zu machen.

Aber am nächsten Tage, dem 15. Oktober, kündigte sie der Marie.

Die halbe Nacht hatte sie über diesen Entschluß gegrübelt; und ein Grund, den sie sich selbst nicht eingestand, war schließlich ausschlaggebend gewesen.

Sie hatte, wie schon so oft, an Bill, an den Opernabend und jene Frau X. gedacht, mit der Bill auf sie selbst angespielt, die Frau, der ab und zu die Welt sich auftat. Aber wie diese Frau den Käfig zu öffnen verstand, das begriff Hanna nicht; die hatte doch auch ein Mädchen, dem solche Ausgänge nicht verborgen bleiben, das in jedem Augenblick, auch wider Willen, sie verraten könnte.

Natürlich dachte Hanna gar nicht ernsthaft an sich; nur theoretisch, ganz allgemein interessierte sie die Frage.

Ob diese Frau X. ihr Mädchen ins Vertrauen zog? Nein, das hieße sich in fremde Hände geben, das wäre der Anfang vom Ende.

Aber was dann?

In einer Riesenwohnung, einem ganzen Stockwerk, wo die Dienstboten sich abends zurückzogen, wo man ungesehen die Vordertreppe hinabhuschen konnte, vielleicht ... Oder wo Mann und Frau gewohnt waren, ihre eigenen Wege zu gehen, Abend für Abend, sie hier, er da ...

Ja, solche Frau, die konnte tun und lassen, was sie wollte. Aber eine Frau Hanna Schneider, in ihrer Vierzimmerwohnung, die konnte das nicht.

Die konnte das nur, wenn sie kein Mädchen hatte.

Hanna schreckte zusammen. Sie wäre ehrlich empört gewesen, wenn jemand in diesem Augenblick ihr etwas Schlechtes zugetraut hätte; das wäre ja auch schon deshalb unsinnig gewesen, weil Bill Petersen nichts wieder von sich hatte hören lassen. Nein, dieser Traum war gründlich ausgeträumt. Aber ganz von solchen Unmöglichkeiten abgesehen, – ein angenehmes Gefühl war es nicht, sich beständig von dem Mädchen überwacht zu wissen; und selbst Reinhold hatte gerade in letzter Zeit, wo häufig Unfriede zwischen ihnen geherrscht hatte, sich darüber aufgehalten, daß man kein Wort im Schlafzimmer sprechen konnte, ohne nebenan gehört zu werden.

Wirklich, schon deshalb war eine Aufwartung bei weitem vorzuziehen. Und Hanna dachte an die alte, weißhaarige Frau, die morgens die Zeitung brachte und ihr heute über Marie die Augen geöffnet hatte. Der Mann war auf dem Holzplatz verunglückt und hatte ein Bein verloren; seitdem bezog er eine kleine Rente von fünfzehn Mark monatlich und arbeitete zu Haus für ein Spielwarengeschäft. Wie hieß sie doch? Frau ... richtig, Frau Busch. Wenn die vormittags in ein paar Stunden das Gröbste machte, das Essen aufsetzte und nachmittags aufwusch, – viel mehr tat die Marie auch nicht.

Und als sich Hanna in ihren Kissen zum Schlaf zurechtlegte, war ihr Entschluß gefaßt.

Am nächsten Morgen, als sie Reinhold vorsichtig von ihrem Plane Mitteilung machte, stimmte er triumphierend zu. Der Sieg der Intelligenz über die Unvernunft! Und in längeren Ausführungen wies er ihr nach, daß – ganz abgesehen von der Unmoralität dieses Falles, die ja entscheidend sein müsse – die Frau nur fähig sei, auf Umwegen, unter beständigem Schwanken die Erkenntnis zu gewinnen, die für den klar denkenden Mann von vornherein gegeben ist.

Ende Oktober zog Marie mit ihrem Korbe unter Assistenz ihres Bräutigams in einen neuen Dienst, und Frau Busch trat ihr Amt an.

Schon nach wenigen Tagen stand es für Hanna fest: Diese Frau Busch war das große Los. Wenn die auf ihren kurzen Beinen, die saubere, blaue Schürze über dem stattlichen Leib, mit den freundlichen, wasserhellen Augen in dem pausbäckigen Gesicht vor einem stand, ein breites Lächeln auf den Lippen, dann mußte man zu ihr Vertrauen haben, ihr gut sein. Und wie packte die alles an! Dagegen war ja die Marie die reinste Schnecke gewesen. Noch eins kam hinzu, was Hanna die Frau sympathisch machte: Wenn Reinhold einmal seiner üblen Laune nachgab – und das geschah ja jetzt häufiger als sonst und konnte Frau Busch natürlich nicht auf die Dauer verborgen bleiben –, so sagte diese zwar nichts, aber die Art, wie sie an solchen Tagen in niederschmetternder Würde um den Hausherrn einen Bogen machte, sprach doch Bände. Vom ersten Tage an hatte Hanna das ihr wohltuende Gefühl, daß diese Frau Busch mit dem Herzen auf ihrer Seite stand.

Noch mehr aber, als an ihrem Verhalten, erkannte Hanna das an ihren Taten. So oft Frau Busch sie mit einer gröberen Arbeit beschäftigt sah, trat sie energisch dazwischen, nahm ihr Besen oder Eimer aus der Hand und sagte in ihrer bestimmten, jeden Widerspruch ausschließenden Art:

»Nein, Frau Schneider, lassen Sie das nur hübsch, das mach' ich schon selbst. So etwas verdirbt Ihnen bloß die Händchen.«

Und von Tag zu Tag begann Hanna sich mehr an das selbständige Eingreifen der Frau zu gewöhnen, sich völlig auf sie zu verlassen; ganze Vormittage saß sie im Schlafrock in den Stuben umher und dachte über sich und Bill nach, bis Frau Busch, walkürengleich auf ihren Besen gestützt, vor ihr auftauchte.

»Da draußen der graue Rock, Frau Schneider, der ist aber schon höllisch blank. Den können Sie nächstens als Spiegel in den Salon hängen. Wollen Sie den wirklich noch tragen?«

Und in dem Gefühl, daß Frau Busch über ihre Verpflichtungen hinaus für sie sorgte, schenkte ihr Hanna den Rock.

Aber wo Licht, da ist auch Schatten. Eine Eigenart hatte Frau Busch, an der sie zähe festhielt. Sie sollte nach der Vereinbarung mittags um zwei gehen; aber sie wirtschaftete und wirtschaftete jeden Tag so lange, bis es drei, knapp vor Reinholds Eintreffen wurde. »Mein Robert,« sagte sie beruhigend zu Hanna, »der steckt sich den Kocher an, dann hat er sein bißchen Futter fertig.«

Hanna merkte natürlich, daß die Frau sich bei ihr mit durchaß; und bald machte diese auch kein Hehl mehr daraus: »So eine alte Frau, wie ich, was braucht die denn mehr wie 'n Piepmatz?« Und obwohl Hanna es an ihrem Wirtschaftsgeld bald schmerzlich empfand, daß dieser Piepmatz über den Appetit eines Lämmergeiers verfügte und daß wohl auch noch das »bißchen Futter« für den Mann mitging, schreckte sie doch vor einer Änderung zurück. Die Frau war ihr so wundervoll bequem.

Aber Frau Busch hatte noch eine Leidenschaft, die sie die Zeit zum Fortgehen versäumen ließ.

Sie unterhielt sich gern, oder, genauer gesagt, sie konnte einen Menschen in Grund und Boden reden. Und wenn gegen zwei die Wirtschaft blitzblank war, das Essen auf dem Herde kochte und Hanna in ihr Schlafzimmer ging, um ein Kleid überzuziehn, da war Frau Busch nur zu gern dabei; denn dann hatte sie Hanna fest, dann konnte sie ungehindert schwatzen.

Zwar hatte Hanna in den ersten Wochen versucht, sich einzuriegeln; aber da war Frau Busch immer wieder mit angeblich dringenden Fragen gekommen, die eine längere Erörterung heischten, daß Hanna in ihrer Gleichgültigkeit gegen alles auch hier ihren Widerstand aufgab.

Und so kam es denn, daß sie sich schließlich an diese Zudringlichkeit gewöhnte, daß ihr zuletzt etwas gefehlt hätte, wenn Frau Busch nicht, die Polsterhände über den stattlichen Leib gekreuzt, Hannas Ankleiden mit ihren munteren Reden begleitet hätte.

»In Stralsund sind Sie geboren, Frau Schneider? Wo liegt denn das Nest, wenn man fragen darf, wohl da oben in der Wasserpolackei? Ich für meine lumpige Person, ich kann mir gar nicht vorstellen, daß einer nicht mit Spreewasser getauft ist. Berlin, das ist für mich das höchste der Gefühle. Wenn ich hier mal durch den Tiergarten oder die Linden lang bummle, dann sag' ich mir immer: Das ist dein Berlin, dein Goldfischteich, dein Alter Fritz! Und kommt nach der Parade das vierte Garderegiment durch die Blumenthalstraße zurück, mit Glockenspiel und Schellenbaum, einer von den Bengeln immer strammer als der andere, – Frau Schneider, dann lacht mir heute noch das alte Herz im Leibe, als ob sie alle meine eigenen Jungen wären. Man hat ja doch auch so seine Erfahrungen. Denn das kann ich Ihnen wohl sagen,« – ihre Augen glitzerten unter dem weißen Haar – »hinter mir waren sie her, wie der Teufel hinter der armen Seele.«

Frau Busch schnappte nach Luft.

»Nein, Frau Schneider,« ging es dann weiter, »was Sie aber für einen netten Arm haben. Genau so wie meiner, als ich noch jung und pummlich war. Überhaupt, das muß Ihnen der Neid lassen, wie aus 'm Ei gepellt! Der Herr Schneider, der kann lachen! Bloß, – ich möchte mir nicht den Mund verbrennen, aber ich glaube, der weiß gar nicht so recht, was er an Ihnen hat. Sonst würde der nicht immer wie sieben Tage Regenwetter herumlaufen. Meinen Sie nicht, Frau Schneider, der Herr ist ein bißchen zu knurrig für Sie? Sie müßten so einen Schneidigen haben, einen, der seinen Spaß mit Ihnen macht. Aber da sitzen Sie nun hier, immer zwischen den vier Wänden, ohne was vom Leben zu haben. Schön ist anders, das weiß der liebe Gott. Zum Fliegenfangen ist immer noch Zeit, wenn man seine sechzig auf dem Buckel hat. Warten Sie doch, Frau Schneider, ich hak' Ihnen schon zu. Wozu bin ich denn hier? Wahrhaftig, so 'ne Schultern, da muß ja 'ne Mannsperson gleich 'reinbeißen ...«

Tag für Tag ging so das Geschwätz, höhlte der Tropfen den Stein; Tag für Tag verstärkte sich das Gefühl in Hanna, daß sie zu bedauern sei, daß ihr Mann ihr nicht gerecht werde, daß sie ein besseres Los verdient habe. Und mit diesem Empfinden, nicht richtig gewürdigt zu sein, sich fortgeworfen zu haben, nahm ihre Gereiztheit gegen Reinhold zu. Sie war jetzt vierundzwanzig Jahre alt; wie lange noch, und sie begann zu verblühen. Und wie jener Fürst die Perle lieber in das Meer warf, statt sie unter ihrem Wert zu verkaufen, so entzog sie sich ihrem Mann immer mehr, lehnte sie sich gegen ihn auf, in wachsender Entfremdung.

Allmählich glitten sie auseinander, wie Schiffe, die das Tau zwischen sich abwerfen, von denen jedes seine eigene Bahn zieht. Es wurde frostig in dem jungen Heim. Sie sprachen nur das Notwendigste, mit störrischen Augen, mit schmalen Lippen.

Und wieder, wie in Jugendtagen, flüchtete sich Hanna in das Reich der Phantasie. Nach Tisch, wenn ihr Mann schlief und keine Frau Busch sie störte, dann saß sie verträumt in ihrem Sessel; und immer neue Bilder stiegen in ihr auf, von denen niemand wissen durfte, die ihr das Blut durch die Adern jagten. In diesen Stunden, in denen sie oft ganz vergaß, wo sie war, und hin und wieder nur das Schnarchen ihres Mannes nebenan sie in die Wirklichkeit zurückrief, malte sie sich zum erstenmal den Treubruch aus. Und wenn es dann fünf schlug und sie ihren Mann weckte, wenn wieder das nüchterne Leben sie zu ihren Pflichten rief, schnürte sich ihr das Herz zusammen.

Immer trauriger, immer hoffnungsloser wurde sie. So oft sie jetzt an Bill dachte, bettelte sie stumm, mit verzagtem Herzen um ein wenig Liebe, ein wenig Glück. Sie fragte sich gar nicht, ob er ihr gut war, fragte nicht mehr nach Recht und Unrecht. Nur das eine fühlte sie in ihrer Verlassenheit, daß sie ihn liebte, daß sie zu Ende war mit ihrer Kraft, bereit, alles auf sich zu nehmen, alles für ihn zu tun.

 

Es war an einem Sonntag früh. Die Glocken riefen zum Gottesdienst. Eben, nach dem ersten Frühstück, hatte Bill die ewig fidele Erna mit der Mahnung an die Luft befördert, an heiliger Stätte ihre Sünden zu bereuen, als ihm Frau Moser einen Brief auf den Frühstückstisch legte. Denn sie brachte grundsätzlich niemals ihrem Mietsherrn in Gegenwart einer jungen Dame Briefe von weiblicher Hand.

Bill, der im bequemen Pyjama, mit sich und der Welt zufrieden, gerade im Begriff war, seine Morgenzigarette anzustecken, setzte sie erst sorgfältig in Brand und besah dann mißtrauisch das Schreiben.

Handschrift unbekannt. Poststempel Berlin W 57? Er warf den Brief wieder hin. Irgendein blödsinniges Weib, ein Anknüpfungsversuch, eine Bettelei, Antwort unter »Selige Stunden 139« postlagernd erbeten. Endlich schnitt er den Brief auf und las:

Frau X. hat nicht den Mut, sich öffentlich mit Ihnen zu treffen, aber Vertrauen genug, ein Stündchen bei Ihnen zu verplaudern. Paßt Ihnen Montag abend um neun? Sind Sie nicht daheim, so hat es nicht sein sollen. – Gruß!

Bill hatte sich nie für ein geistiges Phänomen gehalten, auch als Spiritist hatte er sich noch nicht versucht; und heute, nach der fidelen Nacht mit Erna, die programmäßig die Woche beschloß, war es durchaus begreiflich, wenn sein Begriffsvermögen eine besonders lange Leitung hatte. So war er denn auch nicht weiter erstaunt, als er sich nach einigen Minuten noch immer verständnislos auf das Blatt starrend vorfand.

Frau X ...? Frau X ...? Er führte diese bewährte Dame in allen der jeweiligen Lage angepaßten Variationen als ständige Nummer auf seiner Walze, so oft er keuschen Widerstand witterte, sobald es galt, einem holden Spatzenhirn ohne Risiko den Weg zu seiner Sünden Maienblüte zu weisen. Er hatte diese alterprobte Geschichte sogar erst vorgestern wieder bei Josty verzapft, vis-à-vis der hübschen Brünette, deren verehrte Eltern selbstverständlich gerade im Süden waren, und die ebenso selbstverständlich nach dem üblichen Schämigtun ihn dringend zum »Tee« zu sich eingeladen hatte.

Eigentlich war es doch erstaunlich, mit welcher Geschwindigkeit die Weiber bei dieser Komödie mit der Frau X. den wahren Zweck der Übung erkannten.

Wer war also diese Frau X., die da an ihn schrieb? Im allgemeinen gab er doch sein Inkognito so leicht nicht auf, da mußte er schon seiner Sache sehr sicher oder erheblich bezecht sein. Und wer von diesen wenigen mit seinem Vertrauen Begnadeten hatte die Keckheit, ohne ausdrückliche Genehmigung seinen Burgfrieden zu stören? Das wäre ja noch schöner, wenn jede Frau X. und Y. und das ganze übrige Alphabet auf seiner Bude tagen wollte! Er pflegte zwar des Montags abends auf seinem Zimmer zu essen und mit den Hühnern zu Bette zu gehen, um sich in Hinblick auf den strapaziösen Sonnabend und Sonntag für den Rest der Woche wieder »auf neu zu arbeiten«, aber das half eben nichts; morgen abend würde er, der Not gehorchend, seinen Schwerpunkt nach außen verlegen und sich solche Überfälle mit Hilfe der Frau Moser, die auf derartige Komplikationen hasenrein dressiert war, entschieden verbitten müssen.

Frau X ...? Himmeldonnerwetter, wer war die rätselhafte Anonyma, die zu nachtschlafender Zeit auf ihren X-Beinchen zu ihm hineinhuschen wollte?

Aber, – wie war das doch ...? Wie war das doch bloß gewesen? Heiliger Strohsack, hatte er diese ehrwürdige Legende damals nicht auch der züchtigen Hausfrau, der kleinen Schneider verzapft? Der ganze unbeholfene Stil, die kindliche Geheimnistuerei, und ausgerechnet der Montagabend? O jerum, jerum, da war kein Irrtum möglich, – Bill, mein Söhnchen, die Sache wird brenzlig!

Er suchte nach dem Brief, den sie ihm gelegentlich des Opernbesuches geschrieben, fand ihn aber nicht. Trotzdem zweifelte er keinen Moment mehr, daß sie die Schreiberin war. Richtig, das lila Papier, – Herr, sei mir Sünder gnädig!

Und Bill steckte sich die Zigarette, die ihm vor Schreck ausgegangen war, wieder an, legte sich auf den Diwan und beschloß, diesem höchst unangenehmen Zwischenfall ohne Überhastung, in männlicher Fassung ins Auge zu sehn.

Er war noch längere Zeit nach dem Besuch des »Bajazzo« wenig mit sich zufrieden gewesen; denn er hatte sich weiter vorgewagt, als er gewollt. Sein Urteil über Hanna Schneider hatte sich inzwischen noch mehr geklärt, stand fest: Als kleines Intermezzo, in allen Ehren – Grüß Gott, ein Kuß, und adieu! –, warum denn nicht? Aber für irgend etwas mehr war die kleine Frau denn doch zu wenig kompliziert, zu hausbacken, fehlte ihr das Prickelnde, das Paprika, das nun einmal dazu gehörte. »Den Vorsichtigen schützt Gott,« sagt der Russe; sollte er ihr also wirklich zu scharf die Cour gemacht, diese ausgefallene Selbstansage provoziert haben, so war das eben ein falscher Zungenschlag, ein ausgesprochener Kunstfehler gewesen, der sich jetzt an ihm rächte und den es schleunigst wieder gut zu machen galt.

Gut zu machen, – sehr schön, aber leichter gesagt, als getan! Vor die Tür setzen? Ausgeschlossen. Es war immerhin eine Dame, um die es sich handelte; die konnte er nicht so einfach in der von Frau Moser beliebten Form von der Schwelle des Paradieses weisen lassen. Hier galt es, Diplomat zu sein und zugleich ein strategisches Meisterstück zu liefern, den schwersten Kampf, das Rückzugsgefecht vollendet durchzuführen.

Schreiben oder »leider verhindert« drahten, ohne Unterschrift? Hundert gegen eins zu wetten, daß der ahnungslose Gatte ausgerechnet dies Telegramm, diesen Brief in die Hände bekam! Und dann hatte die kleine Schneider es auszubaden. Morgen persönlich absagen, in den Amtsstunden? Damit sie in heller Empörung die Autorschaft des Briefes ihm ins Gesicht leugnete, schon aus Ärger über die Enttäuschung, und den schönsten Krach mit dem p. p. Schneider und Dorners hervorrief, oder damit sie glückstrahlend über seinen Besuch die Extratour auf den nächsten Montag verschob? Telephonieren, unter falschem Namen oder noch besser durch Frau Moser? Aber dieser vorsintflutliche Pfahlbürger war ja überhaupt nicht angeschlossen.

Samiel hilf! Es blieb ihm wahrhaftig nichts anderes übrig, als gottergeben stillzuhalten und die fade Suppe auszulöffeln, die er sich in seinem Leichtsinn eingebrockt hatte.

Aber gerade dieses Gefühl des Zwanges steigerte seine Verstimmung zu hellem Zorn.

Wahrhaftig, die kleine Frau konnte sich freuen! Er wollte ihr gehörig die Leviten lesen, sich in pastoraler Entrüstung solchen Mißbrauch eines harmlosen Scherzes verbitten. Er, Bill Petersen, ließ sich nicht vergewaltigen, dazu war er denn doch nicht blöde genug.

Allmählich aber schwächte sich sein Zorn zu entschlossener Ruhe ab. Nein, wehtun wollte er ihr nicht. Er sah sie wieder vor sich, im Esplanade, mit ihren glückerfüllten, grauen Augen, so lieb und dumm vor dieser neuen Welt, in die sie den ersten Blick geworfen. Vielleicht auch, daß der Abend sich ganz nett anließ. Es war ja eigentlich unbegreiflich, wie dieses Schäfchen sich in voller Unkenntnis der Gefahr in die Höhle des Löwen wagte. Sehr schmeichelhaft, dieses blinde Vertrauen, aber nebenbei ein bißchen kränkend!

Doch was half das Trauern? Es gab eben keine Rettung aus dieser etwas lächerlichen Situation. Und Bill erhob sich von seinem Diwan und zitierte, in sein Schicksal ergeben:

»Tu l'as voulu, George Dandin, n'accuse que toi!«

 

Hanna hatte lange gekämpft, ehe sie den Brief schrieb, den sie selbst als unschicklich, als unerhört empfand. Aber sie ertrug die Qual der Ungewißheit nicht länger, diesen zermürbenden Druck des sich Verschmähtfühlens. Sie wollte Gewißheit haben um jeden Preis.

Und wie viele solcher Naturen, die im Grunde ihres Wesens zaghaft, unentschlossen sind, ging sie von dem Augenblick an, in dem sie sich selbst in ihren Entschluß hineingehetzt hatte, mit blinder Energie, taub gegen jede warnende Stimme in ihrem Innern vor. Kaum, daß sie sich zu dem Briefe entschlossen hatte, glaubte sie sich schon voll befugt ihn zu schreiben, rechtfertigte sie ihn eifrig vor sich selbst. Und doch war es nur ein Selbstbetrug, wenn sie sich immer wieder gelobte, daß sie sich nichts vergeben, nie bis an die Grenze gehen würde, die Recht und Unrecht schied. Denn nichts auf weiter Erde, lehrt uns Lessing, ist so geisterschnell, als der Schritt vom Guten zum Bösen, und auch das Weib, das einen Mann ansieht, seiner zu begehren, hat schon die Ehe gebrochen.

 

Hanna hatte am Sonnabend, während Reinhold schlief, das Schreiben, das sie der Schuld verfallen ließ, in scheuer Hast zum Kasten gebracht. Ein Stein war ihr vom Herzen gefallen, als sie den Brief aufprallen hörte; nun lieber ein Ende mit Schrecken, ein Verzicht für immer, als dieses endlose Harren, Sehnen, Verzagen.

Träge schlichen die Stunden, ging die Nacht vorbei, wieder ein Tag und wieder eine Nacht, dann der Montagmorgen. Im Fieber ging Hanna umher. Diesmal entschloß sie sich aus Furcht vor Reinhold, sich schon am Vormittag zu putzen, denn nachmittags konnte er sie doch überraschen, und abends nach seinem Fortgang war jede Minute kostbar. Sie hatte zwar auch Angst vor Frau Buschs neugierigen Augen und redete ihr vor, sie sei vom Onkel Dorner zum Hausball eingeladen; aber diese Geschichte kam so ungeschickt, so unglücklich heraus, daß jedes Kind die Lüge hätte erkennen müssen. Und wenn Frau Busch trotzdem nichts zu merken schien, so hatte das Hanna lediglich einem Vorfall zu verdanken, der die Frau in helle Aufregung versetzt und für alles andere blind gemacht hatte. Am selben Morgen war ein Mädchen, nur wenige Häuser entfernt, wegen Tötung ihres neugeborenen Kindes verhaftet worden, und diese Schreckenstat gab Frau Busch Gelegenheit, in übersprudelndem Wortschwall aus dem Schatz ihrer praktischen Erfahrungen zu schöpfen.

»Ja, Frau Schneider,« schloß sie endlich, »ja, was ich sagen wollte, diese Männer! Die haben es gut, – die setzen sich das Hütchen schief auf den Kopf und pfeifen sich eins beim Gehn. Und nachher sitzt so ein armes Ding mit dem Wurm da. Wenn die Mädel wenigstens noch warten wollten, bis sie verheiratet sind, dann ist's nicht halb so schlimm, dann freut sich der glückliche Vater halb tot, wie ihm der Junge aus dem Gesicht geschnitten ist; und dabei hat der die roten Haare vom Friseur nebenan und die schiefe Nase vom Fleischergesellen.«

Täuschte sich Hanna, oder klang das alles merkwürdig bezüglich? Aber ein Blick in das klare, ganz in Milde getauchte Gesicht der Frau beruhigte sie sofort. Nein, die hatte keine Ahnung von ihrem Vorhaben!

Kaum war sie Frau Busch losgeworden und hatte ihr Hauskleid übergestreift, als auch schon Reinhold aus dem Amt kam.

Er war heut seit langem wieder in glänzender Laune. Hanna traute ihren Augen kaum, als er ihr ein Sträußchen überreichte, bescheidene Zentifolien, aus denen aber doch die Liebe sprach. Lange druckste und druckste er und beherrschte sich mühsam, sein Geheimnis nicht zu verraten; nur so viel ließ er durchblicken, daß ihm etwas in Aussicht gestellt worden war, etwas lange, sehnlich Erwartetes, in Jahresfrist, vor der Zeit, als ungewöhnliche Ehrung.

Hanna wußte sofort, daß es sich nur um das Eine, Heißersehnte handeln konnte, daß Reinhold sich bald würde Rechnungsrat nennen dürfen.

Und während er sprach und sprach, selbstbewußt, hochtrabend, von des Kaisers Majestät, die wahres Verdienst zu lohnen wisse, von dem Präsidenten da oben, dem Juristen, dem Theoretiker, der auf seine Beamten angewiesen war, mit ihnen stand und fiel, während er immer stärker und stärker auftrug, bis schließlich die ganze Last des Patentamts auf seinen Schultern ruhte, blickte ihm Hanna aufmerksam in das blasse, knochige Gesicht mit dem spärlichen Schnurrbart und zurückweichenden Kinn. So also sah ein Mann aus, dessen Weib sich mit Heimlichkeiten trug, so ganz von Dünkel erfüllt, so maßlos von sich eingenommen, ohne einen Hauch von Sorge?

Und ein innerer, unbezwinglicher Drang überkam sie, ihn zu verhöhnen. Sie mußte gewaltsam gegen sich ankämpfen, um nicht ihr Kleid aufzureißen, ihm ihren Putz zu zeigen, ihm nicht ins Gesicht zu schreien: »Bist nur Bajazzo!« Eine verwegene Freude erfüllte sie, diesen aufgeblasenen, verblendeten Mann noch heute zu täuschen.

Und keine Stimme erhob sich in Hanna, um sie daran zu mahnen, was sie allein in bangem Harren schon durchlitten, seitdem sie in Gedanken mit der Sünde gespielt, keine warnende Stimme, die ihr in klaren, ernsten Worten sagte, mit welchen Dornen der Irrweg einer Frau besetzt, mit wieviel heißen Reuetränen er betaut ist.

 

Noch niemals, schien es ihr, hatte Reinhold sich so langsam zum Gehen entschlossen, wie heute abend. Wie angenagelt saß er vor seiner Zeitung und memorierte förmlich die große Rede des Ministerpräsidenten über die Gehaltserhöhung der Beamten. Endlich, endlich, als die Uhr schon auf neun ging, stand er schwerfällig auf, reckte sich, gähnte unschlüssig. Einen Moment stockte ihr der Atem, aus Furcht, daß er den Skatabend heute aufgeben könnte; und sie atmete tief auf, als sie ihn seine Zigarrentasche füllen sah. Aber noch immer wollte er nicht gehen. Erst fiel ihm ein, daß es jetzt, im November, wohl angebracht wäre, den Wintermantel anzuziehen, und sie mußte ihn aus dem Schrank holen, vom Mottenpulver freiklopfen und ausbürsten, dann hatte er vergessen, wichtige Akten in sein Zylinderbureau zu verschließen, und auf der Treppe zählte er noch einmal nach seiner Gewohnheit umständlich von eins bis fünf: Schlüssel, Geld, Taschentuch, Zigarren und Streichhölzer.

Hanna blieb horchend in der offenen Tür stehen, bis unten das Haustor hinter ihm zufiel. Dann eilte sie in das Wohnzimmer; hinter dem Store versteckt sah sie ihn quer über die Straße zur Haltestelle gehen, einsteigen, abfahren.

Und schwer atmete sie auf.

Endlich, endlich! Durch das Haustor, das sich dumpf hinter ihm geschlossen hatte, war das Glück zu ihr hinaufgeflattert.

Hastig zog sie ihr grünes Kleid über, das sie auf dem Standesamt getragen, schloß mit unsicheren Händen, so gut sie konnte, die Taille, und schon war sie in Hut und Mantel, band sie den doppelt gefalteten Schleier um, an dem jedes Berliner Kind ihr ohne weiteres ansehen konnte, daß sie auf verbotenen Wegen ging.

In der Angst, zu spät zu kommen, nahm sie ein Auto, obwohl die Straßenbahn von ihrem bis zu seinem Hause führte. Einige Nummern vor ihrem Ziel ließ sie halten. Als sie die Uhr zog, sah sie, daß noch fünf Minuten an neun fehlten; und da sie nicht auf die Minute pünktlich sein wollte, weil sie glaubte, sich damit etwas zu vergeben, ging sie in der nebligen Novembernacht unruhig auf und ab. Tastende Blicke folgten ihr, sie achtete es nicht.

Aber eine neue Sorge befiel sie. Sie wußte nicht, wieviel Treppen hoch und bei wem Bill wohnte, nicht, ob sein Name draußen an der Tür stand. Und sie wagte es nicht, den Portier noch in so später Stunde zu fragen.

Doch die Zeit drängte jetzt. Mutig trat sie in das in grauem Marmor getäfelte, mit tiefrotem Smyrnaläufer belegte Portal und stieg lautlos die Treppe hinauf.

Als sie den ersten Stock erreicht hatte, öffnete sich die Tür links. Bill stand auf der Schwelle, grüßte mit den Augen, trat zurück und ließ sie an sich vorbei in sein Zimmer treten.

Sie sah einen weiten Raum, ganz in Rot. An den Pfeilern der Fensterwand hingen militärische und studentische Waffen, dazwischen grüne und blaue Mützen und dreifarbige Bänder. An der Wand zur Rechten stand quer vor dem Schreibtisch ein Diwan mit Rauchständer, links ein gedeckter Tisch mit Teemaschine, kalten Speisen und Klubsesseln davor. Außer der Krone brannte in der Diwanecke eine rot verhängte Stehlampe. Der Fensterwand gegenüber führte neben der Tür, durch die sie eingetreten war, eine zweite in ein Nebenzimmer.

Während sie sich noch befangen in dem wohlig warmen Raum umsah, fühlte sie, wie Bill ihr den Schleier löste, die Nadeln aus dem Hut zog, ihn abnahm, ihr aus dem Jackett half.

Dann drehte er sie zu sich herum, sah ihr in die Augen und sagte gelassen, als ob das alles ganz selbstverständlich wäre:

»Willkommen, gnädige Frau!«

 

Aber diese Ruhe Bills war doch ein wenig künstlich. Auch für ihn war der Montag ein verlorener Tag gewesen, und im Geschäft hatte er an alles mögliche gedacht, nur nicht an die Konjunktur in Roggen und Weizen. Denn so ganz einfach lag die Sache mit Hanna nun einmal nicht, und mochte er noch so sehr mit allen Hunden gehetzt sein, – immerhin hatte er sich daran gewöhnt, bei jedem heiklen Entschluß erst einmal nach seinen Schultern zu lugen, ob auch die Epauletten nicht hinunterrutschten. Diesmal aber störte ihn vor allem Herr Reinhold Schneider, der Legitime, der Stoffel. Ja, wenn Bill es noch mit einem Kavalier zu tun gehabt hätte! Da blieb man auch in den Höhepunkten des Lebens hübsch korrekt, fuhr eines kühlen Morgens in den grünen Wald, da wo das Echo schallt, verließ sich getrost darauf, daß Unkraut nicht vergeht und eine Mensurpistole kein Maschinengewehr ist, und rettete allerschlimmstenfalls mit einer blauen Bohne im Leibe wieder einmal die brave Moral. Aber so ein Kanzleibonze, so ein Prolet, der einfach den wilden Mann machte und hinterrücks auf Holzkomment losdrosch? Dann ade, Ulanka und Tschapka ... Und wozu Bill sich jetzt, nach seiner Rückkehr von Tisch, entschloß, das tat er nicht, ohne sich vor sich selbst zu schämen, aber er tat es trotzdem: Er holte seinen Browning aus dem Schlafzimmer, entsicherte ihn und versteckte ihn auf dem Fensterbrett hinter dem Vorhang, da, wo der Teetisch stand und er die Waffe mit einem Griff fassen konnte.

Und in dem Gefühl, unsäglich lächerlich zu sein, so à la Tartarin de Tarascon auf der Löwenjagd, war ihm die ganze Affäre noch unsympathischer als bisher, und die Schmeichelnamen, mit denen er sich innerlich selbst belegte, hätte er sich kaum von einem anderen sagen lassen.

Er rief Frau Moser und gab ihr seine Anordnungen für den Abend: Es würde Besuch auf ein Stündchen kommen, nach dem Konzert, eine entfernte Verwandte, übrigens eine hochanständige Dame.

