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Fünfzehn Jahre später.


Fünfzehn Jahre sind vorüber! Werfen wir noch einen letzten Blick auf einige der uns in diesem Buche vorgeführten Personen und sehen wir zu, was das Schicksal, was sie selbst aus sich gemacht haben.

In dem Walther'schen Hause ist reges Leben vom Morgen bis Abend. Den Professor hat ein wissenschaftliches Werk zu einem berühmten Manne gemacht; er ist Prorektor der Universität, die durch ihn Bedeutung und Ruf gewonnen, und seine Thür ist belagert von Berufenen und Unberufenen, die ihn sehen und sprechen wollen. Aber die Veränderung in seiner bürgerlichen Stellung hat ihm nichts von seinem einfachen, liebenswürdigen Wesen genommen: er ist in seinem Hause und in seiner Familie derselbe, der er war, als die jugendliche Hertha ihn kennen lernte und mit Bewunderung und Ehrfurcht zu ihm aufblickte. Diese Empfindungen haben im Laufe der Jahre an Tiefe gewonnen, und sie ist sich täglich bewußt, daß ihr ein seltenes Glück dadurch zu teil geworden, daß ein Mann wie Walther sie zu seiner Lebensgefährtin erwählt, und sie ist ernstlich bemüht, solch eines Glückes würdig zu sein. Otto ist ein munterer Student, der den Eltern nur Freude macht und der mit enthusiastischer Liebe an seiner zweiten Mutter hängt. Mathilde thut dasselbe; sie ist ein hübsches, sanftes Mädchen und zeichnet sich durch ihr musikalisches Talent aus; ihre reine, volltönende Stimme und ihr seelenvolles Spiel bereiten den Eltern viele schöne Stunden. Außer diesen beiden geliebten Kindern hat Hertha noch zwei eigene; einen Knaben von sechs und ein kleines Mädchen von vier Jahren. Der Tod hatte ihr die drei ältesten geraubt; drei schöne, bis dahin ganz gesunde Kinder starben ihr in einer Nacht am Scharlachfieber. Somit hat sie das tiefste Weh, den heftigsten Schmerz kennen gelernt, an dem je ein Mutterherz geblutet; aber sie hat ihn getragen, wie sie ihn tragen sollte, diesen namenlosen Schmerz, sie hat in ihm den Boten Gottes erkannt, und dadurch ist er ihr zum Segen geworden. Der gemeinsame Kummer über die Verlorenen und dann wieder die Freude über die später geborenen Kinder haben sie womöglich noch inniger mit ihrem Gatten verbunden. Noch eines anderen Verlustes, der Hertha und alle Mitglieder der Familie schmerzlich getroffen, müssen wir Erwähnung thun. Sophie Dalloch, die sanfte Dulderin, die durch den Mut und die Freudigkeit, mit der sie ihr schweres Schicksal trug, ein Vorbild für jeden wurde, der sie kennen lernte, war am Vorabende ihres dreißigsten Lebensjahres in Herthas Armen sanft entschlafen.

Und nun wenden wir uns zu Manon: wie ist es ihr ergangen? Wir verließen sie, als sie strahlend von Glück und Schönheit ihrer neuen Heimat zueilte. War ihr Glück von Dauer? Erfüllten sich die glänzenden Hoffnungen, mit denen sie der Zukunft entgegensah? War Baron von Eichen ein Mann, der einer Frau auf die Länge Liebe und Achtung einzuflößen imstande war?

Wenn wir die letzte Frage mit »nein« zu beantworten gezwungen sind, so sind die vorangehenden Fragen auch beantwortet. – Baron von Eichen, der feine Kavalier, der geschmeidige Hofmann, war ein jähzorniger Egoist, der sich nur zu bald seiner jungen Gemahlin in seiner wahren, unschönen Gestalt zeigte, indem er ihr mit dürren Worten erklärte, daß er, als ihr Ehemann, nicht mehr ihr Sklave, sondern ihr Herr sei, der sie von der Verzärtelung, der Folge einer thörichten, großmütterlichen Liebe, heilen würde. In welcher Weise er dabei zu Werke ging, wollen wir nicht zu schildern unternehmen; ebensowenig werden wir versuchen, Manons anfänglichen, heftigen Widerstand, ihre Kämpfe und ihren Jammer zu beschreiben, als sie gewahr wurde, daß sie sich roher Gewalt zu beugen hatte, daß sie in allen Dingen ohne Widerstand nachgeben mußte, und daß selbst dies nicht den heftigsten Scenen vorzubeugen vermochte. Es schien, als suchte Baron von Eichen diese geflissentlich auf, als fühlte er sich nicht eher in seinem Elemente, als bis irgend jemand, vorzüglich Manon, vor dem Ausbruche seines Jähzorns gezittert hatte. Daß er nebenbei ein leidenschaftlicher und nicht glücklicher Hazardspieler und daß dieser Umstand häufig die Veranlassung seiner überreizten Stimmungen war, wurde ihr viel später bekannt. –

