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W Wir schreiten, ohne weitere Vorrede, zu der Schilderung der beiden, von der Natur gleich reich begabten Schwestern, die wir unseren Leserinnen vorzuführen die Absicht haben:

Manon, die ältere, war in ihrem funfzehnten Lebensjahre, zur Zeit, als wir ihre Bekanntschaft machten, ein schlankes Mädchen von zarter, aber vollkommen schöner Gestalt. Sie hatte blondes, seidenweiches Haar, das in großen üppigen Locken ihr liebliches Gesicht umschloß. Was dieses Gesicht zu einem wunderbar schönen machte, waren nicht die an sich vollkommenen Einzelheiten desselben, die man zerstreut wohl hier und da antrifft, sondern es war die Harmonie des Ganzen, die seltene Verschmelzung von Linien, Färbung und Ausdruck. Die durchsichtige reine Hautfarbe Manons entsprach ebenso vortrefflich der lichten Farbe des Haares, als der langsame Aufschlag ihres Auges genau zu dem schwärmerischen Ausdruck dieses Auges paßte, das, von langen Wimpern beschattet, gleichsam nur dann den Blick der Außenwelt zukehrte, wenn ihm liebliche Bilder zu teil werden sollten. Gegen minder anziehende fiel der seidene Vorhang schützend nieder. Der kleine rosige Mund zeigte, auch wenn Manon nicht lächelte, Zähne von blendender Weiße. Da nun ihre Gemütsstimmung im wesentlichen eine fast ungetrübte gewesen, so lächelte sie auch mit wenig Unterbrechung fast immer, selbst im Schlafe. Die feine kleine Nase hätte kein Meißel zierlicher formen können. Denken wir uns nun noch das ganze Gesichtchen frei von jedem Zuge, der eine allzu lebhafte Aufregung kund gäbe, so erinnert Manon unwillkürlich an die Inseln der Seligen, die, nach der Sage der Alten, am dämmernden Horizonte liegen, auf denen ein ewiger Frühling herrscht und deren Bewohner stets jung und schön bleiben. Wem würde es wohl einfallen, sich auf einer solchen Insel einen Vulkan zu denken, der unter üppig lachendem Grün die Bedingnisse zu einem Ausbruche so lange verbirgt, bis ein Zusammentreffen von Umständen das Unerwartete geschehen läßt?

Um Hertha richtig zu malen, muß der Pinsel in kräftigere Farben getaucht werden. Obgleich ein Jahr jünger, als ihre Schwester, wurde sie gewöhnlich für die ältere angesehen, denn sie war größer und stärker. Es giebt ein schönes Bild der Diana, auf dem diese Göttin dargestellt ist, wie sie, mit Stirn und Haupt ihre Nymphen überragend, den goldenen Bogen spannt und ihre Pfeile versendet. Wer jemals dieses Bild gesehen, der kennt auch Herthas Gestalt. Ihr braunes glänzendes Haar, welches aufgelöst und herabhängend sie wie ein Mantel verhüllt hätte, schloß sich glatt zu beiden Seiten um das im frischesten Rot erglühte Gesicht, schlang sich auf dem Hinterkopfe zu einem dicken Knoten und gestattete auf diese Art dem Beschauer den vollen Anblick des schönsten Profils. Hertha hatte eine sanft gebogene Nase, und über ihre dunkeln Augen, die forschend in die Welt blickten, zogen sich stolze Augenbrauen. Der ursprüngliche Glanz der ersteren war noch nicht oft durch Thränen getrübt worden, dagegen geschah es nicht selten, daß die Augenbrauen sich mißbilligend oder gar zürnend zusammenzogen, daß der frische rote Mund von einem bitteren Lächeln verzogen wurde und Worte des Spotts und des Unmuts aussprach. Das waren die tötenden Pfeile der Diana.

»Wer ist die schönere?« fragten die Nachbarn, wenn das Schwesternpaar mit elastischen Schritten an ihren Fenstern vorüberging. Der eine pries Manon, der andere Hertha. – »Wer ist die liebenswürdigere?« fragte niemand, denn wer beide auch nur einmal sprechen gehört, entschied sich augenblicklich zu Gunsten Manons. Herthas rauhes Wesen konnte nur dazu beitragen, der Schwester Lieblichkeit, ihre Sanftmut, ihre sich stets gleichbleibende Freundlichkeit recht bemerkbar zu machen. Sie diente ihr gewissermaßen zum wirksamen Hintergrund, und was das auffallendste war, sie verschmähte nicht nur, der von allen bewunderten und geliebten Schwester ähnlich zu werden, sondern oft sah es aus, als gefiele sie sich in diesem Gegensatze. Je leiser Manons Stimme flüsterte, um so lauter sprach Hertha; je fügsamer und gefälliger jene sich zeigte, um so selbständiger und unfreundlicher schien Hertha zu werden. – Die Schwestern hatten eine ganz verschiedene Erziehung genossen.

Frühe schon verwaist, war Manon zu ihrer Großmutter, einer Frau von Beier, nach B** gekommen und war dort mit allem überschüttet worden, was die verwöhnendste Liebe und Sorgfalt einer schwachen Frau für den Liebling nur erdenken kann. Manon war das treue Ebenbild ihrer verstorbenen Mutter, die wiederum genau die Züge der ihrigen, eben jener Frau von Beier, trug. Die Großmutter sah sich also in dem Enkelkinde, das sie erziehen sollte, zum zweitenmal aufblühen, und all die Liebe, ja, die Verblendung, mit der sie einst ihre Tochter geliebt, übertrug sie jetzt auf die Enkelin. Ihr ganzes Sinnen und Trachten ging dahin, dem vergötterten Kinde, für dessen Leben sie in steter Sorge schwebte, dieses Leben angenehm und leicht zu machen. Ach, und wie reich fühlte sie sich belohnt, wenn die kleine blondgelockte Manon für jeden Dienst ein süßes Lächeln hatte oder sich an die Großmutter schmiegte und ihr die Arme um den Nacken schlang. Sie bemerkte keine Unbequemlichkeit, wenn es galt, für Manon zu sorgen, und zog es die Kleine vor, lieber auf ihrem Schoß, als auf einem Stuhle zu sitzen, so hielt sie stundenlang geduldig aus; kein Wort, keine Miene verriet, daß die ungewohnte Last ihr körperliche Schmerzen verursachte. – »Großmutter ist mein liebster Lehnstuhl!« gab Manon einst einer Dame zur Erwiderung, als diese ihr wohlmeinend riet, den Schoß der Großmutter mit einem Lehnstuhl zu vertauschen. – »Oh, du Engel!« rief letztere und drückte die süße Last an ihre Brust.

Während die ältere Schwester, so verzärtelt, heranwuchs, befand sich Hertha in einer Universitätsstadt bei einer Schwester ihres verstorbenen Vaters. Frau von Herbig war eine brave, hochherzige, aber stolze und strenge Frau, der jede Verwöhnung, die eigene sowohl als die anderer, unverzeihlich und fast verächtlich erschien. Sie ließ es der Nichte weder an gutem Unterricht, noch an geeigneter Aufsicht während der Spielstunden fehlen; das waren aber auch fast die einzigen Zeichen von Liebe, die sie ihr spendete. Hätte Hertha Liebkosungen verlangt oder Lob und Schmeichelworte, so wäre sie allerdings wenig befriedigt worden; sie machte aber ebensowenig dergleichen Ansprüche, als sie selbst zu solchen Tändeleien Lust und Neigung verspürte. Sie mußte zu den einfachsten Höflichkeitsbezeugungen fast gezwungen werden, und man durfte gewiß sein, daß sie dabei niemals Worte verschwendete, sondern zuvor mit überlegender Genauigkeit untersuchte, ob sie nicht hier oder dort ein allzuvielsagendes fortlassen könnte. Ihr ganzes Bestreben blieb – wahr zu sein, und ehe sie, ihren Begriffen nach, davon eine Linie abgewichen wäre, eher mochte sie für das unhöflichste Mädchen gelten. Diese Richtung ihres Wesens äußerte sich schon sehr früh und gab sich durch einzelne kleine Züge in ihrem zartesten Alter kund.

Hertha besaß einen Wachtelhund, den sie als ihren ersten und besten Spielgefährten innig liebte und von dem sie sich niemals trennte. Er war, sozusagen, mit ihr groß geworden und verstand sie ohne Worte, wie denn auch Hertha behauptete, in Pollos Augen alle seine Wünsche und Empfindungen lesen zu können.

Einst – sie mochte sechs Jahre alt sein – geriet sie um des Hundes willen in große Verlegenheit. Die Großmutter war mit Manon auf einige Tage zum Besuch gekommen, und da Hertha die Schwester vernachlässigte und nicht freundlich behandelte, so hatte sie schon einigemal von der Großmutter Scheltworte hören müssen, welche sie nicht geselliger stimmten. Sie zog sich deshalb ganz in einen Schmollwinkel zurück, und als man zur Ruhe gehen wollte, fand man sie neben Pollo sanft schlafend. Die Tante weckte sie – und Hertha, schnell ermuntert, sagte ihr und der Großmutter: »Gute Nacht!« – Letztere strich ihr die Locken aus dem Gesicht, küßte sie und fragte dann lächelnd: »Wen hast du wohl lieber, mich oder Pollo?«

Diese Frage war an und für sich wohl keine passende, aber in Herthas Innern richtete sie eine ganz besondere Unruhe an. Sie wurde dunkelrot, schlug ängstlich die Augen nieder und stotterte endlich: »Beide gleich.«

Die Umstehenden sahen etwas verlegen nach der Großmutter, indem jeder befürchtete, daß diese Antwort die alte Dame noch mehr gegen Hertha einnehmen werde. Zum Glück faßte es diese nicht so ernst auf, sondern sagte nur: »Wenn Hertha auch nicht verbindlich ist, so ist sie wenigstens sehr ehrlich.« – Damit faßte sie Manon bei der Hand und verließ mit den übrigen das Gemach. – Hertha war allein zurückgeblieben, und die Tante fand sie noch einige Minuten wie angewurzelt auf derselben Stelle stehen. Sie bemerkte mit Erstaunen, daß Hertha geweint, was zu den Seltenheiten gehörte; auch sah sie deutlich, daß das Kind etwas auf dem Herzen hatte. Daher fragte sie freundlich: »Was fehlt dir, Hertha?«

»Es thut mir so leid,« schluchzte diese, »es thut mir so sehr leid, daß ich der Großmutter nicht die Wahrheit gesagt habe!«

»Wie, du hättest –?«

»Ich wollte sie nicht kränken und sagte deshalb, ich hätte sie und Pollo gleich lieb, aber das ist nicht wahr, denn ich habe Pollo lieber. Bitte, bitte, liebe Tante, sag' ihr das und versprich ihr, daß ich nie wieder lügen werde, mag sie mir nur dies eine Mal verzeihen!«

Ein anderer Zug von ihrer strengen Gewissenhaftigkeit war folgender: Frau von Herbig schickte sie einst zu einer Dame ihrer Bekanntschaft, um sich bei dieser entschuldigen zu lassen. Eine empfangene Einladung mußte abgelehnt werden, und der auszurichtende Auftrag lautete wie folgt: »Die Tante bedaure sehr, das Vergnügen nicht haben zu können, indem u. s. w.« – Hertha, des kleinen Spazierganges froh, dachte zuerst weniger an ihren Auftrag, als an die Gegenstände um sie her. Hier fesselte eine Blumenhändlerin ihre Aufmerksamkeit, und dort mußte sie ihrem Pollo nachrufen, der einen falschen Weg eingeschlagen hatte. Endlich gelangte sie an Ort und Stelle. Sie klingelt, und ehe die Thür geöffnet wird, will sie sich noch einmal die Worte der Tante wiederholen: »Die Tante bedauert sehr« – hier stockt sie schon – denn sie hatte ja gehört, daß Frau von Herbig die Abhaltung gar nicht bedauerte, sondern im Gegenteil geäußert hatte: Es könne ihr nichts erwünschter kommen, als der steifen Gesellschaft zu entgehen. Unmöglich konnte und durfte sie eine offenbare Lüge sagen, aber was war zu thun? Schon nahten Schritte – eine Lüge? – Nein, lieber eilte sie wie eine kleine Närrin davon, bog um die Straßenecke und hörte mit pochendem Herzen das Schelten des die Hausthüre öffnenden Dieners, welcher meinte, die Straßenjugend habe sich mit dem Anklingeln einen Spaß gemacht. – Zu Hause angelangt, beichtete sie ohne Hehl und war recht von Herzen froh, als Frau von Herbig, ihre Art kennend, wenig überrascht schien und von der ganzen Geschichte weiter keine Rede war. Letztere duldete dergleichen Äußerungen großer Gewissenhaftigkeit nicht nur, sondern freute sich ihrer im stillen, denn sie haßte alles, was Lüge war, und so bedrückte sie manches, was zum guten Tone gehört und im geselligen Verkehr als Höflichkeit gelobt wird, im Grunde aber der Lüge sehr verwandt ist. Sie hoffte mit Zuversicht, daß Hertha mit ihrem klaren Verstande ihre Begriffe über dergleichen Formen läutern und dann zu der Erkenntnis kommen würde, daß alle Höflichkeit eine Höflichkeit des Herzens werden muß und wir allen falschen Schein entbehren und ganz wahr sein können, sobald wir ganz wahr und selbstlos sind. Die Formen wurden erfunden zum Schutze gegen Lieblosigkeit und Roheit, und nur unsere Fehler machen sie zu dem, was sie sind.


Der Umgangskreis der Frau von Herbig, mit geringer Ausnahme durch ihre persönliche Zuneigung gewählt, zählte edle und liebenswürdige Mitglieder. Die bedeutendste Familie war die des Professor Walther; Mann und Frau, herrliche Menschen, die in Liebe und Eintracht ein schönes Bild der edelsten Häuslichkeit darstellten. Walther war einer von den seltenen Menschen, bei denen Geist und Herz gleich groß sind. Früh schon entwickelt, besaß er alle Eigenschaften, um seine Frau, mit der er sich verband, als er vierundzwanzig, sie aber erst siebzehn Jahr alt war, zu sich erheben und sie zu einer würdigen Genossin seines reichen und schönen Lebens auszubilden, dieses Lebens, das nach vielen Seiten hin segensvoll wirkte. Wort und That waren bei ihm in Einklang und förderten, wie sein geschriebenes Wort, seine Bücher, nur das Edle und Schöne. – Hertha konnte, in den Jahren, da sie das Glück hatte, Walthers Haus öfters zu besuchen, noch nicht das ganze Verständnis für seinen vollen Wert gewonnen haben; dennoch erfüllte sie das, was sie von den geliebten Beiden begriff, mit unbeschreiblicher Ehrfurcht.

Ehrfurcht! Ist dies nicht eine Empfindung, die der heutigen Jugend fast unverständlich wurde? Ein großer Teil derselben glaubt, daß wir nur solche Personen fürchten können, die uns kein Vertrauen einflößen, von denen uns Strafen drohen, daß wir dagegen niemanden fürchten können, den wir vollkommen lieben. Kennen die, welche so sprechen, gar nicht die Furcht, einen geliebten, aber auch verehrten Menschen durch ein Wort oder eine Handlung zu verletzen und neben ihm unwürdig zu erscheinen? Oder haben sie noch niemals das Bangen gefühlt, durch eine weniger erhabene Gesinnung der Liebe oder der Achtung solch eines verehrten Menschen verlustig zu gehen?