Obwohl die Frau den jungen Herrn inbrünstig verehrte, der ihr ohne Feilschen die beiden Zimmer abgemietet und sie so der Sorge um die Existenz enthoben hatte, konnte sie ihr Berliner Blut doch nicht verleugnen. Es ärgerte sie, daß er ihr nicht die Wahrheit sagte.

»Hochanständig, auf ein Stündchen?« antwortete sie daher. »Sieh einer an! Da klingeln Sie mir nur, wenn sie weg ist, damit ich wieder alles in Ordnung bringe.«

Und obwohl Bill ihr eindringlich abwinkte, schien sie doch wenig überzeugt zu sein.

Dieses schmähliche Mißtrauen, das im schroffen Gegensatz zu seinen tugendhaften Vorsätzen stand, trug auch nicht dazu bei, Bills Laune zu verbessern, und ziemlich deprimiert warf er sich mit einem Buch auf den Diwan.

Er legte es bald weg, die eigenen Gedanken waren zu lebhaft; ergeben schloß er die Augen und ließ dem Philosophen in ihm das Wort.

Und sprunghaft vollzog sich ein Umschwung in ihm. Leicht war der kleinen Hanna der Brief sicher nicht geworden, und schon die Ritterpflicht gebot, daß er sie freundlich aufnahm. Neugierig war er doch, was sie für ein Gesichtchen machen würde. Und langsam, Zug um Zug, wie aus dichtem Nebel, tauchte ihr Bild wieder vor ihm auf, die zierlich-runde Gestalt, die Händchen und Füßchen, die dunkelblonde Haarflut, die großen, grauen, sehnsüchtigen Augen mit ihren schwarzen Wimpern. Eigentlich, wenn er sie nicht in diesem philiströsen Milieu kennen gelernt, nicht gewußt hätte, daß sie Frau Sekretär Hanna Schneider war, hätte er sich glatt zu dieser Eroberung gratulieren können. Wenigstens, soweit ihr Äußeres in Frage kam; denn ihr Innenleben war ihm ja noch ein Buch mit sieben großen Siegeln. Vielleicht, wahrscheinlich hatte sie überhaupt keins, denn hübsche Blondinen, die geistig auf der Höhe standen, waren ihm recht selten begegnet. Aber, was die Hauptsache blieb, sie mußte etwas für ihn übrighaben, wenn sie sich ganz von selbst so artig bei ihm meldete, jetzt, wo schon Wochen vergangen waren, wo die Eindrücke der Oper, der Glanz des Esplanade nicht mehr in ihr nachzitterten. Dieser Schneider mußte doch geradezu vernagelt sein, daß er die famose kleine Frau förmlich zum Hause hinaustrieb, so daß es an und für sich fast ein Gebot der ausgleichenden Gerechtigkeit war, sie für ihr Ehemanko zu entschädigen. Und schon begann Bill in gewohntem Leichtsinn einen grandiosen Schlachtplan für den Abend zu entwerfen, der zweifellos den Sieg an seine Fahnen fesseln mußte.

Den Sieg? – Ja, welchen Sieg denn?

In dem leichtsinnigen Bill meldete sich jetzt der andere, der korrekte Bill, und begann jenem energisch den Kopf zu waschen. Was hatte er sich damals geschworen? Hatte er nicht wochenlang sich nicht gerührt, mit keinem Atemzug an Hanna gedacht? Schon diese eine Tatsache bewies, daß ihn durchaus kein Herzensdrang zu der jungen Frau trieb, daß ihn nur eine ganz verworfene Neugier plagte, wie sie sich geben und wie sie sich ergeben würde. Aber diese Neugier würde nicht befriedigt werden. Wenn eine Frau in dunkler Nacht hierher kam, ein Stündchen zu verplaudern, dann stand sie unter seinem, des korrekten Bills Schutz, und der Teufel sollte dem leichtsinnigen Bill in die Knochen fahren, wenn er das nicht zu respektieren wußte!

So kam es denn, daß Bill, als er Hanna aus Hut und Mantel half, von neuem entschlossen war, sie ganz als lady aufzunehmen, als lady zu behandeln und zu entlassen. Und restlos mit sich zufrieden, stolz auf sich als den verkörperten kategorischen Imperativ, freute er sich fast, daß sie ihm soviel Vertrauen bewiesen hatte.

Aber trotzdem war doch sein erstes, daß er den Pollux für seinen Gast zurechtschob, den breiten, viereckigen, gliederlösenden Klubsessel, der bisher sein bester Waffengefährte in jedem minniglichen Kampfe gewesen war.

Wo er auch lebte, – seine beiden Klubsessel gingen mit ihm. Er nannte sie Kastor und Pollux und wußte sie genau zu unterscheiden. Immer wieder hatte er gefunden: Kastor war der ledergepanzerte Diplomat. Er lähmte den männlichen Gegner, machte ihn verwirrt; und seitdem Bill einmal einen Freund in diesen Sessel gedrängt, um ihm drei Mille abzuborgen, und der geantwortet hatte: »Willst du fünf?«, war Kastor einfach zu einem Heiligtum für ihn geworden.

Des Pollux' Verdienste waren nicht minder groß, umfaßten jedoch ein weit zarteres Gebiet. Pollux war das roßhaargeschwellte Pendant zu Leporellos Liste, Pollux hatte noch niemals versagt, gerade weil er so viele Niederlagen erlebt hatte. Bill hatte zum Beispiel eine bildschöne Künstlerin gekannt, einen weiblichen rocher de bronce, einen lebendigen Eiszapfen; aber kaum, daß er sie in diesem Sessel sah, war sie im Handumdrehen, wie ein Eskimo im Schlafsack aufgetaut; und wenn sie ihm später gestanden hatte, er habe gerade das zweite Dutzend ihrer Liebhaber voll gemacht, so konnte das die Verdienste des Klubsessels an sich nicht schmälern.

Und erst als Hanna saß, fiel ihm ein, daß heute der Pollux ja gar keine Funktionen zu erfüllen hatte.

Das stimmte ihn wieder ein wenig traurig und ließ ihn stumm bleiben. So ganz leicht wollte er ihr übrigens den Überfall nicht machen; schließlich war ja der Abend lang genug, um auch eine anfangs frostige Stimmung zu behaglicher Wärme zu steigern.

Und jetzt sprach Hanna wirklich das erste Wort.

»Ich habe nicht viel Zeit,« stotterte sie, verlegen über ihr Haar fahrend, »ich muß gleich wieder fort.«

Bills mühsam im Laufe der letzten sechsunddreißig Stunden verlorene und wiedergewonnene Stimmung, diese selbstlose, fast onkelhaft gütige Stimmung sank mit einem Ruck unter Null. Heiliger Brahma, also auch sie! Also auch sie kam mit dieser abgedroschenen, blödsinnigen Redensart, die zweifellos schon Eva der Schlange vorgesetzt hatte, mit der jedes weibliche Wesen ihren Sündenfall einläutete. Diese verlogene, nervenreizende Phrase auch von ihr, der jungen, unerfahrenen Frau, von der er sich ungeahnte Offenbarungen der weiblichen Psyche versprochen hatte!

»Sie haben zu befehlen, gnädige Frau,« antwortete er reserviert. »Fünfzehn, zehn, fünf Minuten?«

Sie wurde sichtlich noch mehr befangen. »Es kommt darauf an, wie lange Sie mich haben wollen,« trat sie dann ihren Rückzug an.

Er triumphierte innerlich. Und, wieder besser gelaunt, erwiderte er:

»Dann bleiben Sie ewig hier.«

Es klopfte diskret, und sofort öffnete sich auch die Tür, und Frau Moser steckte ihren grauen Kopf herein. Sie war in höchster Spannung. Ein weibliches Wesen, das ihr Zimmerherr an der Tür erwartete, das mußte etwas ganz Besonderes sein!

»Herr Petersen,« fragte sie, »brauchen Sie noch etwas? Ich möchte auf einen Sprung zur Portierfrau hinunter, da ist heut das Fünfte angekommen.«

»Die junge Dame sitzt hier, verehrte Frau Moser, und Ihre Neugier ist nun wohl befriedigt,« antwortete Bill gelassen. »Meine Empfehlung an die Wöchnerin.«

Frau Moser verschwand etwas plötzlich. Und Bill stand auf und riegelte sorgfältig hinter ihr ab.

»My home is my castle,« sagte er lächelnd, während er zurückkam und sich Hanna gegenüber in den Kastor setzte. »Nun sind wir ganz unter vier Augen und wollen recht vergnügt sein.«

Sie sah ihn an, tadellos, vom cut-a-way und der hellgrauen Weste bis zu den Lackstiefeln, und sie fühlte sich von diesem eleganten, in Reichtum heimischen Kavalier förmlich erdrückt.

Sie raffte sich zusammen. »Sie sind gewiß erstaunt, mich hier zu sehen,« sagte sie befangen.

»Durchaus nicht,« antwortete er, während er ihr Tee einschenkte. »Ich habe Sie längst schon erwartet.«

»Und warum haben Sie dann nichts von sich hören lassen?« fragte sie rasch.

»Weil nur Ihr freiwilliges Kommen Wert für mich hatte,« erwiderte er.

Hanna schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht an den Wert,« antwortete sie. »Wie viele mögen schon vor mir in diesem Zimmer gewesen sein.«

»Sehr viele,« bestätigte Bill unerschütterlich. »Das Haus steht etwa zehn Jahre.«

Es ging Hanna wie ein Stich durch das Herz. Aber eine innere, wachsende Erregung ließ sie angesichts seiner Zurückhaltung in ihrer heimlichen Wunde weiter wühlen.

»Sie wissen schon, wie ich das meine,« sagte sie. »Auch wirkliche Damen?«

»Frau Hanna,« antwortete er, »das ist Geschäftsgeheimnis. Nehmen Sie doch bitte ein Sandwich.«

»Sie brauchen sich nicht zu scheuen,« erwiderte sie lebhaft. »Ich will ja doch das Leben kennen lernen.«

Bill erinnerte sich seiner guten Vorsätze. Und Onkel-Bill antwortete:

»Gnädige Frau, von dem Das-Leben-kennen-Lernen, da lassen Sie lieber Ihre niedlichen Finger fort. Es ist amüsanter, vom Ufer aus mit trockenen Füßen den Strom des Lebens im Abendsonnengolde – wie die Dichter so schön sagen – zu betrachten, als in den Schlamm hineinzusteigen und Blutegel zu säugen.«

»Aber Sie stehen doch selbst mitten darin,« erwiderte sie hartnäckig.

»Ich bin ein Mann.«

»Und ich eine Frau. Was beweist das heutzutage? Ist das nicht ungerecht?«

»Liebe gnädige Frau,« antwortete er, »eben erst wünschten Sie das Leben kennen zu lernen, und jetzt schelten sie schon und wollen es bessern. Sie sehen, man hat nichts als Ärger davon. Plaudern Sie lieber von sich.«

»Nein,« sagte sie gepreßt. »Mir sollen Sie von sich erzählen.«

»Von mir?« erwiderte er. Er sah sie an, sah die feine Falte zwischen den Brauen, die sich immer mehr vertiefte, sah ihre Augen unstet über den Teppich irren. Als alter Liebesmeteorologe kannte er diese Sturmzeichen zur Genüge, wußte er, daß Hanna jeden Augenblick losbrechen konnte. Und er hatte das beherrschende Gefühl: Bloß schwatzen und immer weiter schwatzen, bloß Herr der Situation bleiben, damit die kleine Hanna nicht Dummheiten machte. »Du lieber Gott,« fuhr er fort, »Tages Arbeit, öde Feste! Morgens geht's ins Geschäft, um den Leuten waggonweise ihr täglich Brot zu geben. Da deckt sich mein Arbeitsfeld mit dem des Zirkusclowns, der überall helfen will und überall zu spät kommt. Der Chef, Ihr verehrter Onkel, wundert sich heimlich, wenn ich nichts tue, und das Personal wundert sich offen, wenn ich mich nützlich machen will. Wahrhaftig,« antwortete er auf eine ungläubige Bewegung Hannas, »kein Mensch nimmt mich da ernst, und ich mich am wenigsten. Und nach Geschäftsschluß dieselbe Couleur in Grün, dieselbe Langeweile. Wir Petersens haben eine Fülle Beziehungen zu Berlin, und ich Unglückswurm habe tatsächlich Besuche gemacht, um meinen alten Herrn zu bestechen. Nein, diese entsetzlichen Pflichtgesellschaften von Berlin W, das können Sie sich nicht vorstellen! Diese bedauernswerten Gäste, die mit blödem Grinsen oder feierlich gekniffen umherstehen und willenlos alles über sich ergehen lassen, dieser arme, in Schweiß gebadete Wirt: ›Herr Petersen‹ ... ›Herr Petersen‹ ... ›Herr Petersen aus Hamburg‹, dazwischen unverständliche Namen, fremde Menschen, die mich mißtrauisch ansehen, als ob ich ein Hochstapler wäre, oder die mich mit krankhafter Heiterkeit begrüßen, als wollten sie sagen: Nicht wahr, mein Lieber, die Dummen werden nicht alle? Draußen vor dem Spiegel hat eine schmale Karte gelegen: Herr Petersen wird gebeten, Frau Geheimrat Ältlich zu Tisch zu führen. – ›Pardon, wer ist Frau Ältlich?‹ – ›Da drüben die Dicke in Weiß.‹ Allmächtiger! Man stürzt dem Hausherrn nach: ›Lieber Freund, einen Moment! Worüber redet man mit Frau Ältlich? Ist sie geschieden, Frauenrechtlerin, in welchem Sanatorium war sie?‹ – ›Hm,‹ sagt der, ›das weiß ich selbst nicht. Meine Schwägerin hat sie mitgebracht. Warten Sie mal, musikalisch soll sie sein.‹ – ›Aber ich nicht,‹ will ich schreien, doch der Elende hat sich schon geflüchtet. Und nun Bewegung: ›Meine Gnädigste, ... Ehre ...?‹ Gänsemarsch zu zweien, scheußlicher Platz, am halboffenen Fenster, neben der glühenden Zentralheizung. Suppe, Sherry Raya ... Und dann, auf in den Kampf! ›Anstrengende Saison dieses Jahr, meine Gnädigste. Nur die Musik ... ‹ Sie hat keine Ahnung, wer der blasse Jüngling neben ihr ist, aber sie spitzt die Ohren wie ein Kavalleriegaul beim Signal. Und schon legt sie los: ›Ach ja, die Musik ... Haben Sie vorigen Sonnabend Schulzes neue Symphonie gehört? Sie kennen doch Schulze?‹ Schulze? Keine blasse Ahnung. ›Aber selbstverständlich,‹ antworte ich frech, ›Schulze, den Meister.‹ – ›Hochheimer Kirchenstück,‹ murmelt eine Stimme, ›eigenes Gewächs.‹ – ›O Gott,‹ fährt sie fort, ›besonders der dritte Satz, das Frühlingsthema, tititi, und die Geigen als Grillen.‹ – ›Und dann die Bratschen, brumbrum, als Schmeißfliegen,‹ schreie ich auf. – ›Pommery und Greno,‹ murmelt eine Stimme, ›Goût américain ...‹ – ›Ist das nicht märchenhaft?‹ stöhnt sie und verschlingt mich mit ihren Stielaugen. – ›Ja,‹ sage ich mit eiserner Stirn, ›und dann im Finale die Flöten, piupiu, hüllülülü, einfach wunderbar!‹ – Sie hat keine Ahnung von den Flöten, aber sie jauchzt förmlich auf. ›Nein,‹ jubelt sie, ›was ich für Glück heut habe, endlich einmal ein wirklich musikalischer Mensch.‹ – Und so geht es weiter bis zur Käsestange, bis zur letzten Kraft. ›Himmel‹, sagt sie bei der dritten Banane erschrocken, nachdem sie sich zwei Stunden lang förmlich genudelt hat, ›ich darf ja nichts essen, ich soll doch noch singen.‹ Und kaum sind wir aufgestanden, so singt sie; singt zwei, vier, sechs Lieder, singt, während ich nebenan, bei Zigarette und Bier, allmählich wieder zu Sinnen komme, singt noch, während ich draußen mit einem höhnischen Blick auf die todblassen Zuhörer heimlich in meinen Pelz schlüpfe und eine der kleinen Küchenfeen zum Abschied in die Wangen kneife ... Aber Sie sitzen so traurig da, Frau Hanna, ich langweile Sie gewiß. Und ich möchte so gern ein wenig von Ihnen hören.«

In Hanna kochte ein heimlicher Zorn. Sie warf einen Blick auf die Standuhr. Es ging auf elf.

War das das Wunderbare, was sie erhofft, ersehnt, um das sie so viel gewagt, sich so viel vergeben? Diese liebenswürdige, plätschernde, gleichgültige Unterhaltung?

Und in der inneren Angst vor ihrer eigenen Schwäche, in dem dumpfen Gefühl, lächerlich zu wirken, von ihm verspottet zu werden, verlor sie noch mehr die Ruhe.

»Ich habe nichts zu erzählen,« antwortete sie nervös. »Sonst würde ich wohl kaum hierher gekommen sein, um einmal dem ewigen Einerlei zu entgehen ... was Sie gewiß sehr schlecht von mir finden ...«

»Aber gnädige Frau,« widersprach Bill, »das wird wohl jedes Menschenkind verstehen, Herrn Reinhold Schneider ausgenommen. Und, ehrlich gesagt, maßgebend ist der gerade nicht für mich.«

Hanna richtete sich so lebhaft in ihrem Sessel auf, daß Bill einen Moment glaubte, sie durch die Kritik ihres Mannes verletzt zu haben; aber er las sofort in ihren Augen, daß sie ihm beistimmte, ihren Gatten preisgab. »Ja,« sagte sie bitter, »hätte ich einen anderen Mann, so käme ich wohl kaum auf solche Gedanken.«

»Dann muß ich ihm eigentlich dankbar sein,« erwiderte Bill. Aber innerlich stöhnte er auf. Was hatte er bloß da angerichtet! Jetzt legte sie die Walze der unverstandenen Frau auf. Was bei den kleinen Mädchen, die längst alle Schulen durch waren, der skrupellose, unvergeßliche Leutnant zu sein pflegt, der die Knospe gebrochen, bevor der Sturm sie entblättert, das war offenbar für die Frau der Sündenbock von Ehemann.

»Und niemand,« fuhr die ahnungslose Hanna mit zitternder Stimme fort, »dem man sein Herz ausschütten darf.«

»Nehmen Sie mich, gnädige Frau,« schlug Bill mit seinem berühmten Augenaufschlag vor, der schon oft den blassen Neid seiner Rivalen erregt hatte, – hinunter, jetzt hoch, bis drei gezählt, langsam zur Hälfte sinken lassen!

Aber es war in diesem Augenblick doch nicht ganz Mache bei ihm; denn jedesmal, sobald die kleine Frau ein wenig Temperament zeigte, wurde ihm warm, ließ er in momentaner Aufwallung die Zügel seiner oheimlichen Würde schleifen. »Nehmen Sie mich,« wiederholte er herzlich. »Ich bin ja freilich heute in einer Situation, die für mich ebenso neu wie unbequem ist: Ich darf Ihr Vertrauen nicht täuschen. Sonst – ich meine, wenn Sie so ein Mädelchen wären, das keinem Rechenschaft schuldet und keine verlangt – sonst nähme ich Sie wahrhaftig jetzt glatt beim Schopf und sagte: ›Komm, kleine Hanna – oder Käthe oder Lilly – setz' dich hierher und rede dir das Herzchen frei. Und wenn es frei ist, dann schenkst du es mir.‹ Aber bei Ihnen, gnädige Frau, verbietet das leider der Respekt. Ich bin heut so ein moderner Tantalos, der über sich selber weinen möchte.«

Wieder fühlte sie den Stich tief da drinnen. Sie sagte sich wohl, daß er nicht anders konnte, daß sie ihm dankbar sein mußte für die Zurückhaltung, die er bewies. Aber gerade dieses Gefühl, daß er recht hatte, daß sie nichts anderes erwarten durfte, machte sie nur noch unglücklicher.

Gewaltsam beherrschte sie ihre Enttäuschung. Und wie um sich vor sich selbst zu schützen, erhob sie sich, ging sie im Zimmer umher und betrachtete den Schmuck der Wände, die Waffendekorationen, die Gruppenbilder der Offiziere, den hohen Chef der Stader Ulanen zu Pferde, in Parade hinter ihm das Regiment; drüben, über dem Diwan, hing ein Männerkopf, die Stuartkrause um den Hals, mit ausgearbeiteten Zügen, die Hanna sofort an Bill erinnerten, – zweifellos der Herr Senator.

Sie ging langsam weiter. Ein langer, an der Wand hängender Bilderständer aus weißem, bronzebeschlagenem Leder mit kupferfarbenen Seidenschlitzen, in denen eine Fülle von Photographien steckte, fiel ihr auf.

»Darf ich?« fragte sie über die Schulter.

»Ich bitte,« antwortete er lakonisch. Onkel-Bill hatte nichts dagegen, wenn sie die Bilder sah. »Das ist ein Denkmal,« fuhr er mit leisem Spott fort, »mir zum Ruhme, den Gefallenen zum Gedächtnis.«

Hübsche blutjunge, fesche Mädchen, in Jackett und Hut, in Bluse und Rock, in Kostüm und Trikot, Brustbilder mit nackten Schultern, die das Kleid in ihrer Verlängerung erhoffen ließen; und überall: Ihrem lieben Bill, Annie ... Zur Erinnerung an unvergeßliche Stunden, Lola ... Dein für ewig, Liselotte ...

Mit zugeschnürter Kehle stand Hanna vor diesen Bildern. Eine blinde Eifersucht schlug in ihr hoch, und mit ihr ein hilfloses Verzagen. Alle diese süßen Geschöpfe hatten ihn geliebt, hatte er im Arm gehabt, konnte er jeden Tag wieder herzen und küssen. Was wollte sie denn hier, was erhoffte sie von ihm? War sie schon so weit, daß sie um eines Mannes Liebe bettelte, bereit, sie mit anderen zu teilen?

Sie straffte sich auf, ging quer durch das Zimmer. Vor der weißlackierten, mit kleinen Scheiben versehenen Tür, hinter der eine dicht gezogene Gardine den Einblick verwehrte, blieb sie stehen.

Er sah ihr nach. Er wußte, was kam, wußte, daß diese Tür noch jede magnetisch angezogen hatte.

Sie zögerte. Sie fühlte, sie war im Begriff etwas zu tun, dessen sie sich hinterher schämen würde. Aber der unsägliche Rückschlag, mit der dieser Abend für sie verknüpft war, diese völlige Passivität Bills, die wie ein Vorwurf auf sie wirkte, die Hoffnung, ihn noch in letzter Minute zu irgendeiner Äußerung, einer Tat zu drängen, die sie vor sich selbst rechtfertigte, ihn an sie band, peitschte sie vorwärts.

»Darf ich?« fragte sie zum zweitenmal, die Hand auf der Klinke.

Und wieder antwortete er: »Ich bitte.«

Er stand auf, folgte ihr, knipste das Licht an.

Hanna trat nicht in den Raum, sie blieb wie festgewurzelt an dem Türpfosten stehen. Ihre Augen glitten unsicher über die grauen, glatten Tapeten, die graugrünen Zedermöbel, die gelbseidene Steppdecke. Und langsam fühlte sie es wie eine Lähmung zu den Knien aufsteigen, höher und höher, bis an das Herz. Einen Schritt nur hätte er vorzutreten, ein liebes Wort zu schenken, sie an sich zu nehmen brauchen, und sie wäre ihm gefolgt, willenlos, bis ans Ende.

Aber er regte sich nicht, er sprach das Wort nicht.

Sie wandte sich zu ihm. Und tonlos sagte sie: »Ich muß jetzt fort.«

Er machte keinerlei Einwendung, obwohl er über ihr Aussehen erschrocken war. Das Licht abdrehend, trat er zurück und antwortete einfach:

»Ich bringe Sie selbstverständlich heim.«

Aber kaum saßen sie beide im Auto und jagten den Kurfürstendamm hinab, als Hanna die Kräfte verließen. In nervösem Niederbruch sank sie zusammen, brach sie in heißes Weinen aus.

Er war darauf gefaßt gewesen. Er legte den Arm um sie, richtete sie auf, stützte sie. Und impulsiv beugte er sich zu ihr und küßte sie.

Kein Wort fiel zwischen ihnen; erst als sie sich der Potsdamerstraße näherten, fragte sie in flehendem Ton:

»Darf ich denn wiederkommen?«

Bill wagte es nicht, ihr neuen Schmerz zuzufügen. Und seinem Mitleid nachgebend, seine Vorsätze verleugnend, antwortete er:

»Auf nächsten Montag.«

 

Buß- und Bettag. Ein klarer, wunderschöner Novembervormittag.

»Baby, benimm dich!«

Die niedliche Kleine, die auf Bills Diwan herumturnte und vergebens mit ihren Füßen zur Zimmerdecke hinaufzulangen suchte, wandte den Kopf zu ihm herum.

»Wir sind doch hier in keinem Nonnenkloster,« trumpfte sie auf.

»Nein,« antwortete Bill, während er nach beendetem Frühstück die Zeitung auseinanderfaltete. »Sonst wäre dein äquilibristisches Bemühen, in den Himmel zu kommen, normal.«

»Äqui ... äqui ...« wiederholte Erna pikiert; sie witterte hinter jedem Fremdwort eine Kränkung. Und mit erneutem Eifer nahm sie ihre Versuche auf, so daß ihre schlanken Beine immer bedenklicher zur Geltung kamen.

»Sag mal, Baby,« setzte Bill nach längerem Schweigen seine pädagogischen Versuche fort, »hast du vielleicht zufällig einmal von weiblichem Schamgefühl gehört?«

»Jawohl,« triumphierte sie, »das kennen wir. Das haben die, die selber 'nen Schreck kriegen, wenn sie sich ausziehn.«

»Und zu denen rechnest du dich nicht?« fragte er weiter.

»Bill,« antwortete sie mit Nachdruck, die Beinchen vor Überraschung starr in der Luft, »wahrhaftig, du verblödest von Tag zu Tag mehr.«

Er gab, in die Militärdebatte sich vertiefend, keine Antwort. Lichtblau zog der Rauch seiner Zigarette über den Frühstückstisch.

Erna wandte den Kopf zu ihm. »Du, Bill,« sagte sie nach einer Weile ganz vorsichtig, »hast du vielleicht zufällig einen hübschen Winterhut bei dir?«

»Draußen hängen drei oder vier,« antwortete er ohne aufzublicken, »suche dir einen aus.«

»Stell' dich doch nicht so an,« entrüstete sie sich, »'nen Damenhut natürlich.«

»Da mußt du Frau Moser fragen,« erwiderte er mit gleichem Ernst.

Die kleine Erna überlegte. Auf diese Art war ihm offenbar nicht beizukommen. Merkwürdig, wie dieser Bill manchmal das Geld mit vollen Händen ausgab und manchmal mit dem Pfennig rechnete. Und außerdem hatte er sich ein für allemal Extraforderungen verbeten. Aber sie wußte, wie sie ihn zu nehmen hatte.

Sie stand auf, zog sich stumm an und trat in Jackett und Hut vor ihm hin. Als guterzogene Tochter hielt sie streng darauf, an Sonn- und Feiertagen von ihren Ausgängen am Vorabend pünktlich zum Mittagessen heimzukehren.

»Bill,« sagte sie schmeichelnd.

»Hm,« brummte er.

»Baby hat Angst.«

»Wovor?«

Sie nahm einen Anlauf. »Daß du mir die fünfzig Mark für den Hut nicht gibst.«

Er sah von seiner Zeitung auf. »Die laß dir nur in den Lichtspielen schenken,« entgegnete er trocken.

Erna prallte förmlich zurück. »Warst du auch da?«

»Vermutlich,« erwiderte er.

»Und hast den Einzug gesehen und die Tintenfische und den Einbrecher?«

»Den Einzug und die Tintenfische und den Einbrecher und den langen blonden Lümmel neben dir.«

»Den hab' ich gar nicht gekannt,« antwortete sie etwas zu hastig. »Kein Wort hat der mit mir gesprochen.«

»Bloß weggegangen ist er mit dir.«

»Nein, kannst du aber lügen!« Sie ließ entsetzt ihren Schirm fallen. »Übrigens war es kein Lümmel, sondern ein Graf, von den Kürassieren.«

»Woher weißt du denn das?« fragte er rasch.

Die kleine Erna wurde feuerrot und bückte sich schnell nach ihrem Schirm. »Den kennt ja jeder in Berlin,« sprudelte sie dann los. »Der ist doch überall Stammgast. Das ist ein feiner, netter Mensch, und du, du bist ein Greuel. Immerfort hackst du auf mir herum. Früher, da warst du ganz anders, da fandest du alles entzückend. Und dabei lasse ich mir jetzt die Beine manikuren, für die neue Revue.«

»Und die Hände pedikuren?« fragte er, ohne zu zucken, zurück.

»Und die Hände, jawohl,« antwortete sie ahnungslos. Sie griff in Bills Dose auf dem Rauchtisch und steckte sich eine Zigarette an. »Und jetzt geh' ich und rede kein Wort mehr.«

»Der Weg zur Hölle ist mit guten Vorsätzen gepflastert,« entgegnete er skeptisch.

»Selber bist du gepflastert,« erwiderte sie und setzte sich plötzlich auf seinen Schoß. »Lieber, süßer Bill, du bist ja doch mein Einziger. Gibst du mir die fünfzig Mark?«

Er schob sie von sich fort. »Ich habe dir schon hundertmal gesagt, Baby,« antwortete er, »ich liebe diese Manieren der landwirtschaftlichen Woche nicht. Wenn du dich da drüben anständig hinsetzest, soweit dir das möglich ist, und fünf Minuten deine Plappermühle hältst, dann wollen wir weiter sehn.«

»Weiter?« fragte Erna, gehorsam zum Diwan zurückkehrend. »Also noch weiter als fünfzig Mark?«

»Jetzt rede ich,« sagte er, ohne auf den Wink zu reagieren, »und du schweigst. Ich muß dir bis auf Widerruf für Montag abend Urlaub geben.«

Erna fuhr erstaunt hoch; aber er hob den Finger gegen sie, und sie setzte sich wieder, vornübergebeugt, sichtlich gespannt.

»Ich könnte dir ja vorlügen, daß ich in Stade üben muß oder sonst eine Reise vorhabe. Aber wozu? Wir würden uns ja doch einmal in diesem Bierdorf Berlin begegnen. Und außerdem bist du mir Dienstag bis Sonntag leider nun einmal als Zeitvertreib nicht ganz unentbehrlich. Machst du mir keine Späne, so kriegst du jetzt fünfzig für den Hut und fünfzig, wenn ich das Abkommen aufhebe.«

»Erlaube mal,« unterbrach sie ihn atemlos, »außer meinem Monatsgeld?«

»Außer,« bestätigte er würdevoll.

»Nobel,« erklärte sie in ehrlicher Überzeugung. »Aber was hast du denn bloß aufgegabelt? Eine richtige Dame?«

»Geraten,« antwortete er. »Eine platonische Liebe.«

»Pla ... tonisch,« wiederholte Erna mißtrauisch. »Was ist denn das nun wieder?«

»Es hat keinen Zweck, es dir zu erklären,« erwiderte er. »Es liegt außerhalb deines Verständnisses, theoretisch und praktisch.«

Erna dachte einen Augenblick nach. »Die war also vorigen Montag schon hier,« fuhr sie dann scharfsinnig fort, »als angeblich dein Vater dich besuchte.«

»Das war sie,« gab Bill gleichmütig zu.

»Na, – und?«

»Ich sagte schon, liebes Kind,« antwortete Bill betont, »eine tugendhafte Dame, mal was anderes.«

Erna schüttelte den Kopf. »Ich glaube, Bill, du wirst recht alt,« stellte sie betrübt fest. »Auf so was fällt doch nur ein Hamburger rein.«

»Wer wollte denn den Mund halten?« fragte er.

»Fünf Minuten,« erwiderte sie. »Aber du hast ja schon zehn geschwatzt. Bill, laß bloß den Unsinn sein, etwas Anständiges paßt ja gar nicht zu dir.«

Er lächelte über ihre unbewußte Selbstkritik. »Zurück,« zitierte er, »du rettest den Freund nicht mehr.«

»So rette das eigene Leben,« antwortete sie schlagfertig. »Ich habe auch Schillern gehabt, auf der Schule, und dann zur Einsegnung mit Goldschnitt. Gib mal dein Portemonnaie her, – zwanzig, vierzig ... fünfzig, stimmt! Adieu, Bill, – also um sechs heute abend?« Sie küßte ihn dankbar. » Das Vergnügen hättest du übrigens bei mir billiger haben können.«

Und wie ein Wirbel war sie hinaus.

Wieder kam der Montag Morgen, der Mittag, der Abend.

Hanna hatte es sich nicht versagen können, Bill noch einmal zu schreiben, damit er bestimmt daheim blieb.

Als sie im Dunkeln ihr Haus verließ, glaubte sie Frau Busch vor der Tür zu erkennen. Sie wandte hastig den Kopf, obwohl sie sicher war, sich getäuscht zu haben; was konnte die Frau noch um neun auf der Straße suchen? Und doch wurde Hanna die innere Unruhe erst los, als sie die Treppe zu Bill hinaufstieg.

Auch heute erwartete er sie bereits an der Tür.

In seinem Zimmer dasselbe Bild, rot in Rot, die Bilder, die Waffen, der gedeckte Tisch. Nur eins war anders, ein Sektkühler mit goldgekapselten Flaschen an Stelle des Tees. Bill hatte an das Esplanade gedacht, an eine kleine, leichtbeschwipste Frau, an das herzliche Wort: »Ich glaube, Sie sind gut,« und wenn auch noch immer unerschütterlich in seinen Vorsätzen, war er des trockenen Tons doch satt und spürte wenig Lust nach einer zweiten Auflage des nüchternen vorigen Montags.