Nach dreijähriger Ehe, bei der Geburt ihres ersten und einzigen Kindes, eines Knaben, wagte Manon die oft schon vergeblich ausgesprochene Bitte, die Großmutter zu sich einladen zu dürfen; sie empfand eine wahrhaft krankhafte Sehnsucht nach ihr, und ihr Gemahl ließ sich diesmal erweichen und sandte eigenhändig eine Einladung an Frau von Beier ab, welcher diese auch, aber mit recht bangem Herzen folgte. Manons Briefe hatten viel verschwiegen, waren seltener und immer seltener geworden, dennoch hatten sie das traurige Geheimnis ihrer unglücklichen Ehe längst verraten, und Frau von Beier fühlte, daß ihr die Eigenschaften fehlten, die nötig gewesen, um Manon helfend zur Seite zu stehen. Aber, wie gesagt, sie folgte der Einladung, die zugleich die Aufforderung enthielt, sie möchte Taufzeugin sein bei der Taufe des künftigen Majoratsherrn auf Schloß Eichburg – so hieß das Stammschloß der Freiherren von Eichen. Ach! sie wurde Zeugin von allerlei anderem, was so recht die Kehrseite zu dem Blendwerk der mit verschwenderischer Pracht vollzogenen Festlichkeit bildete.

Sie fand Manon noch mehr verändert, als sie es gefürchtet; sie war darauf gefaßt gewesen, Manon anders zu finden, und hatte oft zu Hertha geäußert, daß dies beständige Reisen, dies ruhelose Leben in den Hotels allein hinreichend wären, um auf die Gesundheit einer so zarten jungen Frau nachteilig zu wirken, aber ihre Befürchtungen blieben hinter der Wirklichkeit zurück, und es bedurfte all' ihrer Selbstüberwindung, um bei dem Anblick der noch vor wenigen Jahren kaum erblühten und jetzt schon ganz verblühten Manon nicht in Thränen auszubrechen. Erst als der Baron sie mit der Enkelin allein gelassen und diese, ihre Kniee umfassend, das bleiche, schmale Gesichtchen zu ihr erhob und schluchzend ausrief: »o Großmama, hab ich dich wieder! Dein armes, unglückliches Kind hat sich so nach dir gesehnt!« da brach ihre Fassung zusammen, und ihre Thränen mischten sich mit denen Manons.

War sie es wirklich! Wo waren die blendend schönen Farben ihres lieblichen Gesichts geblieben? Wo das schelmische Lächeln der einst so frischen, jetzt fast weißen Lippen? Wo die zarten Rundungen der Gestalt? Manon war bis zu solchem Grade mager geworden, daß man sie für eine an Abzehrung Leidende hätte halten können.

Und wie Formen und Färbung anders geworden, so und vielleicht in noch befremdenderer Weise war ihre Haltung, ihr Gesichtsausdruck, ihr ganzes Wesen verändert, was Frau von Beier täglich zu bemerken Gelegenheit hatte.

Statt ihrer sonstigen einschmeichelnden Manieren, hatte sie jetzt eine fast an Herthas ehemalige trockene, kurze Ausdrucksweise erinnernde Art, mit den Menschen umzugehen; besonders war dies der Fall, wenn ihr Gemahl gegenwärtig war, dann sah man sie auch nie lächeln – nur ihr Kind lächelte sie noch in alter Weise an, nur für dies kleine Wesen hatte sie Worte der Liebe und Zärtlichkeit.

Den Luxus, mit dem sie umgeben war, beachtete sie nicht, oder geschah es, so war es in bitterer, wegwerfender Weise: Wozu all dies schwere, silberne Gerät? Ich glaube, es hat mir den Appetit genommen. Dieser Troß von Dienern, der auf den Fußspitzen einhergeht, kommt mir vor, wie ebenso viele Späher und Aufpasser. Es wäre an einem schon zu viel, für das, was hier zu sehen und zu hören ist.