Wer je so gefühlt, der weiß auch, was Ehrfurcht ist, und daß dieselbe sich wohl mit der Liebe verträgt, die uns edle Menschen einflößen, ja, zu ihr gehört, wie zur Liebe Gottes die Gottes furcht. Hertha kannte also die schöne Empfindung und nährte sie in ihrem Herzen. So oft sie das Haus des Professor Walther betreten sollte, hatte sie wohl acht auf sich, ja, sie verwendete sogar einige Sorgfalt auf ihren Anzug, obgleich es sonst zu ihren Fehlern gehörte, denselben zu vernachlässigen. Aber herbe, wie es leider ihre Art war, blieb sie auch dort; ihr fehlte noch alle Milde und Biegsamkeit. Wie sich sonst ihre Augenbrauen zusammenzogen bei etwas ihr Mißfälligem, das andere thaten oder sagten, so hier aus Verdruß über sich selbst. Sie grollte mit sich, in diesen für ihre Begeisterung fast geheiligten Räumen nichts Besseres sein zu können. Nirgends kam sie sich gerade so klein, so gering vor, als diesen hochgehaltenen Menschen gegenüber. Frau Walther war die Tochter eines Geheimrats von Dalloch, der, in der Residenz lebend, zu dem näheren Umgange der Frau von Beier, der beiden Schwestern Großmutter, gehörte; Nelly von Dalloch, die jüngste Schwester der Frau Walther, war Manons liebste Freundin. Natürlich gab dieser Umstand die Veranlassung zu mancher kleinen Unterredung mit Hertha. Bald war ein Briefchen für sie angekommen, bald hatte Frau Walther einen Gruß zu bestellen oder sonst etwas von Manon mitzuteilen. Das that die liebliche Frau stets mit so viel Anmut und Freundlichkeit, daß Hertha, ganz entzückt, oftmals wünschte, die zarte Hand küssen zu dürfen, die ihr sanft über die Stirn strich. Anstatt dies zu thun, stand sie in ihrer Steifheit keines Wortes mächtig da und hätte über ihre Unbeholfenheit weinen mögen, wenn ihre geliebte Frau Walther sich von ihr abwandte, ohne ein Zeichen des Verständnisses oder des Danks empfangen zu haben.

Dennoch ward Hertha von Walther und seiner Frau wertgehalten, denn es war ihnen beiden gegeben, den gesunden Kern auch in der rauhen Schale zu erkennen. Wenn sie mit Frau von Herbig über ihre Nichte sprachen, so bestätigte dieselbe ihr Urteil, denn sie liebte Hertha von ganzer Seele. – Leider trug sie nichts dazu bei, deren rauhes Wesen zu klären, zu mildern; ja, oft blieb sie ganz blind dafür und entschuldigte, was gewiß nicht zu entschuldigen war.

Hertha besaß, wie wir schon einmal bemerkt, einen sehr scharfen Verstand; dabei machte sie ihr schweigsames Wesen zum Beobachten anderer ganz geeignet. Selten entging ihr ein Fehler, eine Schwäche oder Lächerlichkeit, und dann glaubte sie nur ihrem Rechtsgefühl nachzugeben, wenn sie bei Gelegenheit unverhohlen und schonungslos darüber sprach. Die Tante verzieh ihr das nicht allein in Betracht der warmen Liebe und Verehrung für alles, was liebenswürdig und verehrungswürdig war, sondern bestärkte sie noch immer mehr darin, indem sie oft selbst nachsichtslos in ihrem Urteil verfuhr und nur wahr und gerecht, nie aber mild zu sein sich bestrebte. An Herthas frühreifem Verstande hatte sie große Freude, und so geschah es nicht selten, daß sie Hertha selbst aufforderte, eine scharfe Bemerkung zu wiederholen, wenn sich darin Geist und Urteilskraft aussprachen, nicht ahnend, wie sie dadurch auf bedauernswürdige Weise Herthas größten Fehler nährte. Hätte der Professor davon etwas erfahren, so würde sein weiser Rat dem Übel Einhalt gethan haben; dergleichen Gespräche aber waren niemals in seiner Gegenwart vorgekommen, ja, Hertha verhielt sich ihm gegenüber meistens ganz still und ließ nur ihre geistvollen Augen für sich sprechen. Daß sie ein Gemüt besaß, welches durch liebevolle Wärme erweicht werden müsse, hatte er wohl erkannt, und mehrfach seine Frau dazu aufgefordert, ja stets herzlich gegen Hertha zu sein, um durch die ihr eigene Innigkeit auf dies trotzige Herz zu wirken. Er selbst versäumte nie eine Gelegenheit, an Hertha einige freundliche Worte zu richten, und dann erfreute ihn das entzückte Aufleuchten ihrer Augen. Bis zu einer Erwiderung hatte sie es noch nie gebracht.

»Hertha ist doch nicht krank?« fragte eines Abends die Professorin, indem sie den Liedern ohne Worte zuhörte, welche jene auf dem Klavier vortrug; »sie sieht bleicher als gewöhnlich aus.« – »Das sind noch die Folgen ihres leichtsinnigen Sprunges!« antwortete Tante Herbig leise. »Mein Gott, welch ein Schreck war das für uns alle! Sie hätte sich für ihr ganzes Leben unglücklich machen können.« – »Sie sprechen in Rätseln, meine liebe Frau Herbig«, sagte Frau Walther, »erzählen Sie geschwind, was Hertha begegnet ist, bitte, bitte!« Ihr Mann, der erst jetzt in das Zimmer trat, wünschte auch in das Geheimnis eingeweiht zu sein, denn er behauptete, an dem leisen Sprechen erraten zu haben, daß es sich um nichts geringeres, als um ein Geheimnis handle.

Frau v. Herbig lächelte und sagte: »Hertha soll uns nicht hören, denn es macht sie immer verlegen, von dieser ihrer Heldenthat, oder besser gesagt, Tollheit sprechen zu hören.«

»O schnell zur Sache!« bat Frau Walther lebhaft. – Frau v. Herbig berichtete: »Sie wissen, daß wir einige Wochen bei Verwandten auf dem Lande zugebracht haben. Hertha genoß zum erstenmal das Glück des Landlebens, und genoß es so recht in vollen Zügen. Sie that eigentlich nichts als in Feld und Wald herumstreifen und auf den schönsten Punkten ausruhen; abends erzählte sie mir von all den Wundern und Schönheiten der Natur, die sie gesehen, und bat mich dann immer: nur noch einen so himmlisch schönen Tag in ungestörter Freiheit! Ich konnte es ihr niemals abschlagen und sah sie fast nur bei den Mahlzeiten. Aus dem Bodenfenster des leer stehenden Verwalterhauses hat man eine herrliche Aussicht ins Gebirge; dort schwärmte sie eines Tages in ungestörter Einsamkeit, denn alle Leute waren auf dem Felde. Plötzlich bemerkte sie auf dem menschenleeren Hofe ein kleines Mädchen, das wahrscheinlich der Aufsicht, wenn es überhaupt eine gehabt, entsprungen war. Die Kleine nähert sich dem aufgedeckten Brunnen und wirft zum Zeitvertreib Gras und Steine hinein. Allerdings war es ein gefährlicher Spielplatz für die Kleine, aber Hertha sieht sie mit ihrer lebhaften Phantasie schon hineinstürzen. Sie ruft – umsonst! Die Kleine lächelt ihrem Bilde in der Tiefe zu und beugt sich noch mehr über den niedrigen Rand, da –«

»Springt Hertha hinunter!« fällt der Professor ein.

»So war es; sie springt von der beträchtlichen Höhe auf den gepflasterten Hof, faßt die Kleine bei der Hand und führt sie in das nächste Haus.«

»O du prächtige Hertha!« rief Frau Walther.

»Sie hat vierzehn Tage das Bett hüten müssen, denn der rechte Fuß war bedeutend verletzt und schwoll zusehends. Dabei wollte sie aber nie zugeben, daß sie große Schmerzen leide, sondern blieb stets in der heitersten Laune und versicherte, niemand könne ihr einen größeren Gefallen thun, als indem er die ganze Geschichte vergäße. – Stille, da kommt sie, sprechen wir von etwas anderem!«

Als man sich trennte, sagte der Professor zu Hertha: »Du ahnst das Gute, werde auch gut!« – Hertha begriff diese Worte nicht, konnte sie aber niemals vergessen. » Werde auch gut!« sprach sie oft leise vor sich hin. »Was wollte er nur damit sagen?« Sie kannte ihre Fehler zu wenig, um sich zu bessern.


Von Zeit zu Zeit wiederholten sich die Besuche der Großmutter und Manons bei Tante Herbig, aber dies Zusammenleben trug nicht zu der Vereinigung der Schwestern bei. Die an zu große Zärtlichkeit und Weichheit gewöhnte Manon fühlte sich jeden Augenblick durch Herthas Umgangsweise verletzt und gekränkt; sie klagte es der Großmutter, diese der Tante, und so gab es bei den Besuchen Klagen und Empfindlichkeiten ohne Ende. Ängstlich blickte die Großmutter nach Manon, denn sie meinte oftmals, ihre Wangen bleicher oder ihr Auge getrübt zu sehen; das zarte Kind mußte notwendig durch die zu erduldenden Kränkungen leiden, denn selbst Tante Herbig schonte es nicht, sondern verletzte es durch rauhe und schroffe Behandlung. So oft Manon mit liebkosender Hand sich ihr nahte und sie schmeichelnd um ein Küßchen oder nur um die Erlaubnis bat, ihre Löckchen glätten zu dürfen – alles Dinge, mit denen sie der Großmutter ganzes Herz entzückte – so oft ward sie von der Tante nicht allzufreundlich abgewiesen. Oft hieß es: »Laß mich in Ruhe, kleine Schmeichelkatze!« – Das betrübte Manon tief. Auch die Dienstboten der Tante waren ganz anders und durchaus nicht so angenehm, als diejenigen zu Hause; sie thaten nur still und trocken ihre Pflicht und sagten ihr niemals, daß sie ein Engel sei, was sie recht unfreundlich, ja ungezogen fand. Nichts natürlicher, als daß Großmutter und Enkelin wenig befriedigt waren und jedesmal der endlichen Abreise mit Verlangen entgegensahen. Ja, hätte es die alte Dame nicht für ihre Pflicht gehalten, die Schwestern dann und wann zusammenzuführen, so wären diese Besuche nicht wiederholt worden. Die Tante und Hertha zu sich einzuladen, ging nicht an, denn Frau v. Beier scheute die Unruhe in ihrem Hause. – So gut nun auch ihre Absicht war, so brachte sie die Schwestern durch diese Besuche keineswegs näher; im Gegenteil trug sie durch ihre verkehrte Weise nur dazu bei, beide immer mehr einander zu entfremden. Erregte Hertha ihr Mißfallen, so bestrafte sie dieselbe statt durch offenen Tadel, durch das übertriebene Lob, welches sie Manon spendete. Diese besaß jedesmal eine Hertha fehlende gute Eigenschaft, oder war mindestens frei von jener Schwäche, die der Schwester so übel stand. Mit Manon unzufrieden zu sein, fiel Frau v. Beier fast nie ein; wagte sie ja eine kleine, ganz kleine Rüge, so äußerte sie dieselbe sehr leise, ja mit einem um Vergebung bittenden Tone. Dann flog Manon an ihren Hals und küßte den Mund so lange, bis er verstummte oder wieder zärtliche, liebkosende Worte sprach. Nach einer solchen Scene, bei der Hertha zugegen war, wandte sich Manon an diese und flüsterte: »Großmama ist schlechter Laune, heute habe ich sie gar nicht lieb.«

»Und doch küssest du sie so vielmal?« sagte die redliche Hertha staunend.

»Das schadet nichts,« rief Manon lachend, »ich thu' es nur, um sie still zu bekommen.«

»O, wie häßlich!« rief Hertha erzürnt und verließ schnell das Zimmer.


Als Hertha das dreizehnte Jahr vollendet, wurde der Professorin das Glück zu teil, ein Söhnchen zu erhalten. Bis dahin hatten keine Kinder diese Ehe beglückt, deshalb war die Freude der Eltern doppelt groß, und alle näheren Bekannten teilten sie von ganzem Herzen. Tante Herbig, ganz erfüllt davon, sprach den ersten Tag von nichts anderm und konnte es kaum erwarten, die glückliche Mutter wiederzusehen. Als sie von einem Besuche bei derselben nach Hause kam, wollte Hertha durchaus wissen, wem der Kleine ähnlich sei, ob dem Vater oder der Mutter, und war durchaus nicht zufrieden mit der Antwort der Tante, man könne das noch gar nicht entscheiden.

»O, ich bekäm' es heraus«, meinte Hertha, »wenn ich nur erst hingehen dürfte! Liebe, liebe Tante, erlaube mir es bald! Ich freue mich unbeschreiblich darauf.«

Endlich ward ihr die ersehnte Erlaubnis zu teil. Hertha strahlte vor Entzücken, als sie das Haus betrat; ihr Herz pochte, als sie sich dem stillen Schlafzimmer der Professorin nahte. Schön und geschmackvoll war alles in diesem Hause, also auch dies Zimmer, das Hertha von früher her kannte. Aber heute kam es ihr ganz anders vor; die durchsichtigen grünen Fenster-Vorhänge machten es ungemein feierlich, wie Hertha meinte. Und nun erst die glänzende Wiege in der Mitte des Zimmers! Sie erschien ihr wie ein wahres Heiligtum, und das schlafende Kind wie ein Engel Gottes. Andacht, fromme Andacht erfüllte ihre Brust, und als die freundliche, liebliche Mutter der Wiege nahte, um ihr den kleinen Liebling besser zu zeigen, da sank Hertha im Übermaß des Gefühls auf ihre Kniee, und ihre Thränen flossen, indem sie den Kopf fest auf die Wiege drückte. Als sie sich ihrer ungewöhnlichen Aufregung bewußt ward, rang sie nach Ruhe und Fassung, und erst als sie deren wieder gewiß war, erhob sie das Haupt und richtete sich mit einer ihr sonst fremden Milde im Ausdruck zu der beglückten Mutter empor, indem sie warm und feierlich sagte: »Ich betete für Ihr Kind, möge Gott Ihnen reichen Segen in ihm geben!«

»Das wollen wir hoffen«, ertönte die bewegte Stimme des Vaters, der, von Hertha unbemerkt, eingetreten war, nun dicht hinter seiner Frau stand und mit ihr in das verklärte Gesicht des jungen Mädchens blickte – »das wollen wir hoffen und uns stets bemühen, solch eines Segens würdig zu werden!«

Hertha war bestürzt, aber die einmal angeregten Gefühle behielten die Oberhand; sie küßte mit Innigkeit die Hände der von ihr so geliebten Personen und empfing beglückt die Zeichen ihrer Liebe. Alsdann ward ihr der Knabe in die Arme gelegt, und sie trug ihn mit einer Art Stolz im Zimmer umher. Fast meinte sie, etwas anderes geworden zu sein, nun ihr dieser Schatz anvertraut war, und lächelnd sahen die Eltern auf das seltene junge Mädchen, deren tiefe Empfindung aus jedem Zuge des lieblich geröteten Antlitzes hervorleuchtete.

Von dieser Stunde an war Hertha erst recht heimisch in dem Walther'schen Hause. Immer öfter kam sie und ward bald nicht nur von den Eltern mit Liebe empfangen, sondern auch von dem kleinen Otto freundlich angelächelt. Ach, das waren schöne, festliche Stunden, die sie dort verlebte! Ihr finsteres Gesicht hellte sich auf, und hätte dies Verhältnis länger bestanden, so würde auch ihre Seele immer heller und ihr Herz immer freundlicher geworden sein. – Frau Walther war ein zu schönes Vorbild, um unwirksam zu bleiben, und wenn Hertha den Professor gesehen, was nicht häufig geschah, weil er emsig seinen Arbeiten lebte, so empfand sie es jedesmal als ein Ereignis, das sie zum Besseren anregte, denn ihre Liebe, wie ihre Ehrfurcht für ihn waren unbegrenzt.