Und noch eins war neu: Heute, als er ihr aus ihrem Mantel herausgeholfen hatte, küßte er sie gleich; er wollte sie nicht glauben lassen, er habe es das letztemal aus reinem Mitleid getan. Sie hatte kühle Lippen, wie weicher Samt, es tat ihm wohl, sie zu küssen, und sie wehrte ihm nicht.

Er schwankte einen Augenblick, dann setzte er sie doch in den Pollux. »Sind Sie gut hergekommen, Frau Hanna?« fragte er.

»Ja,« antwortete sie mit glücklichem Lächeln. Zum erstenmal hatte er sie beim Vornamen genannt. »Ich danke Ihnen.« Aber sie wußte kaum, was sie sprach, sie achtete nicht, wie er ihr Sekt eingoß. Sein Kuß brannte auf ihrem Munde, in ihren Adern. Tief in den Sessel zurückgelehnt, starrte sie benommen vor sich hin.

Er sah ihre Erregung nicht ungern. Er hoffte, nun nicht wieder den Zeiger der Uhr verfolgen und sinnlos reden zu müssen, bis sie sich endlich zum Gehen entschloß. Er hoffte Leben um sich zu haben, sich zu amüsieren, hoffte zu sehen, was denn eigentlich in der kleinen Frau steckte, – natürlich bis zu der Grenze, die er sich gesetzt. Nur bis zur Grenze!

»Wie lieb von Ihnen,« sagte sie jetzt, »daß Sie mich wieder erwartet haben. Und mein Brief«, setzte sie mit einem Gedankensprung hinzu, »war gewiß recht töricht.«

»Töricht?« antwortete Bill mit gutgespielter Entrüstung. »Herzig war er, trotz der feierlichen Anrede: Sehr geehrter Herr Petersen! Also zunächst mal, geben Sie mir Ihr Wort, schreiben Sie nie in Ihren Briefen meinen Namen. Bloß keinen Namen,« wiederholte er, »das predigt mir jedes Frühjahr mein rechter Arm.«

»Ihr Arm?« fragte Hanna verwundert. »Erzählen Sie doch, bitte.«

»Ja, mein Arm,« antwortete er zögernd, »Gott sei's geklagt. Schenken Sie mir die dumme Geschichte,« setzte er abwehrend hinzu. »Viel Ehre hab' ich dabei nicht eingelegt.« Er schwieg. Aber als er ihre Augen in neugieriger Spannung auf sich gerichtet sah, berichtete er doch.

»Also ich sitze vor einigen Jahren als bemoostes Haupt abends im Münchener Hofbräugarten. Mit einmal eine Stimme: ›Hallo, Petersen!‹, – ein Freund aus der Heidelberger Fuchsenzeit, gegen den ich meine erste Mensur geschlagen. Und wir sitzen und kneipen bis in die Mitternacht und reden von goldenen Jugendtagen und fröhlichen Sommernächten auf dem Neckar.

›Und die lieben, kleinen Mädchen,‹ sag' ich schließlich gerührt, ›die Toni Waller und Grete Merz und Ilse Velten – ‹

›Ilse Velten?‹ wiederholt der da drüben gedehnt.

›Weißt du nicht mehr?‹ antworte ich Unglückswurm, ›der niedliche Fratz mit schwarzem Zopf und weißem Hals und roten Lippen, den wir die Flagge getauft hatten? Herrgott, konnte das Mädel süß küssen!‹

Der mir gegenüber steht ruhig auf. Und dann sagt er langsam, mit Worten, die wie Blei fallen: ›Fräulein Ilse Velten ist meine Braut. Und Sie, Herr, Sie sind ein Lump‹.«

»Und?« fragte Hanna gespannt.

»Ich hatte nicht gelogen,« antwortete Bill ernst. »Ich konnte also nicht zurück. Wir schossen beide zugleich. Er trug mir die Kugel an, in den Arm –«

»Und?« Hanna fragte es wieder, mit verhaltenem Atem.

Bill reckte sich auf, als scheuche er eine lästige Erinnerung fort. »Vier Monate habe ich auf Ehrenbreitstein gesessen,« lenkte er ab, »dann hat mich ein Hoher Senat losgebettelt.«

»Und die beiden haben sich geheiratet?«

»Nein,« antwortete Bill, die Sektflasche öffnend und die Gläser füllend, »die beiden haben sich nicht geheiratet. Also abgemacht?« fuhr er fort. »In Briefen reden wir anonym, und in Gegenwart Dritter sind wir uns Luft. Und kommen Sie nie zu mir, ohne eine Ausrede bereit zu halten. Haben Sie keine Freundin, bei der Sie prinzipiell gewesen sind, falls Ihr Mann doch einmal Lunte riecht?« Er hatte mit dieser Frage einen bestimmten Zweck im Auge, er wollte sie auf die Gefahr aufmerksam machen, die sie lief, und über die sie sich sichtlich nicht klar war, wollte ihr nahelegen, diese Montagsepisoden nicht chronisch werden zu lassen.

»Nein,« antwortete Hanna betrübt. »Ich habe keinen Menschen.«

»Schade,« erwiderte er. »Es ist eine alte Erfahrung: Man fällt nie sicherer hinein, als wenn man kein Unrecht begeht. Und das wollen wir beide doch nicht, Frau Hanna?«

Sie riß nervös an ihrem Taschentuch. »Und trotzdem haben Sie mich geküßt?« fragte sie mit erlöschender Stimme.

»Ja,« antwortete er ohne Besinnen. »Und gerade daran können Sie sehen, wie hohe Zeit es für uns ist, vernünftig zu werden. Sie sind die Frau eines anderen, und ich bin Ihr guter Kamerad. Und so soll es bleiben, nicht wahr?«

In ihrem Kopf jagten sich die Gedanken. Jetzt wußte sie es: Er verschmähte sie, weil sie Reinhold angehörte.

»Und wenn ich noch unverheiratet wäre?« fragte sie.

Sie sah, wie seine Augen eine Sekunde aufflammten, wie er die Lippen öffnete und wieder schloß.

»Und wenn ich frei wäre?« wiederholte sie. Ein Zittern durchlief sie.

Er zuckte die Achseln. »On n'est jamais le premier,« sagte er mit tiefem Bedauern. »Übrigens,« lenkte er in gewaltsamer Beherrschung plötzlich ab, »ehe ich es vergesse: Die Ausstellung am Zoo, – einfach wundervoll. Tout Berlin war schon da. Die müssen Sie sich mit Ihrem Mann ansehen.«

»Mit Ihrem Mann ...« Wie eiserne Bänder, die langsam zugeschraubt wurden, legte es sich um ihre Brust. Kein Zweifel, über den Gatten kam Bill nicht hinweg, Reinhold stand zwischen ihnen. Reinhold, der ihr den Käfig ihrer Jugend nur geöffnet, um sie für Lebenszeit in das dunkle Verlies der Ehe zu sperren, ihr Sonne, Luft und Freiheit zu wehren; Reinhold, der um sie geworben, sie heimgeführt hatte, nüchtern, pedantisch, freudlos, als ob er seines Amtes beschworene Pflichten erfülle, der nichts wußte von Märchenträumen, von Frauensehnsucht und Lebensdurst, um den niemals die Welt versunken war, Ort und Zeit und Alltag und Sorge, der nie ein junges, geliebtes Weib an sich gerissen, in taumelndem Glück, in jauchzendem Vergessen, in Seligkeit der Seligkeiten.

Und in dieser einen Sekunde keimte und wuchs der Haß gegen ihren Mann in ihr auf, ein trauriger, verbitterter, verzweifelter Haß, und trug seine Frucht. Die Frucht des Hasses aber ist die Rache. Sie konnte nicht anders, – sie mußte sich an Reinhold rächen. Sie mußte Bill sagen, wie gleichgültig der ihr war, wie wenig er ihnen im Wege stand. Sie mußte es tun, schon um sich vor Bill zu rechtfertigen, ihn ihren Schritt begreifen, verzeihen zu lassen.

»Mit meinem Mann?« antwortete sie wegwerfend. »Hab' ich denn einen Mann? Geben Sie mir bitte noch Wein. Mein Mann kümmert sich so wenig um mich, wie ich um ihn. Der schuftet bei Tag und schnarcht bei Nacht.« Sie lachte verächtlich auf und goß das Glas hinunter.

Sie frohlockte innerlich, daß sie das so fein gesagt hatte. »Wenn der seinen Skat hat,« fuhr sie herb, mit heiserer Stimme fort, »weiter braucht der zu seinem Behagen nichts.«

Und wie Bill jetzt vor Hanna stand, fühlte er mit untrüglicher Witterung das Fluidum, das unsichtbar wie ein elektrischer Strom vom Weibe zu dem Manne hinübergeht, den es begehrt, fühlte er, daß es diesmal Ernst war, daß sich die junge Frau ihm restlos darbot. Und er nahm sich vor, doppelt vorsichtig zu sein.

Aber er war auch nur ein Mensch. Und die klägliche Rolle, die er ihr gegenüber spielte, pflichtgemäß spielen mußte, irritierte ihn. Er litt unter diesem fremden, ungestümen Willen, der an ihm zerrte. Und schon war sein Plan gefaßt. Er war des zwecklosen Spiels müde, das sie mit ihm trieb. Er wußte, die beste Parade war der Hieb; er wollte, seiner eigenen Nerven sicher, durch seinen ironischen Spott die ihrigen bis zur Besinnungslosigkeit reizen, bis sie die Haltung verlor, einen Streit mit ihm begann. Und dann wollte er schleunigst den Tiefverletzten, Unversöhnlichen markieren, dann würde er sie endlich, endgültig los werden ... obgleich – sein Blick glitt an ihr herab, von dem blonden Schopf bis zur Spitze des kleinen Schuhes –, obgleich es eigentlich verdammt schade war.

Er richtete den Angriff gegen den Punkt, den er als ihren schwächsten erkannt hatte.

»Vielleicht, daß Ihr Mann Sie nicht mag,« sagte er flüchtig.

Wie ein Blitz richtete sie sich in ihrem Sessel auf. »Mich nicht mag? Er? Warum denn?«

Bill zuckte die Achseln. »Meine liebe Frau Hanna,« sagte er, den Pfeil, der sie sichtlich getroffen hatte, noch tiefer eindrückend, »wer kann das wissen? Die Geschmäcker sind eben verschieden. Ein Mann mag ein wahrer Adonis sein, und doch will eine bestimmte Frau nichts von ihm wissen; und eine Frau kann ein Engel an Schönheit sein, und dieser oder jener möchte sie nicht mit dem Finger berühren. In der Liebe ist ja nur das sicher, daß nichts sicher ist. Vielleicht« – er sprach es scherzend, aber jedes Wort berechnend – »vielleicht, daß Sie bei allen Ihren Vorzügen gerade seinem Ideal nicht entsprochen, ihm eine Enttäuschung bereitet haben.«

Sie fuhr verletzt hoch. »Das ist unmöglich,« beteuerte sie.

»Ich sage ja nur ›vielleicht‹,« antwortete er, immer ruhig, »ich denke ja gar nicht im Ernst daran. Kommen Sie, Frau Hanna, seien Sie vergnügt, auf Ihr Wohl!«

Sie trat an den Tisch und leerte ungestüm ihr Glas. »Das ist häßlich, was Sie da sagen,« sagte sie dann, und die Augen wurden ihr feucht. »Ich war so glücklich heut, – warum tun Sie mir so weh?«

»Frau Hanna,« suchte er sie zu beschwichtigen. »Es ist ja nur eine Vermutung. Ich habe doch Augen im Kopf.«

Aber sie konnte sich nicht beruhigen. Sie hatte zu rasch getrunken, sie war völlig verwandelt. Und sie sah jetzt wunderhübsch aus mit ihren lebhaften Farben, den von Tränen glänzenden Augen und halbgeöffneten Lippen, während das Licht ihr blondes Haar vergoldete.

»Es ist nicht wahr,« wiederholte sie hartnäckig, dicht vor ihm stehend. »Es ist nicht wahr!«

Ich glaube es Ihnen ja,« erwiderte er lächelnd. Er sah, wie sie vor Entrüstung zitterte.

»Sie glauben es nicht,« antwortete sie, vor Empörung glühend. Und in plötzlichem Wechsel triumphierend, mit mühsam verhaltener Stimme setzte sie hinzu: »Ich weiß genau, was Sie wollen. Mich so lange reizen, bis ich den Verstand verliere.«

Er sah sie überrascht an. Sieh einmal, dachte er, ich habe die kleine Frau doch unterschätzt! Aber laut antwortete er in seiner überlegenen, spöttischen Art:

»Ich will nur eins, daß Sie friedlich sind.«

»Sie lügen,« stieß sie zornig, mit starren Augen aus.

Erschöpft ließ sie sich in ihren Sessel sinken. Kein Laut war im Zimmer zu hören, und doch schrie eine Frau in Liebe und Qual. Ruhelos gingen ihre Hände hin und her, strichen über das Leder, griffen nach den Knöpfen, ballten und streckten sich. Und unablässig, in stummem Vorwurf, in unverhüllter Bitte hingen ihre Augen an Bill; er fühlte sie förmlich auf sich lasten, in diesem gespannten Schweigen, das unerträglicher war als Klagen und Vorwürfe.

Aber jetzt hatte er sie so weit, wie er sie haben wollte, jetzt war er wieder Herr der Lage.

Er erhob sich. »Gnädige Frau,« sagte er kalt, »ich stelle fest, daß Sie mich der Lüge geziehen haben. Einer Dame gegenüber bin ich schutzlos, bleibt mir nichts anderes übrig, als mich zurückzuziehen.« Und ohne einen Blick auf sie zu werfen, ging er in sein Schlafzimmer.

Wohl fünf Minuten wartete er dort, auf der Kante des Bettes, im Dunkeln, daß sie ginge. Er wußte nicht, ob er recht oder unrecht getan; aber es war ihm doch eine Erleichterung, daß er seinen Willen durchgesetzt hatte, daß alles vorüber war.

Dann, jäh, schrak er zusammen. Licht fiel in das Zimmer, in breitem Bündel, ein Schatten darin.

Hanna war ihm gefolgt, schritt auf ihn zu, bis an ihn heran.

Er sprang auf. »Gehen Sie, Frau Hanna,« sagte er, »um Gottes willen, gehen Sie, – es gibt ein Unglück.«

»Ein Unglück?« antwortete sie haltlos. »Unglück, das ist mein Los gewesen von Anfang an bis heut. Und hier, hier ist das Glück.«

Sie stand hart vor ihm, beide Hände über die Brust verschränkt, den tränenfeuchten Blick auf ihn gerichtet. Und dann brach sie schluchzend vor ihm nieder.

So elend, so demütig und verlassen lag sie da, das blonde Haupt auf seinen Knien, daß ihm das Herz schwoll. Und der Pfeil, den er ihr in das Herz gedrückt, schnellte auf den Schützen zurück, die Geister, die er gerufen, betörten auch ihn, verstrickten ihn in den Taumel, der in heimlicher Nacht, in verschwiegenem Raum zwei junge Menschenkinder gegen einander wirft. Während er sie emporriß, sie an sich zog, hörte er sie keuchend wirre Worte stammeln, Worte sehnsüchtiger Liebe, rasender Leidenschaft, fühlte er, wie sie an seiner Brust zusammenschauerte, in einem Atem lachte und weinte, wie sie die Arme immer fester um seinen Hals verkettete, durstige, heiße Lippen die seinen suchten, mit knirschenden Zähnen sich festsogen.

Als er aus seinem Taumel erwachte, war es zu spät.

Eine Stunde später lag Hanna schlaflos in ihren heißen Kissen. Sie konnte noch immer nicht fassen, was sie doch selbst gewollt und verschuldet. Noch in der letzten Sekunde hatte ein guter Engel sie zurückzuhalten gesucht; in dem einen Moment, in dem seine Hände sie berührten, war sie erwacht, zurückgeschreckt, hatte sie sich wehren, losreißen wollen. Aber eine unbezwingliche Scheu, vor sich selbst zu versagen, vor Bill sich unmöglich zu machen, mit leerem Herzen, in allen Hoffnungen gescheitert, für immer sich heimschicken zu lassen, war stärker gewesen, als das Bangen vor ihrem Tun. Dann, im nächsten Augenblick verlosch ihr Wille, kam eine Betäubung über sie, als sänke sie tief, tief in die grüne, unbewegliche See; erst als sie im Wohnzimmer ihm wieder gegenübersaß, war sie zur Besinnung gekommen.

Und jetzt, in dunkler Nacht, durchlebte sie noch einmal jede Sekunde. Wohl hatte sie empfunden, daß auch Bill das Geschehene nicht gewollt; aber in dem Sturm der Leidenschaft, der ihn dann gepackt, vor seinen lieben Worten, die sich ihr unauslöschlich in das Herz geprägt hatten, vergaß sie alles andere, wollte sie es vergessen, wollte sie diese Erinnerung als lichtes Bild, rein und schattenlos, in alle Zukunft hinübertragen.

Sie schreckte hoch; sie hörte draußen den Drücker im Schloß knirschen und Reinhold mit vorsichtigen Schritten durch das Eßzimmer kommen. Und mitten aus ihrem Glücksgefühl ergriff sie eine beklemmende Furcht. Wird er mir meine Schuld nicht ansehen? Werd' ich den Mut haben, ihm morgen im hellen Tageslicht mit sicherem Blick entgegenzutreten, mit fester Stimme zu ihm zu sprechen? Werde ich immer meine Zunge beherrschen, nie, mit keiner Bewegung, keinem Wort verraten, daß mich ein anderer die Liebe lehrte?

Und ihr Herz schlug schwer, als Reinhold nun auf den Fußspitzen in das Schlafzimmer kam. Während sie ihn leise durch die Zähne pfeifen hörte, wie er es tat, wenn er gewonnen hatte, dachte sie an Bills Wort: Ich habe kein Glück im Spiel ... Und ein solcher Drang faßte sie, so rasch als möglich sich mit ihrem Manne zu messen, das Schlimmste hinter sich zu bringen, daß sie sich auf ein Haar aufgerichtet, Licht gemacht, mit ihm gesprochen, ihn betrachtet hätte. Wie mochte ein Mann wohl aussehen, der hinter den Karten saß, während ein anderer ihm sein Weib nahm?

Aber sie rührte sich nicht, sie schalt sich selbst wegen ihrer Verwegenheit; mit geschlossenen Augen verfolgte sie, wie er sich auszog, schwer in das Bett fiel, wie er in wenigen Minuten einschlief.

Als sie am nächsten Morgen erwachte, war alles wie sonst. Gut gelaunt begrüßte er sie und erzählte ihr sofort, wieviel Mark und Pfennig er gestern eingeheimst habe. Sie hörte sich antworten, überraschte sich selbst, wie sie in grausamer Neugier, in kecker Herausforderung ihm in die Augen blickte, sie fühlte, wie innerlich ein unbezähmbares Lachen sie schüttelte. War das wirklich alles, war das weiter nichts, das erste Wiedersehen nach dem Ehebruch? Und in dem befreienden Gefühl, der Gefahr gewachsen zu sein, in dem Aufatmen nach der bestandenen Angst, in der Überlegenheit, die sie dem Ahnungslosen gegenüber empfand, kokettierte sie geradezu mit ihm, hielt sie ihn mit tausend Kleinigkeiten so lange auf, daß er seit Jahren zum erstenmal zu spät das Haus verließ.

Doch während Hanna in den nächsten Wochen diese Komödie mit ihm durchführte, immer vollendeter ihre Rolle spielte, während er von Stolz geschwellt diese Umwandlung seinen eigenen Verdiensten, seinen erzieherischen Talenten zuschrieb und ihr in herablassender Würde entgegenkam, entfernte sie sich von Tag zu Tag weiter von ihm. Und bald wurde sie launisch, unliebenswürdig, ungerecht gegen ihn. Von nun an liebte sie es, kleine spitze Bemerkungen zu machen, wenn er sich herausstrich oder an ihr mäkelte, hatte sie eine wachsende Freude, ihm zu widersprechen, ihn zu reizen, sich mit ihm zu zanken. Mit Genugtuung fühlte sie aus diesen Streitigkeiten heraus, daß seine Bildung trotz des »Einjährigen« doch Lücken aufwies, daß er oft Dinge behauptete, von denen er nichts wußte, durchschaute sie seine Rechthaberei, lächelte sie verächtlich über die plumpe Art, mit der er um seine wankende Autorität kämpfte. Und immer stärker regte sich in ihr die Abneigung gegen diesen ungepflegten, selbstbewußten Gatten, der wie ein Hauspascha so behaglich, so selbstverständlich seine schlechten Manieren, seine mangelnde Kinderstube zur Schau trug. Jetzt erst sah sie ganz, in abstoßender Deutlichkeit seine Mängel, seine kurze, ewig fette Nase, seine eckigen Fingernägel, den schlechten Sitz seiner Anzüge und Stiefel, während ein Bild ihr vor Augen stand, ein Mann, dessen peinliche Körperkultur etwas Imponierendes und zugleich Niederdrückendes für sie hatte; und immer häufiger kamen die Augenblicke, wo sie wer weiß was darum gegeben hätte, wenn sie nur einmal ihrem Widerwillen Luft machen, ihm seine Schande hätte ins Gesicht schreien dürfen. Sie ließ jede Vorsicht außer acht. Es machte ihr keine Freude mehr, mit ihm in heimlichem Hohn über seine Ahnungslosigkeit zu streiten, er wurde ihr gleichgültig, lästig. Sie vergaß, daß er ein ehrlicher, rechtschaffener Mensch war, ein Mann, der sie auf seine Art von Herzen liebte, sein Lebensglück auf sie gestellt hatte, ein guter Sohn und guter Gatte, ein fleißiger, strebsamer, anerkannter Beamter; sie suchte mit Gewalt alles heraus, was ihn in ihren Augen herabsetzen konnte, seine Kleinlichkeit, seine Schwäche dem Vater gegenüber, seinen Geiz. Und sie zwang sich förmlich in diesen Abscheu gegen ihn hinein, um durch den Gegensatz das Bild des anderen immer mehr zu verklären.

Aber Woche um Woche kam der Sonntag mit seiner wundervollen Erwartung, der Montag mit seiner Erfüllung.

Nach und nach wurde ihr dieses Verhältnis zu Reinhold selbstverständlich, ein erwünschter Zustand, der Leben und Bewegung in ihre langweilige Ehe brachte. Jede Furcht vor ihm erstarb; sie fand eine Lust darin, beständig von Bill zu sprechen, Mutmaßungen über sein Vorleben aufzustellen, ihn zu rühmen, bis an die Grenze des Selbstverrats zu gehen. Und mit heimlicher Genugtuung sah sie, wie allmählich in ihrem Manne die Eifersucht sich regte, bis er in förmlichen Wutanfällen sich diese Reden verbat.

Von da an schwieg sie, um ihn nicht allzu mißtrauisch zu machen. Und ganz behutsam wurde sie, wenn der Schwiegervater bei ihnen zu Gaste war. Sie traute ihm nicht. An solchen Tagen überlegte sie jedes Wort, ging sie beständig auf Glatteis. Und der Alte merkte das auch bald; behaglich in seinem Sessel verdauend, sagte er eines Sonntags mittag zu ihr:

»Neuerdings gefällst du mir besser, Hanna. Früher hattest du allerhand Krimskrams im Kopf. Aber das haben wir Schneiders ja noch immer verstanden, euch Frauen die Raupen aus dem Kopf zu treiben.«

Und mit der wachsenden Entfremdung erlosch die Freude an ihrem Heim. Diese schlichten Allerweltsmöbel, diese dürftigen Teppiche, die geschmacklosen Familienbilder an der Wand fielen ihr auf die Nerven. Sie sah im Geiste einen großen, von Wohligkeit erfüllten Raum vor sich, eine Symphonie in Rot, mit Stahlstichen in weißem Rahmen und blinkenden Waffen an der Wand, ein Schlafgemach in seiner diskreten Vornehmheit, mattfunkelnde Baccaratflakons auf dem grauen Marmor des Waschtisches, sah sich selbst in diesen Räumen, die in ihrer selbstbewußten, selbstverständlichen Würde sie einschüchterten, ihr die Überlegung raubten, das Blut zum Sieden brachten, sah sich demütig vor dem Geliebten knien, hörte sich in überquellendem Glück: »Du, du ...!« stammeln. Und Ort und Zeit verloren für sie den Inhalt; es gab nur einen Ort, dort am Kurfürstendamm, nur eine Zeit, den Montagabend. Alles andere war nichts als ein qualvolles Warten, ein unerträglicher Schmerz.

Noch bitterer empfand sie dies, als Bill kurz vor Weihnachten über Neujahr nach Hamburg fuhr. Er hatte ihr das Wort geben müssen, ihr nichts zu senden, nichts mitzubringen; aber als sie am Heiligabend mit Reinhold und seinem Vater vor dem kleinen Weihnachtsbaum stand, um gegenseitig die kargen, nüchternen Geschenke auszutauschen, als sie Reinholds ängstliche Augen betrachtete, ob auch der nach dem Streit am Skatabend noch immer nicht ganz versöhnte Vater den Aufwand billigte, da wurde es ihr doch schwer, kein Zeichen der Liebe von Bill erhalten zu haben. Und je näher der Tag seiner Rückkehr kam, desto mehr sehnte sie sich nach ihm.

Silvester feierten sie bei Dorners. Als alles gespannt auf die Uhr blickte, der Zeiger sich hart der Zwölf näherte, sprang Hanna plötzlich auf und ging in das dunkle Zimmer nebenan. Sie konnte nicht anders, sie kämpfte mit ihrer Rührung. Sie dankte Gott aus tiefem Herzen für das Glück, das ihr das vergangene Jahr beschert, sie bat ihn, es ihr im kommenden zu erhalten, Bill und sie in seinen Schutz zu nehmen. Sie dachte nicht daran, daß sie eine Frevelbitte tat. Und dann trat sie an das Fenster und öffnete es. Ein silberner Hauch lag auf der Straße. Lustige Rufe jagten sich hin und her, Kindertrompeten schrillten, bengalisches Licht färbte von Loggien und Balkons aus die Fassaden der Häuser grün und rot, auf den Bürgersteigen standen erwartungsvolle Gruppen ... Horch, – von fern ein Dröhnen wie stürmende See, und feierlich über allem Irdischen setzten die Kirchenglocken ein. Und plötzlich, mit dem ersten dröhnenden Schlage der Kirchenuhr, ein Aufschrei, ein Toben, als ob Feindesschwadronen in kreischende Weiberhaufen ritten, ein endloses, gellendes, unermüdliches Brüllen, dazwischen der heisere Baß trunkener Männer; und den wirren, ohrenzerreißenden Lärm, das Fauchen der Autos, das Klirren und Donnern der Straßenbahnen übertönend, das Menetekel der Glocken erstickend, ein jauchzendes, wüstes, berauschtes: Prosit Neujahr!

Von drinnen riefen laute Stimmen nach ihr, hörte sie Reinhold kommen. Und während er ihr in seiner ungeschickten Art: »Na, also, prost Neujahr!« zurief und mit seinem nach Punsch duftenden Schnurrbart sie küßte, flogen ihre Gedanken, ihre Wünsche, ihr Herz weit über Feld und Wald, zu ihm, der auch in dieser Minute an sie dachte, zu ihm, der ihres Lebens Krone war.

 

Wochen, Monate vergingen. Und ganz, ganz allmählich, unmerklich erlosch das große Glück, im unerbittlichen Kreislauf der Natur, nach dem ewigen Gesetz des Werdens und Vergehens, – sank es zusammen, wie in einsetzender Ebbe die Wogen noch immer mit gleicher Kraft den Strand hinaufzujagen scheinen, und doch eine jede hinter der anderen zurückbleibt.

Schon damals, an jenem Abend, der Bill und Hanna straucheln ließ, hatte sich nichts in dem Herzen des Mannes geregt, dem soeben eine Frau in überströmender Liebe sich hingegeben, als das lähmende Bewußtsein dessen, was er nicht gewollt und doch getan, ein ohnmächtiger Zorn, eine fessellose Empörung, verlockt, überrascht, übertölpelt worden zu sein. Der andere, der vernünftige Bill, der meldete sich jetzt laut und streng, und es war keine Möglichkeit, ihn abzuweisen; denn diesmal kam er mit Gefolge, drei grauen, finsteren, hochgereckten Gestalten, der Schuld, der Reue und Ernüchterung.

Und so wich denn in Bill der Taumel einer Stunde nur gar zu bald dem Pflichtgefühl, dem Zwangsgefühl, wurde er satt, doppelt satt durch Hannas beständige demütig dankbare Hingabe. Sie wußte ja nichts von der Kunst der Kokette, die sich nach Laune versagt, nach Laune doppelt gewährt, die an die Stelle der Empfindung die Berechnung setzt.

Hanna mußte schließlich erkennen, was in Bills Seele vorging. Zu oft hatte sie in den letzten Wochen ein dumpfes Gefühl des Schmerzes empfunden, wenn sie aus tiefster Seele zu ihm sprach, in seiner ironischen Abwehr kein Echo fand.

»Ich möchte ein Baby von dir,« sagte sie eines Abends, ihr Herz weit vor ihm öffnend, eng an ihn geschmiegt. »Eine Erinnerung für alle Zeit. Ein Junge soll es sein, und ähnlich sähe er dir bestimmt. Wie heißt du mit allen Vornamen?«

»Hans Otto Wilhelm.«

»Wilhelm ist Bill,« sagte sie grübelnd. »Bill darf ich ihn nicht nennen. Hans mag ich nicht. Aber Otto soll er heißen. Und wenn ich ihm in die klaren Augen blicke, ihn beim Namen rufe, so denk' ich an dich, noch im grauen Haar. Dann bist du ja längst ein großer Herr und hast die arme Hanna vergessen.«

Sie hielt angstvoll inne, sie wartete auf seinen Widerspruch.

»Ich schlage vor, wir streichen Otto den Kleinen,« erwiderte Bill in leiser Ungeduld. »Ehrlich gesagt, den guten Reinhold zum Vater zu haben, dazu sind mir die Kinder meiner Sünde zu schade.«

»Sünde?« wiederholte Hanna vorwurfsvoll. »Nein, Bill, was wir getan, das kann keine Sünde sein. Vor Gott nicht!«

»Laß unseren Herrgott aus dem Spaß,« antwortete Bill. »Wir sind über seine moralischen Anschauungen nur mäßig orientiert.«

»Manchmal«, fuhr Hanna fort, »ist mir, als könnte ich alles ruhig gestehen, jedem ins Gesicht, Reinhold zuerst, und als müßten sie mich alle begreifen.«

»Du würdest mir einen persönlichen Gefallen tun, wenn du dir das verkneifst,« entgegnete er. »Es könnte doch eine Enttäuschung werden. Die Menschen, liebe Hanna, die haben nur Verständnis für ihre eigenen Laster.«

Sünde ... Laster? Hanna fühlte, wie sie fröstelte. Und vor seinem verletzenden Spott wich mit einem Schlage der Nebel, sah sie mit einmal klar, wußte sie, daß kein Liebender so spricht.

 

Wehe der Frau, die einem Manne sich neigt, der nur das Weib, nicht den Menschen in ihr begehrt, den nur die Leidenschaft der Sinne an sie kettet. Er sucht in ihr nicht die Erfüllung reinen Sehnens, des grauen Alltags Verklärung, sieht nicht das bange, zuckende Herz, das sie auf liebenden Händen ihm entgegenträgt. Er heischt nur eins von ihr, was sie ihm niemals geben kann, – immer von neuem, immer gesteigert den unauslöschlichen, atemlosen, überseligen Rausch, im Taumel der Stunde. Denn die Leidenschaft flieht, und dann bleibt nichts, keine Liebe, keine Achtung, kein Dank.

 

Sie wehrte sich leidenschaftlich gegen diese Erkenntnis. Wohl hatte sie von Anfang an gefühlt, daß eine Kluft zwischen ihnen gähnte, eine Kluft der Erziehung, der Bildung, der Lebensauffassung, hatte sie von vornherein eine heimliche Scheu vor ihm gehabt. Immer wieder hatte sie an sein Herz geklopft, mit aller Kraft, immer wieder auf ein Echo gehorcht, wie die Knappen im dunklen Schacht an den Fels pochen, vergeblich auf den Gegenruf ihrer verschütteten Kameraden hoffen, wie sie ungebeugt weiter und weiter graben, Tag und Nacht, mit blutenden Händen und keuchendem Atem, und pochen und lauschen und lauschen und pochen ...

Aber von diesem Tage an erlosch das Vertrauen, erstarb ihr Hoffen, begann sie vor ihm zu bangen, litt sie doppelt schwer unter seinem schonungslosen Lächeln, seiner unbarmherzigen Zunge, unter diesem beherrschenden Auge, vor dem sie sich wie bloß fühlte, unter der ganzen sieghaften Sicherheit des Hamburger Aristokraten, der auch in der Minute der Leidenschaft immer die große Linie wahrte, niemals sein Herz öffnete, niemals sich gehen ließ, weil er es nie gelernt hatte, sich gehen zu lassen.

Wie ein Krampf packte es sie, in der ungeheuren Leere, die sie erdrückte. Es konnte, konnte nicht sein! Sie hätte das Entsetzliche nicht zu überwinden vermocht; sie, die dem Glück blindlings entgegengestürmt war, wäre vergangen, wie der verdurstende Beduine, der in glühender Wüste mit letzter Kraft sich den fernen Palmen der Oase entgegenschleppt, verzweifelt die Fata Morgana sich in das Nichts auflösen sieht. Und doch, obwohl sie in seinem Blick schon ihr Urteil zu lesen glaubte, fragte sie jedesmal wieder mit zagendem Herzen: »Auf nächsten Montag?«, wie der Verurteilte noch auf Gnade hofft, wenn er in seiner Zelle schon die dumpfen Schläge schallen hört, die das Schaffott ihm rüsten.