Als Frau von Beier einmal eine Bemerkung über den Reichtum des Familienschmuckes machte, der aus Diamanten und echten Perlen bestehend, jetzt in Manons Besitz war, sagte diese:

»Ich lege diese glänzenden Steine nur an, wenn es ausdrücklich von mir verlangt wird, d. h.: wenn wir zu Hofe gehen oder ich hier, als sogenannte Herrin des Schlosses, irgend welchen hohen Gästen durch diese fürstliche Pracht imponieren soll. Es ist ja alles Komödie! Und je mehr Putz ich anhabe, desto gedrückter fühle ich mich, denn ich weiß, ich gefalle niemandem, und am allerwenigsten dem, der hier alleiniger Herr und Gebieter ist. Ich bin ein armes, gedemütigtes Wesen, und oft habe ich die kleine Küchenmagd beneidet, die unbeachtet und fröhlich ihre geringen Pflichten erfüllt und nur selten, nur wenn ihr Chef, der Koch, betrunken ist, mit Roheit behandelt wird. O Großmutter, ist es denn wahr, daß ich einmal geliebt worden bin, daß ich mich gern geputzt habe, daß ich fröhlich gewesen bin? Mein einziger Trost ist, daß ich das Schlimmste erlebt habe, daß ich nicht unglücklicher werden kann, als ich es bin.«

Man kann sich vorstellen, wie solche Äußerungen der Großmutter ins Herz schnitten, und das war um so mehr der Fall, als sie leider schon in der ersten Woche ihres Aufenthaltes im Schlosse Gelegenheit hatte, zu sehen und zu hören, mit welcher Rücksichtslosigkeit der Baron seine Gemahlin behandelte, wie er sie um ihrer wirklichen oder vermeintlichen Schwächen willen verspottete. Als einmal beim Frühstückstische die Rede auf eine junge Schönheit kam, die von niederer Herkunft und ohne besonders hervorstechende Eigenschaften, dennoch das Herz eines ungarischen Großen gewonnen und seine Gattin geworden war, sagte Baron von Eichen:

»Sie hat jenes stereotype Lächeln, das, ehe man es zum Überdruß gesehen hat, sehr gefallen kann. Ich kenne jemand, der durch solch ein Lächeln gleichfalls eingefangen wurde und es, wenn ich nicht irre, in einem an »Undine« gerichteten Gedichte besungen hat! O über die Thorheit, sich durch solche und andere Netze fangen zu lassen! man sollte es den jungen Leuten schon auf der Schule sagen, daß sie sich am meisten vor den jungen Schönheiten, die beständig lächeln, in acht zu nehmen haben, es sind eben die gefährlichsten!«

Man stand von Tische auf und ging ins Nebenzimmer; kaum sah sich Manon dort mit ihrem Gemahl allein, als sie, totenbleich vor Erregung, sich dem Baron näherte und mit kaum hörbarer Stimme sagte:

»Ich halte dich ja nicht! Im Gegenteil, ich bitte, ich beschwöre dich, daß du in unsere Trennung einwilligst, daß du mich frei giebst.«

»Du vergißt, mein Kind, daß davon jetzt nicht die Rede sein kann. Wir haben einen Sohn, einen Erben, und der kann vor der Hand noch nicht die Mutter entbehren; über das, was die Zukunft möglicherweise bringen kann, sprechen weise Leute nicht. Ich empfehle mich den Damen.«

Mit diesen Worten verließ er das Zimmer, und eine Viertelstunde darauf ritt er im vollen Jagdanzuge, von seinem Jäger begleitet, dem Walde zu, wo er von mehreren Herren, die er zur Jagd eingeladen, erwartet wurde.

Schloß Eichburg mit seinen großen Forsten, seinen fischreichen Seeen und üppigen Feldern war ein Majoratsbesitz, der, nach der in jener Familie festgestellten Erbfolgeordnung, immer dem ältesten Sohne der älteren Linie anheimfiel. Geschah es, daß in dieser Linie kein männlicher Erbe war, so fiel Eichburg dem ältesten Sohne der jüngeren Linie zu. Vielleicht war es mit dieser Umstand, der es bewirkte, daß die Geburt seines Sohnes von dem Baron mit lauten Äußerungen der Befriedigung begrüßt wurde und auch für Manon eine, wenn auch immer kurze, Erholungszeit herbeiführte. Der kleine Wolfgang konnte ein Lächeln auf den strengen Zügen seines Vaters hervorrufen, wenn dies sonst niemand und nichts vermocht hätte, und wie traurig auch Frau von Beier Manons Stellung im Hause, wie freudlos ihr ganzes Leben ihr erschien, wer es vor Wolfgangs Geburt gekannt, mußte zugeben, daß es noch schlimmer gewesen, daß der Baron jetzt seltener als sonst seiner maßlosen Heftigkeit die Zügel schießen ließ. Seltener als sonst! Das war viel, und wiederum war es so wenig, daß, als der Tag nahte, der Manon von der teuern Großmutter trennen sollte, ihr zu Mute war, als könnte sie es nicht ertragen, mit ihrem Manne allein zu bleiben. Und doch hatte gerade dieser es sehr deutlich merken lassen, daß eine Verlängerung des Besuches ihm störend sein würde. Er sprach von einer Reise nach den italienischen Seeen, auf der ihn Manon und der kaum einjährige Wolfgang begleiten sollten, kurz, er legte es der alten Dame nahe, daß er ihre Abreise für geboten hielt, und so ging die Trennung vor sich: ein lautloser Abschied, denn die Augen des Barons beobachteten scharf, und er hatte den Abend vorher erklärt, daß er erwarte, es würde ihm der Anblick eines wortreichen und thränenvollen Abschieds erspart werden. Das passe nicht für Schloß Eichburg.