Leider trennte sie das Schicksal zu schnell von allem, was sie liebte.

Frau von Herbig, die bis dahin so glücklich gewesen war, ihre Eltern zu besitzen, erhielt plötzlich die Nachricht von dem Tode ihrer Mutter, und zugleich sprach ihr Vater auf das bestimmteste den Wunsch aus, die Tochter jetzt bei sich zu haben und sich niemals wieder von ihr zu trennen. Der letzteren Entschluß war schnell gefaßt. Sie opferte nicht allein die freie, unabhängige Stellung der reichen Witwe, sondern auch die Freude, ihre Hertha um sich zu haben. Denn diese mitzunehmen, wäre durchaus gegen des Vaters Wunsch gehandelt. Sie that es willig und ohne Zögern, weil sie es für ihre Pflicht erkannte, löste ihren bisherigen Haushalt auf, schrieb an Herthas Großmutter, legte ihr mit aller Wärme, deren sie fähig war, die Enkelin ans Herz, sandte den Plan mit, den sie für deren fernere wissenschaftliche Ausbildung entworfen, und sicherte Hertha nebenbei durch eine reiche Schenkung eine künftige Stellung in der Welt. Dann trennten sich Tante und Nichte. Jene ging mit vollem Bewußtsein, aber schönem Mute ihren schweren Kindespflichten entgegen, und Hertha ahmte ihr wenigstens äußerlich die Ruhe nach und zeigte nicht, wie trostlos sie die Trennung machte, obwohl ihr fast das Herz brechen wollte, als sie die geliebte, teure Tante lassen, als sie von Walthers Abschied nehmen mußte. Sie dachte sich das Leben mit andern Menschen als eben diesen sehr schwer, aber am schwersten hatte sie es sich immer mit der Großmutter und Manon gedacht. Und nun war ihr dies Allerschwerste vom Schicksal bestimmt. Wer sie nicht kannte, hätte von ihrer äußeren Ruhe fast auf Gleichgültigkeit schließen können.

Die Großmutter schob ihr bleiches Aussehen bei ihrer Ankunft auf die Reise, und daß sie Manons häufige, zärtliche Fragen: »Wie gefällt es dir bei uns? Bist du wohl? Hast du mich auch lieb?« nur lakonisch oder gar nicht beantwortete, war nichts Neues an ihr. Dennoch gab es Veranlassung zu Thränen und Seufzern und regte der weichen Schwester Empfindsamkeit sehr auf. – »Du mußt an Hertha nicht Forderungen stellen, die sie nicht erfüllen kann!« tröstete Frau von Beier. »Sie hat wenig Liebefähigkeit, aber sie ist klug und wahr, erfreue dich an diesen ihren guten Eigenschaften und hoffe von der Zeit das Beste. Nicht jedem ward das warme Herz meiner Manon verliehen; laß nur der Schwester Kälte keinen Gegenstand des Schmerzes für dich werden.«

Aber der Großmutter Bitte wurde von der Enkelin nicht erfüllt. Manon konnte es nicht verschmerzen, daß die Schwester so kalt, so unfreundlich war und jede Liebkosung von sich wies. Dann gab es gleich im Anfange noch einen Stein des Anstoßes: das war der gute alte Pollo. Manon hatte auch einen Hund, und sie verwöhnte ihn über alle Maßen. Joli bekam die auserlesensten Bissen, durfte auf Tisch und Stühle springen und ungestraft jeden Menschen anbellen. Man verstand oft sein eigenes Wort nicht vor dem Lärm, den dieser kleine bissige Hund vollführte; aber wollte man seine schöne Herrin nicht betrüben, durfte man es nicht rügen. Joli war, nach Manons Meinung, so grundniedlich und possierlich, hatte so muntere Augen, ein so schönes, weiches Fell: dagegen war ihr Pollo zuwider, und sie begriff Herthas Liebhaberei für den alten Hund nicht, der fast gar nicht mehr hören konnte und ebenso schlecht sah. Sie schlug vor, ihn aus dem Hause zu geben. Das nahm aber Hertha sehr übel und versicherte hoch und teuer, der alte blinde Pollo wäre, trotz seiner Gebrechen, tausendmal mehr wert als der unerträgliche Joli, dessen Bellen und Kläffen ihre Ohren zerrisse, und wenn ein Hund aus dem Hause müsse, so könne dieser gehen. Während die Schwestern sich also im Gespräche erhitzten, schallte wirklich Jolis scharfe Stimme durch das ganze Haus; denn er teilte nicht allein seiner Gebieterin Abneigung gegen den fremden Eindringling, sondern hatte sie wohl gar durch die unzweideutigen Zeichen seines Hasses hervorgerufen. Seine Eifersucht auf Pollo legte er, so gut er es vermochte, durch Bellen und Beißen an den Tag. Der also Angefeindete ertrug dies jedoch mit stoischer Gleichgültigkeit; er öffnete kaum das eine, ihm übriggebliebene Auge, wenn Joli heftig um ihn her raste; auch versuchte er nur selten, mit seiner heiseren Stimme des Ungezogenen Schmähungen zu beantworten. Vielleicht geht es den heftigen Hunden, wie manchen heftigen Menschen ruhigen Naturen gegenüber; je schweigsamer diese, um so lauter werden jene. Manons Liebling konnte weder mit Worten, noch mit Schlägen zur Ruhe gebracht werden und wurde endlich in einen Verschlag gesperrt, wo er zwar mit seinem Toben nicht nachließ, aber doch niemand damit belästigte. Den zweiten und dritten Tag wiederholte sich die Scene, sobald Joli, auf Manons Wunsch, seiner Haft entlassen wurde, und die Großmutter erklärte nun ernstlich, daß sie Ruhe haben wolle und daß ein Hund aus dem Hause müsse.

»Hörst du, Hertha, Pollo muß fort?« sagte Manon.

»Das hat die Großmutter nicht gesagt,« meinte die Schwester.

»Nun, du kannst doch nicht ernstlich meinen, daß ich den hübschen, kleinen Joli, den ich erst kürzlich zum Geschenk erhielt, fortschicken werde?«

»Den alten, treuen Pollo aus dem Hause zu jagen, wär' eine Grausamkeit!« beteuerte Hertha; »Joli bleibt bei jedem, der ihm ein Stück Zucker giebt, Pollo geht aber zu keinem Fremden, und deshalb und weil ich ihn lieb habe, seitdem ich denken kann, möchte ich mich nie von ihm trennen.«

»Und ich nicht von Joli!« sagte Manon.

Hertha unterdrückte die hervorbrechenden Thränen, rief ihren Liebling und sperrte ihn in Jolis Gefängnis. Nun hätte doch Friede werden können, allein Joli folgte ihr auf dem Fuße und setzte sein Bellen mit verdoppeltem Eifer fort. Dann und wann sprang er gegen den Verschlag, als wollte er die Bretterwand einrennen.


Eben hatte Manon die Schwester um einen Kuß gebeten – Hertha jedoch sehr trocken gesagt: »Ich mag das ewige Küssen nicht leiden.«

»Wenn du mich lieb hättest, würdest du nicht so unfreundlich gegen mich sein?« klagte Manon.

»Das ist möglich!« war die lakonische Antwort.

»O Hertha!« klagte die Schwester, und eine Thräne feuchtete ihr das sanfte, blaue Auge, »wie bist du so eiskalt, und ich liebe dich doch so herzlich.«

Hier trat die Großmutter ins Zimmer und sagte verstimmt: »Die Hunde müssen durchaus getrennt werden, mir thut der Kopf von dem Lärm weh!«

Diese Unterbrechung gab den Gedanken der Schwestern eine andere Richtung; auf Herthas Stirn zogen Gewitterwolken auf, sie sah flüchtig nach Manon hin und schwieg. Diese hatte sich an die Großmutter geschmiegt und flüsterte schmeichelnd: »Entscheide du, welcher Hund fort soll, sonst kommen wir nimmer ins reine – aber«, fügte sie fast kleinlaut hinzu, »wenn du Joli fortschickst, thust du deiner Manon weh.«

»Pollo soll fort, gleich jetzt«, rief Hertha, heftig aufspringend, »er kam zuletzt, er soll Platz machen!« – Damit lief sie hinaus, und ehe noch jemand daran dachte, ihr in den Weg zu treten, war sie mit dem Hunde verschwunden. Sie kannte eine Frau in der Vorstadt, die, bevor sie hierher gekommen, einige Jahre bei Frau von Herbig gedient hatte. Zu dieser lief sie mit ihrer schweren Last.

»Ei du meine Güte, seh' ich recht? Sind Sie es wirklich, Fräulein Hertha?« So begrüßte Frau Schlicht das hereintretende Mädchen. »Und wie erhitzt Sie sind! Was tragen Sie denn da Schweres unter dem Mantel? Monsieur Pollo? Doch weshalb tragen Sie ihn, kann er nicht selbst laufen?«

»Nein, liebe Frau Schlicht!« erwiderte Hertha und bemühte sich, ruhiger zu scheinen, als sie war. »Pollo ist schwach und kann nur langsam gehen, ich aber hatte Eile. Ich will Sie bitten, ihn bei sich zu behalten.«

»Kann der Hund denn nicht bei der Frau Großmutter bleiben?«

»Nein, das geht nicht an, er ist – er ist gar nicht mehr hübsch und schon so sehr alt.« Hier stockte sie wieder, dann aber fuhr sie um so schneller fort, indem sie Frau Schlicht die Wange streichelte: »Sie wollen ihn dort nicht behalten, und deshalb komme ich zu Ihnen. Nehmen Sie ihn zu sich und halten Sie ihn nicht schlecht, sondern pflegen Sie ihn, mir zuliebe, recht schön! Ach, liebe, gute Frau Schlicht, schlagen Sie mir meine Bitte nicht ab, der alte Pollo wird nicht allzu lange mehr leben.«

»Und wenn er noch einmal so alt wird, als er ist, mein Herzenskind«, sagte die Alte, der die Augen fast übergingen bei Herthas Freundlichkeit, »ich will ihn pflegen, als wär' er etwas Besseres als ein Hund; haben Sie doch meine Schwester Lise nicht verlassen, sondern –«

»Ach, schweigen Sie davon!« fiel Hertha mit ihrer gewöhnlichen rauhen Weise der alten Frau ins Wort; doch schnell sich besinnend, reichte sie ihr die Hand wie zur Abbitte, streichelte Pollos Kopf und sagte weich: »Nun muß ich fort; lebe wohl, Pollo; leben Sie wohl, Frau Schlicht!«

Während letztere ein Tuch holen ging, um Hertha nach Hause zu geleiten, nahm diese schweigend noch einmal Abschied von ihrem lieben, alten Pollo, der, als ob er die Trennung ahne, ihre Hände auf seine Art küßte und ihr dabei traurig in die Augen sah. Frau Schlicht verließ Hertha nicht eher, als bis diese das großmütterliche Haus erreicht hatte, wo sie von Manon laut und freudig begrüßt ward. »Gottlob, daß du da bist«, sagte sie lebhaft, »wir haben uns deinetwegen halbtot geängstigt. Wo warst du und wo hast du Pollo gelassen?«

»Das geht dich ganz und gar nichts an!« lautete Herthas rauhe Antwort; »dir wird mein armer Hund nicht mehr vor die Augen kommen, damit tröste dich und laß mich in Ruhe, denn ich bin müde und will schlafen gehen!« – Ohne die Großmutter zu berücksichtigen, ja, ohne ihr oder Manon eine gute Nacht zu wünschen, eilte sie ihrem Schlafzimmer so ungestüm zu, das sie das voran leuchtende Dienstmädchen fast umstieß. Nie hatte die Tante oder sonst jemand Hertha in solcher Aufregung gesehen.

»Hertha hat heute ihren bösen Tag!« sagte die Großmutter seufzend.

»Wo nur Pollo sein mag?« meinte Manon, bückte sich und liebkoste Joli, der zum Zeitvertreib ihr feines Taschentuch zerrissen hatte.


Frau von Beier lebte keineswegs ganz zurückgezogen. In den Gesellschaften der höheren Kreise niemals fremd geworden, brachte sie sogar häufig ihre Bequemlichkeit zum Opfer, wenn dies ihr ausgebreiteter Umgang erheischte. Wie wir schon bemerkt haben, gehörten die Verwandten der Professor Walther zu ihrem nächsten Umgang. Der Geheimerat von Dalloch war ein eifriger Geschäftsmann und als Gesellschafter stets bei guter Laune, wenn er willige Zuhörer für seine guten und schlechten Anekdoten fand. Fehlten diese Zuhörer, so sank seine Laune oft bis zum Gefrierpunkt. Frau von Dalloch, des Geheimerats zweite Frau, war mehr langweilig als liebenswürdig. Sie strebte wirklich mit strenger Gewissenhaftigkeit danach, die Pflichten, welche sie für die ihrigen erkannte, zu erfüllen; aber sie fand wenig Anerkennung, wie alle die Menschen, die ihre Weisheit gern salbungsreich auskramen und keine leicht hingeworfene Bemerkung unzerlegt und ungerügt vorübergehen lassen, sobald dieselbe nicht vor dem Richterstuhl ihrer Ansichten besteht.

Arthur und Nelly, ihre rechten Kinder, glichen sich, was ihre körperliche, wie geistige Schwächlichkeit betrifft, ungemein, und man sah es schon den wasserblauen, schwärmerischen Augen des Primaners an, daß er überall nach zarten Bildern für süße Dichtungen umher suchte. Den Eltern galt er für ein Genie, für einen angehenden großen Dichter, und saß er halb träumend da und hörte nicht, wenn man zu ihm sprach, so lächelte die Mutter beifällig über diese geniale Abwesenheit von der Erde und machte die übrigen darauf aufmerksam. Nellys Empfindsamkeit gab sich in ihrer überspannten Freundschaft für Manon kund. Sophie, eine Tochter erster Ehe und die rechte Schwester der Professorin Walther, war, seitdem sie herangewachsen, durch ein hartnäckiges Leiden am Fuß größtenteils ans Bett gefesselt. Sie hatte mit unsäglicher Geduld, in Hoffnung einstiger Besserung, die schmerzlichsten Operationen und eine freudenarme Jugend ertragen. Aber ihre Hoffnung schien sich nicht erfüllen zu wollen, denn ihr Leiden nahm mit den Jahren mehr zu als ab. Die Stiefmutter überwachte mit strenger Gewissenhaftigkeit die wissenschaftliche Ausbildung Sophiens, indem sie dafür sorgte, daß dieselbe in jeder leidensfreien Zeit Unterricht aller Art bekam. – »Sophie soll niemals wie eine vernachlässigte Tochter dastehen!« bemerkte sie nicht selten. Das konnte auch niemand sagen, der die Kranke näher kennen lernte.

Ihr natürlicher Verstand, ihr reiches Gemüt hatten durch die genossene Ausbildung sehr gewonnen, und das Nachdenken, zu dem ihr einsames Leben sie führte, jene Vorzüge in ihr gereift. So war Sophie das beste, liebevollste Wesen geworden, in dessen Nähe jeder sich wohl fühlte. Von den Bällen und den großen Gesellschaften, die ihre reichen Eltern gaben, hielt sie sich fern, aber zuweilen, wenn nur ein kleiner Kreis beisammen war und ihr Befinden es gestattete, ließ sie sich in das Gesellschaftszimmer tragen, und dann erregte jedesmal ihr Erscheinen eine allgemeine, lebhafte Freude. Jeder wollte ihr wohl, jeder drängte sich zu ihr und suchte ihre Unterhaltung auf.