Und je länger dieser Kampf in Langen und Bangen währte, desto mehr zermürbte er sie körperlich und geistig. Sie schlief und aß nicht mehr, hatte beständig Kopfweh, war mit sich und der Welt zerfallen, von jeder Kleinigkeit bis zu Tränen gereizt.

Reinhold ließ einen Arzt aus der Nachbarschaft kommen; er stellte die Diagnose auf Nervosität und empfahl ein völliges Ausspannen, eine mehrwöchentliche Reise in den Thüringer Wald.

Hanna sträubte sich mit einer Reinhold unbegreiflichen Hartnäckigkeit gegen diesen Plan, obwohl ihr Onkel Berthold einen reichlichen Zuschuß versprach. Sie fühlte, daß sie mit einer solchen Reise alles auf das Spiel setzte, und statt sich Ruhe zu gönnen, überlegte sie Tag und Nacht, wie sie ihr Glück mit beiden Händen festhalten könnte.

Endlich glaubte sie den richtigen Weg gefunden zu haben, um den ihr Entgleitenden wiederzugewinnen. War sie ihm bisher zu willig entgegengekommen, so wollte sie sich jetzt um so mehr zurückhalten.

Eines Montags, als Bill sie mit dem kühlen Kuß der Gewöhnung empfing, klagte sie über Migräne, und atemlos wartete sie darauf, daß er sie nun in verdoppelter Liebe mit zärtlichen Liebkosungen trösten würde. Aber er setzte sie ohne Zögern sorgsam in einen Sessel und war ängstlich darauf bedacht, durch keine Zärtlichkeiten ihr Leiden zu steigern. Und dann, zum Überfluß, fragte er beim Abschied noch ganz harmlos:

»Nun, bin ich heute nicht lieb gewesen?«

 

Wieder einmal war sie bei ihm. Bill, ein Bein über das andere gelegt, rauchte stumm seine Zigarette und sah schwermütig zu, wie sie rastlos hin und her ging, alles in die Hand nahm, diesen und jenen Kasten aufzog.

Immer häufiger waren kleine Dissonanzen zwischen ihnen aufgetaucht, immer öfter stand es nur noch auf Messers Schneide, daß nicht ein regelrechter, ernsthafter Zank ausbrach. Es war schwer zu entscheiden, wer die Schuld daran trug, Hannas Verstimmung, daß Bill es nicht ernst mit ihr meinte, ihre zunehmende Gereiztheit seinem überlegenen Phlegma gegenüber, oder sein Mißmut über ihre sich steigernden Ansprüche, ihre beständigen Klagen: »Warum nimmst du mich nicht in den Arm, hast mich nicht lieb wie sonst?« Ja, Herrgott, warum nicht? Was konnte er denn dafür, daß sie keine Gemütlichkeit aufkommen ließ, daß er mit immer mehr geteilten Gefühlen ihrem Erscheinen entgegensah?

Denn Bill fand sie in letzter Zeit gealtert, unliebenswürdig. Der Frohsinn, das tiefe, innere Glück, das ihr zuerst etwas Jugendliches, Kindliches verliehen, war verschwunden; und er hatte sie im Verdacht, daß eine Leidenschaft sich in ihr entwickelte, die jedem Mann das Leben verbittern muß, die Eifersucht.

Diesmal hatte sie sich unvermutet schon um sieben eingefunden. Sie war für den Abend verhindert, weil Reinhold eine Influenza fürchtete und das Haus hüten mußte, und sie hatte irgendeinen notwendigen Gang vorgeschützt, um Bill wenigstens Nachricht zu geben.

Soweit war alles schön und gut, und ihr unerwarteter Besuch motiviert. Aber immerhin, – es gab doch in Berlin Fernsprecher, Rohrpost, Telegraph und Messenger-boys; und die ganze Art, unangemeldet bei ihm hereinzuwirbeln, wie um ihn in flagranti zu ertappen, hatte ihn äußerst unangenehm berührt.

Und als ob sie mit Absicht diesen Eindruck steigern wollte, begann sie, kaum daß sie ihm ihr Kommen erklärt hatte:

»Sag' mal, Bill, zu mir wagst du dich wohl nicht?«

Es war schon lange ihr Traum gewesen, ihn einmal heimlich bei sich zu sehen. Sie hatte sich das zu wunderschön gedacht, als eine Erinnerung in alle Zeit, ein Ganzeinswerden mit ihm. Mit all den Dingen, die sie für lange Jahre, vielleicht für Lebenszeit umgaben, würde er unauflöslich verknüpft sein, beständig würde er durch die Zimmer schreiten, an ihrem Tische sitzen, auf jedem Stück einen Schimmer von sich zurücklassen, der ihr nüchternes Heim vergoldete.

»Zu mir in die Wohnung kommst du wohl nicht?« wiederholte sie.

»Aber gewiß doch,« antwortete er. »Sobald mich dein Mann einzuladen geruht.«

»Und Montags, wo er fort ist?« drängte sie.

»Wenn du mir eins versprichst,« erwiderte er.

Ihr stand das Herz vor Freude fast still.

»Wenn du einen Strick kaufst, einen guten, haltbaren Strick,« fuhr er fort, »und einen langen, kräftigen Nagel, etwa wie der, den ich selbst haben müßte, wenn ich solch eine Dummheit beginge. Und wenn du mir schwörst, daß du mich zu lieb hast, um mich abzuschneiden; denn besser tot, als so blödsinnig.«

Sie sah ihn fassungslos an. So heftig gärte die Enttäuschung in ihr, daß sie nicht anders konnte, den Streit förmlich suchte.

»Und in der Stadt dich mit mir zu zeigen, den Mut hast du wohl auch nicht mehr?« fragte sie.

»Nein,« antwortete er ruhig, »ehrlich gestanden, den hab' ich nicht. Damals, das Esplanade, das ließ sich noch als gelinde Überschreitung der allerhöchsten ehelichen Sanktion entschuldigen. Aber so ganz auf Schleichpfaden, im feindlichen Gelände, das hieße die Götter versuchen! Andere Gottbegnadete, die mögen riskieren, was sie wollen, es geht immer gut aus; ich jedoch bin ein ausgesprochener Liebling der Nemesis, ein Genie, wenn es gilt, mit untrüglicher Sicherheit hereinzurasseln. Sonst säße ich heute wahrhaftig nicht am grünen Strand der Spree, als Zierde von C. B. Dorner, Getreide-Kommission.«

»Nächstens wirst du mir noch vorreden,« sagte sie kriegerisch, »daß du überhaupt die ganze Woche zu Hause bleibst.«

»Ich halte dich für viel zu helle, kleine Hanna, um dir irgend etwas vorzureden. Aber ich habe gar nicht die Absicht; ich gehe tatsächlich aus und finde das selbstverständlich.«

»Allein?« fragte sie mißtrauisch.

»Mutterseelenallein,« gab er mit unerschütterlichem Ernst zurück. Er log nicht; ausgehen tat er wirklich allein, da er sich regelmäßig mit Erna in der Stadt traf, und von der Heimkehr war ja nicht die Rede.

»Weißt du, Bill,« sagte Hanna heftig, »du hast eine eiserne Stirn. Denkst du, ich glaube dir das?«

»Draußen vor der Tür waltet die züchtige Moser,« antwortete Bill. »Gehe hin und frage.«

»Die Moser?« antwortete Hanna immer geharnischter, »die schwindelt noch unverschämter als du.«

Bill sah sie strahlend an. »Duplizität der Fälle,« antwortete er amüsiert. »Dasselbe hab' ich ihr gestern gesagt, als ich die Wochenrechnung bezahlte.«

Aber Hanna hatte wenig Verständnis für seine gute Laune. »Das nennt man nun Liebe,« klagte sie erregt. »Jeden Abend bin ich daheim und denke: Wo mag er jetzt sein? Mit wem mag er mich vergessen, die Nacht zum Tage machen? Und die Moser, die ist auch die reine Kupplerin. Wer weiß, wie viele die hier schon hereingelassen hat.«

Er sah sie kopfschüttelnd an. Er ärgerte sich über sie, denn sie hatte bereits einmal Ähnliches gefragt. Und er konnte der Versuchung nicht widerstehen, sie von ihrer Eifersucht zu kurieren.

»Eine, ganz im Anfang, auch eine verheiratete Frau,« antwortete er.

»Und was ist da passiert?«

»Käme jemals eine andere zu mir, die ebenso fragt wie du, – wie würde dir das gefallen, wenn ich aus der Schule plauderte?«

»Also ist doch etwas geschehen,« fiel ihm Hanna ins Wort.

»Allerdings,« erwiderte er, immer bedächtig. »Tee ist getrunken worden. Ganz harmlos, weißt du, damit sie sicher wurde, genau wie bei dir. Aber in den Tee tat ich Brom.«

»Brom?«

»Herrgott, das ist doch klar. Brom beruhigt. Und die Frau war furchtbar alteriert, wie die Weiber es immer zu Anfang sind.«

Hanna sah ihn argwöhnisch an. »Und das schmeckte sie nicht?«

Er lachte kurz auf. »Die, in ihrem Zustand? Der hätt' ich Petroleum als Chartreuse vorsetzen können.«

Hanna blieb mißtrauisch. »Nun, und?« fragte sie zurückhaltend.

»Und gar nichts,« antwortete er. »Du fragst mich aus und glaubst mir nicht. Das ist ja albern.«

Sie wußte noch immer nicht, ob er im Ernst oder Scherz redete. »Ist das wirklich wahr?« fragte sie unsicher.

Er zuckte die Achseln und schwieg.

Und plötzlich gab sie nach. »So rede doch,« drängte sie ihn. »Ich glaube dir ja. Was hast du auch für ein Interesse, mich anzulügen?«

»Das weiß Gott,« antwortete er. »Dir hätt' ich wahrhaftig kein Brom gegeben. Dazu hast du nicht Temperament genug.«

Es blitzte in ihren Augen auf, aber sie erwiderte nichts. Dann, nach einer Pause, sagte sie:

»Darum hast du mich wohl damals auch mit Sekt verrückt gemacht?«

»Alkohol ist vorzüglich,« antwortete er, ohne den Vorwurf ernst zu nehmen, »im psychologischen Moment, um durchzuhalten. Genau wie vor dem Gefecht und Selbstmord.«

»Hör' doch auf,« rief Hanna empört, in Abwehr die Schultern zusammenziehend.

»Den Sekt,« fuhr Bill nachlässig fort, »den hat die andere dann auch bekommen, später, mit Stimulantien darin.«

»Mit was?« fragte Hanna verblüfft.

»Zwei, drei goldene Tropfen, die machten sie toll. Ein altes Rezept, das der Herzog von Fronsac in seinen Memoiren unsterblich gemacht hat.«

»Und das hast du getan?« fragte Hanna, völlig überrumpelt.

Er ging zu einem in die Wand eingelassenen Schränkchen, das Hanna noch gar nicht entdeckt hatte, nahm eine kleine Phiole heraus und reichte sie ihr. Sie war mit einer goldigen Flüssigkeit gefüllt.

Hanna entfernte vorsichtig den geschliffenen Pfropfen und roch daran. »Das ist ja Parfüm,« sagte sie dann enttäuscht.

»Parfümiert,« verbesserte er.

»Zwei, drei Tropfen?« fragte sie noch einmal zweifelnd, in der einen Hand das Fläschchen, in der anderen den Pfropfen ängstlich von sich entfernt haltend.

»Höchstens drei Tropfen,« bestätigte er, sich plötzlich abwendend.

Und dann warf er sich in den Kastor und brach in ein unaufhaltsames Gelächter aus; immer wieder suchte er sich zu beherrschen, immer wieder schüttelte er sich förmlich.

Sie wurde aschfahl unter seinem Spott. Eine Weile stand sie erstarrt, dann raffte sie sich zusammen. Ohne ein Wort zu sagen, ging sie an den Tisch, setzte sie ihren Hut auf.

Er brach mit seinem Lachen ab.

»Hanna,« suchte er sie zu beschwichtigen, indem er zu ihr ging und den Arm um sie legte, »sei bloß nicht so empfindlich. Du wirst doch noch einen Scherz verstehen?«

Mit einem Ruck riß sie sich los.

»Also schön, dann nicht,« sagte er, nun auch verletzt. »Es ist die alte Geschichte, – jedes Ding hat seine Zeit.«

»Bei dir die Liebe,« antwortete sie scharf.

»Ja, hast du denn geglaubt,« entgegnete Bill ebenso, »das geht ewig so weiter, bis du Großmutter wirst?«

»Ich habe darüber nicht nachgedacht.«

»Das mach' ich dir eben zum Vorwurf.«

Sie antwortete ihm nichts.

Ein bißchen unheimlich wurde ihm doch. Und während er sie betrachtete, wie sie sich mit den Hutnadeln herumquälte und in zorniger Hast die Handschuhe überstreifte, setzte er sich ärgerlich wieder in seinen Sessel und suchte auf philosophisch-kritischem Wege sein Gleichgewicht wiederzufinden.

Mit den Frauen war es eigentlich eine schlimme Sache. Solange man in ihrer Sphäre blieb, in ihrem engen Ideenkreise, solange man unentwegt von Liebe und Treue faselte und eine Träne des Glücks im Auge zerdrückte, da ging alles glatt, da glänzten die Augen, klopften die Herzen und stieg das Blut in das überselige Antlitz. Aber sobald man diese Gefühls-Oase verließ, dehnte sich ringsum die schweigende Wüste, mit einem kleinen Kamel, dem Weibe, und einem großen, dem Mann.

Jetzt sah Bill erst ein, was den Reiz der kleinen Mädel ausmachte, dieses oberflächliche, amüsante Hinweggleiten über alle ernsten Fragen, dieses blinde Auf-den-Tag-Vertrauen, ohne Sorgen, ohne Grübeleien, dieses vergnügte Schwatzen über tausend Dinge, von denen sie nichts verstanden, die naiv-gesunde Weltanschauung, die alles auf sich bezog, von sich aus beurteilte und doch dabei den Nagel auf den Kopf traf, und über alledem der lachende Sonnenschein, die unbekümmerte Lebensfreude, die auch den Gefährten jung und froh machte. Denn das war das Schlimmste – wofür er eben wieder den Beweis erhalten hatte –, den anderen, den Frauen, die eine Kunst darin besaßen, sich immer zu falscher Zeit, am falschen Ort auf ihre Würde zu besinnen, fehlte eins, der Humor. Sie hatten ihn nun einmal nicht; sie verstanden keinen Spaß, sie saßen nur immer da und nahmen ihn übel, im heimlichen Bewußtsein ihrer Schwäche. Das Höchste war, daß sie einmal gestanden: »Gott, bin ich töricht!«, und dann hoben sie das Näschen und reckten sich und meinten wunder wie klug sie waren.

Und auf so etwas fielen die Männer Jahr für Jahr zu Hunderttausenden herein.

Das heißt, nicht alle. Er zum Beispiel würde niemals heiraten, aus dem ganz einfachen Grunde, weil er sich für die Ehe nicht prädestiniert fühlte. Er hatte keine Sehnsucht nach dem gelobten Lande, da Essig und Wermut floß, keine Lust, zum siamesischen Zwilling zusammenzuwachsen und gleichzeitig sich zu halbieren. Er dachte an die Traueressen, wenn wieder ein Junggeselle aus seinem Freundeskreise scheiden mußte, sah den Unglücklichen mit feuchten Augen von den einstigen Weggenossen Abschied nehmen, hörte die Grabrede, die den seinem Schicksal Verfallenen beklagte, ihm Mut zusprach.

Gewiß, Bill verhehlte es sich nicht, daß er mit solchen Anschauungen durch und durch egoistisch dachte. Aber war das der Gegner, waren das die jungen Mädchen nicht auch? Diese Jungfrauen, die unter den Feldherrnaugen der Mütter kunstgerecht auf den Mann losgelassen wurden, die wie die Gänse im Zirkus ihre Nummer herunterspielten, während der Dresseur unsichtbar hinter der Kulisse sie dirigierte; diese Mädchen, die tagsüber in Wald und Feld in die Hände klatschten: »Klapperstorch, du Bester,« und abends im Salon die freie Liebe diskutierten ... Er, Bill, der Sohn des Millionärs, der sich seit Jahren mit Händen und Füßen gegen diese Meute zu wehren hatte, er kannte die Weise, er kannte das Lied!

Und wo saßen denn die leidenschaftlichsten Verächter der Ehe? Waren es nicht gerade die Ehemänner, die doch Bescheid wissen mußten, die über ihre eigenen Frauen am Biertisch die Lauge ihres Spottes gossen, sich gegenseitig ihr Leid klagten, die das Heiraten als den dümmsten Streich eines Menschen erklärten? Waren es nicht die Frauen selbst, die mit dem Myrtenkranz auch alles das ablegten, was ihren Mann an sie gefesselt, die körperlich und geistig sich immer mehr gehen ließen, die Ehe als Freibrief betrachteten, um sie skrupellos zu brechen?

Gewiß, es mußte auch etwas anderes geben, etwas Ideales, die Liebe zweier Seelen, innig und stark, für das ganze Leben; ein Bund, in dem wir einen Menschen betreuen, der uns betreut, uns seinen berechtigten Wünschen fügen und unsere eigenen Rechte geachtet sehen, ein Bund, der uns ein Herz zu eigen gibt, mit dem wir im letzten Ziele einig sind, das Freude und Schmerz mit uns teilt und dessen Glück und Leid auch das unsere ist.

Aber von dieser Liebe wußte Bill nichts. Er hatte seine Mutter nie gesehen, nie eine Schwester besessen; er kannte nur den bunten Schwarm der sorglos den Tag genießenden Mädel und dann noch diese unglückselige Hanna da, die eben nach ihrem Jackett griff.

Er ging zu ihr hinüber.

»Nun komm mal her, kleines Schäfchen,« sagte er und nahm ihr das Jackett aus den Händen, ohne auf ihr Sträuben zu achten. »Es gibt Tage, wo eben alles schief geht. Aber dazu sind wir doch nicht zusammen. Nächsten Montag holen wir alles wieder nach. Ich schwöre dir, ich werde märchenhaft sein.«

Und dann kam der unvermeidliche Tränenstrom, die übliche Selbstanklage: »Ich weiß ja, ich bin schlecht, keiner will etwas von mir wissen,« das rotgeweinte Näschen: »Herrgott, wie seh' ich nur aus!« die Puderdose und Haarbürste, das Einlenken: »Bill, sei doch ein bißchen gut zu mir, hab' doch ein wenig Mitleid,« der plötzliche Schreck: »Allmächtiger, dreiviertel acht, ich muß ja fort,« die Heimfahrt, die eine Flut neuer Vorwürfe über Bill ergoß: »So rede doch ein Wort! Bist du denn ganz stumm geworden?«, der eisige, kühle Abschied, – und, endlich allein, saß Bill völlig geknickt im Auto und zerbrach sich den Kopf, ob unsere Muttersprache ein Wort besäße, das auch nur in bescheidensten Grenzen das Riesenmaß seines Reinfalls veranschaulichen könnte.

 

Bill war auf das höchste erstaunt. Eine schön gedruckte Einladung lag auf seinem Tisch: Berthold Dorner und Frau beehren sich ...

Onkel Berthold und Tante Thekla ein Frackdiner, – wie kam ein solcher Glanz in ihre Hütte?

Aber rasch hatte Bill des Rätsels Lösung gefunden. Schon seit einigen Tagen waren im Allerheiligsten zwei Herren aus Odessa aufgetaucht, die Chefs einer eng mit C. B. Dorner liierten Firma, von denen man große Abschlüsse erhoffte, und die pompöse weiße Karte vor ihm bewies Bill, daß das Geschäft perfekt geworden war.

 

Am nächsten Sonnabend um fünf trat er bei Dorners an.

Ei, ei! Blumen im Entree, die beiden Mädchen in Gala mit blütenweißen Schürzen, ein vorüberhuschender Lohndiener, der beim Öffnen der Eßzimmertür einen flüchtigen Blick auf die in schwerem Silber und weißem Flieder prangende Tafel gestattete, hinten der alte Voigt, der die Flaschen aufzog, vor dem Spiegel eine Schale mit Kärtchen: »Herr Bill Petersen wird gebeten, Fräulein ...« er traute seinen Augen nicht, aber es stand wirklich da, »Fräulein Cilly Dorner zu Tisch zu führen.« Allmächtiger, dachte Bill, auch das noch!

Stimmengewirr, die Herren schwarz-weiß, darunter natürlich die beiden Russen, die Damen in lichten Farben, blasse Schultern, lange Handschuhe, junge Mädchen, wahrscheinlich Cilly Dorner mit ihren Pensionsschwestern, Berthold Dorner mit genähtem Schlips, aber im neuen Frack, Frau Thekla im lila Seidenkleid, das im schüchternen Ausschnitt die hochgeschraubte Busenfalte zeigte, noch röter im Gesicht, und ...

Er ließ Onkel Berthold, der ihn den Russen vorstellte, die ja auch mit seinem väterlichen Hause in Beziehungen standen, einfach weiterreden. Er sah nur eins, ein merkwürdiges junges Mädchen, in hellgelbem, ausgeschnittenen Kleid, Marschall-Niels an der Schulter und im Gürtel, mit dem reinen Profil ihres Gesichts, dessen elfenbeinernen Ton das tiefschwarze, glattgescheitelte, die Ohren halb verdeckende Haar noch mehr hervorhob. Sein Blick glitt über die kaum angedeuteten Hüften bis zu dem schmalen Fuß; und als er sich wieder emportastete, hatte er sie taxiert: Eigenartig, schwieriges Temperament, Figur prima, im übrigen absolut nicht sein Typ.

Einen Augenblick sah er ihr fest in die Augen. Sie wich ihm nicht aus. Und er wußte aus Hannas Schilderungen, er hatte Cilly Dorner gesehen.

Sie gingen zu Tisch. »Meine Herrschaften,« sagte Berthold Dorner gemütlich, »Sie müssen entschuldigen, wo meine Frau und ich dabei sind, ist's immer eng.«

Bill hielt sich vorsichtig zurück. Zwar interessierte ihn das junge Mädchen gegen seinen Willen, aber er wollte erst das Gelände aufklären, sie sich kommen lassen. Noch immer ist die Verteidigung das leichteste Gefecht, und unter der Lichtflut des Kronleuchters, von allen Seiten eingeengt, beobachtet und angeredet, beständig von dem mit Wein bewaffneten Lohndiener und den servierenden Mädchen unterbrochen, war so wie so ein zusammenhängendes Gespräch unmöglich.

Sie redeten von Evian, Paris, London, kamen auf die Suffragettes, die Emanzipation, den modernen Bildungstrieb der Frau.

Bill äußerte kein Urteil. Er wollte es nicht von vornherein mit der Tochter des Hauses verderben, verstand auch nichts von der ganzen Bewegung. Für ihn konzentrierte sich das Streben der Frau nach Selbständigkeit in den schiefgetretenen Stiefeln der Ladenmädel, den Tintenflecken der Kontorfräulein, dem Kneifer und flachen Busen der Studentinnen.

»Wir wollen leben,« sagte Cilly.

»Sollte ›erleben‹ nicht richtiger sein?« fragte Bill.

»Wie Sie wollen,« antwortete Cilly. »In jedem Falle nicht vegetieren.«

»Du lieber Gott, wie viele Männer vegetieren ihr lebelang,« bemerkte Bill.

»Die werden auch danach sein,« entgegnete Cilly, »Drohnen des Lebens, Schwächlinge, Phantasten. Es gibt nur eins, das niemals trügt, das ist das kühle Rechnen. Ein kluger Baumeister, der sitzt erst Tage und Nächte, reiht Zahl an Zahl, bis er die Tragkraft jedes Steines gemessen. Stellt einer aber sein Glück auf schwanken Grund, auf morsche Pfeiler, und bricht der luftige Bau zusammen, so soll er nicht jammern und klagen, – ihm ist nur recht geschehen.«

Schräg gegenüber, bei den alten Herrschaften, sprach man von der neuesten Sensation Berlins, dem Morde, der an einem Straßenmädchen verübt worden war. Und Frau Thekla erklärte laut, über den ganzen Tisch hinweg, im Hochgefühl ihrer Tugend:

»Um die Person ist es wahrhaftig nicht schade. Die hat es nicht anders verdient.«

»Warum?« fragte Cilly plötzlich laut.

»Warum?« wiederholte Frau Thekla erstaunt. »Das brauche ich wohl nicht weiter zu erklären, mein Kind.«

»Weil du es nicht kannst, Mama,« antwortete Cilly fest. »Und weil dir jedes Verständnis für solch ein unglückliches Wesen abgeht.« Ihre Wangen röteten sich leicht. »Herr Petersen sagte soeben, wir heutigen Frauen wollten erleben. Er hat nicht unrecht. Miterleben wenigstens. Miterleben die Schwäche, das Leid unserer ärmsten Schwestern, mit offenen Augen, mit warmen Herzen, um zu verstehen, zu helfen und zu warnen. Das Steinigen überlassen wir den anderen.«

Frau Thekla sah ihre Tochter starr an, angelte einen Augenblick vergeblich unter dem Tisch nach ihren Schuhen, klappte den Mund auf, überlegte und klappte ihn heimlich wieder zu.

Und während die russischen Gäste Cilly lebhaft zustimmten, fragte Onkel Berthold gemütlich:

»Sag mal, mein Kind, habt ihr das alles in Evian gelernt?«

»Ich bin achtzehn Jahre alt,« antwortete Cilly, wieder kühl.

»Da kann man allerdings nichts sagen,« erwiderte ihr Vater lachend. »Aber ihr modernen Mädchen könnt froh sein, daß wir nicht anno Siebzig schreiben; meine Schwester hätte mit achtzehn Jahren nach solcher Rede sicher miterlebt, daß Vater aggressiv wurde.«

Selbst Bill war völlig überrascht. Diese Cilly war ja ein eisbedeckter Vesuv. Und kaum war die Tafel aufgehoben, als er sich für den Rest des Abends schleunigst vor ihr in Sicherheit brachte.

Aber er ertappte sich wiederholt dabei, daß sein Blick ihr heimlich folgte.

 

Zwei Tage später, als Hanna zu ihm kam, erzählte er ihr natürlich von dem Abend.

Er war erstaunt, wie Hanna, die heute von Anfang an merkwürdig gereizt war, außer Fassung geriet.

»Wir haben von nichts gewußt,« sagte sie ganz entsetzt.

»Sei froh,« antwortete Bill. »Ich hab' dir ja damals, am ersten Abend, erzählt, was für eine traurige Sache so ein Diner ist. Wenn der Berliner seine Gäste nicht bis in den Morgen festhält, ist er mit sich und ihnen unzufrieden.«

Aber sie wollte sich nicht beruhigen. Immer wieder fing sie davon an, ließ sie sich von Bill berichten. Und endlich konnte sie sich nicht länger beherrschen, verriet sie selbst den Grund ihrer Unruhe.

»Mich macht ihr nicht dumm,« weinte sie fast, »die Cilly als Tischdame, paß auf, das hat was zu bedeuten.«

Bill lachte sie aus. Und dann fragte er, ob Cilly denn nicht einen Antrittsbesuch bei ihnen gemacht hätte.

Ja, auf eine Viertelstunde. Aber kein Wort von dem Fest habe sie gesagt. Und sie sei noch unliebenswürdiger gewesen, noch hochmütiger als vor zwei Jahren, absolut unsympathisch.

Aha, dachte Bill, da haben wir's ja! »Wie gefällt sie dir denn sonst?« fragte er leichthin.

»Wie ein österreichischer Grenzpfahl,« antwortete Hanna, die einmal mit Dorners im Riesengebirge gewesen war, wegwerfend. »Schwarz und gelb. Und nichts wie Haut und Knochen.«

»So?« antwortete Bill. Er fand diese Übertreibung geschmacklos. »Dann würde ich an deiner Stelle doch nicht die Eifersüchtige markieren.«

Hanna zuckte verächtlich die Achseln. Aber er konstatierte mit einiger Genugtuung, daß sie blaß wurde.

»Du scheinst dir auch einzureden,« sagte sie schroff, »daß alle Frauen dir nachlaufen.«

»Alle nicht,« erwiderte Bill, »die alten und häßlichen und giftigen, die schenk' ich dir. Qui trop embrasse, mal étreint.«

Sie schwieg, – die Stille vorm Sturm! Dann entgegnete sie immer nervöser: »Weißt du, wie du auf dich eingebildet bist, das ist wahrhaftig nicht mehr schön.«

»Recht hast du,« bestätigte Bill, »es ist fürchterlich. Aber immerhin mußt du zum Beispiel doch etwas an mir gefunden haben.«

»Nicht viel,« antwortete sie mit zusammengezogenen Brauen.

»Ja, ja, es ist 'ne Tränenwelt,« konstatierte Bill. »Die Männer taugen alle nichts.«

»Du schließt von dir auf andere,« erwiderte sie heftig. Sie war gar nicht wiederzuerkennen, wie sie mit bebenden Händen ihr Taschentuch zerknüllte.

Er lachte amüsiert auf. »Nein, die kleine Frau,« sagte er spöttisch, »mit einmal so schlagfertig! Hast du das bei dem Unhold gelernt?«

Sie fuhr auf. »Bei wem?« fragte sie mit erhobener Stimme.

»Reinhold, Unhold, – 's ist ja alles toute même chose,« erwiderte er wegwerfend.

»Laß meinen Mann aus dem Spiel,« schluchzte sie auf.

Aber jetzt wurde es auch Bill zu bunt. In heller Verzweiflung rannte er im Zimmer auf und ab.

Wahrhaftig, er hatte sich über den biederen Reinhold lustig gemacht, und nun hätte der sich über ihn schief lachen können. Alle Trümpfe waren ja in der Hand des Ehemannes. So ein unglückseliger Liebhaber, der kam gar nicht zur Ruhe, der hatte immerfort liebenswürdig zu sein, in den höchsten Tönen zu flöten, stets im Reiche der Poesie, im Taumel des Glücks zu schwelgen. Das war gewiß sehr stimmungsvoll, aber auf die Dauer doch ungemein anstrengend. Und unterdes saß dieser Glückspilz von Ehemann tagtäglich gemütlich in Schlafrock und Pantoffeln auf seinem Kanapee und futterte die besten Happen, trank seinen Stiefel und qualmte die Stube voll, ließ sich wie ein Herrgott von seiner Frau bedienen und schnauzte sie nach Herzenslust an, sobald nicht alles am Schnürchen ging. War er zärtlich gestimmt, so pochte er auf sein Recht, und wollte er seine Ruhe haben, so hatte er sie ohne Einspruch, – dank diesem Unglückswurm von Liebhaber. Kurz, alle Vorteile waren auf einer Seite und alle Nachteile auf der anderen. Und Bill hätte diesen Reinhold Schneider ohrfeigen können.

Er blieb hart vor Hanna stehen. »Weißt du denn nicht,« sagte er mit leichtem Hohn, »daß du in deinem ganzen Leben nur einen geliebt hast, deinen Mann? Mit mir hast du nicht angebändelt, um deine Ehe zu brechen, sondern um sie erträglich zu gestalten, sie gebrauchsfähig zu erhalten. Ich war für dich nur die pikante Tunke auf das etwas fade eheliche Kochfleisch, weiter nichts. Ich soll deinen Mann aus dem Spiele lassen?« fuhr er wütend fort. »Ja, hast du ihn denn jemals schon aus unserm Spiel gelassen? Von wem redest du beständig? Von deinem Mann. An wen denkst du unentwegt, die Augen auf der Uhr? An deinen Mann. Wenn du herkommst, so grübelst du, wie es ihm heut zu Mittag geschmeckt hat, und wenn du heimkehrst, was du ihm morgen vorsetzen sollst.«

»Mein Mann ist tausendmal besser als du,« schrie sie ihm zu.

»Es scheint wirklich ein Gesetz zu sein,« antwortete er grimmig, »daß Hörner sittlich veredelnd wirken; sobald eine Frau die ihrem Mann aufgesetzt hat, ist er regelmäßig die beste Seele auf Gottes Welt. Wenn du im übrigen hergekommen bist, um Hymnen auf deinen Herrn Gemahl zu singen, dann erlaubst du mir wohl, daß ich das einfach widerlich finde.«

Er redete sich immer mehr in Hitze. »Und wenn du glaubst, mit mir spielen und jede Woche deine eheliche Galle hier überlaufen lassen zu können, dann irrst du dich. Ich hab' die Geschichte jetzt satt. Entweder du gibst sofort ganz klein bei, oder ich verschwinde.«

Sie trat vor ihn hin. »Weißt du, was du bist?« fragte sie mit zuckenden Lippen.

»Ja, – zu bedauern,« erwiderte er.

»Da hast du recht,« gab sie, den letzten Rest von Beherrschung verlierend, zurück. »Ein Mensch wie du ist zu bedauern, – aus tiefster Seele.«

Er hielt gewaltsam an sich. »Ich glaube wirklich, wir täten gut, ein Weilchen voneinander fernzubleiben,« antwortete er, »bis du wieder normal bist.«

»Ich bin normal,« antwortete sie. »Normaler als andere.«

»Das bestreite ich auch nicht,« erwiderte er in geheuchelter Sanftmut. »Es gibt ja außerordentlich schwere Fälle.«

Sie sprang förmlich auf ihn zu, mit geballten Fäustchen, als ob sie ihn schlagen wollte. »Du, du,« stammelte sie, »du hast mich auf deinem Gewissen. Alles hast du mir genommen, elend hast du mich gemacht, – und jetzt? Dein Heidelberger Freund hat recht gehabt: Du bist gemein, Bill Petersen, du bist ein –«

Aber vor seinen Augen prallte sie erschrocken zurück, vor diesen starren Augen, die sich in kaltem, unverhülltem Haß unheimlich geweitet hatten, die an die gebrochenen Augen ihres toten Vaters erinnerten. Und während sie sich laut aufweinend über den Diwan warf, sah ihr Bill mit seltsamem Erstaunen nach. Hatte er diese Frau wirklich jemals geliebt, jemals mit ihr gesprochen, sie je gekannt? In dieser einen Sekunde war sie ihm fremd geworden, aus seinem Leben gestrichen.