Die Reise nach den italienischen Seeen wurde ausgeführt, und im Laufe der nächstfolgenden Jahre noch manche andere, und nur in den seltensten Fällen gestattete der Baron, daß Manon und Wolfgang zu Hause blieben. Er liebte den Knaben wirklich, so, wie er zu lieben vermochte, und nur wenn der Arzt ausdrücklich erklärte, der Kleine dürfe nicht reisen, es könne ihm das viele Fahren nachteilig werden, fand er sich in die Notwendigkeit, allein fortzureisen, oder – er blieb auch zu Hause.

Voll schneidender Kritik allen Menschen gegenüber, war er der nachsichtsvollste, schwächste Vater, den man sich denken kann, und als der kleine Bursche heranwuchs, bedurfte es nur seiner Gegenwart, um ein aufziehendes Gewitter, mit anderen Worten, einen Zornesausbruch zu verscheuchen. Das erriet das Kind, mit eines Kindes Instinkt, und nichts war rührender, als Wolfgangs pfeilschnelles Herbeilaufen, wenn er im Nebenzimmer mit Spielen beschäftigt, die lauter werdende Stimme des Vaters hörte.

»Mama, meine liebe Mama«, rief er dann schon von weitem und war im Nu auf ihrem Schoße, an ihrem Halse. Sah er, daß er sich getäuscht hatte, daß des Vaters heftige Worte nicht an diese gerichtet gewesen, so eilte er wieder zu seinen Spielsachen zurück; bemerkte er aber in Manons Augen Thränen, oder das Beben ihrer Lippen, so verdoppelte er seine Zärtlichkeit gegen sie und sah den Vater furchtlos, ja trotzig an, wagte auch wohl zuweilen ein: »Papa, ich liebe dich nicht. Du bist unartig, Papa, ich liebe nur meine Mama.«

Er liebte sie zärtlich, diese stille, nur für ihn lebende Mama, die seine Spiele teilte, ihn abends in den Schlaf sang und die nur glücklich zu sein schien, wenn sie beide ganz allein gelassen wurden. Und dem Vater ließ er auf seine Art auch Gerechtigkeit widerfahren. Er freute sich, wenn derselbe nach längerer Abwesenheit zurückkam, und ihn, sei es zu Wagen, oder zu Pferde, mitnahm auf seinen Streifereien, nach dem Marstall, nach den großen Teichen oder der Försterei; er erwiderte auch seine zeitweiligen Liebkosungen, aber – – sein Herz hing nun einmal mehr an der Mutter; es war, als ahnte der Knabe, daß der Vater außer ihm noch vielerlei auf der Welt besaß und begehrte, die Mutter aber außer ihm kein Glück kannte, oder wünschte; ja, daß er ihr schon eine Stütze war und eine immer festere werden sollte.

Hören wir, was Manon kurze Zeit vor einer Katastrophe schrieb, die ihrem Leben eine durchaus andere Richtung zu geben bestimmt war. Es ist der Auszug eines Briefes an die Großmutter, den wir in folgendem mitteilen:

