Friedo Lampe
Von Tür zu Tür
Friedo Lampe

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Von Tür zu Tür

Die Mutter trat in die Stube und sagte: »Nun klapp mal das Buch zu« – Lotti las gerade in Trotzkopfs Brautzeit – »und geh mal zu Tante Gertrud und bring ihr diesen Schellfisch. Den ißt sie doch so gern. Das wird sie freuen, jetzt, wo sie so krank ist.« Lotti sagte: »Nein, Mami, ich geh' nicht zu Tante Gertrud, du weißt doch, daß ich Angst vor ihr habe, sie ist eine böse Frau.« – »Dummes Ding«, sagte die Mutter, »willst du wohl machen, daß du fortkommst ? Bei einer Erbtante ist es ganz egal, ob sie nett ist oder nicht. Tante Gertrud ist reich und kinderlos. Wer weiß, vielleicht fällt auch für dich einmal etwas ab. Sei nur recht freundlich zu ihr.«

Lotti wickelte also den Fisch in Seidenpapier und ging zu Tante Gertrud. Es war ein milder Oktoberabend, die Straßen waren schon dämmrig und sanft verschleiert im feuchten Herbstdunst. Der Laternenanzünder war gerade dabei, mit einer langen Stange eine Laterne nach der anderen anzudrehen. Da es Sonnabend war, läuteten die Glocken von St. Annen. Tante Gertrud wohnte in einem alten großen baufälligen Haus, das in einem verwilderten Garten zwischen hohen Zypressen und Tannen lag. Es sah grauschwarz und rissig aus, da es nie mehr angestrichen war. Tante Gertruds Mann war Reedereibesitzer 20 gewesen und hatte sein Büro in dem Hause gehabt, da war viel Leben in dem Hause gewesen, aber nun lag es leer und verödet da, Tante Gertrud wohnte ganz allein darin, nicht mal ein Dienstmädchen hatte sie, so geizig war sie, nur ab und an kam eine alte Aufwartefrau. Lotti ging durch den düstern Garten und stieg die Steinstufen rauf und klingelte. Einmal, zweimal. Aber nichts rührte sich in dem Haus. Die Glocken von St. Annen hallten, und die Tannen und Zypressen dehnten sich hoch und schwarz in die Dämmerung. Eine Fledermaus strich ganz nah an ihrem Haar vorbei. Tante Gertrud ist nicht zu Haus, oder sie schläft, ich geh' wieder. Da hörte sie ein krächzendes Gelächter. Sie hatte es schon eine Weile gehört, aber nicht darauf geachtet. Ja, es kam aus dem Haus. Das war Lora, Tante Gertruds Papagei, den sie aus Guatemala mitgebracht hatte. Warum lachte er so? Und da öffnete sich oben ein Fenster, und Tante Gertrud rief: »Wer ist denn da?« – »Ich bin's, Lotti, ich bring' dir einen Schellfisch.« – »Warum läutest du denn?« sagte Tante Gertrud, »die Tür ist doch offen.« Ja, die Tür war offen. Lotti trat in den dunklen Flur und ging die Treppe rauf und klopfte an die Tür, hinter der sie Tante Gertruds Stimme hörte. Tante Gertrud schimpfte, und der Papagei lachte. »Komm doch rein«, sagte Tante Gertrud.