Nein, er hatte genug. Die Frau ist der Kraftmesser der Geduld, sagt der Türke; und seine Geduld war zu Ende. Wenn seine Freunde, Rottberg und Breda und die anderen, wenn die Stader Ulanen ihn jetzt so in seinem Klubsessel sehen würden, als Häufchen Unglück, da drüben die zornglühende Megäre, sie würden jahrzehntelang ein Hohngeschrei anstimmen, so oft sie ihn zu Gesicht bekämen. Fürwahr, es gab doch eine Vergeltung auf Erden. Dieser Frau gegenüber hatte er nur noch eine Aufgabe, sie zu entfernen, und wenn es mit Gewalt sein mußte. La vie est une affaire brutale, – er konnte daran nichts ändern.

Aber während er sich noch den Kopf zerbrach, wie er sie am schnellsten los wurde, hatte sie die Frage schon entschieden. Sie war über sich selbst erschrocken, über die unwürdige Rolle, die sie soeben vor diesem Manne gespielt, über den Schimpf, den sie ihm angetan. Und ihr besseres Ich, die Selbstachtung, die sie solange in sich zurückgedrängt, hielt sie zurück, ihn um Verzeihung zu bitten, sich vor ihm zu demütigen, wies ihr mit unbarmherzigem Finger den rechten Weg, über Dornen, in Tränen und Herzeleid.

Plötzlich hörte Bill ihre müde, vom Weinen erstickte Stimme:

»Ich gehe.«

Er erhob sich, warf einen Blick auf die Uhr.

»Ja,« antwortete er eisig. »Es ist Zeit.«

Sie zuckte trotz ihres Entschlusses zusammen. Einen Augenblick sahen sie sich schweigend an. Und dann wußten beide, daß dies der Abschied war.

Stumm fuhren sie bis zur Kurfürstenstraße.

»Lebe wohl,« sagte sie vor dem Aussteigen leise.

Er antwortete, ohne sich zu regen:

»Lebe wohl.«

Es war zu Ende.

 

Bitterschwere Wochen waren es, die Hanna nun durchlebte, Wochen, die das bißchen Glück, das ihr die letzten Monate gebracht, tausendfältig in Schmerzen aufwogen. So fest auch ihr Entschluß war, keinen Versuch zu einem Ausgleich zu tun, sich nicht durch eine Abbitte noch mehr zu vergeben, als sie es schon getan, so wenig sie auch nach Bills Charakter und Verhalten darauf rechnen konnte, daß er ihr auch nur einen Schritt entgegenkam, – das Herz geht seine eigenen Wege, und Hoffnung hat ein zähes Leben; immer wieder kämpfte diese Hoffnung in Hanna sich hoch, immer häufiger sank sie zusammen, je mehr Hanna körperlich nachgab. Sie durchlitt jetzt das Schwerste, was uns Menschen zermürbt, das bange Warten von Tag zu Tag, von Stunde zu Stunde, himmelauf und höllenab. Schon einmal hatte sie es getan, ehe sie sich zu ihrem ersten Brief an Bill entschloß. Aber damals glaubte sie noch an Liebe und Treue, jubelte ihre Seele dem Unbekannten entgegen, das im Morgendämmern aus weiter Ferne geheimnisvoll zu ihr hinüberwinkte, damals harrte sie noch auf der Sonne Aufgang, rüstete sie mutig ihr kleines Lebensschiff zur verwegenen Fahrt über die schimmernde See; heute jedoch rang sie mit der zerschmetternden Erkenntnis, daß die Sonne für immer in schwarzen Wolken untergegangen, daß ihr schwaches Boot mit geborstenem Kiel zur Küste zurücktrieb.

Wieder saß sie an jedem Montagabend allein, die Hände müßig gefaltet, die Augen ins Leere starrend, die Gedanken weit, weit weg, bei ihm; und sie sah ihn, die Zigarette im Munde, in seinem Klubsessel sitzend, ein Bein über das andere gelegt, wie er es liebte, sah das rote Zimmer mit dem Diwan, den Waffen, den Bildern, sah die Tür mit den kleinen Fensterscheiben, durch die sie ihm damals gefolgt. Und sie sprang auf, griff nach Hut und Mantel, unfähig, die Qual noch länger zu ertragen, entschlossen, zu ihm zu eilen, um ein wenig Liebe, ein wenig Erbarmen zu betteln. Aber jedesmal warf sie die Sachen wieder hin. Sie wußte ja jetzt, es wäre doch umsonst gewesen.

Von Tag zu Tag wurde sie schmäler, stiller, kränker.

Und immer heißer brannte die Scham in ihr, daß dieser ihr im Grunde so weltenferne Mann sie sein genannt. Hätten die anderen ihr nicht so Schlimmes von Bill erzählt, hätten sie nicht getuschelt und die Hände zum Himmel gehoben, sie hätte sich nicht betören lassen, nie den unglückseligen Brief geschrieben. Jede Erinnerung an seine Liebkosungen glühte nun wie ein Feuermal auf ihrem Körper. Und wie uns alles um uns an einen lieben Toten gemahnt, den wir vergessen möchten und nicht vergessen können, so dachte auch sie in Schmerzen fortwährend nur an ihn, lebte sie noch immer in ihm. Diese Nadeln hatten seine Hände berührt, jenen Handschuh hatte er ihr abgestreift und ihren Arm mit Küssen bedeckt. Zog sie sich an, so sah sie ihn immer wieder an einem eisigen Wintertage vor ihr knien und ihre Füße in seinen Händen wärmen; ging sie zur Ruhe, so fühlte sie ihn den Duft ihres Haares einatmen, das sich bei seinen Zärtlichkeiten in langen Wellen gelöst. Und dabei stets das schreckliche, niederdrückende Bewußtsein, betrogen, mißbraucht, verworfen zu sein, die demütigende Überzeugung, die ihr Schauer auf Schauer über den Rücken jagte, sich einem Manne hingegeben zu haben, der sie in untrüglicher Berechnung, mit hundertmal erprobten Mitteln in Flammen setzte, während er selbst in kühler Ruhe prüfte, verglich, genoß, wie ein Virtuose leidenschaftslos zum hundertsten Male dieselbe Melodie geigt und doch den Hörer zu Tränen rührt, die Gewißheit, daß er den Bruch gewollt, sie in den Zwist hineingehetzt hatte, um sie ins Unrecht zu bringen.

Das Furchtbarste aber waren die Nächte. Wie graue, ekle Fledermäuse huschte es auf, sobald die Lampe erlosch, stundenlang, bis in die Morgendämmerung hinein. Wie Blei waren ihr die Glieder, dunkle Schatten legten sich um ihre Augen, mühsam erhob sie sich, von Reinhold geweckt, zu neuem Tagewerk, kaum daß der Schlaf sich ihrer erbarmt hatte.

Und wie einst in der Stunde des Taumels ihre Lippen geblutet, so blutete nun in Tagen und Wochen der Reue ihr Herz.

Doch schon reckte sich eine andere Sorge vor ihr auf, begierig, sie in ihren grauen Schleier zu hüllen.

Draußen rumorte Frau Busch, die Aufwartung, mit dem hervorragenden Geschick aller Küchenfeen, das Geräusch ihrer Tätigkeit ihrem jeweiligen Gemütszustand anzupassen. Und heute klirrten die Teller und Tassen, daß selbst Hanna aus ihrer Versunkenheit aufschreckte und um ihr Geschirr zu bangen begann.

Aber sie wagte es nicht, hinauszugehen. Sie hatte Furcht vor ihr.

Denn trotz ihrer Bekümmernis war es Hanna aufgefallen, wie das Gesicht dieser Frau, das damals, als Hanna sie engagierte, nichts als Güte und Redlichkeit widergespiegelt, sich ganz allmählich gewandelt hatte; und schon seit langem pflegten die wasserhellen Augen mit den geröteten Lidern sie so kalt, so hartnäckig, in stummer Frage zu mustern, daß Hanna ihr unwillkürlich aus dem Wege ging.

Das hatte angefangen, als Hanna zum dritten Male bei Bill gewesen war. Als sie an diesem Abend gegen zwölf nach Hause kam, war ihr das Herz vor Schrecken fast stehen geblieben. Durch die matten Scheiben der Glastür schimmerte Licht. Und schon näherten sich schlürfende Schritte, die Tür ging auf, und Frau Busch stand vor ihr. Auf dem Diwan lag eine Decke zusammengeballt, die Frau hatte es sich dort bequem gemacht.

»Frau Busch?« hatte Hanna gestammelt. »Ist etwas passiert?«

»Was soll denn passiert sein?« hatte die Frau mürrisch geantwortet. Ihre Blicke glitten aufdringlich über Hanna hin, prüften jeden Zug ihres Gesichts, jeden Haken, jede Falte ihres Kleides. »Ich bin bloß noch herumgekommen, weil ich dachte, Sie sind hier. Zwei Stunden hab' ich gewartet. Mein Alter hat wieder sein scheußliches Reißen, und ausgerechnet schmeißt er noch die ganze Medizin um. Das Zeug kostet ein Sündengeld, zwei Mark fünfzig, und den letzten Groschen hab' ich heut zum Wirt 'raufgetragen. Da wollte ich Sie um Vorschuß bitten, sonst hat er keine Ruhe, und ich erst recht nicht.«

In der zitternden Angst, Reinhold jeden Augenblick die Treppe heraufkommen zu hören, hatte Hanna hastig in die Tasche gegriffen und ihr das Geld gegeben.

Die ganze Nacht hatte sie überlegt, wie sie der Frau ihren Ausgang erklären könnte; denn daß sie nicht mit Reinhold zusammengewesen war, hatte diese ja gesehen. Aber sie mochte sich noch so sehr den Kopf zerbrechen, sie fand keinen Vorwand.

Sie war eben die reine Gefangene! Ja, wenn ihr Mann bis in den Abend im Amt gewesen wäre, wie andere in ihrem Laden, in ihrer Sprechstunde, im Dienst! Da brauchte man keine Ausflüchte, wurde man nicht ständig beaufsichtigt. Aber vormittags war ja Frau Busch da, und Bill im Kontor, und nachmittags hielt ihr Mann sie fest; nur den einen Montag, wenn er ausging, war sie frei. Und auch das erst lange nach acht, wo alle Geschäfte geschlossen hatten, wo keine Ausrede Frau Busch gegenüber glaubhaft war.

Sie war und war auf keinen Ausweg gekommen.

Und am nächsten Morgen, als sie den Blick der Frau doppelt schwer auf sich lasten fühlte, war sie mit etwas ganz Törichtem herausgeplatzt:

»Wir haben nämlich ein Kränzchen, alle Montag,« sagte sie, »die Frauen vom Skatklub, in einer Damenkonditorei. Aber unsere Männer dürfen das nicht wissen ... Die sind ja so komisch und gönnen einem nichts.«

»Freilich,« hatte Frau Busch mit eiserner Ruhe bestätigt. »Mir brauchen Sie das nicht erst zu sagen, Frau Schneider, die Brüder kenn' ich.« Sie sprach ganz bieder und treuherzig, und doch hatte Hanna das Gefühl, als meine sie es nicht ehrlich. »Also ein Kränzchen,« fuhr die Frau fort, »sieh einmal an! Wohl kein Jungfernkränzchen, was, so mehr verheiratet?«

»Jawohl,« antwortete Hanna unsicher.

»Das hab' ich mir nämlich schon lange gedacht,« bemerkte Frau Busch in auffälliger Betonung, »man hat ja doch auch seine Grütze im Kopf. Aber in solchen Sachen, Frau Schneider, da können Sie sich ganz auf mich verlassen, da kriegt Ihr Mann keinen Ton von mir zu hören. Alles wissen macht Kopfschmerzen, besonders bei Ehemännern.«

Als jedoch am nächsten Sonnabend Hanna ihr das geliehene Geld für die Medizin vom Wochenlohn abziehen wollte, hatte Frau Busch sich mit Händen und Füßen gewehrt.

»Einer armen Frau wollen Sie die paar Groschen wegnehmen?« jammerte sie ihr vor. »Das ist ja das reine Verbrechen. Und eine Hand wäscht doch immer noch die andere.«

Hanna hatte nachgegeben, in dem unglückseligen Zurückweichen des schlechten Gewissens, das den Schuldigen in fremde Hände gibt, in immer neue Opfer verstrickt. Und seitdem war Frau Busch fast jede Woche ein- oder zweimal unter stets neuen Vorwänden mit ihrer Bitte um »Vorschuß« gekommen. Erst waren es kleine Beträge gewesen, eine, zwei Mark, dann stiegen sie, so daß Hanna nur mit aller Mühe noch in ihrem Wirtschaftsgeld das Gleichgewicht hielt.

Eines Tages vermißte sie beim Nachzählen der Wäsche eines ihrer Hemden.

»Das Hemd?« antwortete Frau Busch kriegerisch. »Das hab' ich mir mitgenommen, das war der reine Fetzen. Mit so 'nem Hemd können Sie sich doch Montags in Ihrer Konditorei nicht blamieren.«

Wiederum hatte Hanna es nicht gewagt, auf Zurückgabe zu dringen. Und seitdem war bald dies, bald jenes Stück aus der Wirtschaft verschwunden. Wehrlos hatte Hanna zusehen müssen, wie sie offen bestohlen wurde.

In diesen Wochen war sie unter dem wachsenden Gefühl einer drohenden Katastrophe nervös geworden, und selbst auf ihr Zusammensein mit Bill hatte diese Sorge ihren Schatten geworfen. Aber ihr Stolz hatte es ihr verwehrt, von ihren Befürchtungen zu sprechen, es wäre ihr zu entsetzlich gewesen, wenn Bill in irgendeiner Form ihr seine Hilfe angeboten hätte.

Und an dem Nachmittag jenes Unglücksmontags, an dem es abends zum Zerwürfnis mit Bill gekommen, hatte Frau Busch, als Hanna sich gerade anzog, sie um zehn Mark gebeten. Der Keller sei so feucht, sie müsse ihrem Mann eine warme Weste kaufen.

»Es tut mir leid, Frau Busch,« antwortete Hanna ängstlich. »Ich habe mich vollständig verausgabt, jetzt vor dem Ersten.«

Frau Buschs Augen leuchteten tückisch. »Das ist doch Mumpitz,« erwiderte sie grob. »Sie brauchen ja bloß den Mund aufzutun, und Sie haben die Tasche voll Geld.«

»Ich?« stammelte Hanna. »Mir gibt kein Mensch einen Pfennig.«

»Hören Sie mal, Frau Schneider,« trumpfte Frau Busch auf, »für so dämlich dürfen Sie mich nun nicht halten, daß ich das glaube. Oder sind Sie vielleicht so blöde, daß Sie noch ›Danke schön‹ sagen? Das Knutschauto hier an der Ecke, das kennen wir doch.«

»Aber Frau Busch,« schrie Hanna auf.

»Aber Frau Schneider,« echote die Busch kampflustig. Dann jedoch setzte sie milder hinzu: »Herrgott, ich bin ja gar nicht so. Meinetwegen brennen Sie jede Nacht durch. Aber dummerweise habe ich meinem Alten davon erzählt, wie das so unter Eheleuten ist – wovon soll man denn auch den ganzen Tag reden? Und das ist einer, mit dem ist nicht gut Kirschen essen, trotz seines Holzbeins. Der hat ganz einfach gesagt, ›Emma,‹ hat er gesagt, ›das ist 'ne feine Sache für uns. Da paßt du wie ein Schießhund auf und sorgst, daß was Ordentliches abfällt, sonst gibt's was aus der Armenkasse.‹ Nun sagen Sie selbst, Frau Schneider, soll ich mir Ihretwegen jeden Abend die Jacke vollhauen lassen? Es ist doch auch Ihr Vorteil; wer weiß, was der Alte in seiner Wut sonst anstellt. Denn fackeln tut der nicht lange, dazu hat der schon zuviel hinter sich. Also morgen krieg' ich das Geld, abgemacht, was?« schloß sie energisch.

Hanna fing hilflos an zu weinen.

»Gottedoch,« tröstete Frau Busch sie. »Nehmen Sie sich lieber einen anderen, und dann gleich festen Kontrakt. Und lassen Sie sich raten, vergessen Sie ab und zu auch Ihren Mann nicht, für alle Fälle, wenn Ihnen mal was passiert.«

Hanna kam sich wie durch den Schlamm gezogen vor. Und in dieser verzweifelten Stimmung ging sie zu Bill, trennte sie sich für immer von ihm.

Am nächsten Morgen gab sie Frau Busch, so schwer es ihr auch wurde, das Geld.

 

Inzwischen hatte Bill die letzten Wochen seit seiner Trennung von Hanna ganz erträglich verlebt. Im Grunde imponierte sie ihm doch; die ganze Art, wie sie selbst die Konsequenzen ihres Verhaltens gezogen, dem beiden zum Überdruß gewordenen Zustand ein Ende gemacht, einfach von der Bildfläche verschwunden war, zeugte entschieden von gutem Geschmack. Und gerade dieses mustergültige Benehmen legte ihm verdoppelt die Pflicht auf, auch seinerseits sich still zu verhalten und Gras über die Episode wachsen zu lassen. Er wußte ja auch, solche Verhältnisse, wenn einmal geborsten, lassen sich nie wieder zusammenleimen, und jeder Versuch hierzu führt nur zu neuen Auftritten, herberen Enttäuschungen; und gerade bei dieser, so ungemein bedenklichen Eheaffäre noch einmal zu riskieren, ob man im guten auseinanderkam, das hätte geheißen, die Götter versuchen.

Eigentlich hatte er sich über die Trennung von Hanna auch gar keine grauen Haare wachsen lassen, denn alle die freundlichen Erinnerungen an sie, die er trotz allem in seinem Gedächtnis bewahren würde, waren zunächst vor dem befreienden Gefühl zurückgetreten, noch einmal mit einem blauen Auge davongekommen zu sein. Und so folgten sich auch immer häufiger die Tage, an denen er kaum noch an Hanna dachte, – um so weniger, als er inzwischen sich gegen ein neues Attentat auf seine Freiheit zu wehren hatte.

Als er nach der Gesellschaft bei Dorners, auf der er Cilly kennen gelernt, nach Hause fuhr, war er recht wenig mit sich und der Art zufrieden gewesen, wie er dem etwas reichlich selbstbewußten jungen Mädchen gegenüber abgeschnitten hatte. Ehrlich gestanden, hatte diese Cilly ihn und alle anderen doch verflucht von oben herab behandelt. Warum hatte er nur nicht, wie sonst doch immer, den rechten Ton gefunden, um ihr Paroli zu bieten, statt diesen zweifellos recht mäßigen Eindruck zu hinterlassen? Freilich, so leicht war es nicht, mit solcher höheren Tochter fertig zu werden, die sich mit dem ganzen Stolze Englands umgürtete und zu gleicher Zeit sich das Recht nahm, jedem über den Mund zu fahren. Und so sagte er sich denn als seiner Weisheit Schluß: Die Sterne, die begehrt man nicht, und gab sich alle Mühe, diese junge Dame, die nebenbei noch Hannas Cousine war, schleunigst zu vergessen.

Er ahnte nicht, daß diese Verstimmung über sich und Cilly, diese ungewöhnliche Empfindlichkeit der erste, winzige Keim eines Gefühls war, das über sein Leben entscheiden sollte.

Aber wenn er mit Cilly fertig zu sein glaubte, so hatte er die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Und der Wirt war in diesem Falle Frau Thekla.

Nimmt eine Mutter von der Jugend Abschied oder – was auf dasselbe herauskommt – wird sie durch die heranwachsende Tochter zu diesem Abschied gezwungen, dann greift auch die Beste ihres Geschlechts nach ein und demselben Ersatz, dem Lorbeer der ehestiftenden Schwiegermutter.

Frau Thekla Dorner war diese noch weit schwieriger als früher zu behandelnde Tochter im Hause mindestens ebenso unbequem, wie umgekehrt. Und so stellte sich denn bei Frau Thekla der Gedanke, sie so bald als möglich wegzugeben, von selbst ein; hierzu aber kam ihr Bill, dieser reiche Hamburger Patriziersohn, sehr gelegen, und sie suggerierte sich schleunigst die Überzeugung, daß ihre Mutterpflicht es dringend heischte, aus diesen beiden ein glückliches Paar zu machen.

Natürlich hütete sie sich wohl, bei Cillys sattsam bekanntem Widerspruchsgeist von ihrem Plane etwas verlauten zu lassen. Sie hätte es jedoch in diesem Falle ruhig tun können; denn auch Cilly strebte mit Händen und Füßen von ihr fort, auch sie hatte sich längst gesagt, daß eine Heirat eine Erlösung für sie wäre.

Sie war, wie sie es ja selbst erklärt hatte, eine kühle Rechnerin. Mit dieser Nüchternheit aber verband sie die Zähigkeit des Willens, die Kunst des Abwartens, die Energie des Entschlusses im gegebenen Augenblick.

Ein solcher Charakter hält nicht fein still, bis die Eltern über sein Los entscheiden, ein solches Mädchen nimmt sein Schicksal selbst in die Hand. Cilly wußte, sie war eines reichen Mannes Kind; aber sie kannte auch die Kreise, in denen die Eltern sich heimisch fühlten, aus denen sie ihren Schwiegersohn wählen würden, und sie hatte keine Lust, über kurz oder lang irgendeinen ihr aus dem Milieu des Skatklubs präsentierten Selfmade-Sprößling zu nehmen, um mit ihm in derselben Sphäre zu verkommen, der sie mit allen Mitteln zu entgehen strebte. Und selbst wenn sie dieser Gefahr entging, wenn es ihr gelang, sich ihren eigenen Verkehr zu schaffen, einen Mann zu gewinnen, der sie der drückenden Luft des Elternhauses entzog, – wer weiß, ob Vater und Mutter sich nicht dagegen gesträubt, und ihr Erwählter sich nicht an dem ganzen Ton ihrer Umgebung gestoßen hätte. Man heiratet ja nicht die Frau, sondern die Familie. Ein Leutnant, ein Referendar, irgendein Mitgiftjäger kam für sie nicht in Frage, ebensowenig ein Himmelhochjauchzen mit dem zweifelhaften Raum in der kleinsten Hütte; es mußte ein Mann sein, der auch materiell eine Zukunft hatte, ihr eine solche bieten konnte. Aber selbst wenn sie diesen Mann, diese Stecknadel im Heuhaufen fand, so würde er vermutlich an Berlin gebunden sein, und ihre Mutter würde Tag für Tag sich in den jungen Haushalt mischen, bei den Diners der Tochter das große Wort führen, sie und den Ehemann zur Verzweiflung bringen.

Und nun sandte ihr der Himmel diesen Bill, diesen künftigen Millionär, den Sohn des Hamburger Senators.

Niemals wieder würde das Glück so nah an ihr vorüberschweben. Und – was bei ihrem eigenen, von Sentimentalitäten nicht angekränkelten Wesen das Merkwürdigste war, – Bill, dieser Bill, dieser verbummelte, mit allen Hunden gehetzte Leichtsinn hatte es ihr angetan; schon ehe sie ihn gesehen, sich ihre Chancen klargemacht, kaum, daß sie von ihm gehört, hatte sie das Empfinden gehabt, daß er eine Wendung in ihrem Leben bedeutete. Daß er als Nichtsnutz galt, störte sie nicht; alles war ihr lieber als ein Philister; und sie hatte schon oft gehört, daß meist aus solchen Durchgängern die besten Ehemänner werden.

Zum erstenmal waren Mutter und Tochter, ohne eine Ahnung davon zu haben, sich durchaus einig.

So hatte denn auch Cilly nichts dagegen, als Frau Thekla hin und wieder Bill en petit comité einlud, und zwar ausgerechnet an den Montagen, an denen Berthold Dorner seinen Skatabend hatte. Denn sowohl Frau Thekla, wie Cilly hielten es für besser, den Hausherrn nicht zu tief in ihre Karten gucken zu lassen.

Aber Frau Theklas Vorwand, sich und Cilly den stillen Abend ohne Hausherrn etwas verkürzen zu wollen, war denn doch gar zu fadenscheinig.

Berthold Dorner lachte.

»Gib dir bloß keine Mühe,« sagte er zu seiner Frau. »Der Bengel wird den Teufel tun und anbeißen. Für dumm darfst du den Petersen nicht kaufen.«

»Du tust ja gerade, als ob eine Heirat ein Unglück wäre,« antwortete Frau Thekla gereizt.

»Nichts in der Welt läßt sich schwerer ertragen, als eine Reihe von guten Tagen,« erwiderte Berthold Dorner schmunzelnd. Und mit dem Scharfblick, der eine Eigenart aller töchtergesegneten Väter ist, setzte er hinzu: »Übrigens kannst du darauf Gift nehmen, die Cilly heiratet eher den alten Voigt, als den Petersen.«

Aber trotz seines Humors ging ihm diese Ehestifterei doch durchaus gegen den Strich, um so mehr, als es sich um Bill, den Sohn des Hamburger Geschäftsfreundes, handelte. Er hatte keine Lust, sich Nackenschläge zu holen; und da er ein zu guter Geschäftsmann war, als daß er nicht gern zwei Sehnen auf seinem Bogen gehabt hätte, nahm er, als er am gleichen Abend beim Fortgehen Bill auf der Treppe traf, gleich die Gelegenheit wahr.

»Nun, wie geht's?« fragte er ihn kordial.

»Wie es einem armen, unbesoldeten Volontär gehen kann,« antwortete Bill bekümmert.

Berthold Dorner zögerte einen Moment. »Ich warne Sie, junger Freund,« sagte er dann offen. »Da oben läuft eine angehende Schwiegermutter wie eine Löwin herum und sieht, wen sie verschlinge.«

»Keine Sorge, Herr Dorner,« erwiderte Bill verständnisinnig. »Ich bin total ungenießbar.«

»Wissen Sie« – Berthold Dorner wurde ein wenig verlegen, – »Sie sind ja ein netter Kerl. Aber, offen gesagt, als Schwiegersohn wären Sie mir zu – zu –«

»Zu helle,« ergänzte Bill treuherzig.

»Ganz recht, so ungefähr,« bestätigte Berthold. »Also, 'nen Abend, mein Lieber.«

»Guten Abend, Herr Dorner.«

Bill war durch diesen freundschaftlichen Wink nicht überrascht; dazu waren diese Einladungen zu plötzlich gekommen. Aber einerseits war er der Meinung, daß sie nur von der Mutter ausgingen, und daß Cilly, dieser Gletscher, nicht im Traume an ihn dachte, andererseits hatte er einen ganz bestimmten Grund, sie nicht abzulehnen. Sein Ziel war, alles aufzubieten, um erstens seine Verbannung nach Berlin zu verkürzen und zweitens seinen Monatswechsel zu verlängern. Aber er kannte seinen alten Herrn: Ehe der nicht sichtbare Zeichen der Läuterung sah, würde er merkwürdig taub bleiben, darüber hatte er Bill bei dessen Besuch über Weihnachten und Neujahr keinen Zweifel gelassen. Bill mußte also vor allem dafür sorgen, daß der alte Dorner rosenrot über ihn nach Hamburg berichtete; dann erst wollte Bill selbst von neuem sein Glück beim Vater versuchen. Um aber diesen Effekt zu erzielen, hielt Bill es für klug, sich Frau Theklas Gunst zu sichern; mochte Berthold Dorner auch noch so sehr seinen Dickkopf haben, – kein Ehemann, der nicht auf seine bessere Hälfte hört, und was die Frau will, will noch immer der liebe Gott.

Es war jedesmal dieselbe Sache: Heringssalat oder Rührei mit Schinken und Flaschenbier und der obligaten Versicherung Frau Theklas, daß sie keine Umstände gemacht habe, was Bill innerlich lebhaft bedauerte; dann die Übersiedlung in die Wohnstube und Gruppierung in den Sesseln um die Stehlampe herum.

Und Frau Thekla versuchte auf ihre Art Konversation zu machen.

»Wie alt ist der Herr Senator eigentlich?« eröffnete sie die Unterhaltung.

»Einundsechzig, gnädige Frau.«

»Nicht älter?«

»Nein.«

»Und wie lange ist er Witwer?«

»Bald achtundzwanzig Jahre.«

»So lange?«

»Jawohl.«

»Und er hat nicht wieder geheiratet?«

»Nein, gnädige Frau.«

»Warum denn nicht?«

»Das weiß ich nicht.«

»Ist das nicht komisch?«

Bill schwieg und sandte einen verzweifelten Blick zu Cilly hinüber, die ihn verstohlen erwiderte.

»Woran ist denn Ihre Mutter gestorben?«

»Zu meiner Schande muß ich mich als Ursache bekennen.«

»Im Wochenbett?«

»Ja.«

»Am Kindbettfieber?«

»Vermutlich, gnädige Frau.«

»Da ist sicher was versäumt worden?«

»Wahrscheinlich.«

»Taugte denn die Hebamme nichts?«

»Darüber kann ich nichts sagen.«

»Da waren Sie also noch ganz klein?«

»Ja, gnädige Frau.«

»Merkwürdig!«

Und Frau Thekla angelte verzweifelt unter dem Saum ihres Kleides nach ihren Schuhen.

Manchmal aber hatte Frau Thekla an diesen Abenden ihre Nerven; denn so oft sie die beiden jungen Leute recht gemütlich zusammen erblickte, fieberte sie nach einem Resultat, wurde sie gereizt, wenn sie ihre Hoffnungen durch Cilly bedroht sah. Besonders konnte sie es nicht vertragen, wenn Cilly sich »modern« gab; sie war förmlich darauf erpicht, sie als unbeschriebenes Blatt hinzustellen, aus dem instinktiven Gefühl heraus, daß dieser Typ, »kein Engel ist so rein«, für Bill etwas Neues, Anziehendes sein mußte.

An diesem Montag war sie unzufrieden, weil Cillys Kleid nach ihrer Ansicht viel zu kurz war; sie fand diese Tracht direkt skandalös. Und um zu retten, was zu retten war, zankte sie laut vor Bill über den Schneider.

Bill sah Cilly mit heimlichem Lächeln an. »Sie lieben es kurz zu gehen?« fragte er.

»Ist das etwa kurz?« gab sie ein wenig kokett zurück.

»Kurz und gut,« antwortete er. Manchmal gefiel sie ihm eigentlich famos.

Aber sie war mit seiner Antwort nicht zufrieden. »Hängt denn die Tugend von der Länge des Rockes ab?« fragte sie wieder und hob die dunklen Augen zu ihm auf.

»Nein,« erwiderte er lächelnd, »aber manchmal die Länge des Rockes von der Tugend.«

Und dann lachten sie beide, während Frau Thekla angesichts der guten Laune ihres Gastes sich zu ihrer Rettung des Kapitols gratulierte.

Aber solche Geplänkel zu dritt waren doch nur selten, gewissermaßen die Rosinen im Teig des künftigen Hochzeitskuchens. Meist hockte Frau Thekla hinter ihrem Leibblatt verschanzt, von Zeit zu Zeit ein Nickerchen machend und vorsichtig wieder die Augen öffnend, worauf sie eine ungeheuerliche Geschichte erzählte, die sie eben geträumt habe.

So saßen denn die jungen Leute so gut wie allein und plauderten.

Und Bill mußte sich gestehen, er fand allmählich Geschmack an diesen Abenden. Langweilig war Cilly nicht; sie hatte eine famose Art, ihn zum Sprechen anzuregen, die ihm Vergnügen machte, und äußerte so verständige Ansichten, daß er ihr gern zuhörte.

»Ja,« sagte er auf ihre Frage hin einmal in seiner beliebten Selbstverspottung, »sechs Semester war ich auf Hochschule, München, Freiburg, Bonn. Korpsstudent, Zweibändermann.«

»Was haben Sie eigentlich studiert?« fragte Cilly.

»Erdkunde,« antwortete er ohne Zögern. »Bayerisches Oberland, Berner Alpen, Rheinisches Schiefergebirge.«

Sie lachte. »Und das Examen?« fragte sie weiter.

»Festina lente, eile mit Weile, pflegte zu seinen Lebzeiten der alte Kaiser Augustus zu sagen,« erwiderte er. »Leider zeigte jedoch mein edler Erzeuger im psychologischen Moment einen bedenklichen Mangel an Imperatorengröße; nach drei Jahren rastloser Untätigkeit sandte er mich per Schub hierher, um die Firma C. B. Dorner zu sanieren.«

»Nein,« fuhr Frau Thekla hoch, »nicht eine Minute hab' ich geschlafen. Und wißt ihr, was ich geträumt habe? Das große Los hab' ich gewonnen.«

»Könnten Sie mir nicht à conto dieses Traumes mit einigen braunen Scheinen unter die Arme greifen?« fragte Bill.

Doch schon hatte Frau Thekla die Augen wieder geschlossen. Die Kinder unterhielten sich so nett, – um Gottes willen nicht stören!

Aber der Mammonstraum der Frau Thekla hatte plötzlich in Bill die Erinnerung an seine Hoffnungen wieder geweckt, diese Hoffnungen, von denen Frau Thekla nichts wissen durfte. Wenn er ehrlich sein wollte, – hübsch war es eigentlich nicht, wie er sie, allein schon durch sein Hiersein, heimtückisch in ihren schwiegermütterlichen Erwartungen bestärkte, nur um so bald als möglich den Staub Berlins von seinen Füßen schütteln zu dürfen.