»Wolfgang ist in der That mein Schutzengel, und wenn ich auch eine arme unglückliche Frau bin und immer sein werde, so bin ich doch nicht mehr so verlassen, als ich es die drei ersten Jahre meiner Ehe gewesen bin, ich bin nicht mehr so durchaus schutzlos dem Jähzorne meines Mannes preisgegeben, denn – es klingt vielleicht unglaublich, aber es ist dennoch so – es ist dem Kinde eine Macht über seinen Vater gegeben, die sonst niemand in der Welt über ihn hat; er allein vermag den Ausbrüchen seiner Leidenschaftlichkeit Zügel anzulegen – oft nur durch sein Erscheinen, sein keckes Vorihnhintreten, oder durch die Berührung mit seiner kleinen, zarten Hand. Erinnerst du dich der Goetheschen Novelle, in der eines Kindes Gesang den seinen Hütern entsprungenen Löwen nach seinem Willen leitet? Hertha las sie uns einmal vor. Ach, damals ahnte ich nicht, von welcher Bedeutung mir noch einmal das Gehörte werden sollte! Unzähligemal hat Wolfgangs Erscheinung und seine Macht über die ungezügelte Heftigkeit des in solchen Augenblicken jedem anderen Unnahbaren mich an das Flötenspiel und den Gesang, an das: »Löwen sollen Lämmer werden« und »Wunderthätig ist die Liebe« erinnert. Meines Wolfgangs Liebe ist eine wunderthätige, sie wirkt täglich Wunder für mich, und solange er in meiner Nähe ist, bin ich nicht ohne Schutz und auch nicht ohne Erzieher. Er ist beides, ohne es zu wissen. Oder meinst du, daß so innige Kindesliebe, wie sie mir zu teil wird, ohne Wirkung auf meine Seele bleiben könnte? Nein! Das scheint mir unmöglich, und eines weiß ich gewiß, ich strebe danach, eine gute, pflichttreue Mutter zu werden, die auch zu strafen vermag, wenn Strafe nötig ist, damit mir meines Kindes Liebe bleibt, auch wenn das Kind ein Mann geworden und ein Urteil über der Mutter Gesinnung und Thun haben wird. Ach, ich fürchte, mir ist doch noch eine Art Ehrgeiz und Eitelkeit geblieben, so sehr ich zuzeiten auch vom Gegenteil überzeugt gewesen; sie treten nur in anderer Gestalt auf, als ehemals. Sieh, Großmutter, seitdem du mir geschrieben, daß Hertha von Otto ebenso geliebt, als hoch geehrt wird, daß er einmal gesagt: wenn seine zärtliche Liebe und Dankbarkeit durch etwas übertroffen werden könnte, so wäre es durch seine unbegrenzte Hochachtung – seitdem ist der Ehrgeiz in mir erwacht, und ich wünsche nichts so sehnlichst, als so zu werden, daß ich solcher Gefühle von seiten meines Sohnes einst auch würdig werde.«


Wolfgang stand in seinem zehnten Lebensjahre, als der Typhus auf den Besitzungen des Baron von Eichen ausbrach und eines Morgens die Nachricht, daß zwei Menschen – eine Frau und ein Knabe – daran gestorben, die Bewohner des Schlosses sehr erschreckte. Dies war um so mehr gerechtfertigt, als Wolfgang schon seit einigen Tagen über Kopfweh und Müdigkeit geklagt und auch gerade, als die Mitteilung kam, auf dem Sofa lag und sein Frühstück unberührt gelassen hatte. »Wir werden heute noch Eichburg verlassen,« sagte der Baron zu Manon, »mache dich schnell reisefertig, wir gehen vorläufig nach Wien. Nicht, daß ich im geringsten deine thörichte Ängstlichkeit teile – Wolfgang hat ein bißchen Kopfweh und wird morgen wieder munter sein – – nicht wahr, mein Junge? – indessen ist ein Luftwechsel immer erfrischend, und wir haben ihn jetzt schon viel zu lange entbehrt. Also: nach Wien!«

Leider sah sich der herbeigerufene Arzt genötigt, den Eltern zu erklären, daß alle Symptome des Typhus da wären, und der zweite Arzt, von dem der Baron eine Widerlegung des Ausspruchs erhoffte, sagte dasselbe. Nun begann für Manon die qualvolle Zeit des Hoffens und Fürchtens, die dem eigentlichen Ausbruch einer schweren Krankheit voranzugehen pflegt. Noch hatte niemand Wolfgangs Zustand für lebensgefährlich, für hoffnungslos erklärt – ihr Herz, ihr armes Mutterherz allein ahnte in einzelnen Augenblicken, wie es enden würde; aber dann raffte sie sich wieder auf, schalt sich selbst wegen der düstern Bilder, die sie heraufbeschworen, und zwang sich in eine hoffnungsvollere Stimmung hinein. Daß sie Nacht und Tag an des Kranken kleinem Bette saß und sich ihre Augen kaum je von dem lieben Gesichtchen abwandten, versteht sich ja von selbst. So verging eine qualvolle Woche; am neunten Tage verschlimmerte sich der Zustand, und jetzt sprach der Arzt mit sichtbarem Widerstreben das gefürchtete Wort aus: »machen Sie sich auf alles gefaßt – die Krankheit hat einen bedenklichen Charakter angenommen.«

Was in Manon nach diesem Augenblicke vorging, könnte niemand sagen; sie saß, wie im Schmerz versteinert da, keine Thräne, kein Wort löste diesen krampfhaften Zustand, und nur ein Zucken der Gesichtsnerven verriet zuweilen die innere heftige Aufregung.