Lotti trat in das Zimmer. Tante Gertrud saß 21 in einem großen grünen Ohrenstuhl am Fenster, den Kopf hatte sie müde zurückgelegt, und die Hand hing schlaff von der Lehne. Sie hatte ein schwarzes Seidenkleid an und sah noch immer recht stattlich und respekteinflößend aus, obgleich sie nun so matt und verfallen dasaß. Ihr Gesicht schimmerte bleich aus dem Dämmer, und ihr pechschwarzes Haar türmte sich wie immer zu einer hohen Frisur. Ihr gegenüber an dem anderen Fenster stand der Papageienkäfig auf einem Ebenholztischchen. Er war mit einem bunten persischen Schal verhängt, aber dahinter lachte der Papagei, lachte und lachte. Lotti wickelte den Schellfisch aus und zeigte ihn Tante Gertrud. Die starrte eine Weile auf den Fisch, auf seinen fetten silbrig glimmenden Leib und seine glotzenden Augen, und ihre große Adlernase sog gierig den scharfen Fischgeruch ein, ja, die Nase sah aus, als wollte sie gleich auf den Fischleib loshacken. Dann lächelte sie bitter: »Ja, die lieben Verwandten, ja, deine gute, kluge Mutter. Leg den Fisch da aufs Büfett. Ich glaube, ich werd' ihn nicht mehr essen können. Kommt zu spät, kommt zu spät. Nun hör dir dieses Biest an. So lacht das nun in einem fort, seit vielen Tagen. Immer hat er so über mich gelacht, mein Leben lang. Und so was päppelt man groß und verhätschelt es. Das Tuch hab' ich ihm übergehängt, aber er lacht weiter. Er weiß ja, daß ich sterben muß, und deshalb lacht er. Er hat ja so 22 'ne gemeine Seele. Aber warte«, sie erhob sich mühsam aus dem Stuhl und schwankte zum Büfett, zog eine Schublade raus und ergriff ein Messer, »warte, wollen mal sehen, wer zuletzt lacht.« Und sie riß den bunten Schal vom Käfig und packte den kreischenden Vogel, der mit seinen grünrotgelb schimmernden Flügeln wild um sich schlug, und während er zum letztenmal in ihre Hand hineinhackte, daß das Blut ihr über die Finger lief, schnitt sie ihm den Hals durch und warf ihn auf das Büfett, und da lag er nun zuckend neben dem glotzenden Fisch. »O Tante Gertrud, Tante Gertrud«, schrie Lotti auf. »So, nun hat er sein Fett, nun ist er still, nun ist es vorbei, nun ist alles vorbei«, sagte Tante Gertrud, »nun ist Ruhe, nun kann ich nicht mehr und will auch nicht mehr.« Im Hintergrunde des Zimmers stand ein roter Diwan, auf den legte sich Tante Gertrud in ihrem schwarzen Seidenkleid, sie streckte sich lang aus, faltete die Hände, die blutgefärbten Hände, überm Leib und schloß die Augen. Bewegungslos lag sie da. Draußen läuteten noch immer die Glocken von St. Annen, der Fisch roch, und die Dämmerung wurde dichter. »Lotti, steck die Kerzen an«, flüsterte Tante Gertrud mit geschlossenen Augen, »die Streichhölzer liegen auf dem Nähtisch.« Zu beiden Enden des Diwans standen zwei Tischchen mit goldenen mehrarmigen Kerzenhaltern. Und Lotti steckte die Kerzen an, eine nach der 23 anderen, und das Licht schimmerte über Tante Gertrud hin, Starr lag sie da, mit geschlossenen Augen, und sagte nichts mehr.

Da begann eine Orgel zu spielen, irgendwo, ernst und feierlich, und da hörte Lotti in der Stube nebenan, die durch eine große dunkelrote Samtportiere verhängt war, gedämpftes Stimmengemurmel, und die Samtportiere wurde auseinandergezogen, und langsam schritten viele Menschen in das Zimmer, Männer und Frauen, alle schwarzgekleidet, die Herren den Zylinderhut in der Hand und die Frauen mit schwarzen Kreppschleiern an den Hüten, und alle hatten schwarze Handschuhe an, und sie trugen große dicke Trauerkränze mit weißen und roten Schleifen, und es begann süß und betäubend zu duften in dem Zimmer. An der Spitze des Zuges ging ein korpulenter Mann in einer blauen Uniform, an den Ärmeln hatte er breite goldene Streifen, am Kragen und an der Mütze, die er in der Hand hielt, goldene Litzen und Schnüre, er hatte ein rotes Gesicht mit einer blauen Weinnase und einen brandroten struppigen Vollbart, und er und all die anderen stellten sich um den Diwan, auf dem Tante Gertrud lag, und falteten die Hände und blickten stumm und brütend auf die Tote. Und die Orgel summte und schwoll immer mehr an, und die Glocken von St. Annen dröhnten metallen. Da fing der dicke Mann in der Uniform auf einmal an zu schluchzen, ganz 24 jämmerlich zu schluchzen, und er hielt sich die Hand vors Gesicht, aber seine Schultern zuckten, und da erkannte ihn Lotti, und ihr fiel die Geschichte ein, die ihr die Mutter erzählt hatte. Das war ja Kapitän Brodersen. Er wollte Tante Gertrud heiraten, als sie noch ganz jung waren, aber daraus wurde dann nichts, ihre Eltern wollten das nicht, weil er arm war und nichts vorstellte, mein Gott, ein kleiner Steuermann, nein, sie mußte den reichen Reederssohn heiraten, den sie gar nicht liebte. Und nun stand er da, der dicke Mann, und hatte eine blaue Weinnase, und seine Schultern zuckten. Und Tante Gertrud? Ja, die hatte sich von ihrem Papagei, von Lora, auslachen lassen müssen, er hatte einfach über ihr ganzes Leben gelacht. Aber nun lag er da mit durchgeschnittenem Hals, neben dem Schellfisch. Und da hob Kapitän Brodersen den Kopf: »Das nützt ja nun alles nichts«, und er gab den Umstehenden ein Zeichen, und sie legten die Kränze auf Tante Gertrud, sie wurde ganz unter den Kränzen begraben, und vier Herren hoben den Diwan an den vier Ecken hoch, und sie schritten langsam mit der Toten und den aufgehäuften Kränzen aus dem Zimmer, und alle folgten und ordneten sich zu einem Zuge. Da erkannte Lotti ihre Klavierlehrerin Fräulein Lömker unter den Leidtragenden, und sie trat leise zu ihr und zupfte sie am Ärmel: »Fräulein Lömker, ich hab' ja gar keine Trauerkleider.« Fräulein Lömker 25 sah sie einen Augenblick vorwurfsvoll an: »Lotti, da hättest du aber etwas eher dran denken müssen. Was machen wir denn da? Ah, ich weiß schon.« Sie nahm Tante Gertruds schwarze Seidenpelerine vom Haken und legte sie Lotti um: »Halt sie nur vorne recht fest zusammen, damit man deinen hellen Rock nicht sieht. Und nun komm schnell.«