Als Hertha zu der Großmutter kam, befand sich die ganze Dalloch'sche Familie in einem fernen Bade, das der Arzt Sophien empfohlen. Die Geheimerätin hatte die Reise aus Pflichtgefühl, ihr Gemahl aus wahrem Vergnügen eifrigst betrieben, und so geschah es, daß Hertha diese Familie, an der sie wegen ihrer lieben Walthers im voraus großen Anteil nahm, nicht eher kennen lernte, als bis sie schon mehrere Monate bei der Großmutter sich aufgehalten hatte und es, mit Bedauern müssen wir es gestehen, zu einer tiefen Verstimmung zwischen ihr und Manon gekommen war. Hertha verhärtete sich, ihrer zärtlichen, weichlichen Schwester gegenüber, immer mehr, und wenn Manon, stets an der Oberfläche haften bleibend, alles lobte und rühmte, um – obgleich sie sich das selbst nie klar gemacht hatte – auch gelobt und gepriesen zu werden, so lebte sich Hertha förmlich in die Rolle eines Kritikers ein. Sie urteilte und verurteilte mit trauriger Schärfe, ihr schönes Gesicht nahm dabei, je mehr und mehr, den Ausdruck ihres verfinsterten Gemüts an. Nie konnte es unter den Schwestern zu einem Einverständnis kommen. Wo Manon empfand, dachte Hertha. Daß sie aber ihr Denkvermögen nur gebrauchte, um etwaige Mängel zu entdecken, dessen ward sie sich nie bewußt. Hier zuerst in ihrem Leben stand sie der Schwäche gegenüber, ja, sie sollte sich zuweilen vor ihr beugen. Dieses Mißverhältnis regte sie in jedem Augenblick auf und erweckte in dem feurigen, ungestümen Mädchen den Geist des Widerspruchs, der sonst nur untergeordneten Naturen eigen ist. Jedes Lob, das Manon aussprach, fand einen Tadel bereit, und so ward sie auch durch der Schwester übertriebenes Entzücken für die Dalloch'sche Familie gegen dieselbe eingenommen. Sie hatte schon früher von der Tante manchen kleinen Tadel über die einzelnen Mitglieder derselben aussprechen hören und wußte sogar, daß der Frau Walther von der Stiefmutter und selbst von dem Vater manche Kränkung zu teil geworden war. Das rief sie sich geflissentlich ins Gedächtnis zurück und redete sich zuletzt unklugerweise ein, sie müsse, aus Liebe für Walthers, den Menschen zürnen, die jenen einmal wehe gethan hatten. Mit Sophien allein war sie geneigt eine Ausnahme zu machen, denn diese wußte sie von der Professorin herzlich geliebt und erinnerte sich genau, wie sehr die letztere einmal betrübt gewesen, als sie, nach einer dringenden Einladung an die Schwester, einen Brief von der Geheimerätin erhalten, in welchem ihr der erbetene Besuch rund abgeschlagen ward. Als Grund führte die Geheimerätin das mögliche Gerede der Welt an: »Wie leicht«, schrieb sie, »könnten die Menschen auf den Gedanken kommen, daß Sophien im Vaterhause die nötige Pflege fehle, wie leicht könnten sie sagen: Sie flüchtet von der Stiefmutter zur Schwester!«

Manon, Herthas Stimmung gegen ihre Freunde nicht kennend, konnte deren Rückkehr kaum erwarten; sie nahm es für gewiß an, daß dieselben der Schwester gefallen würden, und sehnte sich recht danach, Hertha etwas loben zu hören.

»Dallochs, ja Dallochs, die werden dir gefallen, meine liebe Hertha!« sagte sie einst mit gutmütiger Zuversichtlichkeit. »Der liebe prächtige Rat und die geistreiche Frau Rätin; Arthur, der sinnige Dichter, die himmlische Sophie und Nelly, meine süße holde Nelly –«

»Mit rötlichem Haar und zahllosen Sommersprossen!« unterbrach Hertha.

Manon sah sehr verdutzt aus und fragte, sauersüß lächelnd: »Woher weißt du das?« – Sie besann sich einen Augenblick, ob sie diese allerdings mehr wahre, als schmeichelhafte Behauptung zu Gunsten ihrer Herzensfreundin bestreiten sollte, doch ehe sie noch zum Entschluß gekommen war, verließ Hertha das Zimmer.

»Gewiß hat die Professorin ihre Stiefschwester so unvorteilhaft geschildert«, murmelte Manon, »das ist nicht schön von ihr! Ich glaube, mir würde die ganze Professor-Familie wenig gefallen!«

Endlich waren die Reisenden heimgekehrt. Manon schickte schon am frühen Morgen Gruß und Willkomm an alle, ließ nach dem allseitigen Befinden fragen und meldete sich und ihre Schwester für den Nachmittag an. In lebhafter Aufregung wartete sie am Fenster auf den rückkehrenden Boten. Er brachte ein Briefchen von Nelly, das aus einem Schwall von zärtlichen Redensarten bestand. Eine Nachschrift meldete, daß Sophien das Bad und die Reise wohlgethan, eine zweite, daß Manon mit Sehnsucht erwartet werde, von ihrer ewig treuen Freundin Nelly.

Nach dem Mittagsessen machten sich die Schwestern auf den Weg. Sie beschleunigten ihren Gang, als hinge davon ihr Wohl und Weh ab; die Erwartung machte ihre Herzen stärker schlagen. Manon sollte die lieben, prächtigen Menschen wiedersehen, die sie zu jeder Zeit mit der schmeichelhaftesten Vorliebe beglückt hatten, ihre Nelly, mit der sie sich in Liebesbeweisen überbot und in gegenseitiger Bewunderung entzückte. Alles das sollte Hertha sehen, sollte erfahren, wie viel Geltung Manon habe.

Hertha war durch die Aussicht, den Vater ihrer geliebten Professorin kennen zu lernen, tief erregt; sie hätte in diesem Augenblick viel gegeben für eine reine Freude an der bevorstehenden Bekanntschaft. Aber sie mußte immer daran denken, daß es ein Vater war, der nur den Staatsgeschäften und seiner Geselligkeit gelebt, niemals seiner Familie; ein Vater, der kurz nach dem Tode seiner ersten Frau seinen beiden Töchtern eine Stiefmutter gegeben, die durch ihr großes Vermögen zwar den Glanz des Hauses hob, aber weder die Fähigkeit, noch den lebhaften Wunsch besaß, den verwaisten Mädchen die liebende Mutter zu ersetzen, ja, die in ihrem ungemessenen Stolz so weit gegangen war, die Verbindung Mathildens mit dem Professor Walther für eine unpassende zu erklären, weil Walther nur der edelste Mann, aber kein Edelmann war. Herthas Blut wallte auf, als ihre Gedanken sie bis hierher geführt hatten. »Welch eine Frau!« rief es in ihr. »O, wenn sie solcher Erbärmlichkeit fähig ist, so traue ich ihr auch zu, daß sie die arme Leidensträgerin Sophie vernachlässigt; das wäre abscheulich, entsetzlich!«

»Dort, jenes Haus!« unterbrach hier Manons Stimme ihren menschenfeindlichen Ideengang; »aber Hertha, wie böse siehst du aus; freue dich doch mit mir!«

Hertha glättete die Stirn und brachte es zu einer Art von matter Freundlichkeit. Nelly empfing die Schwestern auf dem Treppen-Absatz und warf sich so stürmisch an der Freundin Brust, daß Hertha, fürchtend, Manon werde das Gleichgewicht verlieren, schnell hinzusprang und ihr als Stütze diente. Es entging ihr nicht, daß während der langen Umarmung Nelly einige neugierige Blicke auf sie richtete und daß auch Manon mit einem Blicke nach ihr hinsah, der deutlich zu sagen schien: »Sieh, so werde ich geliebt!« Nun kam Arthur, der lange Primaner, küßte Manons Hand und beugte ein Knie vor ihr, indem er halb schwärmerisch, halb scherzend sagte: »Der Engelsgüte und Engelsschönheit meine Huldigung!«

Für Hertha hatten beide Geschwister nur eine stumme, flüchtige Verbeugung, denn Manons letzter Brief an Nelly gab ihnen keine allzu günstige Meinung von ihr. Manon pries darin maßlos der Schwester Klugheit, fügte aber klagend hinzu: »Mein weiches Herz leidet durch die kalte Überlegenheit solcher Verstandes-Naturen.«

Im großen Saale fanden sie Herrn und Frau v. Dalloch. Beide empfingen Manon, wie man eine geliebte Tochter empfängt. Der Geheimerat drückte das schlanke Mädchen an sein Herz, küßte ihr die weiße Stirn, klopfte ihre Wangen und beteuerte einmal über das andere, es gäbe auf Erden nur eine Manon. Diese Eine streichelte seinen Backenbart, küßte ihm und der Geheimerätin die Hände und sprudelte über in Ausrufungen ihrer Freude, ihres Glücks über dies Wiedersehen.

Nachdem der erste Rausch vorüber war, stellte Manon die Schwester vor, und diese bemerkte, oder glaubte zu bemerken, daß die Gesichter der älteren Herrschaften sogleich kühler und länger wurden. Es wäre auch nichts Auffallendes gewesen, wenn Herthas finsterer und frostiger Blick auf den Gesichtern der anderen sich abgespiegelt hätte.

»Sie kamen kürzlich aus B**«, sagte der Geheimerat zu Hertha, »wie verließen Sie meine Tochter und meinen Schwiegersohn?«

»Ganz gesund«, antwortete die Gefragte, »und geliebt und bewundert von jedem, der das Glück hat, sie zu kennen.«

»So so«, sagte der Geheimerat etwas gedehnt, »das ist recht schön! Wie sieht denn mein kleiner Enkelsohn aus, gleicht der Bursche etwa mir?«

»Keineswegs«, sagte Hertha, »er sieht einem Engel ähnlich!«

Der Ton, mit dem Hertha dies sagte, war herbe. Ihr ganzes Wesen behielt die einmal angenommene Unfreundlichkeit bei, welche schon in ihrem Rede ton beleidigend klang. Der Geheimerat lächelte gezwungen und sagte: »Ich danke im Namen meines Enkels, der jedenfalls bei dieser Ähnlichkeit gewinnt.«

Nach einer Weile kam Sophiens Mädchen und lud die jungen Damen in das Zimmer ihrer Herrin. Hertha fuhr freudig zusammen, aber zu ihrem Bedauern brach die ganze Versammlung auf. Manon eröffnete den Zug und eilte mit offnen Armen auf ihre geliebte Sophie zu. Diese lag auf einem Ruhebett und nahm mit sichtlicher Freude und herzlichem Erwidern Manons zärtliche Begrüßungen aus. Hertha erschrak fast vor der Ähnlichkeit Sophiens mit Frau Walther; es bewegte sie tief, die geliebten, teuren Züge wiederzufinden. Aus Verdruß über die allzu große Rührung, die sich ihrer bemächtigen wollte, zog Hertha die Augenbrauen zusammen und sah so finster, ja mürrisch aus, daß ihr Gesicht den schneidendsten Kontrast zu dem von Freundlichkeit strahlenden ihrer Schwester bildete.

»Sie kennen meine Schwester Mathilde?« sagte Sophie warm.

»Ja!« erwiderte Hertha, aber so kalt, daß Sophie verstummte und sich schnell wieder zu Manon wandte, die hunderterlei zu fragen und zu sagen hatte und mit ihren Liebkosungen nicht zu Ende kommen konnte. Hertha schien vergessen und fand Muße genug, ihre Augen forschend umherwandern zu lassen. Zuweilen blickte Manon nach ihr hin, wie um zu prüfen, ob ihre Lieblinge gefielen; aber durch die finsteren Wolken, die auf dieser Stirn lagerten, zu dringen, war ihr nicht vergönnt: sie mußte sich gedulden.

Auf dem Heimwege war Manon nicht glücklicher. Sie wußte wohl, daß Hertha ihr niemals gefällig mit dem Gespräch entgegenkam, nach welchem sie vorzugsweise verlangte, sondern im Gegenteil die Mitteilungen am längsten zurückhielt, welche von Manon gewünscht wurden. Sie verbarg darum ihre Neugierde, so gut es gehen wollte, und hoffte, Hertha würde morgen zugänglicher sein, vielleicht gar ungefragt über die Eindrücke sprechen, die sie empfangen. Auch nahm sie Herthas Schweigen für ein günstiges Zeichen; sie ahnte nicht, daß dieselbe von tiefen Gefühlen bewegt war, die sich aber mehr auf die Vergangenheit, als auf die Gegenwart bezogen. Hertha trauerte über die Trennung von Walthers; je weniger sie sich von der neuen Bekanntschaft angesprochen fühlte, um so schmerzlicher wurde ihr Bangen nach den alten Freunden.

Am folgenden Morgen konnte Manon nicht rasch genug am Frühstückstisch erscheinen, denn sie wußte, die Großmutter würde gewiß nach dem Verlauf des gestrigen Besuchs fragen, und damit wäre die Bahn zum herbeigesehnten Gespräch gebrochen, ohne daß sie es herbeigeführt.

Kaum saßen unsre drei um den zierlich servierten Kaffeetisch, so begann die Großmutter, wie Manon erwartet, ihre Fragen. Sie blickte schnell in die Tasse, um durch keine Miene ihr Vergnügen zu verraten. – »Nun, Kinder, erzählt mir, wie geht es den guten Dallochs? Sind sie hübsch munter zurückgekehrt? Wie gefallen dir unsre Freunde, Hertha?«

Gerade in diesem Augenblick fiel der Großmutter, die selbst schon beim Frühstück ihren Strickstrumpf fleißig handhabte, eine Nadel aus der Hand. Flink bückte sich Hertha und suchte und suchte, aber die Nadel war wie verschwunden. Als sich die Enkelin endlich, lieblich gerötet durch das Niederbücken, mit der Nadel in der Hand erhob, hatte die Großmutter ihre ersten Fragen vergessen und bat sich eine Tasse Kaffee aus.

Nach einigen Augenblicken begann sie wieder: »Wohnen Dallochs nicht schön?«

Hertha sah Manon an, als gälte dieser die Frage, doch als Manon schwieg, erwiderte sie kurz: »Ja, Großmutter!«

Manon blickte freudig auf und sagte lebhaft: »Nicht wahr? Welch eine Einrichtung! Du sahest gewiß noch nie eine ähnliche?«

»Nein, aber schon manche, die mir besser gefiel!«

»Wie, du findest die Einrichtung nicht nach deinem Geschmack? Ich möchte wohl wissen, was du auszusetzen hast?«

»Vieles! Unter anderem kann ich es weder schön, noch zweckmäßig finden, daß in dem großen Eßsaal die vier Fenster, welche sämtlich der Mittagssonne zugekehrt sind, nur durch klare, weiße Vorhänge kaum verschleiert sind; man wird fast geblendet von dem vielen Licht, das so unaufgehalten eindringt. Und die Hitze! Dagegen liegt Sophiens Schlafstube nach Norden und ist finster und kalt, denn durch die dunkelblauen Vorhänge dringt weder Licht noch Wärme.«

Manon lachte munter und sagte: »Was du auch gleich bemerkst! Du frorst also bei Sophien und tautest im Saal wieder auf?«

»Nein, umgekehrt!«

»Wie das?«

»Auf mich wirkt die Temperatur weniger ein, als die Menschen. Mich fror im Saal bei Frau v. Dalloch.«

»Also die gefällt ihr nicht«, dachte Manon. »Ist der Rat nicht ein lieber Mann?« fragte sie nach einer minutenlangen Pause.