Wie wirkte doch des Arztes Ausspruch so ganz anders auf Baron von Eichen! Zuerst hielt er es für durchaus geboten, ihm heftige Vorwürfe darüber zu machen, daß er in Gegenwart seiner Frau ein so unheilvolles Wort ausgesprochen; dann suchte er selbst Beruhigung in neuen Zweifeln an des Arztes richtigem Blick und verlangte eine ärztliche Konsultation. Sie fand statt, aber ohne das ersehnte Resultat: denn es stimmten die drei berühmtesten Ärzte Wiens in der Ansicht überein, daß Wolfgangs Leben in der höchsten Gefahr schwebe. – »Möglicherweise«, fügte der älteste unter ihnen hinzu, als er des Vaters Verzweiflung mit aufrichtiger Teilnahme gewahr wurde, »möglicherweise kann die kräftige Konstitution noch den Sieg davontragen: so lange Atem da ist, muß man hoffen.«

»Danke, danke!« rief der Baron und drückte dem alten Herrn die Hand! »Ich sehe, Sie hoffen noch, und das giebt mir das Leben wieder. Ja, ja, meines Sohnes Konstitution ist kräftig, sie wird den Sieg über die Krankheit davontragen. Danke! danke!«

Mit diesen Worten ergriff er seinen Hut und stürmte zum Hause hinaus. Er mußte sich zerstreuen, mußte auf andere Gedanken kommen, sein Kopf drohte zu zerspringen. Unterwegs begegnete er einem Bekannten, der ihm zuredete, mit ihm in den Klub zu gehen. Es war dieser Klub der Versammlungsort der vornehmsten Edelleute des Reiches: man spielte alle nur denkbaren Hazardspiele, und diese hatten stets eine so große Anziehungskraft für Baron von Eichen gehabt, daß er, trotz der größten Verluste, ihr selten zu widerstehen vermochte. Sein Unglück im Spiel und seine Leidenschaftlichkeit beim Spiel waren in jenen Kreisen sprichwörtlich geworden, und kaum mischte er sich heute unter die Spielenden, als sich ein Kreis von Zuschauern an den Tisch stellte und ihn beobachtete. Das war ihm lästig, und ganz besonders verstimmte ihn die Zudringlichkeit eines ungarischen Magnaten, der, wie er wußte, schon einmal unliebsame Bemerkungen über ihn und sein Spiel gemacht hatte. Die beiden Herren wechselten gleich zu Anfang zornige Blicke, und als der Baron durch Wein und Verluste erhitzt war, hörte er deutlich einige Spottreden, die, wenn auch niemand genannt wurde, sichtlich ihm zugedacht waren; das Lächeln der Nächststehenden ließ darüber keinen Zweifel aufkommen, und die Stimme des Sprechenden war ihm nur zu wohlbekannt; es war die des ihm verhaßten Ungarn. Um uns kurz zu fassen, der Baron forderte ihn, und eine halbe Stunde darauf fand das Duell statt, und die Kugel des Gegners traf das Herz von Manons Gatten, Wolfgangs Vater: es stand für immer still.

Um dieselbe Zeit kniete Manon mit weit geöffneten Augen, denen aller Glanz, alles Leben zu fehlen schien, an Wolfgangs Lager und horchte auf die abgerissenen Sätze, die von Zeit zu Zeit über die fiebertrockenen Lippen des Kranken kamen; er phantasierte und sprach von ihr, auch von dem Knaben, der in Eichburg am Typhus gestorben war:

»Joseph ist schon im Himmel, er ist gestorben, ich bin auch gestorben, ich starb in Eichburg. Bin ich auch im Himmel? Wo ist meine Mama? O meine Mama, komm zu mir! Lieber Gott, laß sie zu mir kommen. Wir müssen immer zusammen sein. Nicht wahr, Mama?«