Der Zug bewegte sich durch viele Korridore, Stuben und über Treppen hin – wie groß war Tante Gertruds Haus! – und nur die beiden Kerzenleuchter, die von zwei Herren getragen wurden, flackerten matt über die dunklen Gestalten hin. Jedesmal bei einer Treppe staute sich der Zug, und behutsam mußte die schwere Last die Stufen hinunterbefördert werden; aber auf einmal ging am Ende eines Korridors eine Flügeltür auseinander, und sie betraten eine große Halle, die war ganz aus Glas, ein riesiger Wintergarten war das, eine Bahnhofshalle, ein hochgewölbtes Gewächshaus; denn an den Glaswänden standen hohe Palmen, Lorbeerbäume, exotische Blattgewächse, Kakteen und leuchtende Blumen – und zwischen den Palmen und Lorbeerbäumen stieg aus einer flachen Marmorschale ein zarter Wasserstrahl und fiel plätschernd zurück in das Becken. Durch die Scheiben der Halle aber schien tot und fahl grauweißes Tageslicht, ja, Lotti sah draußen eine weißverschneite Winterlandschaft, die Halle lag in einem großen Park, 26 oder war es ein Friedhof? Und die kahlen Bäume hoben sich schwarz von dem Schnee ab. Und die Orgel spielte, und der Diwan, auf dem Tante Gertrud unter einem Berg von Kränzen aufgebahrt lag, wurde in die Mitte der Halle auf den buntgesprenkelten Steinboden gestellt, und das Trauergefolge gruppierte sich um den Diwan und starrte wieder schweigend auf ihn hin, und eine Frauenstimme, eine tiefe klare Altstimme, klang von irgendwoher, wie aus der Höhe herab:

Leben, wie fliegst du dahin,
Alles zu Asche muß werden,
Drum so schwebe dein Sinn
Hoch überm Dunkel der Erden.

Und Kapitän Brodersen hatte die Hände über seiner Seemannsmütze gefaltet und murmelte: »Arme Gertrud, arme Gertrud, versäumt, versäumt, lebe wohl, lebe wohl«; und unter den Klängen der Orgel und dem Gesang der Frauenstimme sank der Diwan mit den Kränzen in die Tiefe – wir sind in einem Krematorium, wir sind also doch in einem Krematorium, dachte Lotti. Auch Onkel Willis Sarg war damals in dem Krematorium so in die Tiefe gesunken. Und der Boden schloß sich wieder über Tante Gertrud, und die Orgel wurde leiser und leiser und schwieg, und der Gesang verhallte – es wurde ganz still in der großen Halle, draußen lag tot und fahl die Winterlandschaft, nur der Brunnen plätscherte lustig fort. Unbeweglich standen die Leute und 27 schauten wie träumend, wie schlafend vor sich nieder, lange, lange, und die Zeit verging.