»Das versteh' ich aus den ellenlangen Anekdoten, die er, sie mögen hinein passen oder nicht, jedesmal mit einem ›Apropos‹ beginnt, nicht zu entnehmen.«

Manons Stimmung begann zu sinken, aber sie konnte es dennoch nicht lassen, weiter zu forschen. Sie wandte sich zur Großmutter: »Arthur hat seiner Mutter eine Sammlung seiner Gedichte geschenkt, sehr zierlich geschrieben und höchst elegant eingebunden. Einige derselben wurden gestern vorgelesen, sie sind wunderhübsch und haben hoffentlich auch meiner kritisierenden Schwester gefallen?«

Diese schwieg.

»Welcher Art sind sie?« fragte die Großmutter, sich an Hertha wendend: »Sie feiern alle des Dichters merkwürdige Empfindungen und Handlungen. Ein großes Ich davor gesetzt, müßte ein bezeichnender Titel für das schöne Buch sein!«

Manon machte wieder ihre kleine sauersüße Miene, welche jedesmal das Kennzeichen ihres Verdrusses war. Dann sagte sie fast weinerlich: »Du bist recht spöttisch, Hertha, es lohnt gar nicht der Mühe, dich mit liebenswürdigen Menschen bekannt zu machen. Du findest an allen etwas zu tadeln. Was magst du nur an Sophie und Nelly auszusetzen haben?«

Jetzt lachte Hertha hell auf. »Weshalb fragst du nur immer, Schwesterchen, da dich die Antworten schon im voraus verdrießen?« – Sie trat ans Fenster und trällerte ein Liedchen.

»Habt ihr euch endlich über den Kleidereinkauf geeinigt?« fragte die Großmutter, um ein anderes Gespräch in Gang zu bringen.

»Noch immer nicht!« klagte Manon. »Hertha besteht darauf, das rote Zeug kaufen zu wollen, ich finde dagegen das blaue noch einmal so schön.«

»So folge eine jede ihrem Geschmack«, entgegnete Hertha; »du kaufst dir ein blaues Kleid, ich mir ein rotes. Was ist da noch viel zu besinnen?«

»Aber du weißt sehr wohl, daß es zu meinen liebsten Wünschen gehört, mit dir ganz gleich gekleidet zu gehen!« sagte Manon.

»Und du weißt, daß mir nichts unerträglicher ist, als dieser Gedanke!« fiel Hertha heftig ein. »Ich habe es nie leiden mögen, daß zwei Schwestern gleich gekleidet gehen, es sieht lächerlich und albern aus. Und nun gar wir! Wir haben einen ganz verschiedenen Geschmack, wir lieben andre Farben, andre Stoffe, und trotzdem soll unser Anzug das Aushängeschild einer Harmonie sein, die unserm Innern gänzlich fehlt. Das ist eine Lüge, und zu der biete ich nicht meine Hand!«

»Sei nicht so heftig, Hertha!« schalt die Großmutter.

»Verzeihe mir diesmal«, bat Hertha, »ich fühle, daß der Gegenstand nicht wert ist, so ernsthaft genommen zu werden.«

Manon drehte sich schnell und sah mit Vergnügen, daß ihre Schwester von ihrer kleinen Aufwallung zur Besinnung gekommen war. Sie schöpfte daraus Hoffnung für die Erfüllung ihrer Wünsche. Manon konnte sehr beharrlich sein, wenn es das Gelingen ihrer kleinen Pläne galt. Sie näherte sich also Hertha und sagte freundlich: »Liebe Hertha, nur dies eine Mal!«

»Was denn?«

»Laß uns nur dies eine Mal gleiche Kleider kaufen.«

»Meinetwegen, wenn du dir ein rotes kaufen willst.«

»Wie du nur sprichst! Davon kann niemals die Rede sein, aber du erlaubst, daß ich zwei blaue bestelle. Bitte, bitte!«

Sie wollte Hertha küssen, aber diese machte sich mit abgewandtem Gesichte von ihr los und sagte sehr herbe: »Kaufe, was dir gefällt, ich werde das Kleid tragen, selbst wenn ich es abscheulich finde, nur verschone mich mit deinen Liebkosungen!« – damit war sie aus dem Zimmer verschwunden. Manon schrieb an den Kaufmann und bestellte zwei blaue Kleider; sie war diesmal wegen des zurückgewiesenen Kusses gar nicht erzürnt, sondern lobte Herthas liebenswürdige Nachgiebigkeit.


Wie nicht anders zu erwarten war, gewann sich Manon durch ihre sanften Manieren viel mehr Lob, als Hertha durch ihre rauhen; sie gefiel, wo sie auftrat, und oft glich ihr Eintreten in ein befreundetes Haus einem Triumphzuge, wie wir ihn ja schon einmal mitangesehen. Das schmeichelte ihr natürlich, und sie bemühte sich, immer mehr geliebt zu werden, immer holdseliger zu sein. Nichts besticht die Menschen leichter, als Lob; dies hatte Manon früh erkannt, und so hörte man sie viel eher hier und da eine kleine Schmeichelei sagen, die in ihrem Munde fast wie Wahrheit klang, als den geringsten Tadel. Sie redete sich selbst immer mehr die Vortrefflichkeit aller Menschen ein; alle waren edel und groß, die ganze Welt erschien ihr im Verklärungsschimmer, und überall sah sie Licht und Freude.

Hertha fand zu dem Licht den Schatten, zu der Freude das Leid, aber sie vermied auch nicht, die dunklen Falten des Lebens zu sehen, sondern suchte sie immer häufiger auf. Was sollte sie bei den Glücklichen? Sie war nicht glücklich und konnte es bei ihrer Gemütsstimmung auch nicht werden. Die Vorliebe der Großmutter für Manon nahm mit jedem Tage zu und steigerte sich bis zur höchsten Schwäche. Herthas rauhes Wesen stieß sie im gleichen Maße ab, und Alter und Gewöhnung machten es ihr immer unmöglicher, die Kälte zu verbergen, welche diese stets nur stiefmütterlich geliebte Enkelin ihr einflößte. Daß Manon sich, je mehr und mehr, von der Schwester abgestoßen fühlte, kann ihr niemand verdenken. Hertha war das einzige Wesen auf der Welt, das ihre Freundlichkeit stets mit Gleichgültigkeit, ja oft mit Abneigung beantwortete. Oder kann man es anders nennen, wenn Hertha den Kranz zerriß und wegwarf, mit welchem Manon der Schwester Bild bekränzt hatte? Es war am Tage nach Pollos Verbannung. Und dann – mit welcher Härte beurteilte sie die geliebtesten Menschen! Eine Probe davon können Dallochs sein. Dort, wie im ganzen Umgangskreise, liebte man sie wenig und duldete sie meistens nur als der vergötterten Manon Schwester. Gewöhnlich lächelte Hertha, wenn ihr auffallende Zurücksetzungen zu teil geworden waren. Wenn z. B. Fräulein von S**, nachdem sie Manon eine Viertelstunde mit Zärtlichkeiten überschüttet und neben sich auf das Sofa gezogen hatte, plötzlich mit ganz verändertem Stimmenton sagte: »Ah, Fräulein Hertha, sind Sie auch da? Bitte, nehmen Sie Platz!« so blieb die Versäumte ganz heiter, ohne Verstimmung. Zehn Einladungen Nellys, bei denen sie vergessen war, kränkten sie nicht. Aber auch der stärkste Mensch hat seine verwundbaren Stellen; wurden diese bei Hertha berührt, dann kam ihr das ganze Leben, ihre Stellung in ihm und zu den Menschen, wie ein großes Wehe vor.

Schmerzen sollen bessern; sie thun's auch, aber leider oft spät. Je mehr die Menschen Herthas Tadelsucht mit gleicher Münze bezahlten, um so herber und mißlauniger wurde sie.

Sophie Dalloch litt bei dem herannahenden Herbst unsäglich, und es war ein rührend schöner, wehmütiger Anblick, sie gegen Abend, wenn ihre Schmerzen nachließen, mit den von der Anstrengung hochgeröteten Wangen in ihrem Bett liegen zu sehen, um welches sich dann auf ihren Wunsch oft die Ihrigen oder einige Freundinnen versammelten. Sie sprach selbst nur wenig, nahm aber den lebendigsten Anteil an allem, was die andern besprachen, und ihre frommen Augen erglänzten in froher Teilnahme bei heiteren Gesprächen, oder feuchteten sich mit Thränen des Mitleids bei dem Anhören fremden Kummers.

Waren Manon und Hertha zugegen, so zog sie erstere nahe zu sich, denn sie sah so gern in ihr schönes, kindliches Antlitz. Hertha saß mehr zur Seite, verlor aber keinen Blick, keine Bewegung der Kranken. Frau Walther hatte, in einem Briefe an ihre Schwester, Herthas mit warmer Liebe gedacht; dennoch kam es zwischen ihr und Sophien zu keiner eigentlichen Annäherung, wovon natürlich wieder Herthas unliebenswürdiges Wesen die Schuld trug.

»Sieh nur«, sagte Sophie eines Abends, als die Familie und die beiden Schwestern um sie versammelt saßen, »sieh nur, Manon, welch eine angenehme Überraschung eine wohlthuende, unbekannte Hand mir gemacht hat!«

Dabei zeigte sie auf eine kleine warme Decke, die zwischen ihrem Bett und dem Fernster so angebracht war, daß sie den von dort herkommenden Zug abhielt.

»Ich möchte nur gar zu gern wissen, wer meine liebe Wohlthäterin ist. Manon, gestehe, du bist es!«

»Nein, gewiß nicht!« beteuerte diese. »Ich hatte keine Ahnung, daß du vom Zuge littest, sonst –«

»Ja, sehr!« sagte die Kranke. »Ich mag mein Bett so gern nahe am Fenster stehen haben, um mich in meinen guten Stunden mit Lesen oder kleinen Arbeiten beschäftigen zu können. Deshalb ertrug ich schweigend den Zug, aber ich habe ihn stets unangenehm empfunden.«

»Sollte man durch dein Mädchen nicht hinter das Geheimnis kommen können?« fragte die Geheimerätin. »Es ist so peinlich, beschenkt zu werden, ohne es erwidern zu können!«

»O, Mama«, sagte Sophie, »die Schuld der Gabe drückt mich nicht, aber ich möchte die Liebe, der ich sie verdanke, von Herzen erwidern. Luise kennt die Geberin, die sich ihr anvertraut hat, ist aber sehr verschwiegen, und da sie Schweigen gelobt hat, darf ich nicht einmal in sie dringen.«

›Apropos‹, fiel der Rat ein, »kennt ihr die gute Anekdote, die sich bei der letzten Anwesenheit Seiner Majestät des Königs in N. zugetragen? Er besichtigt eine kürzlich erbaute Kirche, und im Gedränge fällt ihm ein Fremder auf, der sich durch irgend etwas ausgezeichnet haben muß. Seine Majestät fragen ein-, zweimal, wer es sei? Niemand weiß Auskunft zu geben. Da drängt sich ein freundlicher kleiner Herr hinzu, zieht ehrerbietigst den Hut und sagt: »Erlauben Euer Majestät, daß ich Bescheid gebe, ich kenne jenen Mann« – hier stockt er – »habe aber augenblicklich seinen Namen vergessen.« – Sagt, ist das nicht ein kapitaler Spaß? Ich hätte dabei sein mögen.«

Man trennte sich spät. Sophie war angenehm erregt und wollte die Gesellschaft nicht so bald von sich lassen. Als sie von den Schwestern Abschied nahm, gedachte sie noch einmal der unbekannten Geberin: »Ich wünsche ihr ein ebenso weiches, warmes Lager, als das meine jetzt ist«, sagte sie, »und außerdem noch Liebe und Freude die Fülle!«

Am folgenden Morgen erhielt Manon ein Briefchen von ihr, es lautete also: »Guten Morgen, meine geliebte Freundin! Die Eltern und Geschwister wollen heute ins Theater gehen, und ich freue mich, daß sie einen frohen Abend in Aussicht haben. Ich hätte aber auch gern einen lieben für mich, und daher bitte ich dich, meine allerbeste! komm zu mir. Nelly verspricht nicht eifersüchtig zu sein, wie sonst wohl, weißt du noch? Ich habe himmlisch geschlafen, ohne Zugwind, und von meinem guten Engel geträumt, der wohl gar mein Schutzengel ist. O, wie ich ihn liebe! Empfiehl mich deiner Großmutter und grüße deine schöne, kluge Schwester Sophie.«

»Sophie ladet mich zu sich ein«, sagte Manon und reichte Hertha das empfangene Billet, damit sich diese ihren Gruß daraus holen sollte. Hertha las und errötete tief, niemand erriet, weshalb. Dann setzte sie sich mit dicht zusammengezogenen Augenbrauen an ihre Arbeit. Manon, eben heute sehr heiter gestimmt – die neuen blauen Kleider waren angekommen und hatten ihren ganzen Beifall – setzte sich zu ihr und suchte ein Gespräch in Gang zu bringen. Aber das war ganz unmöglich; entweder bekam sie gar keine, oder eine mürrische, absprechende Antwort, die ihr allen Mut zum Weitersprechen benahm.

So ging es den ganzen Vormittag. Hertha zankte mit jedem, widersprach selbst ihrem Lehrer und legte ihre Unzufriedenheit jeden Augenblick an den Tag. – »Vielleicht erheitert sie ein Spaziergang!« dachte Manon. Sie ging gern auf eine schön bewaldete Anhöhe, ganz in der Nähe der Stadt, von der man eine wahrhaft entzückende Aussicht hatte, und ließ nicht eher mit Bitten nach, als bis Hertha des vielen Bittens müde, in den Spaziergang willigte.

Schweigend machten sich die Schwestern auf den Weg, denn einige Äußerungen Manons, die ihre Freude und Bewunderung an dem ungewöhnlich schönen Herbsttage, an einzelnen Baumgruppen und Blüten ausdrückten, wurden gleich anfangs von Hertha mit einem herben, spöttischen Lächeln beantwortet. Es entging ihren aufmerkenden Blicken nicht, daß Manon, selbst während sie im Anschauen der Natur versunken schien, jeden Vorübergehenden bemerkte und sich an dem angenehmen Eindruck ergötzte, den sie hervorbrachte.

An der Höhe angelangt, setzten sich beide an die Ruine einer alten Kapelle und schauten auf die Landschaft rund um sie her, die, in der That sehr schön war und jetzt eben von herrlicher Farbenpracht übergossen und gehoben wurde. Manon gab nicht so schnell ihren guten Vorsatz, die Schwester zu erheitern, auf, sondern machte sie auf die reiche Pracht aufmerksam, welche der Herbst mit seiner goldenen und purpurroten Färbung überall verbreitete. Hertha konnte auch dem Gesamteindruck nicht widerstehen, warf einen langen, prüfenden Blick auf die Dörfer, die Seeen und das üppige Gebüsch. Gewiß, sie fand alles schön, aber in ihrer gereizten Stimmung unterdrückte sie die bessere, natürliche Empfindung und verzog den lieblichen Mund zu einem schnöden Lächeln.