Einige Stunden später wurde die Leiche des Barons in das Haus getragen, das er in so heftiger Bewegung – hoffnungsvoll, wie er sich einredete – verlassen hatte, und der alte, in der Familie ergraute Kammerdiener übernahm es, Manon die Trauerbotschaft mitzuteilen. Er fand sie, wo sie immer zu finden war, an Wolfgangs Bette, und sein Eintreten wurde gar nicht von ihr bemerkt; alles, was ihr von Bewußtsein geblieben, war auf einen Punkt gesammelt: sie sah, sie hörte, sie fühlte nur – daß Wolfgang im Sterben lag. Als der alte Diener seine Pflicht erfüllt und ihr die Mitteilung auf die schonendste Weise gemacht, schauerte sie zusammen, griff an ihr Herz, als fühlte sie dort einen stechenden Schmerz – dann wies sie auf Wolfgang, und die Worte: »holt den Arzt«, wurden leise, zögernd von ihr ausgesprochen; dann schwand ihr Bewußtsein ganz, und eine tiefe Ohnmacht kam erlösend gerade in dem Augenblick über sie, als Wolfgang seinen letzten Atemzug aushauchte.

Unten in den Gemächern des Barons bewegten sich lautlos die Beamten, deren Geschäft es war, Totenschau zu halten und die näheren Umstände über die Art des Todes zu Protokoll zu nehmen.


Manon war lange an demselben typhösen Nervenfieber, an dem Wolfgang gestorben, sehr krank, und das Beste, was ihr unter diesen Umstünden zu teil wurde, war der bewußtlose, traumhafte Zustand, in dem sie sich meistens befand. Es vergingen Wochen, ohne daß irgend ein Blick oder. ein Wort bekundete, daß sie sich des Verlustes, den sie erlitten, erinnerte. Die Ärzte fürchteten, sie würde der schweren Krankheit erliegen, aber sie irrten sich darin, denn Manon genas allmählich, um ein gewissermaßen ganz neues Dasein, unter durchaus ganz veränderten Verhältnissen zu beginnen.

Wie wir schon angedeutet haben, fiel das Majorat nach dem Tode des Barons und seines Sohnes an eine Seitenlinie, und so kehrte Manon nie mehr nach Schloß Eichburg zurück. Es fiel ihr ein kleiner Witwensitz in der Nähe von Eichburg zu, und sie erhielt die Aufforderung, davon Besitz zu nehmen; aber sie erklärte, dies nicht thun zu wollen, sondern auf den ganzen Besitz Verzicht zu leisten, indem ihr eigenes Vermögen für ihre ferneren Bedürfnisse hinreichend sei.

Sobald Frau von Beier und Hertha die Todesnachrichten empfangen, waren beide zu Manon geeilt und hatten sich in die Pflege der lieben Kranken geteilt, ohne daß dieselbe sie erkannt, ja, auch nur bemerkt hätte, daß sich andere Gestalten um sie her bewegten. Hertha gewahrte dagegen mit tiefer Gemütsbewegung die Veränderung, welche mit ihrer Schwester Äußerem während der zwölf Jahre vorgegangen war, in denen sie sich nicht gesehen hatten, und sie, die sich noch niemals auf Tage von den Ihrigen getrennt hatte, traf jetzt alle Vorkehrungen, um so lange bei der Kranken bleiben zu können, bis sie außer Lebensgefahr erklärt worden. Der Professor war mit allem einverstanden, was sie vorschlug. Als Manon endlich zum Bewußtsein und zum Leben erwachte, sah und erkannte sie die Großmutter, die an ihrem Bette saß. Ein Blick, ein schwacher Händedruck waren die ersten Zeichen des wiedergekehrten Bewußtseins, und erst ganz allmählich gab sie ihren Empfindungen auch durch Worte Ausdruck. Da der Arzt der Ansicht war, es solle das Wiedersehen mit Hertha noch einige Tage aufgeschoben werden, bis Manons Kräfte einigermaßen zugenommen, so hielt sich diese im Nebenzimmer auf, aber horchte mit Herzklopfen auf die Stimme der Schwester, auf jedes Wort, das sie aussprach.

Am dritten Tage sagte Manon:

»Ich habe einen seltsamen Traum gehabt und zwar zu wiederholten Malen: ich sah Hertha hier im Zimmer umhergehen, sie war schöner, als in ihrer ersten Jugend, Gestalt und Haltung waren würdevoll und voll Anmut, aber – sie hatte schneeweißes Haar.« »Hörst du mich, Großmutter?«

»Ja wohl, ich höre«, sagte diese und fügte zögernd hinzu: »ich glaube dir geschrieben zu haben, daß Hertha in der Nacht, als« – –

Sie hielt inne, denn sie wußte nicht, ob sie die weitere Erklärung geben und es aussprechen sollte, daß Hertha in der Nacht, als ihre drei Kinder am Scharlach starben, graues Haar bekommen. Sie fürchtete, Manon an den eigenen Verlust zu erinnern.