Aber noch ein anderes kam hinzu, das ihn schwer drückte, so daß seine gute Laune heute recht sehr an Galgenhumor streifte.

Es hatte ihm doch einen Ruck gegeben, wie ihm der alte Dorner soeben bei seiner Warnung vor Frau Theklas Plänen recht unverblümt zu verstehen gegeben hatte, daß er für einen Bill Petersen als Schwiegersohn dankte. Mochte es noch so jovial eingekleidet sein, niemals in seinem Leben hatte Bill bisher es hören müssen, daß er gewogen und zu leicht befunden war.

Er hätte gar zu gern diesen Zwischenfall auf die leichte Achsel genommen, sich innerlich über den spießigen alten Herren mit einem Scherz hinweggesetzt. Er konnte es nicht; dazu achtete er diesen Mann doch zu sehr, der in Arbeit und Pflichterfüllung seinen Weg gemacht hatte. Er konnte es nicht, auch aus einem anderen Grunde, den er schon längst dunkel empfunden, den er nicht wahr haben wollte und der doch wahr blieb.

Sein Auge glitt über Cilly; sie saß ihm gegenüber, die weißen Hände lässig im Schoß gefaltet, die schmalen Füße leicht gekreuzt. Und wie sie jetzt, von dem Lampenschirm rosig angehaucht, ihn stumm mit ihren dunklen Augen ansah, blieb ihm plötzlich das Herz fast stehen. Er kannte diesen Blick aus manchem Frauenauge, er wußte, daß so nur die Liebe blickt, wußte in dieser Sekunde, daß nicht nur er sie liebte, lange schon, gegen seinen Willen, sie liebte, wie er noch nie im Leben geliebt, sondern daß auch ihr Herz sich ihm geneigt hatte.

Wußte in dieser Sekunde, daß jede Schuld auf Erden sich rächt, daß er sich selbst sein Glück zertrümmert hatte.

Denn diese Cilly, sie, vor der seine Ehescheu in nichts verflog, die er mit tausend Freuden heimgeführt hätte, konnte niemals sein Weib werden. Nie würde er die Stirn dazu haben. An jede Tür durfte er klopfen, an Berthold Dorners nicht. In diesem Haus war Hanna wie ein eigen Kind erzogen worden, in diesem Hause war für ihren Mitschuldigen kein Platz. Alles würde ihm Cilly verzeihen, seine leichtsinnigen Streiche, seine ganze Vergangenheit; aber wenn jemals an das Licht kam, daß er um sie geworben, fast noch mit Hannas Küssen auf den Lippen, diesen Küssen einer Frau, mit der er die Ehe gebrochen, ihrer eigenen Cousine, – nie würde Cilly darüber hinwegkommen, nie Berthold Dorner, nie sein eigener Vater. Eine ewige Lüge würde sein Leben werden, zwischen all diesen Menschen, die ihm vertraut hatten, an der Seite dieser Frau, die ihn liebte, eine Hölle auf Erden; und jedes unbedachte Wort während der Brautzeit in Hannas Gegenwart, der kleinste Streit der Schneiderschen Ehegatten konnte jeden Augenblick den Verrat, das Ende bringen. Er wußte, wozu getäuschte Liebe, gekränkter Frauenstolz fähig war, bis zur Selbstvernichtung, wußte es aus Rottbergs und Nostriz' Schicksal, und Hannas hartnäckiges Schweigen hatte ihn ganz im ungewissen gelassen, ob nicht auch sie in heißem Groll seiner gedachte, jede Gelegenheit zur Rache ergreifen würde.

Und so tat er denn rasch entschlossen, was ihm die Pflicht gebot.

»Machen Sie mir die Freude, mein gnädiges Fräulein,« bat er, »und spielen Sie mir ein wenig vor.«

Sie blickte ihn in jäher Spannung an; seine Stimme hatte einen seltsam fremden Klang gehabt. Aber sie sah an seinen unbeweglichen Zügen, daß sie sich getäuscht haben mußte.

Ruhig stand sie auf, ging in das Nebenzimmer und setzte sich an das Instrument. Bill folgte ihr. Frau Thekla blickte ihnen vorsichtig nach, ohne sich aus ihrem Sessel zu rühren.

Er hörte Cilly still zu, wie sie in vollendeter Technik Chopin paraphrasierte. Und als sie dann die Hände sinken ließ und ruhig sitzen blieb, sagte er, an ihr früheres Gespräch anknüpfend:

»So ganz leicht hab' ich es mit meinem alten Herrn überhaupt nicht. Er leidet an der fixen Idee, die standesamtliche Hundesperre über mich zu verhängen. Aber das ist der einzige Gefallen, den ich ihm nicht tue. Mir fehlt noch viel zu sehr die Kunst der Konzentration, die die Ehe verlangt, die – wie es so schön heißt – sittliche Reife für Maulkorb und Stachelhalsband, die Resignation für Leine und Hundehütte. Und ich habe die Frauen viel zu lieb, um auch nur eine von ihnen ihr ganzes Leben mit mir vertrauern zu lassen.«

Er konnte, hinter ihr stehend, ihr Gesicht nicht erkennen. Sie hatte, während er sprach, von neuem leichte Akkorde angeschlagen, so nachlässig, daß sie wiederholt danebengriff.

Sie schwieg eine Weile. Dann sagte sie, ohne ihn anzusehen:

»Bei Ihnen ist man nie seiner Sache sicher. Ist das nun eine neue Art Flirt?«

»Kein Gedanke,« antwortete er. »Wenn ich mit Ihnen flirten wollte, – o je, da ginge ich ganz anders vor. Zunächst würde ich heute Ihr Mitleid zu wecken suchen, mich als reuigen Sünder aufspielen, den nur der Zauber einer edlen, keuschen Frau erretten kann. Und dann würde ich Ihnen nächsten Montag gestehen, dumpf und heiser, in hoffnungslosem Verzicht, daß ich Sie wie ein Wahnsinniger liebe. Das wird vielleicht nicht ganz nach Wunsch wirken, man sieht das zu oft jetzt in den Kinos. Aber wenn ich über vierzehn Tage mit gebrochener Stimme bemerke, daß ich nur noch die Wahl zwischen der Rückkehr in den Sumpf meiner Freveltaten oder der Kugel habe, wenn ich ein altbewährtes Zitat einflechte: ›Ich bin einer jener Asra‹, und zum Schluß ein schmerzdurchwühltes: ›Cilly, Cilly!‹ herausschmettere, – ich wette hundert zu eins, ich würde nicht ganz und gar ungetröstet im Auto nach Hause wanken. Frauen, die mit uns Mitleid haben, wollen uns nur zu gern retten, und sei es auch auf ihre eigenen Kosten. Eigentlich« – er lachte fröhlich auf – »ist es ein Unrecht von mir, die Batterien der Liebeskunst so offen vor Ihnen zu demaskieren. Wer weiß, ob ich nicht einem künftigen Bewerber damit das Leben schwer mache, der sich den Kopf über Ihre Sachkenntnis zerbricht und nicht ahnt, daß ihm Bill Petersen aus Hamburg heut das Rezept verdorben hat. Aber ich lege merkwürdigerweise Wert darauf, vor Ihnen zu bestehen, und ich frage Sie selbst: Habe ich jemals versucht, mit Ihnen zu flirten? Ehrlich gesagt,« setzte er mit seiner gewohnten Ironie hinzu, »ich wüßte auch nicht, woher ich das Recht dazu nähme.«

Sie schwieg. Dann, als sie plötzlich die Augen hob, begegnete sie einem Blick von ihm, der seine Worte Lügen zu strafen schien.

»Was sehen Sie mich so an?« fragte sie.

»Fishing for compliments?« antwortete er. »Ohne zu renommieren, ich dachte eben nach.«

»Über sich selbst?«

»Ach nein,« antwortete er, »das wäre eine trübsame Beschäftigung. Über den anderen, den Glücklichen, von dem ich eben sprach, den Sie einmal erhören werden. Wenn man den Frühling ahnt,« fuhr er ernster fort, als spräche er mit sich selbst, »wenn Schneeglöckchen und Krokus durch den mürben Schnee ihr weißgefrorenes Näschen stecken, dann tauchen hinter den beschlagenen Glasscheiben der Weltstadt auch andere, berückende Blumen auf, sorgsam in weiche Seidenblätter gehüllt, Kostbarkeiten, die uns der Süden großmütig sendet; stolze Orchideen, rote und bleiche Rosen, auf hohem Stengel schwankend, die in zitterndem Heimweh auf den kalten Schneeregen da draußen starren, duftende Veilchen, die fröstelnd sich danach sehnen, am Herzen einer schönen Frau zu vergehen. Poetisch, was? Und ich sann eben: Werden Sie dereinst in der Tretmühle der Ehe zu einer jener Wiesenblumen herabsinken, die allsommerlich zu Tausenden die breitgestirnten Rinder erfreuen? Oder werden Sie sich immer mehr zu einer jener köstlichen Lenzmärchen erschließen, bis ein Gourmet der Liebe kommt und sich die herrliche Blüte sichert, um jeden Preis, einer, der das allein schätzt, was anderen versagt ist?«

»Einer, der mich davonträgt und am Herzen seines Liebchens opfert?« fragte sie herb.

»Ich hab' es ja gesagt,« antwortete er, sich selbst verspottend, »mit meinen lyrischen Allüren habe ich kein Glück. Ich bin nun einmal dazu verurteilt, daß niemand mich ernst nimmt. Sobald ich tugendhaft werde, hab' ich es bei den Frauen verspielt.«

»Sie sollten den Mut nicht verlieren,« antwortete Cilly mit blassen Lippen. »Auch bei uns ist mehr Freude über einen Sünder als über tausend Gerechte.«

Und ruhig stand sie auf und kehrte zur Mutter zurück.

 

Von diesem Tage an erhielt Bill keine Einladung mehr zu den Montagen. Cilly hatte ihrer Mutter energisch erklärt, sie habe keine Lust, sich mit solchen sinnlosen Tête-à-têtes zu kompromittieren, und wenn dieser Herr Petersen hinter ihrem Rücken aufgefordert werden sollte, werde sie sich den Hut aufsetzen und ausgehen.

Und so hatte denn dieser unglückselige Bill keine Ahnung, daß drei Frauen im Groll an ihn dachten, – Hanna in ihrer Verzweiflung, Cilly in ihrer Enttäuschung und endlich Frau Thekla, deren bevorstehende, erst so heiß begehrte, jetzt höchst unwillkommene Abreise nach Marienbad sie hinderte, ihre gefährdeten Heiratspläne auf einem geeigneten Umwege weiter zu betreiben.

Cilly war nicht zu bewegen gewesen, mit den Eltern fortzugehen; sie schützte Reisemüdigkeit nach ihrer zweijährigen Abwesenheit vor; und da Frau Thekla froh war, der unbequemen Aufsicht ihrer Tochter zu entgehen, hatte sie gern ihren Segen dazu gegeben. Berthold Dorner hatte nur gutmütig gelächelt und gesagt: »Cillychen, dir sind deine Alten nicht fein genug.«

Zum Abschied lud Frau Thekla das bei der großen Gesellschaft übergangene Ehepaar Schneider ein.

Der Abend verlief, wie so viele andere verlaufen waren, bis dann die Rede auf Bill kam.

Cilly schwieg, Cilly beobachtete. Cilly hörte es stumm mit an, wie ihr Vater feststellte, daß Bill in den wenigen Monaten wesentlich ernster geworden war, wie ihre Mutter ihn über den Klee lobte, hörte zu, als Reinhold gegen ihn loszog, ihn als Flegel bezeichnete, weil er nach jenem Opernabend keinen Besuch bei ihnen gemacht, hörte, wie Hanna ihn in Schutz nahm.

»Dein Vater hat ihn zu grob behandelt,« sagte sie lebhaft, »und du hast dazu geschwiegen. Er hatte absolut keine Veranlassung zu einem Besuch. Schließlich ist er doch Offizier.«

»Offizier!« erregte sich Reinhold. »So ein Sommerleutnant! Und der sollte doch ebensogut wie unsereins wissen, was sich gehört.«

Hanna sah ihn zornig an. »Weißt du das denn so genau?«

Rede und Widerrede fielen so rasch, daß die anderen gar keine Gelegenheit fanden, das Gespräch abzulenken. Wie so oft im Leben, hatte sich bei dem Ehepaar ein lange zurückgedrängter Gegensatz aus völlig harmloser Veranlassung plötzlich Luft gemacht.

Aber Reinhold war tief bestürzt über diesen Zwist im Hause des Onkels. Es war stärker gewesen als er. Er hatte zu sehr unter den beständigen Nadelstichen Hannas gelitten, die ihm mit der Hartnäckigkeit der Frau seit Monaten diesen Petersen als Ideal vorgehalten, mit einer so frohlockenden Zähigkeit, daß ihm manchmal vor dieser Begeisterung bange geworden war. Schon die Vorstellung, daß sein Schicksal in eines solchen Menschen Hand gegeben sein könnte, daß er wehrlos zuzusehen hätte, ob es diesem Frauenjäger beliebte, die Hände nach Hanna auszustrecken, die reife Frucht zu pflücken, machte ihn rasend. Aber selbst wenn er diese heimliche, nagende Furcht in sich niedergekämpft, den scheußlichen Gedanken einer Untreue Hannas weit von sich gescheucht hatte, haßte er seinen Gegner nicht minder. Ihm gab er die ganze Schuld an Hannas Umwandlung. Ehe der Bursche sich zwischen ihn und Hanna gedrängt, war er, Reinhold, der Herr in seinem Hause, war seine Autorität unerschüttert gewesen; und erst seitdem sich Hanna von diesem geschniegelten Dandy förmlich hatte hypnotisieren lassen, seitdem ihr der frisch gebügelte Rock dieses Laffen mehr imponierte als alle inneren Eigenschaften des Gatten, war der Unfriede in sein Haus gezogen, hatte sich Hanna gegen ihn aufzulehnen gewagt. Hätten böse Wünsche töten können, so wäre Bill Petersen schon längst von der Bildfläche verschwunden gewesen. Und heimlich fraß der Gedanke an Reinhold, wie sehr sein Vater mit seiner Warnung an jenem Skatabend im Recht geblieben war.

Er ließ Messer und Gabel sinken. »Was sagt ihr nun bloß?« fragte er, verlegen sich umsehend. »Ich weiß überhaupt nicht, was Hanna fortwährend von diesem Herrn zu reden hat.«

»Ich rede von Onkel und Tante und von deinem Vater genau so viel,« antwortete sie hartnäckig. »Es sind die einzigen Menschen, die ich kenne.«

»Mutter, – den Salat,« forderte Onkel Berthold mit gerunzelter Stirn.

»Ein kleines Faible für Herrn Petersen scheinst du mir doch zu haben,« warf Cilly jetzt lächelnd, aber mit seltsam gespanntem Ausdruck in ihren blassen Zügen ein.

»Ein Faible?« fuhr Hanna auf. All ihr Leid, alle die Schmerzen, die sie um Bills willen erlitten, lebten in ihr auf, nahmen ihr die Überlegung. »Ich denke gar nicht daran. Ich kenne ihn gut genug. Ich möchte lieber tot, als seine Frau sein.«

Sie schwiegen rings um den Tisch.

»Auf dessen Frau bin ich überhaupt neugierig,« stimmte der ahnungslose Reinhold dann seiner Frau bei. Er schämte sich seiner Heftigkeit, er hatte jetzt nur den brennenden Wunsch, mit Hanna Frieden zu machen und den schlechten Eindruck ihres Streites zu verwischen.

Aber das Frauenherz ist unberechenbar. Hanna, die eben noch ihrer eigenen Gereiztheit gegen Bill nachgegeben, bäumte sich jetzt dagegen auf, daß Reinhold in dasselbe Horn stieß. »Ich glaube,« sagte sie höhnend, »Herr Petersen wird gern darauf verzichten, dich vorzustellen.«

Reinhold ließ sich von neuem hinreißen. »Das kann mich nur freuen,« antwortete er verächtlich.

»Dann wird die Freude beiderseitig sein,« gab Hanna ihm zurück.

Aber jetzt griff Onkel Berthold ein. »Haltet mal Frieden, Kinder,« mahnte er energisch. »Wenn ihr euch zanken wollt, tut es zu Haus.«

Und kaum waren sie von Tisch aufgestanden, als Tante Thekla voller Empörung Hanna beiseite zog.

»Bist du denn ganz von Gott verlassen,« zischte sie mit rotem Kopf. »Lieber tot, als Petersens Frau! Du bist wohl neidisch, was? Wenn du das nicht begreifst, daß man in Gegenwart von jungen Mädchen nicht gegen Leute hetzt, wo etwas sich anspinnt, dann kannst du mir leid tun. Jawohl, so steht die Sache. Herrgott, was ist denn los mit dir? Wie siehst du denn aus? So empfindlich brauchst du nun nicht zu sein. Doch etwa kein Kind, wie?«

»Mir ist so schlecht,« stammelte Hanna, »den ganzen Abend schon.«

»Dann leg' dich einen Augenblick in meiner Schlafstube hin,« drängte Tante Thekla und führte sie hastig hinaus. »Die Weiber von heutzutage, das weiß der liebe Himmel, woher die bloß ihre Nerven haben!«

Reinhold war seiner Frau zu Hilfe geeilt. Während er und Tante Thekla sie hinausführten, streifte sein Auge Cilly. Stumm, wie in Nacht getaucht, ruhte ihr Blick auf der todblassen Hanna, die diesen Bill so leidenschaftlich verurteilt und dann so leidenschaftlich verteidigt hatte, den Mann, den sie kaum zwei-, dreimal vor Monaten gesehen, und den sie doch so gut zu kennen behauptete. Für einen Augenblick hatte es sich wie ein Alp auf Cilly gelegt, und in diesem Augenblick war die schreckliche Wahrheit durch ihr Herz gezogen. Wohl schüttelte sie sofort den häßlichen, unmöglichen Gedanken von sich ab; aber ein leises Mißtrauen, ein heimlicher Verdacht war doch zurückgeblieben.

 

Unbarmherzig lag die Maisonne auf der glühenden Stadt, ließ die von Staub erfüllte Luft über dem weich gewordenen Asphalt erzittern und scheuchte die Menschen in den schmalen Schatten der Häuser. Es war schon vier Uhr vorbei, aber noch immer schien jede Hoffnung auf Abkühlung vergeblich. Nur fern im Westen, ganz tief am Horizont, lag wie ein riesiger Erdwall eine graublaue, scharf abgeschnittene Wolkenbank.

Eben hatte sich Reinhold auf seinen Diwan gelegt, als Frau Busch den Kopf in das Eßzimmer steckte und Hanna zur Küche hinauswinkte.

Hanna erschrak. Sollte denn die Sorge nie ein Ende nehmen?

Gestern erst hatte es einen Auftritt gegeben, in aller Frühe, am Himmelfahrtsfest. Da war die Frau gekommen und hatte mit kurzen Worten zwanzig Mark verlangt. Wofür, hatte sie nicht verraten.

»Ich hab's erst nicht sagen wollen,« hatte die Frau sich halb entschuldigt, »aber mein Mann hat mir gedroht, er schlägt mich grün und blau, wenn ich das Geld nicht bringe. Und recht hat er eigentlich; für nichts ist nichts, wir halten unseren Mund, und eine Liebe ist der anderen wert.«

»Ich weiß gar nicht, was Sie wollen,« hatte Hanna mit schneeweißen Lippen geantwortet. »Ich bin jeden Abend zu Haus, ich tue nichts Unrechtes und habe es nie getan.«

»Wissen Sie, Frau Schneider,« hatte die Frau erwidert, »das Lügen, das überlassen Sie besser anderen Leuten, das haben Sie noch nicht ganz 'raus. Aber wenn Sie nicht wollen, – schön, mir kann's ja recht sein, wenn ich auch meine Senge beziehe. Sie werden ja sehen, was mein Alter dazu meint.«

Dann war am Nachmittag der Oberzahlmeister mit Reinhold und Hanna auf dem Dampfer nach Grünau gefahren; sie hatten dort Kaffee getrunken, waren zu Fuß an der Spree entlanggegangen und auf der Bahn zum Abendbrot heimgekehrt. Aber mit Hanna war die quälende Angst gewandert.

Und nun kam diese Frau Busch heute wieder.

»Frau Schneider,« sagte sie barsch, sobald sie beide in der Küche standen, »den Krach, den ich gestern gehabt habe, den wünsche ich meinem ärgsten Feinde nicht. Mein Mann ist wie verrückt gewesen. Und abends, wie er sich endlich beruhigt hat und raucht vor der Haustür seine Pfeife, da kriegt er zufällig etwas zu hören. Also in der Blumenthalstraße haben sie mit einmal einen Gemüsekeller zu verkaufen. Die Frau ist im Wochenbett gestorben. Da sind schon eine ganze Menge wild darauf. Spottbillig, aber nur gegen Kasse. Fünfhundert Mark.«

»Fünfhundert Mark,« wiederholte Hanna mechanisch. Sie fühlte, wie ihre Knie nachgaben. Und sie wußte sofort, jetzt war das Unglück da.

Frau Busch blieb unheimlich ruhig, ihr Gesicht war wie versteinert. In eisernem Zwang ruhten die wasserhellen Augen auf der armen kleinen Frau. »Sie haben ja reiche Verwandte die Menge,« sagte sie nachdrücklich. »Aber bis heute abend um sieben, keine Minute später, sonst hat's ein anderer weggeschnappt. Fünfhundert Mark, dann haben Sie für immer Ruhe.«

Sie hatte gestern diesen Plan mit ihrem Manne lang und breit durchgesprochen. Und der hatte ihr eingeschärft:

»Die Frau hat keine Gelder. Und um zwanzig Mark riskiert die nicht zu borgen, aber um ein paar blaue Lappen schon. Mach's bloß eilig; je mehr einer im Druck ist, desto leichter wird ihm der Anpump.«

»Es tut mir so leid, Frau Busch,« antwortete Hanna gepreßt. »Ich habe nichts, und der einzige, an den ich mich wenden könnte, mein Onkel, ist in Marienbad –«

»Und Ihr Verhältnis?« fragte Frau Busch grob, die Maske ganz abwerfend.

Hanna war es, als schlüge ihr einer mitten in das Gesicht. Sie vergaß jede Vorsicht, jede Ableugnung, entschlossen richtete sie sich auf. »Niemals,« sagte sie fest.

»Schön,« sagte Frau Busch, »ganz nach Belieben. Ob Sie's vom Monde holen oder sonstwoher, ist uns ganz schnuppe. Aber um sieben ist das Geld bei uns, oder fünf Minuten später haben Sie meinen Mann hier. Und dann können Sie sich gratulieren. Die Stelle hier, die geb' ich natürlich auf, – ich bin gewohnt, in anständigen Häusern zu dienen. Mahlzeit, Frau Schneider.«

Und kurz kehrt machend, warf sie die Flurtür hinter sich zu.

Lange saß Hanna im Eßzimmer wie betäubt. Ab und zu hörte sie ihren Mann nebenan aufhusten, die Uhr ging gleichmäßig ticktack, sonst regte sich nichts.

An Bill dachte sie mit keinem Atemzug. In dem Moment, in dem sie Geld von ihm erbat, stempelte sie sich selbst zur Dirne. Es gab nur einen, der helfen konnte, Onkel Berthold. Aber wenn sie dem nach Marienbad telegraphierte, bekam er die Depesche sicher in Tante Theklas Gegenwart, und dann war die Katastrophe da.

Immer wieder ging Hanna ihre wenigen Bekannten durch, – niemand! Und hoffnungslos faltete sie die Hände in ihrem Schoß.

Plötzlich fuhr sie hoch.

Cilly! Vielleicht hatte Cilly das Geld, vielleicht konnte sie es sich aus dem Kontor beschaffen!

Und neue Hoffnung blitzte in Hanna auf.

Ticktack ging die Uhr. Es war ein viertel vor fünf.

Hanna überlegte nicht länger. Um fünf hatte Reinhold ausgeschlafen, dann war es zu spät.

Sie schrieb hastig einen Zettel und legte ihn auf den Tisch: »Lieber Reinhold! Frau Busch ist krank geworden, ich habe einige Besorgungen.« Dann setzte sie sich den Hut auf und eilte fort.

Obwohl die schwarze Wolkenwand schon die Sonne verschluckt hatte, prallte Hanna, als sie hinaustrat, vor der lähmenden Hitze zurück.

Zehn Minuten später saß sie in Cillys kühlem Zimmer in einem der hübschen Korbsesselchen, mit denen Onkel Berthold seine Tochter bei ihrer Heimkehr überrascht hatte.

Hanna wagte es nicht, sofort mit ihrer Bitte herauszukommen. Um ihren Besuch zu erklären, lud sie Cilly zum Abend ein; aber diese war angeblich schon versagt. Das Gespräch schleppte sich gequält hin, die beiden Cousinen hatten sich so wenig zu sagen. Wie es ihnen ginge? – Gut. – Wieder ganz erholt von dem Anfall neulich? – Danke, ja. – Ob sie noch mehr Gäste hätten? – Nein. – Käme denn der Oberzahlmeister nicht? – Nein, der läge seit heute früh an Rheuma im Bett.

Langsam fielen die Sätze, beide suchten sie vergeblich neuen Stoff. Ein Extrablatt lag auf dem Tisch, die Überschrift in mächtigen Buchstaben: VOR DER ENTSCHEIDUNG. Schon lange waren Alarmgerüchte durch die Welt gegangen, in wenigen Tagen mußten die Würfel über Krieg und Frieden fallen. Und jeder Krieg drohte ein Weltbrand zu werden.

»Von uns,« sagte Cilly, »ginge ja keiner mit. Dein Mann doch auch nicht?«

»Ich weiß es selbst nicht recht,« antwortete Hanna. »Er ist Ersatz oder Landsturm, oder wie das heißt. Er meinte neulich, er bliebe schlimmstenfalls wohl im Lande.«

»Nun, da brauchst du ja nicht so betrübt auszusehen,« erwiderte Cilly, die schwarzen Augen voll aufschlagend.

»Ich bin's auch nicht,« antwortete Hanna krampfhaft lächelnd.

Eine Weile schwiegen sie beide.

»Wenn ich ein Junge geworden wäre,« sagte Cilly plötzlich, »mir käme ein Krieg schon recht. Ich wäre sicher Kavallerieoffizier geworden.«

Sie wußte, daß Hanna nicht der Einladung wegen um diese ungewöhnliche Zeit zu ihr gekommen war, sie argwöhnte, daß es sich um Bill handelte, und äußerlich gleichgültig, innerlich in gespannter Erwartung, suchte sie das Gespräch auf ihn zu bringen.

»Ja,« antwortete Hanna, mit leisem Neide, »ihr habt ja Geld genug.« Sie dachte nur an die fünfhundert Mark.

»Ist nicht dieser Herr Petersen auch Ulan?« fragte Cilly nachlässig.

»Ich habe keine Ahnung,« gab Hanna gepreßt zurück. Es tat ihr weh, von Bill sprechen zu müssen.

Cilly rückte ihren Sessel, so daß ihr Gesicht noch mehr im Schatten lag.

»Eigentlich,« sagte sie langsam, »hast du ihm neulich wohl unrecht getan. Ich glaube, wenn der sich die Hörner einmal abgelaufen hat, das wird noch ein ganz passabler Ehemann. Ich zum Beispiel, ich meine, wir würden ganz gut miteinander auskommen.«

»Warum nicht?« antwortete Hanna mühsam. Sie zweifelte jetzt nicht mehr an dem Schlimmsten, Bill bewarb sich um Cillys Hand.

»Wenn ich genau wüßte, daß ich ihn keiner anderen wegnähme,« fuhr Cilly fort, »– so eine kleine Liebelei, das rechnet natürlich nicht –, ich würde ihm direkt Avancen machen können ... Aber irgend ein ernsthaftes Liebesglück zerstören, das will man doch nicht.«

»Gewiß nicht,« antwortete Hanna in jähem Erschrecken. Was war das nur? Wußte Cilly von ihnen beiden?

Eine Pause. Draußen, ganz fern, grollte es, das Gewitter kam herauf. Die Minuten gingen und gingen. Plötzlich faßte Hanna Mut; und im selben Moment kam es wie eine Eingebung über sie.

»Cilly,« stotterte sie, »ich komme mit einer großen Bitte. Ich habe Reinhold bisher so gar nichts schenken können ... aber ich weiß etwas, das er nötig braucht, er friert oft so schrecklich im Winter, wo er bei jedem Wetter ins Amt muß. Da ist mir ein Gelegenheitskauf angeboten, durch meine Aufwartefrau, ein ... ein Pelz, fünfhundert Mark ... Zweitausend hat er gekostet ... noch ganz neu ...« Ihre Stimme erlosch, sie fühlte, daß sie so ungeschickt wie möglich gewesen war, daß Cilly ihr niemals diese törichte Geschichte glauben würde.

Cilly sah Hanna groß an. Und in demselben Moment hatte sie in ihren geweiteten Augen, ihren angsterfüllten Zügen die Wahrheit gelesen. Fünfhundert Mark! Also eine Erpressung, also ein Ehebruch. Und mit der untrüglichen Sicherheit der schon lange heimlich in ihr gärenden Eifersucht wußte sie auch: Bill Petersen!

»Liebe Hanna,« antwortete sie eisig, »der Pelz im Mai, das schreit doch förmlich nach einer Ausrede. Wenn man mit solchen Summen kommt, soll man auch ehrlich sein. Ich denke ja nur das Beste von dir. Aber das kann ich dir versichern, – säße mein Vater auf diesem Stuhl, der würde dir auf den Kopf zu sagen: Vor allen Dingen eine Frage: Hast du deinen Mann betrogen? Ist irgend einer dahinter gekommen, und sind die fünfhundert Mark das Schweigegeld?«

»Cilly!« schrie Hanna auf.

Cilly ließ sich nicht beirren. Beherrschend fühlte sie in diesem Moment, daß sich ihr eigen Schicksal hier entschied.

Sie beugte sich vor. »Die Wahrheit, Hanna,« sagte sie eindringlich. »Ist es Bill?« Der Name kam ihr wie selbstverständlich über die Lippen.

Hanna sah sie wie ein gehetztes Wild an. Ihre Lippen bewegten sich, aber kein Laut war zu hören. »Nein,« stieß sie dann hervor, kläglich, wie ein Kind, das auf einem Unrecht ertappt ist.

»Doch,« antwortete Cilly bestimmt, ohne die Augen von ihr zu lassen, »es ist Bill. Wozu lügen?«

Hanna sagte kein Wort. Mit stieren, entsetzten Augen blickte sie vor sich hin.

»Wem bist du in die Hände gefallen?« fragte Cilly unerbittlich weiter. »Deiner Aufwärterin?«

Hanna neigte stumm ihr Haupt unter der Scham des Bekenntnisses.

»Und – und du hast sie zu fürchten?«

»Ich weiß nicht,« antwortete Hanna leise, wie ein Hauch.

»Du weißt nicht,« wiederholte Cilly mit schneidender Stimme. »Das heißt also wohl: Ja.«

Die arme Hanna war ihrer Gegnerin nicht gewachsen. Sie legte den Kopf auf den Tisch und schluchzte herzzerbrechend los.

Eine Totenstille herrschte. Plötzlich stand Hanna auf, umklammerte sie krampfhaft Cillys Arm. »Sei barmherzig, Cilly,« bat sie jammernd, »hilf mir aus meiner Not!«

Cilly wandte langsam den Kopf zu ihr. »Ja?« fragte sie noch einmal, die Augen zu ihr hebend.

Und Hanna antwortete: »Ja.«

Cilly lehnte sich blaß, mit geschlossenen Augen in ihren Stuhl zurück. Ihr Hirn arbeitete fieberhaft. Also doch, – Bill und Hanna ... Bill und Hanna ...

Wieder schwiegen sie beide. Und in diesem Schweigen lag es wie Todfeindschaft. Dann richtete Cilly sich entschlossen auf. »Ich will eins für dich tun,« erklärte sie. »Schicke das Weib zu mir. Solche Kanaillen haben nur vor der Anzeige Angst. Das Geld heimlich beschaffen kann ich natürlich nicht, wie soll ich das vor meinem Vater erklären? Aber selbst wenn ich es könnte, ich täte es nicht, deinetwegen. Die fünfhundert Mark sind nur der Anfang, dann werden es tausend, dann zehntausend. Und eines Tages kommt doch der Verrat.«

Hanna schüttelte den Kopf. »Die Frau kommt nicht, die läßt sich auf nichts ein,« sagte sie mutlos.

»Gut,« antwortete Cilly, »dann bleibt nur eins. Wer weiß, ob sie dich überhaupt verrät. Aber tut sie es, – beweisen kann sie dir hoffentlich nichts. Sie wird ja nicht einmal wissen, daß es Bill ist, sonst hätte sie sich längst schon an den gewandt. War er jemals bei euch, in der Kurfürstenstraße?«

»Nein.«

»Also leugne. Sage Reinhold, du bist, wenn du fort warst, bei mir gewesen, Handarbeiten machen; dein Mann hat ja im Juni Geburtstag. Ich habe Stickereien liegen, die gebe ich dir. Er kann mich ruhig fragen. Sei furchtbar beleidigt, – wie ich ihn kenne, gibt er klein bei.«

Wieder schüttelte Hanna den Kopf. »Ich kann nicht so lügen,« sagte sie kleinlaut, »ich kann das nicht.«

Cilly sah stumm vor sich hin. Sie wußte sich keinen Rat mehr. Und in diesen Sekunden fiel mit einem Schlage jeder Egoismus von ihr ab, trat das Gute, Ehrliche, Mitfühlende zutage, das ihres Wesens Grundzug war. In diesen wenigen Augenblicken empfand sie, daß sie Bill noch immer liebte, daß diese Liebe größer war als seine Schuld, und daß sie ihn und Hanna um dieser Liebe willen retten mußte, auch wenn sie ihn selbst dabei verlor. »Dann bleibt also nur eins,« sagte sie entschlossen. »Geh zu der Frau, verlange acht Tage Frist, bis dahin will ich dem Vater schreiben. Der ist gut, der verrät keine Silbe und bringt die Sache bestimmt in Ordnung. Abgemacht?«

Hanna erhob sich. »Ich danke dir, Cilly,« sagte sie gepreßt, »von ganzem Herzen. Ich hab' aber keine Hoffnung. Sie drängen zu sehr. Bin ich in einer halben Stunde nicht hier, so kannst du mir nicht helfen.«

Und wieder ging sie durch die Schwüle, den schweren Weg zu Frau Busch. Mit Herzklopfen näherte sie sich dem Haus. Sie hatte nicht den Mut hineinzugehen. Sie wanderte weiter, um das Straßenviereck herum, bog wieder in die Kurfürstenstraße, hart an den Häusern entlangschleichend, damit Reinhold sie nicht entdeckte, falls er aus dem Fenster nach ihr sah.