Da rief plötzlich Fräulein Lömker: »Was ist denn mit uns los? Sind wir hier, um zu trauern oder um froh zu sein? Hochzeit ist doch heute! Kapitän Brodersens Hochzeit! Kinder, Stimmung, Stimmung!« Und sie huschte zu einem Klavier hin, das zwischen den Palmen stand, ein braunes Nußbaumklavier, und, warf den dunklen Mantel ab, da hatte sie ein hellblaues weitausgeschnittenes Abendkleid an, setzte sich ans Klavier und spielte eine flotte Polka. Da kam Bewegung in die Leute, ja, was stehen wir hier rum und gucken so miesepeterig, Grund genug ist doch, vergnügt zu sein, Kapitän Brodersens Hochzeit ist heute, nun hat er doch noch eine Frau gefunden, der alte Seebär, niemand hätte das noch für möglich gehalten, und was für ein junges reizendes Ding. Mäntel ab, Hüte ab und die schwarzen Handschuhe weg; und alle drängten zur Garderobe, die vorm Eingang der Halle lag, und gaben ihre Mäntel und Hüte ab, und nun standen sie in festlichen Kleidern da, Seide knisterte und Schleppen rauschten, und süßes Parfüm zog durch die Luft, und die Frackschöße der Herren flogen. Und alle traten zur Polonäse an, und Kapitän Brodersen stellte sich an die Spitze des Zuges, und Fräulein Lömker hämmerte munter auf das Klavier ein: Polonäse, Polonäse. »Aber wo ist denn meine Braut?« rief 28 Kapitän Brodersen, »warum kommt sie denn nicht? Bin ich denn verdammt, immer nur zu warten und zu warten?« Und alle Leute riefen: »Ja, die Braut, die Braut, wo ist die Braut?«

Lotti hatte neben dem Klavier gestanden und auf Fräulein Lömkers zierliche feste Hände geschaut, wie sie so resolut auf den Tasten herumgriffen, sie hatte sich auf das Klavier gestützt und den Kopf in die Hand gelegt, da sah sie plötzlich den Zug herankommen, Kapitän Brodersen verbeugte sich mit einem plumpen Kratzfuß vor ihr und faßte ihre Hand und küßte sie leidenschaftlich: »Da ist ja mein Herzchen, mein kleines Täubchen«, und dann führte er sie triumphierend durch den Saal, und Lotti ging an seiner Seite, starr und stumm, und dann spielte Fräulein Lömker auf einmal einen schnellen Walzer, die Paare faßten sich um, und nun wogte alles im Dreivierteltakt. Ganz dicht sah Lotti vor sich Kapitän Brodersens rotes Gesicht, seine blaue Weinnase, seine feucht schwimmenden blauen Augen, und sein brandroter Vollbart kitzelte sie am Kinn, ganz fest hatte er sie um die Hüfte gefaßt und lachte und flüsterte: »Lottchen, mein kleines süßes Lottchen, meine Seemöwe, nun gehörst du mir.« Da rief eine Stimme: »Wechselt die Paare«, die Tänzer vertauschten sich, eine rundliche Dame riß Kapitän Brodersen zu sich hin, Lotti stand eine Sekunde allein, schnell sprang sie hinter eine Palmengruppe und 29 lief, von Blumenaufbauten und Büschen verdeckt, zum Eingang der Halle. Schon war sie draußen, sie lief eine breite weiße Marmortreppe hinauf, die mit einem roten Samtläufer belegt war, es war die große Treppe vom Hotel du Nord, Lotti kannte sie wohl wieder, sie war ja einmal dort gewesen, als der reiche Onkel Willi auf seinem Besuch in der Stadt da gewohnt hatte – und sie kam in den ersten Stock des Hotels. Ein langer Gang mit vielen Türen, nur irgendwo rein, nur weg, nur weg. Eine Tür war angelehnt, und sie trat schnell in das Zimmer. Da saß ihre Mutter auf dem Stuhl, den Brautschleier und den Kranz im Schoß, und sie rief: »Lotti, warum hast du denn den Kranz und den Schleier abgetan?« – »Ach, Mami«, jammerte Lotti »ich will ihn nicht heiraten, ich will den alten dicken Mann nicht heiraten.« Aber die Mutter sagte flehend: »Er hat doch Tante Gertruds ganzes Geld geerbt, nun kriegen wir's doch noch. Möchtest du denn nicht auch, daß deine arme Mutter es an ihrem Lebensabend noch etwas besser hat?« – »Ja, Mami, ja«, rief Lotti, und die Mutter begann damit, Lotti den Kranz und den Schleier wieder anzulegen, und Lotti liefen dabei die dicken Tränen über die Backen, und sie schaute mit trübem Blick zum Fenster hin. Draußen schneite es sanft, und die leichten Flocken setzten sich an die Scheiben und zerschmolzen, vertränten dort. »Mami, es schneit ja, wie kommt das denn, jetzt, im 30 Oktober?« – »Oktober?« sagte die Mutter, »mein Liebling, wir haben doch Januar.« – »Wann war ich denn bei Tante Gertrud?« – »Tante Gertrud?« sagte die Mutter, »aber Kind, die ist doch schon fünf Jahre tot.«