»Was du wieder einmal so unendlich schön und erhebend findest«, sagte sie fast schadenfroh, »muß ein denkendes Wesen eher mit Schauer als mit Entzücken erfüllen. Diese falben Blätter sind dahinsiechende Körper, und ihre gepriesene Färbung ist das Zeichen ihres Vergehens und Absterbens.«

»Warum nennst du Tod, was nur Schlaf ist?« entgegnete Manon und war in diesem Augenblick wirklich viel liebenswürdiger, als Hertha. »Das herabfallende Laub deckt alle die Herrlichkeit für kurze Zeit zu, die Erde zieht ihr weißes, mit blitzenden Diamanten besetztes Winterkleid an, und kaum haben wir uns daran recht satt gesehen, husch! so ist der Frühling wieder da, und die große Verwandlung erfüllt uns mit neuem Jubel.«

»Ob aus diesem armen Baume dann auch ein wohlgewachsener, kräftiger werden wird?« sagte Hertha und wies auf einen stark verkrüppelten Stamm.

Manon wurde ungeduldig. »Überall entdeckst du gleich das Mangelhafte, Mißratene!« rief sie lebhaft. »Ich beneide dich nicht um dies Vermögen, das dir die Menschen sowohl als alles übrige verleidet. Wieviel glücklicher ist man ohne diesen Scharfblick!«

»Ist denn Blindheit Glück?« fuhr die Angeredete heftig auf. Willst du dem einfältigen Kinde gleichen, das aus Unkenntnis jedes weiße Giftpulver für Zucker und die unter Blumen kriechende Natter für ein unschuldiges, zahmes Haustier hält? Wodurch unterscheidet sich der gesunde Mensch von dem Irren, wenn nicht durch den richtigen Gebrauch seiner gesunden, hellen Sinne? Jener leidet freilich unter dem Erkennen der Jämmerlichkeiten, die ihn umgeben, während dieser, bei glücklichem Wahnsinn, sich als oberster Heiliger in den siebenten Himmel träumt. Aber solang' es Tag um mich ist, will ich nicht im Dämmerlichte leben. Mein Verstand ist mir das teuerste Gut; damit will ich prüfen und sondern, und ich wünsche mir nichts so lebhaft, als daß ich immer klarer und immer schneller Schein von Wahrheit unterscheiden lerne.«

Ich glaube, du hast dir diese ungefälligen Lebensansichten durch Doktor Asp, den Tante Herbig uns zum Lehrer empfohlen, zu eigen gemacht. Ich werde nie so denken. Mögen mir stets die Fehler und Mängel der Menschen und der Dinge verborgen bleiben, damit ich alles lieben und glücklich sein kann.

Manon eilte zu Sophien. Hertha zog sich auf ihr Schlafkämmerchen zurück, um ungestört denken und weinen zu können. Sie fühlte sich heute ganz unbeschreiblich unglücklich und konnte doch nicht den Grund ihres Elends entdecken. Sie suchte ihn außerhalb, in der Ungerechtigkeit der Menschen, die sie zurückwiesen, weil sie ihnen nicht schmeicheln konnte und wollte.

»Ja, wenn ich wie Manon wäre«, dachte sie, »wenn ich mich alles Urteils entschlüge und alle Welt lieben könnte, dann würden die faden Alltagsmenschen mich wiederum loben und preisen; aber ich mag weder solch ein Licht ohne Schatten sein wie Manon, noch von jedermann gedankenlos gepriesen werden, wie sie. Was, was will ich denn? Glück? Es giebt keins auf Erden, und nur Manon kann es träumen, wie sie sich vollkommene Menschen träumt, weil sie es eben bequem findet. Also nicht Glück, nur Wahrheit, Wahrheit will ich. Und doch ist es nicht denkbar, daß Wahrheit und Glück – –«

Über diesem Grübeln schlief Hertha ein. – Ach, wie viele Menschen sind schon in den tiefsten letzten Schlaf gefallen, ehe sie besser als Hertha erkannt hatten, was des Lebens und Sterbens wert und ob Glück mit Wahrheit und mit reiner Erkenntnis Hand in Hand gehen kann!


Manon hörte durch Sophien von einer armen notleidenden Familie, der es an dem Notwendigsten fehlte, weil die Mutter, die Ernährerin plötzlich erblindet, unter leiblichen und geistigen Schmerzen danieder lag. Drei hungernde Kinder riefen nach Brot, und ein eisgraues Mütterchen, die Großmutter der Blinden, streckte vergebens ihre Hand nach der Pflegerin und Trösterin ihres Alters aus.

Manon war sehr ergriffen bei der näheren Beschreibung dieses Elends und rief mehreremal: »O sprich nicht mehr davon, Sophie, du regst dich zu sehr auf, und auch ich kann es nicht mehr anhören! Laß uns von anderen Dingen reden!« – Aber Sophie schonte diesmal nicht sich, nicht die weichliche Manon, sondern berichtete umständlich, was sie gehört und bejammert hatte. In ihr lebte heute nur dies eine Interesse, und sie kam immer wieder darauf zurück. Der Geheimerat hatte augenblickliche Erleichterung geschafft, für einen Arzt gesorgt und die Familie mit einigen Lebensmitteln versehen. – Aber das konnte Sophie noch nicht beruhigen; sie wollte der blinden Frau die Sorge für den nahenden Winter ganz abnehmen. Da fehlte Holz, die Miete blieb noch zu bezahlen, und was ihr, der Kranken, mehr als alles am Herzen lag: es fehlte eine Pflegerin, eine teilnehmende, verständige Seele, die für alle sorgte, für die Großmutter, die Mutter und die Kleinen. Das kostete jedoch viel, sehr viel, mehr als Sophie herbeizuschaffen wußte, und deshalb zog sie Manon zu Rate. Gern erklärte sich diese bereit, ihr Taschengeld zum Opfer zu bringen und auch noch einige Bekannte zur Beisteuer aufzufordern. Es erfreute sie recht, Sophie nach diesem Versprechen wieder ruhiger und heiterer zu sehen. Tags darauf teilte Manon das Vernommene der Großmutter mit; dazwischen klagte sie über Kopfschmerz, den ihr das Anhören der Mitteilungen zugezogen, und wunderte sich über Sophiens Mangel an Schonung. Frau von Beier teilte ihre Ansicht; Sophie hätte sie jedenfalls mehr berücksichtigen müssen. Manon wurde ein Gegenstand des herzlichen Bedauerns und ließ sich die großmütterliche Teilnahme gern gefallen.

»Wie heißt die arme Blinde und wo wohnt sie?« fragte Hertha, die bis jetzt kein Wort gesprochen hatte.

»Ach, den Namen habe ich vergessen!« sagte Manon. Sie nähte früher feine Wäsche.«

»Aber die Straße und die Hausnummer?« forschte Hertha.

»Danach habe ich nicht gefragt!« gestand Manon »Mein Himmel, ich war so betrübt, so aufgeregt!«

»Wie seltsam!« rief Hertha. »Man kann besser helfen, wenn man mit eigenen Augen gesehen hat und die Menschen und ihre Bedürfnisse kennt. Komm, wir wollen zu Sophien gehen und nach dem Namen und der Adresse fragen, wir können dann gleich zur Stelle eilen!«

»Du scherzest, Schwesterchen! Wir werden doch nicht selbst zu diesen unglücklichen Menschen gehen? Nein, um solch einen Anblick ertragen zu können, müßte man hart und teilnahmlos sein; ich könnte ihn nimmer ertragen. Übrigens sahst du wohl nicht zum Fenster hinaus, es gießt in Strömen, und der Schmutz macht das Ausgehen ganz unmöglich. Fühlst du dich wirklich stark genug zu diesem Gange, so verschiebe ihn wenigstens. Einige Tage früher oder später thun nichts zur Sache.«

Aber Hertha dachte anders. Mit ihrer lebendigen Auffassung übersah sie schnell und richtig die Verhältnisse und begriff, daß gerade der Anfang einer Leidenszeit schwerer und schmerzlicher ist, als der Verfolg, der schon deshalb Erleichterung giebt, weil die Gewöhnung manches erträglich macht und ebnet, was im Anfang unerträglich scheint und mit Centnerlast das arme bangende Herz beschwert. Und solch ein armes Herz sollte sie auch nur einen Tag länger zittern lassen, als es nötig war? Nein, das wäre ihr unmöglich gewesen!

Schnell packte sie, was sie an kleinen Schätzen und Habseligkeiten besaß, zusammen, schürzte das Kleid, so gut es sich eben thun ließ, auf, und mit Hut, Mantel und Regenschirm versehen, befand sie sich in zehn Minuten auf der fast menschenleeren Straße. – »Desto besser!« dachte sie »so komme ich unbemerkt durch Regen und Schmutz.« – Vor dem Dalloch'schen Hause stand sie zaghaft still, und sollen wir aufrichtig sein, so müssen wir bekennen, daß ein falsches Schamgefühl sich ihrer bemächtigte. Sie dachte so: »Was wird der Rat und die Rätin, was wird die ganze Familie sagen, wenn ich den Grund meines Kommens erkläre? Sie werden mich für überempfindsam halten. Wie einfältig! Am Ende loben sie mich gar, das wäre vollends nicht zum Ertragen! Nein, ich gehe nicht zu den langweiligen Menschen! Noch hat mich niemand gesehen, ich kehre um. – Und die Blinde? – Gut, ich suche Luise allein zu sprechen; vielleicht weiß diese, was ich zu wissen nötig habe.« – Somit schritt Hertha einem Hinterpförtchen zu, das sie nicht zum erstenmal zu benutzen schien, und gelangte unbemerkt in das Stübchen, welches Sophiens Mädchen innehatte. Luise plättete eben einen Morgenanzug ihrer jungen Herrin auf und dachte nicht entfernt an einen Besuch in so früher Morgenstunde und bei so schlechtem Wetter. Fast erschreckt fuhr sie zusammen, als Hertha leise vor sie hintrat.

»Ist es möglich, Fräulein Hertha? Ei, mein armes Fräulein, wie naß Sie sind!«

Luise sprang dienstfertig herzu, nahm ihr den triefenden Regenschirm aus der Hand, wollte ihn aufspannen und Hertha den Mantel abnehmen. Aber diese hatte große Eile und meinte: sie käme nur auf ein Wort und wolle unbemerkt wieder fortgehen. Luise lächelte schlau und fragte: ob sie wieder ein Geheimnis bewahren solle, und ob sie nicht brav geschwiegen hätte?

»Vortrefflich, liebe Luise, ich dank' es Ihnen herzlich! Diesmal komme ich nur, um eine Frage zu thun. Können Sie mir sagen: wie die blinde Frau heißt, für die sich Fräulein Sophie so lebhaft interessiert, und wo sie wohnt?«

Luise wußte den Namen, aber die Wohnung kannte sie nicht. Das war wenig tröstlich. »Soll ich nicht das Fräulein fragen?« meinte sie.

»Nicht doch, ich möchte nicht gern stören!« stotterte Hertha. »Ist Fräulein Sophie allein?«

»Ja! Die andern Herrschaften kamen gestern spät nach Hause, und außer dem Herrn Geheimerat, der schon früh fortgefahren ist, schläft noch alles. Fräulein Sophiechen hat die Nacht über viel Schmerzen gehabt und klingelte schon früh nach mir; ich mußte Thee kochen und Umschläge machen. Den Vormittag ist sie ja auch gewöhnlich allein.«

»Wecken Sie in solchen Fällen nicht die Frau Geheimerätin?« fragte Hertha teilnehmend.

»Ei, bei Leibe nicht! Es darf niemand beunruhigt werden; mein Fräulein ist viel zu gut, um durch den Anblick ihrer Schmerzen andere betrüben zu mögen. Es ist ein Engel an Geduld und Frömmigkeit!«

Hertha sog jedes Wort von Luisens Lippen und hätte noch tausend Dinge fragen mögen, die ihre im tiefsten Herzen geliebte Sophie betrafen, aber sie zauderte, aus Furcht, unzart zu sein. Da klingelte es im Nebenzimmer.

»Fräulein Sophie ruft; erlauben Sie, daß ich Sie anmelde?« fragte Luise im Hinausgehen.

Hertha nickte und warf nun Mantel und Hut ab, um in trockner Kleidung vor dem Bette der Kranken zu erscheinen. Es dauerte nicht lange, so kam Luise sie holen. Sophie saß aufgerichtet im Bette, mit dem verräterischen Rot geschmückt, das ihr nach jeder Aufregung verblieb; ihre Züge waren aber mild und fromm und zeigten nichts mehr von dem überstandenen Kampf. Auch hatte sie jede Erinnerung an ihr Kranksein forträumen lassen. Von den Kräutern und Essenzen, die ihr, wenn auch nur spärlich Linderung verschafften, war nichts mehr zu sehen; nur der Geruch im Zimmer verriet, daß sie angewandt worden.

»Luise hat mir schon den Zweck Ihres Kommens gesagt«, redete Sophie die Eintretende an. »Wie freundlich ist es von Ihnen, liebe Hertha, daß Sie sogleich Schritte für unsre Unglücklichen thun wollen; ich erkenne daraus, wie warm und lebhaft meine Manon für sie gesprochen haben muß!«

Hertha bat sich die gewünschte Adresse aus.

»Hier ist sie!« sagte Sophie und reichte ihr ein Blättchen Papier, worauf sie mit Bleistift geschrieben: »Frau Bärlich, am Domplatze Nr. 40, vier Treppen hoch.«

»Ich danke Ihnen herzlich,« sagte Hertha, »und will nun eilen. Der Domplatz ist fern, wie Sie wissen!«

Doch in diesem Augenblick schlug der Regen so heftig gegen das Fenster, und der Sturm heulte ein so schauerliches Lied dazu, daß Hertha sich genötigt sah, das Unwetter abzuwarten. Es wäre für sie nicht möglich gewesen, sich auf der Straße aufrecht zu halten. Sie ließ sich also, auf Sophiens Bitten, nieder und empfand mit Befriedigung, daß hier in diesem stillen Zimmer der gute Geist des Friedens und der Milde in ihr Herz zog. Sie konnte einmal von ihren besseren Empfindungen sprechen, ja sie gestand sogar, daß sie ein reges Mitgefühl für Schmerzen und Unglück habe, und ihre Augen glänzten hell und selig auf, als Sophie ihre Hand drückte und gerührt sagte: »Ich lerne Sie heute erst kennen, liebe Hertha, ich that Ihnen bisher unrecht, aber ich wußte nicht, daß ein so warmes Herz in Ihnen schlägt. Warum verbergen Sie sich mir?«

Hertha wollte antworten, aber ihre Empfindung war zu stark erregt; sie nahm nur Sophiens Hand und preßte sie an ihre Brust. Nach einigen Minuten sagte sie leise: »Ich liebe auch nicht viele Menschen, aber Sie, Sophie, liebte ich bald und innig!«

»Ist das möglich?« fragte diese.

Jetzt konnte sich Luise, die ab und zu in das Zimmer gekommen und den Austausch der Empfindungen verstanden hatte, nicht mehr halten.