Und dann wagte sie sich in den Hausflur, bog links die Kellertreppe hinab, wo der Name Busch stand, und läutete zaghaft.

Frau Busch öffnete und ließ sie wortlos an sich vorbei in die stickige, von Kanasterrauch erfüllte Vorderstube treten.

Ein Mann, Mitte der Fünfziger, breit und stattlich, mit grauem Vollbart, die kurze Pfeife im Munde, saß hinter dem Tisch; die rotgesprenkelten, hervorstehenden schwarzen Augen unter den buschigen Brauen verrieten den Trinker. Sein linkes Bein war nur ein Stumpf; der abgeschnallte Holzfuß lag neben ihm auf der Bank.

»Immer 'ran, junge Frau,« sagte er erfreut mit seiner rauhen Stimme, »und 'raus mit der Pinke.«

Frau Busch machte sich im Hintergrund zu schaffen. Hanna sah in dem Dunkel, das in der Stube herrschte, nur ihren Rücken.

Sie rang nach Worten. »Herr Busch,« antwortete sie zögernd, mühsam das Schluchzen zurückdrängend, »Sie müssen –«

»Was muß ich?« schnitt er ihr plötzlich ganz verändert das Wort ab. Das Blut war ihm in das Gesicht gestiegen, er richtete sich drohend auf. Erschreckt wich Hanna bis an die Tür zurück.

»Haben Sie das Geld oder haben Sie's nicht?« schrie der Mann sie an, mit der Faust den Holzfuß umspannend.

Hanna wankte. Und schon stand Frau Busch neben ihr und schob ihr einen Stuhl unter. »Robert,« sagte sie demütig, im hoffnungslosen Versuch, ihren Mann zu begütigen. Die junge Frau schien ihr nun doch leid zu tun.

»Halt's Maul,« antwortete er rüde. Und zu Hanna gewendet:

»Sie da, junge Frau, lassen Sie mal das Theater und hören Sie zu. Hier wird nicht 'rumscharwenzelt, hier gibt's bloß glatte Geschäfte. Ich habe nicht umsonst vier Jahre Sonnenburg geschoben, und wenn einem die Frau so 'ne feine Sache ausbaldowert, da muß was bei 'rausspringen. Jetzt ist es bald sechs, bis acht wart' ich noch. Und dann setz' ich Ihrem Alten die Daumschrauben an, so wahr ich hier sitze. Wenn so ein armes Mädchen draußen auf'n Strich geht, damit sie nicht verhungert und ihre Steuern aufbringt, denn kann so 'ne feine Frau, der das Hemd aufm Leibe brennt, auch mal ein bißchen bluten. So, jetzt wissen Sie, wie unsereins über so was denkt, und nun türmen Sie und holen den Kies, oder Sie werden ihr lebelang an den Tag zurückdenken.«

Hanna erhob sich stumm. Ohne ein Wort ging sie hinaus. Sie fühlte, hier war alles Bitten umsonst.

Als Frau Busch die Tür hinter ihr schloß, fragte sie ihren Mann schüchtern:

»Willst du sie wirklich verpfeifen, Robert?«

»Frag' nicht so dämlich,« antwortete er grob. »Verpfeifen! Du denkst wohl, ich bin scharf darauf, noch einmal im Kittchen Tüten zu kleben? Aber keine Angst, die hab' ich windelweich, die geht jetzt direkt zu ihrem Freier.«

Draußen stand Hanna in dem heraufziehenden Wetter. Sie dachte an nichts, sie sah mit leeren Augen die Menschen vorbeihasten, die ersten Staubwolken im stärker werdenden Grollen des Donners die Straße entlangwirbeln. In dieser bitteren Stunde, ganz verlassen, ganz hilflos, kämpfte sie verzweifelt mit ihrem Stolz. Und als es sechs schlug, war er gebrochen.

Sie wollte zu Bill. Sie dachte in ihrer Unruhe nicht daran, daß sie fahren konnte, hatte in ihrer entsetzlichen Lage nur das zwingende Bedürfnis, immer vorwärts zu stürmen, um sich zu betäuben, nicht an die Schmach der kommenden Minuten denken zu müssen, in denen sie den Lohn für längst erstorbene Liebe heischen würde. Aber wenn Bill das viele Geld nicht zur Hand hatte, wenn er es ihr abschlug, wie Cilly es getan? Wenn er aus Angst vor Cilly ihr ins Gesicht leugnete, sie je geliebt zu haben? Immer eiliger hastete sie den Kurfürstendamm entlang, ohne Mantel, ohne Schirm, unter den ersten fallenden Tropfen.

Eine halbe Stunde vor ihr war Cilly im Auto dieselbe Straße hinaufgejagt.

Es waren endlos lange, bange Minuten gewesen, in der sie auf Hannas Rückkehr gewartet hatte. Sie war entschlossen, ihr Wort zu halten, mit dem sie alle ihre eigenen Hoffnungen eingesargt hatte; und doch regte sich zugleich ein heimlicher Zorn gegen sich selbst in ihr. Prahlend hatte sie noch vor wenig Wochen von der kühlen Lebenskunst des Rechnens gesprochen, hatte sie derer gespottet, die ihr Schicksal auf morsche Pfeiler aufbauten, denen nur recht geschah, wenn sie zusammenbrachen. Und nun hatte sie selbst ihr ganzes Glück auf schwanken Grund gestellt, von dem guten Willen eines unbekannten Erpressers abhängig gemacht.

Denn noch immer, trotz allem, was ihr diese Stunde gebracht, sah sie in Bill ihre Zukunft, ihr Glück. Sie hatte ja längst gewußt, daß er kein Heiliger war, und nun suchte sie alles zusammen, was ihn entschuldigen konnte. Sie kannte Hanna von Jugend an, ihr schwärmerisches Wesen, ihre blühende Phantasie, sie war keinen Augenblick im Zweifel, wen von beiden die größere Schuld traf. Und nun, nachdem die halbe Stunde, diese schreckliche halbe Stunde verstrichen war, in der auch über Cillys Leben die Würfel rollten, konnte sie mit gutem Gewissen wieder die Zügel in die Hand nehmen, ihrem eigenen Verstande folgen. Jetzt hatte sie nur noch die eine Aufgabe, Bill zu warnen, ihn mit dieser Warnung vielleicht für sich zu gewinnen. Sie wußte aus wiederholten Einladungen seine Adresse, und als sie vor seinem Hause ausstieg, sah sie ihren Weg klar vor sich liegen.

 

Bill hatte am Nachmittag des Himmelfahrtsfestes, das diesem stürmischen Tage voranging, sich mit Erna ein Auto genommen, war nach Werder in die Baumblüte gefahren, hatte in Potsdam zu Abend gegessen und wollte nun Schluß machen. Er war nicht mehr der alte, leichtsinnige Bill, er konnte Erna nicht unrecht geben, wenn sie ihm seine schlechte Laune vorwarf; er hatte eben, seitdem Cilly in sein Leben getreten, keine Freude mehr an Ernas ewigem Schwatzen und Kichern. Und so sah er sie denn, als er das Auto zu ihrem Hause dirigierte und sie einfach dort absetzte, zum erstenmal kläglich schluchzen.

Er konnte nicht anders, er war wie aus den Fugen. Immer wieder dachte er an Cilly, machte er sich die bittersten Vorwürfe. Und so tat er denn, was jeder Mann tut, wenn er die innere Stimme betäuben will, er änderte seinen Entschluß, bummelte allein los, quer durch das nächtliche Berlin, und kam erst um fünf Uhr morgens heim, als schon längst die helle Sonne wieder schien und die Spatzen eifrig in dem frischen Grün zirpten.

Jetzt, um sechs Uhr nachmittags, eben vom Essen gekommen, lag er auf dem Diwan und suchte sich die Irrfahrten der Nacht einigermaßen wieder zurückzurufen, als draußen die Türklingel ging und kurz darauf Frau Moser bei ihm anklopfte.

»Eine Dame,« meldete sie in ihrer unerschütterlichen Ruhe.

Bills erster, entsetzter Gedanke war: Hanna! Hanna, die reuig zu ihm zurückkehrte!

»War sie schon einmal hier?« fragte er, sich aufrichtend.

»Nein. Es scheint was Besseres zu sein.«

Bill wollte sich eben die Stichelei verbitten, als er einfach auf seinen Diwan zurücksank.

Der Besuch hatte die Anmeldung nicht abgewartet, war an Frau Moser vorbeigehuscht, hatte ihr energisch die Tür vor der Nase geschlossen. Und vor ihm stand Cilly.

»Alle guten Geister ...« stieß Bill hervor.

»Wollen Sie mir einen Wunsch erfüllen, Bill?« fragte sie ihn ohne weiteres.

Es war das erstemal, daß sie ihn Bill nannte. Es wunderte ihn nicht weiter, es war einfach eine Konsequenz der alles beherrschenden Tatsache, daß Cilly Dorner da seelenruhig, völlig über der Situation stehend, auf seiner Bude aufgetaucht war.

»Wollen Sie mir folgen, ohne vieles Fragen?« wiederholte Cilly. »Wieviel Minuten brauchen Sie zum Packen?«

»Zum Packen?« fragte er erstaunt.

»Zum Packen,« bestätigte sie. »Ich gebe Ihnen zwanzig.«

»Sehr freundlich,« erwiderte Bill. Ihm wirbelte der Kopf. Und eine Vermutung, eine unsinnige Idee, die nur mit seiner unbeschreiblichen Überraschung zu erklären war, setzte sich in ihm fest. Cilly hatte ihn lieb, Cilly wußte, wie kühl ihr Vater über ihn dachte, Cilly wollte ein fait accompli schaffen, mit ihm durchgehen. Kurz, Cilly wollte etwas tun, was leider ausgeschlossen war.

»Und wohin befehlen Sie?« fragte er mechanisch.

»Nach Hamburg,« antwortete sie ohne Zögern.

»Auf wie lange?« fragte er weiter. Es galt ja für ihn, gute Miene zum bösen Spiel machen, bis er einen Grund zum Neinsagen gefunden hatte, der Cilly nicht allzusehr kränkte.

»Vorläufig acht Tage,« erwiderte Cilly nach kurzem Besinnen. »Das andere kann Ihnen die Wirtin nachschicken.«

»Jawohl, das kann sie,« stimmte Bill automatisch bei. Er mußte vor allem Zeit gewinnen, mußte für sich allein überlegen.

Und so retirierte er denn in sein Schlafzimmer und kletterte auf einen Stuhl, um seinen suitcase vom Schrank herunterzuholen.

»Einen Moment, Fräulein Cilly,« rief er dabei von seiner Höhe herab in das Wohnzimmer hinein. »Ich bin gleich wieder da.«

»Nein,« antwortete Cilly, die eben in der Tür erschien, »ich bleibe hier und helfe. Sonst werden Sie nie fertig.«

Jetzt wurde ihm die Sache aber denn doch zu bunt. Er sprang von seinem Stuhl. »Ich rühre keinen Finger mehr, bis Sie Farbe bekennen,« erklärte er energisch. »Warum, zum Henker, soll ich fort?«

»Vier Hemden, genügt das?« erwiderte sie. »Um nicht in Berlin zu sein.«

Er nahm ihr die Wäsche ab. »Und weshalb soll ich das nicht?« fragte er wieder.

»Damit Sie der Reinhold nicht findet,« erwiderte sie. »Hier Kragen, hier Strümpfe.«

Bill prallte förmlich zurück, so daß die Socken über den Teppich rollten. »Sie machen sich lustig über mich,« stammelte er in hilfloser Bestürzung.

»Ich wollte, ich könnte es,« antwortete Cilly. »Hanna war bei mir. Sie ist in den Händen ihrer Aufwärterin, hat Streit gehabt. In diesem Augenblick weiß ihr Mann vielleicht schon alles.«

Bill starrte sie noch immer mit offenem Munde an. Allzu geistreich sah er in diesem Augenblick wirklich nicht aus. Also das war's! Und er, er Narr, hatte sich eingebildet, sie käme, um mit ihm durchzubrennen. Nur in der Not, um Hannas willen, um eine Katastrophe zu verhindern, hatte sie sich über jede Rücksicht fortgesetzt. Und nun stand er wie ein dummer Junge vor ihr, der Prügel verdiente! Wahrhaftig, sie hatte recht, er war in Berlin unmöglich geworden.

»Himmlischer Vater!« stöhnte er. »Was soll ich aber ausgerechnet in Hamburg?«, fuhr er dann in neuem Entsetzen fort. »Es gibt Bombay, Irkutsk, Krotoschin ...«

»Weil Sie mit Ihrem Vater sprechen müssen,« unterbrach sie ihn.

»Mit meinem Vater?« schrie Bill auf und lief wie ein Unsinniger im Zimmer herum. »Sprich mir von allen Schrecken des Gewissens, von meinem Vater sprich mir nicht.«

»So eilen Sie doch,« drängte Cilly. »Wollen Sie denn absolut warten, bis Reinhold Schneider kommt?«

Bill schüttelte eigensinnig den Kopf. »Lieber hier tot, als lebendig in Hamburg,« sagte er. »Ich packe nicht, ich reise nicht, ich rühre mich nicht. Was Gott tut, das ist wohlgetan.«

»Bill,« redete ihm Cilly zu, »seien Sie doch vernünftig. Drei Paar Stiefel, wie? Und nun die Anzüge, – rasch!«

Bill stopfte trotz seines Entschlusses alles, was sie ihm reichte, willenlos in den Koffer. »Wenn ich meinem alten Herrn mit dieser Überraschung komme, dann ist's Feierabend,« sagte er verzweifelt.

»Das sollen Sie ja gar nicht,« antwortete ihm Cilly.

Er wandte sich erstaunt zu ihr. »Das soll ich nicht?« fragte er verwundert. »Ja, was soll ich denn sonst?«

»Ihm sagen, daß Sie verlobt sind.«

»Verlobt?« fragte er verständnislos. »Und mit wem?«

»Mit Cilly Dorner.«

Jetzt stutzte er doch, sah sie groß an. Und in ihren Augen las er den ganzen Ernst der Lage, der ihm in seiner grenzenlosen Verwirrung noch nicht zum vollen Bewußtsein gekommen war. Im gleichen Augenblick hatte er sie verstanden: Sie wollte sich opfern, um ihn vor seinem Vater zu decken, seine Flucht aus Berlin zu motivieren.

Er trat erblaßt einen Schritt zurück. »Das nehme ich nicht an,« sagte er fest.

»Es gibt keinen anderen Ausweg,« antwortete sie ebenso entschlossen. »Soll vielleicht Reinhold Lärm schlagen, seine Frau an die Luft setzen? Wollen Sie Hanna auf dem Hals behalten? Eine nette Bescherung für Ihren Papa, wie?«

»Ich kann nicht, Cilly,« sagte er tiefernst, und sie hörte, wie seine Stimme schwankte. »Ich muß bleiben.«

»Bill,« antwortete sie hastig, »um alles in der Welt, fahren müssen Sie. Übermorgen kehren meine Eltern zurück. Sie können jetzt nicht mit meinem Vater sprechen, Sie müssen auch zuerst mit dem Herrn Senator einig sein, mir Nachricht geben, damit ich selbst mit meinem Vater rede.«

Er schüttelte den Kopf. »Ich bin Offizier, Cilly,« sagte er fest.

Sie faltete bittend die Hände. »Mein Wort, es geschieht nichts, Bill,« erwiderte sie. »Der Reinhold wird nie etwas tun, was ihn mit meinem Vater entzweit. Bill Petersen wäre vielleicht nicht sicher vor ihm, wohl aber Berthold Dorners Schwiegersohn. Und gilt es, Bill, so bin ich die Erste, die Sie ruft.«

Lange ging er, mit sich kämpfend, in dem kleinen Raume auf und ab, dann blieb er vor ihr stehn. »So wahr mir Gott helfe, Cilly,« sagte er, »ich habe Sie lieb, sehr lieb. Aber ich habe es nicht zu sagen gewagt, Hannas wegen.«

»Ich hab' es gewußt,« antwortete sie ebenso schlicht, »und darum bin ich gekommen.«

»Nur darum?« fragte er, ihre Hände ergreifend. »Nur darum, Cilly?«

Sie wandte sich ab von ihm, damit er in ihren Augen die aufsteigenden Tränen nicht sähe.

Aber er sah sie doch. Und er fühlte sich winzig klein. Zum erstenmal ahnte er, was Frauenliebe heißt, was Frauenliebe trägt und verzeiht.

Und während er sie stumm in den Arm nahm, mischte sich in das Gefühl der Befreiung, der Erlösung zugleich ein höllisch bitterer Geschmack, sah er sich, ganz wie er war, erkannte er, was er getan. Noch bis vor wenigen Monaten hätte man ihm vieles vorwerfen können, – eins hätte man ihm lassen müssen: Er hatte Ehre im Leibe, hatte es auf heißem Boden bewiesen. Und heut hatte es ihm einen Ruck gegeben, wie wenn auf hoher See der Schrei aufschrillt: »Mann über Bord!«, heut hatte es auf seinem Lebensschiff gegellt: »Weib über Bord!« Und ein häßliches Wort klang ihm im Ohr, das ihm dieses Weib jetzt wohl nachschleuderte, das getäuschte Weib und der getäuschte Mann; ein Wort, vor dem, wie von giftigem Hauch getroffen, sein alter Hamburger Name erblich, das Silber seines Portepees erblindete. Feige war er in den Frieden einer Ehe eingebrochen, feige sollte er vor der Verantwortung fliehn. Ohne Cilly, ohne Berthold Dorner würde der Betrogene sicher in berechtigtem Grimm an den Vater, an das Regiment schreiben; und dann wäre in kurzem auch ein Mann über Bord gegangen, und dieser Mann war Bill, aus dem Hamburger Hause Petersen, der Sohn des Senators, der Stader Ulan.

Und wie im aufflammenden Blitz sah er sie alle vor sich, die vielen Mädel, die seinen Weg gekreuzt, die ihn geliebt, geküßt, um ihn geweint hatten. Nicht die kecken Dinger, die aus freiem Willen sich ihm dargeboten, die mit lachenden Augen genommen, was ihnen das Leben bot, – nein, die lieben, schüchternen Mädel, die nicht gewußt, was sie getan, als sie mit ihm, durch ihn den ersten Schritt in verbotenes Land, in verfemtes Glück gewagt. In langer Kette sah er sie vorüberziehn, so still und fügsam, wie die Menschen bang den Atem anhalten, wenn der Lenzsturm über sie hinwegrast. In langer Kette sah er sie, in den hilflos schimmernden Augen die große Sehnsucht, die auch ihr letztes Zagen überwand, im Herzen das blinde Vertrauen, das unter Tränen sie lächeln ließ. Und immer wieder Glaube, Hoffnung, Liebe im aussichtslosen Kampfe gegen Verlockung, Taumel und Trug, immer wieder das Spiel mit fremdem Glück, das Spiel, bei dem auch er alles eingesetzt, was ihm ein gütiges Geschick in die Wiege gelegt: Sein Erbe, die Zukunft der Firma, die Achtung des Vaters, die Aussicht auf die höchsten Würden der heimatlichen Republik.

Und dann das Schlimmste, das Niedrigste, das ihm wohl Cilly in ihrer Liebe verzeihen konnte, aber kein anderer auf Gottes Welt! Wie eine Vision sah er die arme Hanna, die jetzt mit ihrer Schuld rang, die auch für seine Schuld büßte!

Und das kühle Blut seiner Vorfahren siegte endlich in ihm, das Blut der Generationen, denen das Einmaleins von Soll und Haben auch ethisch die Richtschnur ihres Handels, ihres Wagens gewesen. Leidenschaftslos rechnete er sich aus, wie sehr er bisher mit Unterbilanz gearbeitet, und daß dieser letzte Abschluß für ihn vernichtend war. Und Bill Petersen, der leichtsinnige Bill, schloß seine Rechnung ab, um von nun an dem Leben zu geben, was das Leben von jedem heischt. Wie Prinz Heinz jagte er den Falstaff aus sich heraus, wie König Friedrich nach seiner Thronbesteigung zum Jugendfreunde, so sagte er nun zu sich selbst: Mein Herr, die Possen sind zu Ende ...

Und während er mit Cilly im Auto zum Bahnhof fuhr, beichtete er ihr alles, was ihm soeben durch den Sinn gegangen, wozu er sich entschlossen, ungeschminkt, in ehrlichem Dankgefühl.

Aber er blieb doch unverbesserlich. Denn als er beim Einsteigen in den Zug sich mit dem ersten Kusse von ihr trennte, da war das Abschiedswort des eben noch so ganz geknickten Bill:

»Bloß keine Rührung, Cilly, – wir haben die Taschentücher vergessen!«

 

Als Hanna atemlos, vom langen Weg in der Schwüle glühend, vom einsetzenden Gewitterregen durchnäßt, die Stufen zu Bill hinaufstieg, überkam es sie wie stiller Friede. Warum war sie nicht sofort zu ihm gegangen? Warum hatte sie sich für Lebenszeit vor Cilly bloßgestellt, ein Geheimnis verraten, das nicht das ihrige allein war? Bill war ein Kavalier, war Offizier; Bill hatte ihr längst verziehen, daß sie im Jähzorn ihn beschimpft, er würde ihr die überschwere Last von den schmerzenden Schultern nehmen, alles wieder ins rechte Lot bringen. Einen Augenblick dachte sie mit leiser Furcht an seine Wirtin; aber sie fühlte sich so mutig, daß sie entschlossen war, im Notfall sich den Eingang zu erzwingen, laut nach ihm zu rufen, bis er sie in seine Arme, in seinen Schutz nahm.

Sie läutete in ungeduldiger Hast.

Schritte nahten, Frau Moser öffnete.

»Herr Petersen?« fragte Hanna.

»Nicht da,« antwortete Frau Moser schnippig. Sie war in denkbar schlechtester Laune. Diese vor einer Stunde hereingeschneite, impertinente junge Dame, die übereilte Abreise, die Ungewißheit, ob sie nicht ihren guten Mieter verlieren würde, alles das war ihr empfindlich auf die Nerven gegangen. Und nun noch diese Frau da, die schon seit Wochen und Monaten von der Bildfläche verschwunden war. Die kam ihr gerade recht.

»Nicht da?« stammelte Hanna, aus allen Himmeln fallend. »Wann kommt er zurück?«

»Weiß ich nicht,« erwiderte Frau Moser kurz. »Abgereist.«

Sie sah ein langes Gefrage und Gejammere voraus, und sie hatte ihr Lebtag nichts so sehr gehaßt, wie solche Leichenreden abgehalfterter Verhältnisse. Sie trat also einfach zurück, öffnete Bills Schlafzimmer und sagte:

»Bitte!«

Und Hanna sah an dem Chaos von Kleidern und Wäsche, daß die Frau nicht gelogen hatte. Wie eine schwere Eisenplatte senkte es sich auf sie. Und sofort ahnte sie, was vorgegangen war.

Bill war gewarnt worden; nur ein einziger Mensch konnte dies getan haben, – Cilly, seine künftige Braut. Und Bill, der Kavalier, der Offizier, hatte Hanna herzlos im Stich gelassen. Es war alles verloren.

Während sie der Frau fassungslos in das gekniffene Gesicht starrte, während sie sich halb bewußtlos verabschiedete und die Treppe hinunterschleppte, die sie eben noch so voller Hoffnung erstiegen, dröhnte es wie von Hammerschlägen in ihrem Kopf: Verloren ... verloren ...

Als sie wieder im prasselnden Regen unten auf der Straße stand, blickte sie mit toten Augen um sich. Eine völlige Stumpfheit, eine willenlose Leere war in ihr. Hätte sie einer am Arm genommen und auf die Gleise der vorüberdonnernden Straßenbahn geschleppt, sie wäre regungslos stehen geblieben. Taumelnd ging sie den Kurfürstendamm wieder hinab. Sie wurde angerannt, von aufgespannten Schirmen gestoßen, hörte von fernher grobe Menschenstimmen, ungeduldiges Klingeln, stöhnende Autohupen; dann sah sie die Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche im grauen Schleier des Unwetters feierlich aufragen. Krachend rollte der Donner hinter den zuckenden Blitzen her.

Und plötzlich sah sie die beiden Männer vor sich, die ihr Leben erfüllt hatten, Bill, der jetzt in seinem Abteil saß, behaglich, vom Luxus umgeben, Reinhold, der vielleicht auch in diesem schrecklichen Wetter auf der Straße umherirrte, um sie zu suchen. Zu suchen ...? Zu töten ...? Es war ihr gleich. Nur das Herz schnürte sich ihr zusammen, nun, wo ihr friedliches Heim vor ihr auftauchte, die Wohnstube mit den roten Möbeln, die Petroleumlampe, die sie trotz der Gaskrone aus Sparsamkeit brannten. Und eine unwiderstehliche Sehnsucht nach diesem einfachen, traulichen Heim, das sie bisher so verachtet hatte, überfiel sie; ganz gleich, was ihrer wartete, lieber dort ein Ende mit Schrecken, als hier elend und verlassen in der Brandung der Weltstadt.

»Wir haben uns doch schon mal gesehen, Kleine, was?«

Sie starrte dem Fremden ins Gesicht, wortlos, ohne ihn zu verstehen, mit leerem, verzweifeltem Blick.

Der Mann wich zurück. »Dumme Pute,« brummte er erschrocken im Fortgehen.

Es goß wie mit Mollen. Sie war ganz allein auf der Straße. Ein Kälteschauer überlief sie; sie fühlte, wie das Wasser durch ihre Stiefel drang. Aber sie hatte schon wieder vergessen, daß sie nach Hause wollte; immer weiter wanderte sie, durch unbekannte Straßenzüge, an Baustellen und Feldern entlang, in die Vororte hinein. Einmal blickte sie auf; sie erkannte die Potsdamer Straße, hoch oben in Schöneberg.

Es war Nacht geworden; wie Perlenketten zogen sich die Lichter den spiegelnden Asphalt entlang, dazwischen die in fröhliches Licht getauchten Wagen der Straßenbahnen, die zornigen Augen der Autos.

Mit einmal stand sie vor ihrem Haus. Still, wie eine Burg des Friedens lag es da. Stand sie und stand, endlose Zeit, vor Nässe und Kälte bebend, in dem gleichmäßig rieselnden Landregen, der das Gewitter abgelöst hatte.

Aber dann wich sie von neuem zurück. Sie hatte nicht den Mut hinaufzugehen. Von ihrem Hut triefte es herab, die schweren Röcke zogen sie fast zu Boden, der Schleier klebte ihr am Gesicht, während sie sich auf das Vorgitter des Hauses stützte. Vom Kirchturm schlug es elf.

Ein Schutzmann im naßglänzenden Umhang tauchte neben ihr auf.

»Was machen Sie hier?« herrschte er sie an.

»Ich ... Ich habe meinen Hausschlüssel verloren,« antwortete sie erschreckt. Sie hatte als Kind schon eine entsetzliche Angst vor der Polizei gehabt.

»Da kommt der Nachtwächter,« antwortete der Beamte mißtrauisch. Und er wartete, bis sich die Haustür hinter ihr geschlossen hatte.

Sie atmete auf. Sie hätte nicht gewagt zu läuten. Was würde der Portier von ihr gedacht haben?

Mit fliegenden Händen hatte sie nach ihrem Portemonnaie gesucht, um dem Nachtwächter ein Trinkgeld zu geben. Und dabei war ihr ein Schlüssel zwischen die Finger geraten, der Drücker zur Wohnungstür.

In dem halbdunklen Flur, in den ein schwacher Schimmer von der Straßenlaterne fiel, blickten die unechten, protzigen Marmorwände, deren Talmi-Eleganz sie einst so entzückt hatte, feindselig auf sie herab. Und lautlos schleppte sie sich über das rauhe Kokusgeflecht, das den Läufer schützte, zog sie sich Stufe für Stufe am Geländer hinauf, über den zweiten Stock hinaus. Dann sank sie auf die Treppe hin. Sie wollte nur noch eins, sie wollte sterben.

Oben war ein Bodenfenster offen, das mißmütig im Sturm hin und her schlug. Und jedesmal fegte ein eisiger Hauch über Hanna hin.

Wohl eine Stunde saß sie so, halb im Schlaf, ab und zu aufschreckend. Niemand kam, sie zu stören. Und sie fühlte, wie ihre Füße bis zu den Knien abstarben, wie ihre Wangen zu glühen begannen. Dann befielen sie unerträgliche Kopfschmerzen; unaufhörlich, wie eine vibrierende Maschine, schlugen ihre Zähne gegeneinander, langsam begann der Flur um sie zu kreisen.

Und plötzlich ist sie wieder klein Hanna, im langen Nachtröckchen, vor ihr die Mutter, die sie beten lehrt: Vater unser ... Der Sekt perlt, sie hört zwei fremde Menschen reden: »Ich glaube, Sie sind gut ...« »Sie machen mich wahrhaft stolz!« Und Musik rauscht auf: Hüll' dich in Tand und schmücke dein Antlitz, bist nur Bajazzo ... Eine Stimme kreischt: Bill Petersen, du bist ein Lump, ein Lump, ein Lump ... Und klein Hanna betet, im langen Nachtröckchen: Verzeih uns unsere Schuld ...

Als sie erwachte, tat ihr jedes Glied weh. Mühsam zog sie die Uhr heraus. Es war zehn Minuten nach eins.

Mechanisch raffte sie sich hoch. Wie eine Nachtwandlerin wankte sie die Treppe hinauf, öffnete sie die Tür, schloß sie, klinkte die Wohnstube auf und blieb regungslos stehen, mit ihrer letzten Kraft sich an die Wand lehnend. Und ohne daß sie es wollte, lallte ihre Zunge kaum hörbare, unverständliche Laute. Noch immer tropfte das Wasser an ihr herab.

Am Tisch, hinter der Lampe, saß Reinhold Schneider. Bei ihrem Eintreten hob er den Kopf. Er sah zum Erschrecken aus; sein Haar war wirr von den Fäusten, die darin gewühlt hatten, die Augen rot, vom heißen Weinen entzündet.

 

Er war, von Hanna nicht wie sonst aus seinem Nachmittagsschlaf geweckt, erst nach fünf Uhr aufgewacht. Er hatte sich ärgerlich erhoben, laut nach ihr gerufen, endlich nach ihr gesucht. Im Eßzimmer fand er an Stelle seines Kaffees ihren Zettel.

Außer sich, hatte er sich an seine Arbeit gesetzt. Aber er war wenig bei der Sache gewesen; in seinen Gedanken hatte er rastlos eine Strafrede ausgearbeitet, die ein oratorisches Meisterwerk war und endgültig Ordnung schaffen würde.

Um sieben hatte ihn dann doch die Unruhe gepackt. Er nahm Hut und Schirm und stürmte im strömenden Regen zu Dorners. Cilly war nicht zu Haus, aber Hanna war wirklich bei ihr gewesen; das Mädchen glaubte, daß beide zusammen fortgegangen wären.

Reinhold kehrte wieder heim. Er war einfach sprachlos. Es gab Dinge, bei denen man überhaupt darauf verzichtete, sie zu begreifen. Aber er schwor sich, daß ihm das nicht noch einmal passieren sollte.

Daheim keine Hanna, kein Abendbrot. Aber er vermißte dieses auch nicht. Er war so mit Galle getränkt, daß er keinen Happen hätte essen können. Und je länger sie fortblieb, desto gereizter wurde er gegen sie. Er zog die nassen Stiefel aus, holte sich seine Pantoffel, nahm das Abendblatt aus dem Briefkasten, zündete die Lampe an und setzte sich in die Wohnstube. Er las eine Spalte des Leitartikels herunter, dann merkte er, daß er kein einziges Wort verstanden hatte. Mit benommenem Kopf sah er um sich her.

Und jetzt befiel ihn die Angst. Es mußte etwas geschehen sein, etwas Unerwartetes, Böses. Wenn Hanna sich ein Leid angetan hatte? Seit Wochen war sie verändert, fast krankhaft gereizt, trug sie etwas mit sich herum, das sie vor ihm zu verbergen suchte. Der Schrecken schnürte ihm die Brust zusammen. Wenn dieser Zettel nur ein Vorwand war, er sie mit seinem Nörgeln so weit gebracht hatte, daß sie an ihrem Dasein verzweifelte? Wenn sie hinausgegangen war, in diesem entsetzlichen Wetter, wenn sie gefunden wurde, womöglich mit einem Anklagebrief in der Tasche, sein ehrlicher Name, der Name seines Vaters, durch alle Zeitungen geschleift wurde? In wechselnden Bildern sah er sie bald unter dem Wagen, bald vergiftet sich im Krankenhause krümmend, bald im dunklen Wasser des Kanals treibend. Und er stand auf, nahm die Lampe, ging alles in der Wohnung durch, leuchtete jeden Raum, jeden Verschlag ab; ihm waren die Frauen eingefallen, die sich in der Wanne ertränkten, in einem dunklen Winkel erhängten.