Da hörte Lotti im Nebenzimmer eine Männerstimme. Eine schöne klangvolle Stimme, die so etwas Beruhigendes und Vertrauenerweckendes hatte. Und als die Mutter sagte: »Nun hab' ich gar nicht Nadeln genug, ich geh' mal eben raus und seh' zu, daß ich von dem Zimmermädchen welche bekomme«, und als sie aus dem Zimmer ging, da legte Lotti hastig Kranz und Schleier ab und schritt zu der Tür, die ins Nebenzimmer führte. Sie drückte die Klinke, sieh da, die Tür war unverschlossen, und sie trat in das Zimmer. Da saß Arthur am Schreibtisch. Er hatte ein paar große Bogen Papier vor sich liegen, und er hatte sich gerade laut vorgelesen, was er aufgeschrieben hatte. »Wenn diese Rede morgen auf der Stadtratssitzung nicht hinhaut, dann lass' ich mich begraben«, sagte Arthur und blitzte Lotti durch seine Brille an mit seinen klaren grauen Augen. »Nun bin ich fertig. Aber, Lotti, was hast du denn?« er sprang auf vom Schreibtisch, »wie siehst du wunderlich aus?« – »Ach«, sagte Lotti, »ich hab' ein kleines Mittagsschläfchen gehalten, da hab' ich wohl was geträumt.« – »Weißt du' was?« sagte Arthur, »jetzt machen wir einen schönen Spaziergang, der tut uns beiden gut, 31 und dann essen wir auswärts zu Abend. Darin hast du gar keine Arbeit.« – »Aber die Kinder«, sagte Lotti. – »Wofür haben wir denn Lina?« sagte Arthur. Er faßte Lotti um die Taille und führte sie auf die Terrasse vorm Zimmer. Der Garten lag im Sonnenschein, hoch wucherte das Gras auf dem Rasen, die Rosenstöcke blühten, im Laube rundeten sich die Äpfel, und Susi und Irma saßen auf dem Wuppelbrett und flogen auf und nieder und winkten den Eltern zu. Lina saß in der schattigen Laube und las in einem Roman. »Kinder, wir gehen etwas spazieren«, rief Lotti, »Lina, Sie geben wohl rechtzeitig den Kindern das Abendbrot. In der Speisekammer stehen noch drei Satten dicke Milch.«

Lotti und Arthur gingen eingehakt durch die stillen sonntäglichen Straßen. Als sie am St.-Annen-Kirchhof vorüberkamen, sagte Lotti: »Mein Gott, heute ist ja Mutters Sterbetag.« Die Gräber lagen dichtgedrängt um die alte St.-Annen-Kirche im Schatten der dunkelgrünen Kastanienkronen. Vorm Friedhofseingang war eine Gärtnerei, in der Lotti einen Blumentopf, eine schöne rote Azalee, kaufte. Die stellte sie auf das Grab der Mutter. Auch bei den Gräbern von Tante Gertrud und Kapitän Brodersen blieben sie beide einen Augenblick nachdenklich stehen. Auf dem hellen Stein von Fräulein Lömkers Grab war eine kleine Lyra in Gold aufgemalt, die schon recht verregnet und verblaßt war. »Eigentlich 32 schade, daß du nie mehr Klavier spielst«, sagte Arthur. »Die Kinder, das Haus«, seufzte Lotti. Sie verließen den Friedhof und gingen runter zum Hafen. Im Alten Fährhaus, wo man einen so schönen Rundblick über den Hafen hatte, setzten sie sich in die offene Holzveranda. Friedlich und still lagen die Dampfer und Fischkutter im Abendlicht. Das Wasser war glatt und dunkel, und es roch nach Fisch und Teer. »Was kriegen wir zu essen?« fragte Lotti. »Schellfisch«, sagte Arthur. »Schellfisch?« sagte Lotti, es schauerte sie leise im feuchten Abendhauch. »Schellfisch? Was war denn noch damit? Ach, richtig, den aß Tante Gertrud ja so gern.« 33

 


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