»Ich sag's, ich sag's!« rief sie plötzlich, fast überlaut, trat vor ihrer Herrin Bett und sagte, deren Hände küssend, lebhaft: »Sie müssen es wissen, niemand anders hat die Decke für Sie gemacht, als das grundgute, liebe Fräulein hier!«

Hertha wurde feuerrot bei der Entdeckung; ihr war zu Mute, als käme irgend eine Missethat von ihr zur Sprache. Als aber Sophie ihren Arm um sie legte und ihr mehr mit Blicken, als mit Worten für ihre zarte Aufmerksamkeit, ihre Liebe dankte, schmolz die Eisrinde, die sich um ihr besseres Selbst gelegt hatte und jeder weicheren Empfindung den Tod drohte. Heiße Thränen benetzten der gewonnenen Freundin liebkosende Hand. Während es draußen fortstürmte, als drohte der Welt Untergang, ging, in Herthas Herzen ein ganzer Frühling auf, denn eine leise Ahnung sagte ihr, daß sie von jetzt ab nicht mehr unverstanden und ungeliebt sein werde, sondern ein Wesen gefunden habe, dem sie sich ganz vertrauen konnte, das Liebe und Scharfsinn besaß, Kopf und Herz: ein Wesen, dessen Wort mit der That in Einklang stand. Solch ein Wesen ihre Freundin zu nennen, hatte sie sich stets als höchste Seligkeit geträumt. Sie weinte und lächelte zu gleicher Zeit, dachte dazwischen an den Zweck ihres Hierseins und hatte die arme Blinde noch einmal so lieb, weil sie ihr den schönen Morgen verdankte. Wer wüßte es nicht aus seiner Jugendzeit, wie offen und vertrauend man da ist? Jedem Fremden mit einnehmenden Zügen, der uns Teilnahme zu widmen scheint, erzählt man wohl seine ganze kleine Lebensgeschichte mit all ihren Freuden und Leiden. Die innersten Wünsche werden ihm dargethan, Pläne und Vorsätze mitgeteilt, und sein Gutachten ist uns von großer Wichtigkeit; denn wir zweifeln keinen Augenblick, weder an seiner Befähigung, noch viel weniger an seinem guten Willen, uns zu raten und zu helfen.

Wenn wir uns an diese schöne Fähigkeit und Eigentümlichkeit der Jugend erinnern, so werden wir es auch natürlich finden, daß Hertha sich rückhaltslos Sophien erschloß und nach Verlauf von wenig Stunden mit ihr wie mit einer vielgeliebten Schwester sprach. Das fremde Sie war schon in der ersten Viertelstunde verbannt worden und hatte dem traulichen »Du« Platz gemacht. Als die Mittagssonne endlich statt der schweren Regenwolken am Himmel stand und Hertha Abschied nahm, trennten sich die neuen Freundinnen mit der gegenseitigen Versicherung, sich fortan nicht mehr entbehren zu können. In Hertha wogten und brausten neue, schöne Empfindungen. Daß Sophie der Professorin Schwester, ja, daß sie leidend und hilflos war, mehrte ihre Liebe; sie war gesund und kräftig, sie wollte sie hegen und pflegen, und vor ihr würde die Freundin ihre Schmerzen nicht verbergen, denn sie würde ihr das Glück gönnen, mit ihr zu leiden und sich für sie aufzuopfern. O wie jauchzte ihr Herz bei der bloßen Hoffnung, ihr einst ein Opfer, ein recht großes Opfer bringen zu können. Als sie mit ihren Gedanken bis hieher gekommen war, stand sie dem Hause der Großmutter gegenüber. Schnell wollte sie vorbeieilen, um endlich zu der armen Frau auf dem Domplatze zu gelangen, denn ihr Gewissen mahnte bereits arg, als sie Manon am Fenster erblickte, welche ihr durch Zeichen zu verstehen gab, sie möge eilig hinaufkommen. Da Hertha meinte, die Großmutter zürne ihr des langen Ausbleibens wegen, ja warte vielleicht mit dem Mittagsessen, so gab sie ihren Plan, noch nach dem Domplatze zu gehen, auf und flog die Treppe hinan. – Es schien einmal vom Schicksal beschlossen, daß sie ihr Liebeswerk noch einige Stunden hinausschieben solle, und sie fügte sich, wenn auch nicht ohne Widerstreben darein.

Hertha fand die Großmutter etwas unwillig und mußte einige Scheltworte hinnehmen, wegen ihres abenteuerlichen Spazierganges im Regen und in früher Morgenstunde. Sie versuchte nicht, sich zu entschuldigen, und wünschte nur im stillen, zu keiner ausführlichen Rechenschaft über ihr langes Ausbleiben gezogen zu werden, denn sie hätte um keinen Preis der Welt das Erlebnis dieses Morgens der Großmutter und Manon erzählen mögen. Sie war also recht erfreut, daß Manon jeder ferneren Mitteilung von ihrer Seite zuvorkam, indem sie seufzend und klagend ausrief: »Ach, Hertha, denke nur, wie unglücklich ich bin, ich muß Joli fortgeben!«

»Warum das?« fragte Hertha.

»Er ist krank geworden, und so häßlich krank; er hat böse Augen und Ohren. Der Tierarzt sagt: das käme vom vielen Fleischfressen her.«

»Aber, Manon, er hat dir das ja schon längst prophezeit! Er meinte sogar einmal, es wäre ein Wunder, daß Joli nicht schon an den fetten Speisen gestorben sei. Warum hörst du denn nicht auf, ihn zu überfüttern?«

»Das bringe ich nicht über mein Herz; Jolichen liebt das fette Fleisch allzusehr.«

»Sagtest du nicht, er müsse fort?«

»Ja doch! Ich versichere dir, ich werde unwohl, wenn ich ihn ansehe! Großmütterchen, weißt du niemand, der uns den Hund abnähme?«

»Gieb ihn mir, Manon,« sagte Hertha, »ich werde ihn so lange bei mir behalten, bis er gesund ist!«

»Du wirst ihn aber doch nicht selbst mit der Heilsalbe einreiben wollen? Alle unsere Leute haben ein Grauen vor ihm.«

»Das laß meine Sorge sein! Wo ist er, ich will ihn holen!«

»Ich habe ihn in den Treppenverschlag bringen lassen, und das sage ich dir, Herthachen, solange du das kleine widerliche Tier in deinem Zimmer hast, komme ich nicht hinein!«

»Halte es damit, wie du willst, Manon; aber daß du den Hund verstoßen willst, nun er durch deine Schuld krank geworden, das finde ich schlecht von dir!« – Mit diesen in dem heftigsten Tone gesprochenen Worten ging sie hinaus und ließ die bestürzte Schwester mit der Großmutter allein.

Beide sahen sich erschrocken an; so hatte Hertha noch niemals zur Schwester gesprochen, und das verwöhnte Mädchen hätte es auch nicht für möglich gehalten, solch einen bittern Tadel über sich anhören zu müssen. Sie warf sich weinend an der Großmutter Brust und rief schluchzend: »O wie hart, wie schonungslos ist Hertha, oder bin ich so, wie sie mich bezeichnet? Großmutter, sag' mir's, bin ich mit einemmal schlecht und herzlos geworden?«

»Nein, das bist du nicht, mein Herzenskind! meine Freude! mein Glück! Aber sie, die in ihrem Ungestüm tausendmal deinen zarten Sinn verletzt, sie ist kalt und empfindungslos.«

Manon fuhr mit Weinen und Schluchzen fort.

»Weil mein schönes, zartes Kind keinen garstigen Hund sehen mag«, sprach die Großmutter weiter, »so nennt Hertha es schlecht. Sie dagegen quält ihre ganze Umgebung, ist heftig, launenhaft, tadelsüchtig und eingebildet, und will doch noch für ein Wunder von Weisheit gelten! Weine nicht mehr, meine Manon, sondern lächle, damit ich deine blauen Augensterne wieder leuchten sehe. Hertha soll heute meine ganze Strenge fühlen und endlich lernen, wie sie dir zu begegnen hat!«

»O Mütterchen«, bat Manon schmelzend, »schilt sie nicht, sie ist wohl sehr, sehr hart gegen mich gewesen« – und hier fing Manon wieder an zu weinen – »aber es ist. doch hübsch von ihr, daß sie Joli pflegen will; auch hat sie ihren Pollo nie versäumt, sie besucht ihn fast alle Tage.«

»Du Engel wirst sie nun noch gar loben und für Großmut ausgeben wollen, was nichts als Eigensinn und die Sucht dich zu beschämen, ist? Sie hätte niemals nach deinem Hunde gefragt, wenn du ihn nicht aufgegeben hättest.«

»Das ist wohl wahr«, meinte die Enkelin, »sie konnte ihn nie leiden und kränkte mich immer damit, daß sie ihn von sich stieß.«

»Siehst du es ein, meine allzugute Manon? und willst du noch länger die Fürsprecherin und Verteidigerin der Undankbaren sein?«

»Ja, das will ich!« rief Manon heldenmäßig und warf sich von neuem an der Großmutter Brust. »Ich lasse nicht eher mit Bitten nach, als bis du mir versprichst, Hertha nicht zu schelten, sondern ihr zu verzeihen, wie ich es thue. Versprich mir das, mein Großmütterchen!«

»Gut denn«, sagte diese, »aber rechne es dir selbst zu und deiner himmlischen Güte, wenn Hertha immer rücksichtsloser und selbstsüchtiger wird und es ganz vergißt, daß du ihre älteste Schwester bist, der ähnlich zu werden, ihr höchstes Streben sein sollte.«

Eine lange Umarmung schloß die Scene.

Hertha rieb zu derselben Zeit Joli mit der vom Tierarzt verschriebenen Salbe ein und streichelte zum erstenmal in ihrem Leben das vor Schmerzen wimmernde Tier, von dem wir nur noch erwähnen, daß es für immer die Gunst seiner früheren Herrin verloren hatte und, trotz aller Fürsprache seiner neuen Beschützerin, das Haus räumen mußte.


Hertha war schon mehreremal bei der blinden Frau gewesen und hatte nach besten Kräften Hilfe geschafft, als Manon auch eines Tages – der Himmel weiß, wie das kam – die Laune anwandelte, einen Besuch daselbst zu machen. In allen Dingen das Gegenteil von ihrer Schwester, blieb sie es auch bei dieser Gelegenheit. Während Hertha fast verstohlen und heimlich diese Gänge gemacht, sprach Manon den ganzen Tag von ihrem Vorhaben und rüstete sich dazu wie zu etwas Außerordentlichem. Die Großmutter war ebenfalls ganz aufgeregt und ruhte nicht eher, als bis ihr schönes Enkelkind, dem ein erfahrenes Dienstmädchen zu Schutz und Trutz mitgegeben ward, sich durch ein Glas Wein zu dem schweren Gange gestärkt und ihr feierlichst gelobt hatte, nicht lange in der Krankenstube zu bleiben, um sich nicht etwa durch das Einatmen der ungesunden Luft ein Fieber, oder eine andere Krankheit zuzuziehen.

Manon hielt Wort und kehrte überraschend schnell zurück. Dennoch berichtete sie viel und umständlich und in einer Weise, der man es jeden Augenblick anfühlte, daß sich für Manon alles, selbst das Elend, in poetischen Schmuck hüllte. Sie hatte die Blinde mitten im Zimmer nach einem Wasserkruge tastend gefunden, nach dem die Großmutter verlangte. – »Ich blieb«, berichtete die Erzählerin, »einen Augenblick auf der Schwelle stehen und betrachtete die rührende Scene vor mir. Die an Händen und Füßen gelähmte Großmutter sang mit tonloser, zitternder Stimme:

Willst du mir geben Sonnenschein,
Nehm' ich es an mit Freuden,
Soll's aber Nacht und Trübsal sein,
Will ich's geduldig leiden.

Das jüngste Kind, das wohl sonst der Mutter mit seinen klaren Augen ausgeholfen hätte, lag schlafend zu den Füßen der Alten, die Abendsonne vergoldete seine blonden Locken, ich dachte unwillkürlich –«

»Wo waren denn die kleinen Zwillingsbrüder?« fragte Hertha.

»Eine Nachbarin hatte sie zu sich genommen, um sie einige Stunden zu beaufsichtigen. – Ich dachte eben daran, daß Arthur in einem seiner Gedichte sagt:

Nenn' dich nicht arm, du holdes Wesen,
Denn deiner Locken goldne Pracht –!«

»Ah, das wird die Schuhmacherfrau sein, die eine Treppe höher wohnt«, unterbrach hier wieder Hertha, »sie kommt zuweilen, nach der Blinden sehen!«

»Ja, dieselbe!« sagte Manon. »Frau Bärlich erzählte mir, daß deine Bitten und dein Geld die Frau dazu bewogen haben; überhaupt gedachte sie deiner mit der größten Dankbarkeit, und nennt dich ihren rettenden Engel.«

»Das ist ebenso lächerlich von ihr, als von dir, daß du es wiedererzählst!« schmollte Hertha. Ein vorwurfsvoller Blick der Großmutter strafte sie dafür, und es sollte noch eine größere Strafe nachkommen.

Manon war so in den Geschmack des Wohlthuns gekommen, daß sie feierlich erklärte, sie werde eine Kollekte für diese arme Familie sammeln gehen.

»Wie abenteuerlich!« rief Hertha.

»Abenteuerlich?« wiederholte die Großmutter, und ihr Ton verriet ihren Unwillen gegen die jüngste Enkelin. »Ich finde Manons Vorsatz edel und großmütig, und werde mich herzlich freuen, wenn sie ihn bald zur Ausführung bringt. – Wann gedenkst du den Anfang damit zu machen, meine liebe Manon?«

»Morgen, Großmütterchen, aber ganz allein zu gehen, wäre mir zu ängstlich, Hertha muß mitkommen!«

»Nimmermehr!« rief diese.

»Ich wünsche, ich befehle es!« sagte die Großmutter, deren Ungeduld plötzlich einen energischen Anstrich bekam. Sie erschrak selbst über ihre Strenge, nahm aber ihr Wort nicht zurück, und Hertha mußte ihre Schwester begleiten.

Manon sah auf diesem Gange unbeschreiblich schön aus. Sie liebte es sehr, die Farbe ihrer Kleidung ihrer Stimmung, oder der Gelegenheit anzupassen. Als sie zu Frau Bärlich ging, zog sie ein schwarzes Kleid an; jetzt, in dem steingrauen, glich sie einer barmherzigen Schwester. Wäre es nach ihrem Wunsch gegangen, so hätte Hertha auch jedes andere Kleid eher angezogen, als das bunteste, welches sie besaß; sie machte aber vergebliche Versuche, ihr das Unpassende dieser Wahl begreiflich zu machen.

Hertha wollte wenigstens hierbei ihrem eigenen Willen folgen und schritt als echtes Weltkind, mit ziemlich flnsterem Gesichte, neben der ernst gekleideten Schwester einher, und nur der überraschend reiche Ertrag dieser Kollekte söhnte sie mit dem Unternehmen aus.


Wir finden beide Schwestern eines Abends an Sophiens Bett wieder, und beide sprechen in der besten Laune von ihrem Rundgange und von den dabei gehabten Abenteuern. Es hatte sich allmählich so gemacht, daß Hertha nicht allein die nähere Stelle an Sophiens Bett, sondern die noch nähere in ihrem Herzen eingenommen. Mit inniger Freude lernte die Kranke mehr und mehr den seltenen Schatz von Liebe in Hertha kennen, mit noch größerer, ja, fast mit Bewunderung ward sie gewahr, daß sie der höchsten Aufopferung bei gänzlicher Entäußerung ihres Selbst fähig sei, wenn sie liebte und sich geliebt fühlte.

Sophie war nur einige Jahre älter als Hertha, aber ihre Leiden hatten sie schon früh gereift. Sie fühlte neben der Freundesliebe eine fast mütterliche Zärtlichkeit für sie, und diese war es eben, die sie nichts so sehnlich wünschen ließ, als den hellen Diamant ihrer Seele von den verdunkelnden Flecken zu läutern. Sie sann beständig nach, wie Hertha zu helfen sei, und erbat sich oft in stiller Mitternachtsstunde, wenn ihre Schmerzen sie wach erhielten, vom Himmel die Einsicht, welche ihr mangelte.

» Es fehlt dir zur Liebe die Duldung und zum Mute die Demut«, sagte sie nach einer solchen Nacht zu Hertha, und als diese sich darauf an ihre Brust warf und bittend rief: »O hilf mir dazu!« – da hatte Sophie ihr im Herzen Liebe und Treue gelobt, und Hertha hatte gefühlt, daß sie fortan niemand mehr von dieser Stelle verdrängen konnte.