Manons bleiches Gesicht färbte sich mit einem zarten Rot, als sie wieder zu sprechen begann: »ich erinnere mich jetzt; ja, ja! du hast mir geschrieben, daß sie vor Kummer graues Haar bekommen hat; ich weiß jetzt alles. Arme, liebe Hertha, sie hat auch ...«

Nach einer kleinen Pause kam Manon wieder auf ihren vermeintlichen Traum zurück:

»In meinem Traume hatte Hertha schneeweißes Haar, und das gab ihrer ganzen, noch so jugendlichen Erscheinung einen besonderen Reiz.«

»Herthas Haare sind im Laufe jenes Trauerjahres schneeweiß geworden, sagte Frau von Beier, du hast sie gesehen, wie sie in Wirklichkeit aussieht.«

»Ich wollte, sie wäre hier bei uns«, flüsterte Manon.

Jetzt wagte Frau von Beier die Mitteilung: sie ist hier und wartet nur auf deinen Ruf.

»Hertha, Hertha, komm!« rief die Kranke, und im nächsten Augenblicke hielten der Schwester Arme sie umschlungen.


Als Manons Genesung so weit vorgeschritten war, daß Zukunftspläne gemacht werden konnten, fragte die Großmutter sie, ob sie wohl zu ihr ziehen, ob sie wieder, wie ehemals, ihr geliebtes, teures Kind sein wollte, und Manon war ihr um den Hals gefallen und hatte geantwortet, daß der einzige Wunsch, den sie habe, der sei, bei der Großmutter und in Herthas Nähe zu leben.

Und so geschah es zur Befriedigung aller. Zwar dauerte es lange, ehe Manon sich aus ihrem tiefen Schmerze erheben und an dem Leben anderer teilzunehmen vermochte; sie war am liebsten allein in ihren Zimmern, umgab sich mit Wolfgangs Spielsachen, Büchern, Kleidern, und versenkte sich in die Erinnerungen, die dadurch in ihr geweckt wurden. Hier war es, wo Hertha ihr zu Hilfe kam; von ihr allein glaubte Manon verstanden zu werden, ihr allein gestattete sie, mit ihr über ihren Schmerz zu sprechen, denn sie hatte ähnlich gelitten, ihr Herz hatte an denselben Wunden geblutet. Und Hertha führte sie mit leiser, liebender Hand zu der Quelle, aus der sie in jener Leidenszeit Trost geschöpft, die sie befähigt hatte, auch den Schmerz als von Gott kommend, mit Ergebung, ohne Murren hinzunehmen und ihn so sich zum Segen werden zu lassen. An dieser lieben Schwesterhand machte Manon dann auch später den Versuch, sich durch Beschäftigung wieder mit anderen Menschen in Verbindung zu setzen und an deren Leid und Freude teilzunehmen. In erster Reihe war es die Großmutter, der Manon ihre Thätigkeit durch Vorlesen, freundliche Begleitung auf ihren täglichen Spaziergängen und andere Liebesdienste zu gute kommen ließ, und dann fand sie unerwartet, ungesucht in Herthas sechsjährigem Knaben, Johannes, ein Kind, das sich ihr gleich von Anfang an mit großer Liebe anschloß, und dessen Ähnlichkeit mit Wolfgang ihn ihr immer teurer machte. Die Beschäftigung mit ihm, für ihn, führte sie vollends ins Leben zurück.

Wenn im Waltherschen Hause ein größerer Kreis beisammen ist, und Musik, Gesang und heitere Unterhaltung einen fröhlichen Abend versprechen, so geschieht es wohl zuweilen, daß Manon, herzlich eingeladen, um Nachsicht bittet und den Abend allein zuzubringen entschlossen ist. Dann wird Johannes als »letztes Mittel« abgeschickt, und fast immer kehrt er triumphierend zurück und ruft schon von weitem: »Tante Manon wird gleich da sein, sie kommt schon! Hurra, sie kommt!« Und dann freut sich alt und jung über die zarte, schöne Erscheinung, und alle fühlen es, daß Manon und Hertha, zum Segen derer, die mit ihnen leben, im Wesen von innen heraus sich immer ähnlicher werden. Ja, solche Menschen, die ein Gesicht mehr nach seinem Ausdrucke, nach diesem Wiederschein der Seele beurteilen, erklären jetzt oft, daß sich »die ungleichen Schwestern« auch äußerlich ähnlich sehen, also aufgehört haben, ungleiche Schwestern zu sein. Nehmen wir denn von ihnen Abschied!

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Frankenstein & Wagner, Leipzig.

 


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