Er fand nichts.

Und vor diesen entsetzlichen Bildern vergaß er seinen Groll, gelobte er sich in seiner Not, ein anderer zu werden. Wenn Hanna zurückkam, wenn ihre Abwesenheit sich aufgeklärt hatte – und diese Möglichkeit erschien ihm jetzt als ein unbeschreibliches Glück –, dann wollte er sie ohne ein Wort des Vorwurfs empfangen, ihr alles abbitten. Er begriff sich nicht. Sie war ja doch sein Alles, warum hatte er sie gequält, mit seinen Eigenheiten, seinen Schrullen? Mit seiner Eifersucht, wie erst vor wenig Tagen, bei Dorners, mit dem ... dem ... Petersen ...

Aber mit diesem Namen erwachte das Mißtrauen in ihm. Hatte sie nicht immer wieder von dem Menschen gesprochen, ihn als Vorbild hingestellt, ihn förmlich vergöttert? War sie nicht an jenem Montag, als er krank zu Hause geblieben war, erst lange nach acht erhitzt, mit zerzaustem Haar zurückgekehrt?

Wie Eis legte es sich ihm auf die Brust.

»Unsinn!« sagte er laut. War er denn ganz von Sinnen? Seine Hanna, die Frau, die sich niemals auch nur das Geringste hatte zuschulden kommen lassen, in der nicht der Hauch eines schlechten Gedankens lebte?

Und plötzlich, ohne Grund, senkte sich eine Zentnerlast auf ihn, stieg zwingend, aus unbekannten Tiefen seines Ichs die Ahnung in ihm auf, daß er betrogen war, fühlte er, daß diese Frau Busch, die immer zu seiner Frau gehalten, auch hier die Hände im Spiel gehabt, daß sie aus gleicher Ursache heute fortgeblieben war, die Hanna zur Flucht gezwungen.

Er brüllte nicht auf, er suchte nicht nach Messer und Revolver, er sank einfach auf seinem Stuhl zusammen. Und ohne es zu wissen, steckte er sich eine neue Zigarre an.

Einen Augenblick dachte er daran, zu dieser Frau Busch zu gehen, deren Haus er kannte, und sie zur Rede zu stellen. Er wagte es nicht; er hatte nicht die Spur eines Beweises in Händen, er scheute sich vor der Lächerlichkeit, dem Skandal, fürchtete einen Hausfriedensbruch, bangte davor, mißhandelt, festgehalten, verhaftet zu werden.

Unschlüssig blieb er sitzen, betrachtete er die Stickerei auf dem Untersatz der Lampe. Veilchen ... vier blaue Stiche, daneben fünf grüne ..., und hier noch ein Veilchen, auch vier blaue Stiche, und dann fünf grüne ...

Langsam hob er die Augen, bis zu Hannas Bild über dem Sofa, das sie ihm zum Geburtstag geschenkt. Seltsam, wie sie ihn anlächelte, mit einem fremden Zug, der immer gezwungener, feindseliger wurde, ihr Gesicht wie im Hohn verzerrte ...

Die Uhr schlug halb. Halb zehn. Die Uhr, die Hanna jeden Sonntag aufzog.

Er sah wieder um sich. Alles wie sonst, die Möbel, die Bilder, jedes kleinste Stück. Nur Hanna fehlte.

Aber er dachte nicht mehr darüber nach. Er fand jetzt alles selbstverständlich, wie ein Mensch, der unter die Räder geraten ist und sich nicht wundert, wenn er verbunden und geschient im Krankenhaus erwacht. Richtig, Hanna hatte ihn wohl betrogen; aber sein Geist weigerte sich, darüber nachzugrübeln, wann und wie und weshalb sie das getan haben könnte.

Lange saß er so da, las er ab und zu einige Zeilen der Zeitung und steckte eine Zigarre nach der anderen an.

Die Uhr schlug zehn, halb elf, elf, er saß und rührte sich nicht. Dann, steif geworden, reckte er sich gähnend, stand er auf, ging in das Schlafzimmer hinein und blieb vor Hannas Bett stehen, das in dem schwachen Widerschein der Lampe einem Katafalk glich. Er biß die Zähne zusammen und kehrte in das Wohnzimmer zurück. Wohl eine halbe Stunde wanderte er auf und ab, auf und ab, immer den kleinen roten Teppich entlang, genau die Füße in den Pantoffeln nach dem Muster setzend. Und eine Melodie, die jeder Gassenjunge zurzeit pfiff, ging ihm hartnäckig durch den Kopf.

Ermüdet setzte er sich wieder hin. Noch immer konnte er die ganze Tragweite dieses zwingenden Verdachtes nicht erfassen, der nun, um Mitternacht, ihm zur Gewißheit geworden war. Ein einziges Empfinden beherrschte ihn, die Schande. Er schwankte keinen Augenblick, wer ihm die Schmach angetan; deutlich erblickte er das kecke Gesicht des Gegners vor sich, sah er, wie jener über ihn spottete, ihn höhnte, während er Hanna im Arme hielt. Und Reinhold mochte sich wehren, wie er wollte, – ihm, dem an ängstliche Pflichterfüllung Gewöhnten, dem nüchternen, korrekten Beamten, der nie einen Schritt vom Wege getan, an jeder Rose die Dornen gescheut, ihm imponierte innerlich dieser verwegene Bursche, der über Recht und Sitte hinweg wie Tasso dachte: »Erlaubt ist, was gefällt.« Dieser Herrenmensch, der lachend die Stunden genoß, auch wenn die Sintflut drohte, der sicher jetzt längst auf ihn wartete, um ihm Genugtuung zu geben.

Genugtuung? Reinhold fühlte, er war verpflichtet, etwas Heroisches, Gewaltiges zu tun, um diese Erniedrigung zu tilgen, den Schimpf von sich abzuwaschen. Aber zugleich erhob sich in ihm eine Stimme, die ihn zurückhielt, die ihm zurief, daß das, was ohne Zweifel geschehen, doch niemals wieder gutzumachen sei, daß er sich selbst Komödie vorspielte, nie den Mut haben würde, als Rächer seiner Ehre, Auge um Auge, Zahn um Zahn Rechenschaft zu fordern.

Wie ein Armsünderglöckchen, wie Grabgeläute schwang es in ihm hin und her: Feige, feige, genau wie es wenige Stunden vorher in dem flüchtenden Bill geklungen hatte. Und mitten in seinem Schmerz durchschauerte ihn die Furcht, kam das lähmende Gefühl der Hilflosigkeit über ihn, mit dem ein schwacher Schwimmer sich von der Strömung in das weite, leere Meer hinausgerissen sieht. Nein, daß er, Reinhold Schneider, selbst diesen Elenden forderte, das Gesetz übertrat, war ausgeschlossen; schon der Gedanke wirkte grotesk auf ihn. Aber wenn er auch nur einem Dritten gegenüber zu einem heftigen Wort sich hinreißen ließ, das jenem zu Ohren kam? Wenn dieser narbenbedeckte Korpsstudent, dieser vom Standesdünkel erfüllte Offizier, der mit der Waffe vertraut war, ihm seinerseits die Forderung ins Haus schickte, ihn zum Zweikampf nötigte? Wenn er ihn monatelang als Krüppel auf das Schmerzensbett hinstreckte, ihn tot auf dem Platz zurückließ, um ungestört die junge Witwe zu trösten?

Und in seiner wachsenden Angst suchte Reinhold von allen Seiten Gründe zusammen, die ihn zum Schweigen, zum Verzeihen zwangen. Was sollte er denn auch tun? Dem Menschen auflauern, ihn niederschlagen, um auf der Armesünderbank, im Gefängnis zu enden? Die Klage gegen ihn einreichen? Er konnte es nur nach der Ehescheidung, nur gegen beide gemeinsam. Und was dann? In welcher Form er auch Lärm schlug, er stellte sich immer selbst mit an den Pranger. Wie würden seine Vorgesetzten, die Herren Geheimräte den Kopf schütteln, wie die Kollegen auf dem Amt über den Streber jubeln, der ihnen allen als Vorbild hingestellt war, der sie demnächst zu überspringen hoffte! Kein Zweifel, daß seine Laufbahn mit einem Schlage zerstört wäre. »Der Hahnrei,« würde es im ganzen Ministerium wispern, bis zum letzten Scheuerweib hinab. Und mit Schrecken dachte Reinhold an den Skatklub, an das dröhnende, unbarmherzige Lachen, die urkräftigen, schonungslosen Witze, dachte er an Tante Thekla, an endlose Fragen, unaufhörlichen Klatsch. Und wenn Onkel Berthold sein Geschäftsinteresse voranstellte, sich auf die Seite dieses Bill Petersen schlug, wenn er Hanna allein die Schuld gab, ihm selbst vorwarf, sie nicht genug gehütet zu haben? Wenn er ihnen Rente und Legat entzog?

Reinhold brach der Angstschweiß aus. Und plötzlich blieb ihm das Herz fast stehen ... Der Vater, was würde sein Vater sagen! Wie ein ertappter Knabe schreckte Reinhold zusammen. Nein, nie und nimmer durfte der etwas erfahren! Der Vater nicht, der ihn so eindringlich gewarnt hatte, und die ganze Welt nicht. Wer wollte ihm etwas beweisen? Es war ja alles nur Vermutung, ein haltloser, törichter Verdacht. Hanna würde ihm ihr Fernbleiben schon erklären, ein Unwohlsein, ein Übernachten in dem rasenden Gewitter bei Freunden, irgend etwas; und er würde es glauben, er hatte keinen Grund, sie der Lüge zu zeihen. Sollten denn die Leute hinter ihm hertuscheln, aus den Kellern, die die Straße säumen, aus den Gruppen müßiger Weiber in den Haustüren? Sollten die halbwüchsigen Jungen hinter ihm her johlen, die Mädchen kichernd ihm ins Gesicht grinsen?

Und schon stand es felsenfest in ihm, daß nichts geschehen war. Er liebte ja auch seine Ruhe und Bequemlichkeit so sehr, die Sicherheit, die ihm der Alltag gab, er fand nur in des Dienstes ewig gleich gestellter Uhr, im sorgenlosen Fluß der Tage Befriedigung und Kraft. Er hatte nur noch einen Wunsch, Hanna heimgekehrt zu sehen.

Und von neuem packte ihn die Angst um sie. Aber er konnte sich zu keinem Entschluß aufraffen. Sollte er sie suchen, auf der Straße, um sie erst recht zu verfehlen? Sollte er nochmals bei Dorners anfragen? Aber Cilly hätte ihm sicher doch Nachricht gegeben. Und selbst wenn Hanna überhaupt nicht wiederkam, waren ihm die Hände gebunden. Zur Polizei? Um Gottes willen! Die Säulen? Davor schreckte er in seiner Scheu vor der Öffentlichkeit erst recht zurück. Nein, es gab nur eins, das ruhige Abwarten, hier, in seinem Heim.

Aber wieder schnürte sich die Kehle ihm zu. Es war ja doch nur Selbstbetrug, dieses ruhige Abwarten, diese Hoffnung auf Hannas Rückkehr. Nie, niemals würde er die Frau heimkommen sehen, auf deren Reiz jetzt fremde Augen ruhten, an deren Mund sich fremde Lippen satt tranken, die einem anderen im Ehebruch die Schätze ihrer Liebe bot. Und in dem stillen, einsamen Raum, in dem nur die Uhr gleichmütig tickte, deren Zeiger schon auf eins wiesen, kam es wie ein Sturm über ihn. Mitten in seinem Leid, zum erstenmal, nun, wo er sie verloren, schrien seine Sinne nach ihr, brandete die Leidenschaft in ihm hoch. Ja, Hanna hatte ihm das Schlimmste angetan, was einen Mann ohne eigene Schuld treffen konnte. Nun gut, zugegeben, sie war zur Dirne geworden. Aber sie war und blieb das Weib, dem er Myrte und Schleier aus dem Haar gelöst, das ihm als ersten sich geschenkt. Keiner vergißt das. Alles kann ein Mann in sich zerstampfen, Vater und Mutter, Weib und Kind, nur eins kann er nicht: Verhindern, daß immer wieder, wenn in dunklen Stunden die Reue krächzt, ein blasses Bild aus der Finsternis taucht, eine junge, reine Braut, mit Augen, die in verlangender Scham dem Glück entgegenlächeln.

Und jetzt erst, von Liebe und Schmerz hin und her geworfen, von der Erinnerung gefoltert, durchlebte er in Wahrheit die Stunde, in der sie sein geworden. Er sah ihre Schultern aus weißer Seide aufleuchten, ihre Brust erblühn, sah mit klopfendem Herzen im Geiste Hülle um Hülle sinken. Sah sie ihr dunkelblondes Haar zur Nacht strählen, sah sie wie ein Baby in ihren Kissen liegen. Und dann wieder sah er sie in sprühender Lebenslust, die er niemals an ihr gekannt, niemals zu wecken verstanden, die weißen Arme um den Hals des Elenden schlingen, ihm Wonnen bereiten, die sie dem Gatten versagt.

Er stöhnte auf, in übermenschlicher Qual. Und sein Herz bangte so heiß nach ihr, daß Kummer und Schande ihn Seligkeit dünkten um ihretwillen.

Er fühlte, daß ihm die Tränen die Wangen herabrannen, sah sie silberklar auf die Zeitung fallen und zergehn. Im Mitleid mit sich selbst senkte er den müden, wirren Kopf auf die Arme, jammerte er immer wieder, immer leiser, hoffnungsloser: »Hanna! Hanna!« Und ein Schluchzen brach von seinen Lippen, so herzzerreißend, wie er zum letztenmal als Knabe geweint, als er nach seiner toten Mutter schrie.

Es schlug halb zwei. Die Augen fielen ihm zu.

Plötzlich hörte er ein Geräusch. Ein Schlüssel drehte sich im Schloß.

Wie gelähmt saß er da.

Langsam öffnete sich die Tür.

Hanna ...

Und während er sie noch wie ein Gespenst anstarrte, stieß sie ein leises Wimmern aus, warf sie die Arme hoch, schlug sie zu Boden.

 

Zwei Tage später kamen Dorners aus Marienbad zurück, Frau Thekla in hellem Triumph, trotz ihrer vom Sonnenbrand schauderhaft zugerichteten Nase. Im Gegensatz zu ihrem Manne, der schon am dritten Tage die unbequeme Kur aufgegeben, um mit zwei kongenialen Badegästen einen vierwöchentlichen Dauerskat in der Waldmühle zu eröffnen, hatte Frau Thekla die Anordnungen des Badearztes peinlichst befolgt und wirklich ganze fünf Kilo in Böhmen zurückgelassen. Erst war sie ja nicht von diesem Resultat befriedigt; nachdem ihr aber der Badearzt mit eiserner Stirn erklärt hatte, fünf Kilo seien genau das Quantum, das er von Anfang an mit Rücksicht auf ihre feinorganisierte Konstitution als Maximum ins Auge gefaßt habe, gab sie sich ungetrübter Freude hin. Diese »feinorganisierte Konstitution« bildete zudem eine Waffe, deren Wirkung auf ihre Umgebung nicht abzusehen war, die es jedem, vor allem dem Gatten und dieser impertinenten Cilly, zur Pflicht machte, sie wie ein rohes Ei zu behandeln, zu schonen, zu verwöhnen. Und mit frischer Kraft ergriff sie die Zügel des Haushalts und stürmte schon am nächsten Morgen los, um ihre strapazierten Kleider aufzufrischen und Küche und Keller neu zu füllen.

Kaum hatte sie das Haus verlassen, als Cilly zum Vater in das Bureau hinunterging.

»Väterchen,« sagte sie liebenswürdig, »hör' einmal auf mit Schreiben. Ich muß mit dir reden.«

»Väterchen? Mit mir reden?« fragte Berthold, der wie jeder Chef nach der Rückkehr von der Reise einen Haufen Arbeit vorgefunden hatte, äußerst mißtrauisch. »Was kostet denn die Unterredung?«

»Das kann ich dir auf Heller und Pfennig sagen,« antwortete Cilly bestimmt. »Dreimalhunderttausend.«

»Mark?« fragte Berthold verblüfft.

»Mark,« bestätigte Cilly.

Berthold wurde mit einem Schlage der kühle Geschäftsmann. Hatte sich etwa das Mädel, seine kluge Cilly, die freilich immer hoch hinausgewollt, von einem dieser zu Dutzenden herumlaufenden, von Schulden überbürdeten Barone oder Grafen den Kopf verdrehen lassen? Da hieß es von vornherein energisch durchgreifen, ihr gründlich die Raupen austreiben.

»Also zunächst einmal Eisblase, mein liebes Kind,« antwortete er, »besser noch ein nettes Sanatorium, hübsch im Walde gelegen. Und hilft –«

»In mündelsicheren Papieren,« unterbrach ihn Cilly. »Reichsbankdepot.«

»Und hilft das nichts, Gummizelle,« vollendete Berthold Dorner seinen Satz.

»Auf den Namen Cäcilie Petersen,« schloß Cilly ruhig den ihrigen.

Jetzt war Berthold Dorner denn doch geschlagen. Bill Petersen, dieser verteufelte Windhund! War das nun auch ein Reinfall, oder war es eine Bombensache?

Lange saß er da, zum Fenster hinausblickend, dicke Dampfwolken ausstoßend, jedes Für und Wider erwägend. Dann sah er seine Tochter voll an und sagte:

»Also darum so reisemüde? Sag' mir mal ehrlich, Cillychen, hast du dir auch nichts vergeben?«

Sie lächelte überlegen. »Du kennst deine Tochter doch recht wenig, Vater,« antwortete sie.

Berthold Dorner atmete auf. »Dann tun es hundert Mille auch,« sagte er befriedigt.

Cilly schüttelte gleichmütig den Kopf. »Mit vier- oder fünftausend Mark Rente, Berthold Dorners einzige Tochter, – nicht zu machen, Vater!«

»Das hat dir wohl der Petersen eingeblasen?« fragte er verärgert.

»Bill scheidet ganz aus. Der will nur mich.«

Berthold sah sie verdutzt an. Dann schien ihm plötzlich etwas einzufallen. Er kramte unter seinen Papieren, bis er ein Telegramm fand. Und als er es gelesen hatte, lachte er laut auf. »Das wäre ja furchtbar gütig von ihm gewesen. Aber leider hat er sich die Sache wieder überlegt und ist nach Hamburg desertiert. Hier, lies! Die Sache ist Essig, mein Kind.«

»Ich habe ihn selbst auf den Bahnhof gebracht,« erwiderte Cilly. »Er läßt schön grüßen. Im übrigen weiß er, daß ich das Geschäftliche in die Hand genommen habe; er hat mir nur eins gesagt: Sei zähe, Cilly, dein Vater ist ein gerissener Kaufmann. Und ich hab' ihm geantwortet: Keine Angst, mit dem bin ich noch immer fertig geworden.«

»Das wirst du nicht. Diesmal nicht! Da gebe ich dir mein Wort darauf. Hunderttausend, und damit basta.«

»Schön! Also reise ich ihm nach und bearbeite den Herrn Senator. Und dann kostet die Sache fünfmalhunderttausend.«

»Wenn du das tust, dann schmeiß' ich dich hinterher noch 'raus,« entgegnete Berthold Dorner und schlug wütend mit dem Lineal auf das Pult.

Cilly nahm ihm schweigend das Lineal aus der Hand. »Berthold Dorner schmeißt seine Tochter nicht 'raus,« sagte sie dann in sicherem Tone. »Und Berthold Dorner verdirbt sich nicht seine beste Geschäftsverbindung mit G. H. Petersen & Co., Hamburg. Das würde dich auf die Dauer mehr kosten als die lumpigen dreihundert Mille.«

Berthold knurrte etwas vor sich hin, das wie »Bande« klang. Und dann guckte er lange zur Decke hinauf.

»So einen guten Abschluß, Vater,« redete Cilly ganz geschäftlich weiter, »hast du in deinem Leben noch nicht gemacht. C. B. Dorner und G. H. Petersen & Co. verwandt! Mir hat Bill übrigens auch telegraphiert: Der Senator ist glücklich, ich soll nach Hamburg kommen. Schreib' also deinem Schwiegersohn noch heute ein paar zärtliche Zeilen.«

»Da hat man nun Kinder in die Welt gesetzt –«, zürnte Berthold Dorner.

»Ich weiß schon, Vater, ich kenne die Litanei. Das hättest du dir früher überlegen sollen, damals, als du das Faktum verschuldet hast.«

Ihr Vater sah stumm vor sich hin. Eigentlich hatte das Mädel recht. Wenn Bill sein Schwiegersohn war, so mußte G. H. Petersen & Co. ihm glänzende Bedingungen einräumen, so war die ganze Konkurrenz geschlagen. Und Bill konnte später einmal beide Firmen verschmelzen. Dann hatte man doch nicht umsonst gearbeitet.

Aber ein Rest von Mißtrauen blieb. »Und du hast keine Angst, daß dieser verflixte Durchgänger so weiter arbeitet im Weinberge des Herrn?«

»Vater,« antwortete Cilly, »zerbrich dir doch meinen Kopf nicht. Dafür laß mich nur sorgen. Ich halte die Augen schon offen.«

Berthold seufzte. »Und was wird Mutter sagen?«

»Das ist das erstemal in deiner dreiundzwanzigjährigen Ehe, daß du danach fragst,« erwiderte Cilly, in dem Bewußtsein lächelnd, die Schlacht gewonnen zu haben. »Im übrigen wird die ihrem Schöpfer danken, daß sie mich los wird.«

Berthold Dorner sah sich seine Tochter eine ganze Weile bewundernd an. Dann sagte er: »Lieber einen Sack Flöhe hüten, als ein Frauenzimmer. Du bist doch ein verfluchter Gauner.«

Und Cilly antwortete bescheiden: »Ich bin die Tochter meines Vaters.«

»Mein lieber Bill!

Auf die freundliche Einladung des Herrn Senators gibt es natürlich nur einen Dank, den persönlichen, den ich ihm morgen schon mit meinem schönsten Knicks abstatten werde. Ich bin mit dem Zuge sieben Uhr abends Dammtor dort, um vor allem meinem künftigen Schwiegerpapa klar zu machen, daß mein Bräutigam nicht länger als Volontär in unserer Firma ›wirken‹ kann.

Inzwischen bin ich nicht müßig gewesen. Ich habe mir von Frau Moser gratulieren lassen, ihr auf meine Verantwortung gesagt, daß du die Miete bis Oktober bezahlst, da sie im Sommer schwer einen neuen Mieter bekommt, und bei dieser Gelegenheit erfahren, daß Hanna wirklich kurz nach deiner Abreise bei dir war. Du kannst wahrhaftig deinem Gott danken.

Mit meinem Vater habe ich gesprochen. Resultat: Ein Donnerwetter, sein Segen und dreihunderttausend.

Schlimmer ging es mir mit der Mutter. ›Cilly, Cilly! Was muß ich hören? Du bist verlobt? Mit dem Petersen? Aber wieso denn bloß, seit wann denn?‹ Sie ist arg über mich chockiert, denn ich habe ihr vorgeredet, ich hätte dir nach Geschäftsschluß aufgelauert, und so wären wir dann einig geworden. Bitte, halte diese Version fest, für den ganzen trauten Kreis von Verwandten und Freunden. Danach fragt jeder zuerst, und als zweites, wann wir denn heiraten.

Dann war ich bei Schneiders. Ich habe Reinhold von unserem Verlöbnis erzählt, aber natürlich kein Wort davon gesagt, daß ich im Geheimnis bin. Auch er hat geschwiegen und wird es weiter tun. Hanna liegt leider in einem Fieber, das das Schlimmste befürchten läßt; ich habe sofort unseren alten Sanitätsrat gerufen, der sie hoffentlich durchbringt. Übrigens, it is an ill wind that blows nobody good, denn diese Erkrankung wird der armen Hanna immerhin über das Schwerste hinweghelfen. Aber es dürfte kaum schaden, wenn du dir recht eindringlich vorstellst, was sie um deinetwillen durchlebt hat. Ich meine, lieber Bill, auch für die Zukunft, und ich schreibe das mit sehr ernsten Empfindungen.

So habe ich denn alles nach Möglichkeit geordnet. Du bleibst hübsch in Hamburg, und Hanna bei ihrem Reinhold; und ich werde mir alle Mühe geben, meinen Schwiegerpapa in mich verliebt zu machen.

A rivederci morgen!
Deine
Cilly.«

 

Tag und Nacht sitzt Reinhold Schneider an dem Bett der Frau, die ihn betrogen. Er hat drei Wochen Urlaub genommen, die Zeit, die ihm in diesem Sommer neue Kraft schenken sollte.

Wochenlang fragt er sie nichts, darf er nichts fragen. Sie scheint ihn nicht zu kennen; aber sobald er sich über sie beugt, fängt sie herzzerbrechend an zu weinen.

Dann, nach bangen Wochen, blaß, schmal, kaum fähig sich zu bewegen, ist sie gerettet.

 

Glocken läuten. Vor dem Altar der Gedächtniskirche, an der Hanna in der Gewitternacht sich vorübergeschleppt, stehen Bill und Cilly und wechseln beim leisen Orgelklang die Ringe.

Als das Brautpaar durch die gaffende Menge hindurch die Kirche verläßt, um in das Hochzeitsauto zu steigen, fliegt eine rote Rose dicht vor Bills Füße. Er hebt den Blick, – in feuchtem Schimmer lächelnd grüßen ihn Ernas Augen.

Und trotz der ernsten Stunde wird ihm das Herz warm. Die Letzte! Er hat für sie gesorgt, sie wird ihn nicht vergessen.

Adlon, Hochzeitslichter im Saal ... Hoho, Berthold Dorner läßt sich nicht lumpen, – hallo, Berthold Dorner wird den Hamburgern schon zeigen, daß Berliner Geld kein Stroh ist. Da steht er und plaudert vergnügt mit dem Senator, der ihn trotz seiner Größe noch überragt.

Im Hintergrunde das Brautpaar. Cilly an Bills Seite sieht – wie Trotha, der Stader Ulan, mit neidischem Seufzer bemerkt – »ekelhaft schön aus«. Huldigend, glückwünschend drängen sich die Gäste um sie. Dann geht es wie ein Aufatmen durch die Versammlung; der maître meldet dem Bräutigam, die Türen zum Eßsaal öffnen sich, gedämpft klingt der Lohengrinmarsch heraus.

Und während dort unter den Linden die Gläser auf das Wohl des Brautpaares zusammenklingen, sitzen Reinhold und Hanna in ihrem Stübchen bei der Lampe. Sie haben nicht nach Gründen zu suchen brauchen, die Einladung abzulehnen, dazu ist Hanna noch zu schwach.

Auch in ihrer Rekonvaleszenz ist sie still, wie zerbrochen geblieben. Mit weiten Augen hat sie hinausgesehn, irgendwohin, auf keine Frage geantwortet. Manchmal hat sie aufgelacht, aber ihr Lachen hat wie zersprungenes Kristall geklungen.

Und nun ist Hanna genesen. Aber wenn Reinhold ungeduldig mit dem Arzte spricht, wenn er sich sehnt nach ihrem alten Frohsinn, ihrem reinen, silbernen Lachen, dann zuckt der Arzt die Achseln:

»Sie ist nicht mehr krank. Sie braucht nur noch Sonnenschein, viel Sonnenschein.«

Und Reinhold beißt die Zähne zusammen und denkt: »Und ich, – wer gibt mir Sonnenschein?«

Heute, an dem schweren Tage, an dem Bill und Cilly den Bund für das Leben schließen, ist Hanna wieder einmal so schrecklich still. Stumm blickt sie stundenlang beim Schein der Lampe vor sich hin.

Nur einmal unterbricht sie ihr Schweigen.

»Was macht Cilly?« fragt sie.

Er windet sich einen Augenblick, ungewiß, was er sagen darf. »Sie läßt grüßen, sie war oft hier, nach dir zu fragen. Sie geht jetzt fort.«

»Fort?« wiederholt Hanna grübelnd. »Nach Hamburg?«

Er zögert, sieht sie ängstlich an. Dann erwidert er leise: »Ja.«

»Nach Hamburg ..., so? Nach Hamburg?« sagt Hanna noch einmal, müde, apathisch. Dann hebt sie den Kopf:

»Wann ist die Hochzeit?« fragt sie mit klarer Stimme.

»Heute,« antwortet er wider seinen Willen.

Hanna schweigt. Ihr letzter Streit mit Bill steht ihr vor Augen, und dann sieht sie ihn wieder in der Oper neben sich, hört sie den Schluß des Bajazzo:

Geht ruhig heim, – das Spiel ist aus ...

Das Spiel ist aus.

Und sie summt in abgerissenen Melodien den Prolog vor sich hin, mit langen, langen Pausen, in denen die Töne stumm in ihr weiterklingen.

»Singe doch nicht, Hanna,« bittet Reinhold erschüttert.

»Singe ich?« fragt sie erstaunt zurück. Und unmittelbar darauf summt sie wieder, immer dieselben wirren Töne ...

Es ist neun Uhr vorbei, und doch weigert sie sich zur Ruhe zu gehn. Und während er neben ihr sitzt, durchlebt er noch einmal die letzten Monate, dieses letzte Vierteljahr, das das Haar an seinen Schläfen gebleicht hat.

Er hat getan, was er tun konnte, fast über Menschenkraft.

Wochenlang ist er nicht von ihr gewichen, seit jener unseligen Nacht, in der sie mit glühendem Gesicht in den Kissen gelegen und wirres Zeug zu reden begonnen, aus dem ihm immer wie ein Peitschenhieb der Name Bill, dieser verhaßte Name des Mannes entgegenklang, der heute mit seinem jungen Weibe hinausfuhr, der Welt, dem Glück entgegen. Wochenlang hat Reinhold sich mit der Schwester vom Roten Kreuz abgelöst, Hanna das Eis auf das Haupt gelegt, auf diese eingefallene, wachsbleiche Stirn, hinter der ein anderer lebte, noch immer ein anderer der Herrscher war. Die Schwester hat geglaubt, daß Bill sein eigener Liebesname sei, und oft hat er mit blutendem Herzen es anhören müssen, daß sie mit freundlichem Lächeln sagte: »Wie muß Ihr Frauchen Sie doch lieb haben!«

Er hat getan, was er konnte. Er hat niemand in Anspruch genommen, hat Onkel Bertholds Hilfe dankend zurückgewiesen, hat freudig alles geopfert, was er sich mühsam erspart; er hat sich nicht mit dem Sanitätsrat begnügt, hat die besten Ärzte gerufen, deren Namen Weltruf haben, hat Hanna in der langen, schwankenden Rekonvaleszentenzeit mit allem gehegt und gepflegt, was Liebe ersinnen kann.

Er hat noch mehr getan. Aus eigenem Leid weiß er, daß jeder Mensch sein Schwerstes allein durchkämpfen muß. Er hat mit keinem Laut, keiner Miene an der Wunde in ihrem Herzen gerührt, hat sich geschworen, es nie zu tun, gewaltsam die nagenden Gedanken in sich erstickt. Er hat vergessen, um seinet-, um ihretwillen.

Er schreckt auf. Kein Laut ist von Hanna zu hören. Und doch weint sie mit einmal so herzzerbrechend, so unaufhörlich, daß ihm, dem Manne neben ihr, das Herz sich zusammenschnürt.

Reinhold ahnt nicht, worüber sie weint. Sie tut es über sich, über den großen Irrtum ihres Lebens, über den Mann, in dem sie sich getäuscht. Sie hat in Bill die Kraft geliebt und hat ihn schwach gesehen. Und einen Augenblick steigt es in krankhaftem Frohlocken in ihr auf: Cilly, die Starke, die wird mich rächen! Aber schon flutet es in ihr empor, als sollte sie sich zu ihr schleppen, auf ihren Knien bitten: Sei gut zu ihm, – sei's mir zuliebe, mir, der du so weh, so furchtbar weh getan! Sei gut zu ihm, und ich will dich segnen, dich und ihn!

Und zugleich fühlt sie: Ein Einziger noch ist stark gewesen, einer, den sie so schwer verkannt, dessen Liebe sich größer erwiesen, als sein Herzeleid. Und wie dieser Eine sie jetzt so bitter weinen sieht, stiehlt sich sein Arm zu der Frau hinüber, die ihn elend gemacht. In dem schlichten, durch das Unglück geläuterten, gereiften Manne vergeht vor den Tränen der Frau, die er liebt, die er noch immer, doppelt im Schmerz der Demütigung liebt, das eigene Leid. Für gute und böse Tage hat er ihr Treue gelobt, in dieser bitterschweren Zeit will er nicht versagen. Ohne daß sie es zu empfinden scheint, zieht er sie zaghaft an sich, sucht er sie zu beruhigen, beginnt sein Mund Worte des Trostes, der Liebe zu flüstern. Allmählich legt sich ihr herzzerschneidendes Schluchzen, erlischt es; enger und enger schmiegt sie sich an ihn, halb ängstlich, halb von dem unbezwinglichen Drange getrieben, in ihrem Jammer, ihrer Schuld, ihrer Verlassenheit einen Halt zu finden. Und eine unendliche, alles andere erstickende Sehnsucht steigt in ihr auf, erfüllt sie ganz, die Sehnsucht, all ihr Irren, all ihre Fehle zu vergessen, zu sühnen, in neuer Kraft und Reinheit, in neuem Frieden.

Fester umschlingt sie sein Arm. Und leise, scheu, bittend hört sie ihn sagen: »Komm!«

Einen Augenblick sitzt sie wie erstarrt. Und dann, entschlossen, rafft sie sich hoch, stützt sich auf ihn, läßt sie sich von ihm fortführen, aus Taumel und Trug in das Leben zurück.

 


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