Sie glaubte also auch in ihrem guten Rechte zu sein, wenn sie, wie an dem eben erwähnten Abende, dicht bei Sophien saß und Manon die Stelle neben Nelly überließ. Die beiden Freundinnen hielten sich umschlungen, und Nelly lauschte andächtig den Worten Manons, die jetzt auf ihr Lieblingsthema: auf die Vortrefflichkeit der Menschen gekommen war. »Wie edel sind die Menschen«, rief sie schwärmerisch, »wie schnell zum Guten bereit! Ich habe davon überall, wo wir um Geldbeiträge bitten gingen, die angenehmsten Eindrücke empfangen.«

»So?« sagte Hertha, die schon früher durch ihr Mienenspiel verraten, daß sie Manons Schilderungen mehr schön gefärbt, als richtig fand. »Mir ging es anders, ich fand die meisten sehr bedächtig; ja es fehlte nicht viel, so hätte ich den knickerigen Leuten ihr Geld zurückgegeben, von dem sie sich so schwer zu trennen wußten. Zum Beispiel der reichen Frau von W.«

Manon. Sie gab uns drei Goldstücke.

Hertha. Vorher aber beleidigte sie mein Gefühl aufs höchste durch ihr zerstreutes Lächeln, durch ihre gedehnten – So – was Sie da sagen? wohl nicht möglich? mit denen sie deine Schilderung unterbrach. Ich behaupte, die Frau hat kein Herz!

Manon. Was sollte sie aber zu einer so beträchtlichen Beisteuer bewogen haben, wenn nicht eben ihr Herz –?

Hertha. Die Aussicht, ihre Großthat auf der Liste verzeichnet zu sehen.

Manon. Wie unzart, Hertha!

Hertha. Wahrheit geht mir über Zartheit!

Manon. Ich gestehe übrigens, daß Frau von W. mir auch weniger gefiel, als ihre Schwägerin, obgleich diese viel weniger gab.

Hertha. Diese sentimentale kleine Heilige hätte dir gefallen? Denkt euch eine blasse, häßliche Frau, die vor Ziererei fast närrisch ist, und ihr habt das Bild der Majorin von T. Sie empfing uns mit einem Aufwande von überschwenglich verbindlichen Redensarten, versicherte, daß ihr keine größere Überraschung, keine größere Freude hätte zu teil werden können, und zupfte dabei abwechselnd an ihren Ärmeln oder glättete ihren Scheitel. Darauf führte sie uns zu einem Sofa und setzte sich so, daß sie vor sich und zu beiden Seiten einen Spiegel hatte. Bei Manons Erzählung – denn ihr müßt wissen, daß ich nur eine stumme Begleiterin war und Manon, von der das Unternehmen ausging, auch das ganze Verdienst überließ – hielt sie den scheuen Blick keinen Augenblick still, sondern sah entweder ihr Spiegelbild oder uns an.

Manon (lächelnd.) Das ist allerdings wahr, aber –!

Hertha. Sichtlich nahm ihre Laune bedeutend ab, als sie den Zweck des Besuchs begriff; sie verbarg aber ihre Verstimmung, indem sie das stärkste Mitleid dadurch an den Tag zu legen suchte, daß sie: schrecklich! entsetzlich! mit dem kläglichsten Tone ausrief.

Manon. Sie war vielleicht wirklich sehr ergriffen; weshalb bezweifelst du das?

Hertha. Ich zweifle nicht, ich bin fest davon überzeugt, daß sie ganz gleichgültig blieb. Sie hörte dir nicht einmal aufmerksam zu, sondern fuhr mit dem Zupfen an ihren Spitzenärmeln und dem Glätten ihres Haares fort. Kaum hattest du das letzte Wort gesprochen, so fragte sie, wo du den Hut gekauft, in dem du noch schöner, noch reizender aussähest als gewöhnlich, was doch fast unglaublich scheine. Nach diesem übertriebenen Komplimente kamen noch ein Dutzend ähnlicher.

Manon. Die dir galten –.

Hertha. Ja doch, und zuletzt eine Menge Fragen, die eine lächerliche Neugierde verrieten. An die Kollekte dachte sie erst wieder, als wir aufstanden und uns empfehlen wollten. Sie war sichtlich verlegen und griff nach der Liste. »Nun, dem Himmel sei Dank«, sagte sie jetzt mit fast flötendem Tone, »da ist ja schon ein hübsches Sümmchen zusammen; an Geld wird es vor der Hand nicht fehlen.« Sie räusperte, hustete und fuhr fort – »ich habe, wie Sie wissen werden« – wir wußten aber gar nichts davon – »eine so ungeheure Menge Hausarme, daß ich mir keine mehr zuziehen will; aber um an Ihrem schönen Werke auch teilzuhaben, werde ich mir morgen die Freiheit nehmen, Ihnen statt des Geldes Sachen zuzuschicken. Kleidungsstücke sind den Armen oft das Willkommenste. Mein Himmel, ich gebe so gern, daß es bei mir zur Schwäche wird, aber giebt es ein schöneres, ein süßeres Gefühl, als im stillen Gutes thun? Ich behaupte nein!« Unter diesem Schwall von Worten waren wir bis zur Treppe gelangt. »Leben Sie wohl, meine lieben jungen Damen – also Ihr Hut ist bei Madame Leger gemacht?« – das war das letzte Wort, das ich von ihr hörte. Nun ratet, was wir den Morgen darauf zugeschickt bekamen?

»Aber Hertha«, bat Manon, »du wirst doch nicht den Wert der Gaben berechnen wollen? Uns muß die Absicht, der gute Wille ebensoviel gelten, als die Gabe selbst!«

»Darin gebe ich dir vollkommen recht, liebe Manon!« fiel Sophie ein.

»Auch ich gebe ihr recht«, fuhr Hertha eifrig fort, »nur muß ich erst von der guten, freundlichen Absicht des Gebers überzeugt sein; dann mag die Gabe noch so winzig sein, sie ist willkommen. Wenn aber eine reiche Dame, wie Frau von T., unbrauchbaren Flitterstaat an schwer Bedürftige schickt, so erkenne ich darin nur Knickerei, und es geschieht solch einer Dame recht, wenn sie ausgelacht wird. Oder hältst du es für möglich, daß sie Frau Bärlich eine Wohlthat erweisen wollte, indem sie ihr ein altes rosa Florkleid zuschickte, einen fahlen seidenen Hut mit vergilbtem Schleier, ein Filettuch –.«

»Ich gebe ja zu, daß diese Sachen unbrauchbar sind«, fiel Manon ein, »aber höre mit ihrer Herzählung auf, ich bitte dich!«

»Gern, wenn du mit deiner Begeisterung für all den Edelsinn und die Großmut, die du überall gefunden, aufhören willst!«

»Die Hauptsache«, meinte Sophie, »bleibt, daß Frau Bärlich außer Nahrungssorgen ist und eine gutwillige Pflegerin für sich und die Großmutter bekommen hat.« Sie fügte, zu Hertha gewendet, hinzu: »Das wäre aber niemals zustande gekommen, ohne die wirkliche Mildthätigkeit einiger guten Menschen.«

»Und die scheinbare anderer!« schaltete Hertha ein. Aber kaum hatte sie es ausgesprochen, so verstummte und errötete sie vor einem bittenden, vorwurfsvollen Blick Sophiens.

»Apropos, ein Geschichtchen, Fräulein Hertha, hören Sie gütigst zu!« Natürlich war es der Geheimerat, der das Gespräch auf diese Weise unterbrach. Sein Geschichtchen lautete: »Es war einmal eine böse, streitsüchtige Frau, die von allem, was ihr Mann sagte, das Gegenteil behauptete. Einst, als er sich, wie schon oft, vergebens bemühte, sie zum Nachgeben zu bewegen, sagte er schmeichelnd: »Ich weiß ja, ich habe einen Engel zur Frau.« »Den Teufel hast du!« fuhr sie heftig heraus. Man will behaupten, daß sie aber plötzlich innegehalten und den Widerspruch zum erstenmal herzlich bereut habe.«

Hertha war ganz still und nachdenkend geworden, und der gute Geheimerat wünschte fast, seine Anekdote von der streitsüchtigen Frau nicht erzählt zu haben, denn er meinte alles Ernstes, Hertha habe sich die kleine Anzüglichkeit zu Gemüte gezogen. Er holte nun aus seiner Anekdotensammlung die harmlosesten und heitersten, um sie auf andere Gedanken zu bringen; aber Hertha blieb träumerisch und lächelte nur gezwungen. Sie konnte Sophiens Blick nicht vergessen. Was hatte er sagen wollen? Hatte sie einen Vorwurf verdient?

Später blätterte sie in einem Buche, in dem Sophie gelesen hatte. Diese deutete auf folgende Verse, welche angestrichen waren:

»Fordre nicht, um deinen Wunsch zu stillen,
        Eine andre Welt!
Besser ist sie, denn wofür dein Eigenwillen
        Nur zu oft sie hält.

Bist du heilig, bist du sonder Fehl und Mängel?
        Immer herzensrein?
Fordre denn auch nicht, daß andre hier schon Engel
        Der Vollendung sei'n!

Jeder wandle still und schlicht in dem Geleise
        Eigener Natur,
Sucht er recht – so findet er in jedem Kreise
        Gottes hehre Spur.«

Als Hertha von Sophien Abschied nahm, war sie weich und liebevoll. »Ich will jene Verse recht beherzigen!« sagte sie ernst.

»Wir wollen es beide thun, meine liebe, liebe Hertha«, entgegnete Sophie; »ich bin auch nicht so liebevoll und geduldig, wie ich sein sollte!«

»O Sophie, verlangst du Übermenschliches?«

»Nicht doch, nur menschlich Gutes! Komm morgen zu mir, ich möchte dich so gern einmal allein sprechen!«

»Ich komme, ich komme!« rief Hertha und drückte die Freundin an ihr laut pochendes Herz.

Hertha, die häufig so lieblos richtende Hertha, hatte trotz alledem ein außerordentlich warmes Gemüt, und wen sie einmal in ihr Herz geschlossen hatte, den liebte sie mit einer Art Begeisterung. Früher gehörten zu diesen Auserwählten der Professor und seine Frau, jetzt hatte sie auch Sophie dazu erhoben; mit ihr zusammen zu sein, war ihr das größte Vergnügen, das sie kannte.


Als die beiden Freundinnen sich nach jenem Abende wiedersahen, bemerkte Hertha sehr bald, daß Sophie etwas auf dem Herzen habe und nur noch nicht mit sich im klaren sei, wie sie es aussprechen solle.

Sie lächelte einigemal fast schelmisch, öffnete den Mund zum Sprechen, verstummte, kurz, sie war anders als sonst.

»Was hast du nur, Sophie? Dein Wesen schwankt heute zwischen Scherz und Ernst, und dabei bist du so geheimnisvoll!« sagte Hertha.

»Ich freue mich auf eine Überraschung, die du haben wirst.«

»Aber du nimmst sie mir ja, indem du mich vorbereitest!«

»Nein, nein, du wirst dennoch überrascht sein! Erinnerst du dich wohl, meine große Philosophin, wem du gestern kurzweg das Herz absprachst?«

»Der Frau von W.«

»Und weshalb?«

»Weil – weil ihr Wesen keins verriet.«

»Ich erinnere mich, dich beleidigte ihr: so, was Sie sagen, wohl nicht möglich! – war's nicht so?«

»Ja, doch wohin soll das?«

»Es soll das meine liebe Hertha zum Besseren bekehren, es soll – doch höre: Frau Bärlich hatte sich heute herführen lassen, saß lange an meinem Bett und sprach gerührt von ihrer verbesserten Lage, von den braven Menschen, die ihr aufgeholfen haben. Wenn ich nur wüßte, wem ich mein Glück danke, wie meine Wohlthäter heißen? Früher dankte ich alles nur einer edlen, großmütigen Frau, fuhr sie wie im Selbstgespräche fort; hätten diese nicht Reisen lange entfernt gehalten, so wäre es nimmer bis zum Äußersten mit mir gekommen, denn sie würde mir geholfen haben, wie sie die Mutter aller Armen ist.«

»Von wem sprechen Sie?« fragte ich.

»Von Frau von W. O eine bessere, wohlmeinendere Seele giebt es auf der ganzen Welt nicht! Worte macht sie nicht viel, aber desto mehr thut sie: das Fräulein scheinen sie nicht zu kennen?«

»Ich kenne nur Frau von W., die Schwester der Majorin von T.«

»Eben diese ist ja meine liebe Wohlthäterin, der Gott es tausendfach vergelten mag, was sie alle die Jahre an mir gethan hat, seit meine Augen zu leiden anfingen. Wäre es nach ihrem Willen gegangen, so hätte ich die ganze Näherei schon früher aufgegeben und nur von ihren Wohlthaten gelebt. Aber dagegen sträubte ich mich; ich wollte arbeiten und verdienen, solange es irgend ging. Wußte ich doch nur zu gewiß, daß mir eine Zukunft bevorstand, in der ich nichts mehr würde thun können. Aber von Zeit zu Zeit kam Frau von W., sich nach unserem Ergehen zu erkundigen, und brachte dann mit, was not that und Freude machte. Gerade bei ihrem letzten Besuche – einige Tage vor ihrer Abreise – fiel mein kleiner Junge die Treppe hinunter und brach sich den Arm. O wie herzlich und teilnehmend war sie auch da! Sie lief nach dem Arzte und blieb die halbe Nacht an dem Bettchen des Kleinen, tröstete und beruhigte mich und suchte durch freundliches sanftes Zureden seine Klagen zu stillen. Nach ihrer Abreise brachte mir das Stubenmädchen noch einen ganzen Korb voll Eßwaren, über die ich mich natürlich sehr freute, aber nichts beglückte mich so sehr als ein Glas voll Gelee, das die gnädige Frau ausdrücklich für meinen Adolf bestimmt hatte, denn es stand darauf geschrieben: »Für den kleinen Kranken zur Kühlung.« Eine so vornehme Dame und denkt an solch ein armes Würmchen! Aber ein so gutes Herz giebt es auch selten! Glauben Sie wohl, Fräulein Sophie, daß sie, diese vornehme, reiche Dame, weinte, als sie durch die beiden jungen Damen, die sich – Gott lohne es ihnen! – so barmherzig an mir bewiesen haben, erfuhr, welch ein Unglück mich betroffen hatte? Kaum waren die beiden Fräulein fort, so kam sie zu mir, ganz erhitzt vom schnellen Gange, und sagte: sie habe keine ruhige Minute, als bis sie gut gemacht, was sie versäumt habe. Ich wollte ihr danken, aber sie verbat es sich ernstlich und meinte, ich hätte für nichts zu danken, sie aber könne es sich niemals vergeben, mich so außer acht gelassen zu haben, daran sei die Reise schuld und ihre vielen Erlebnisse. Noch ehe ich das Geld erhielt, welches für mich gesammelt worden, schickte mir Frau von W., was ich für den Augenblick brauchte, und seitdem ist mir eine lebenslängliche Pension von hundert Thalern durch sie zugesichert worden. Dabei bin ich nicht die einzige, die sie so reichlich unterstützt, aber ich sag's und werd' es immer sagen: das ist ein Herz, wie die Engel Gottes es haben mögen.«

So hatte Frau Bärlich geschlossen, Sophie setzte kein Wörtchen hinzu, blickte nur forschend in Herthas offenes Auge, das heller strahlte als je.

»O wie schön das ist!« sagte Hertha jetzt und drückte aufrichtig erfreut der Erzählerin Hand. »Ich bitte Frau von W. im Herzen ab, sie so falsch beurteilt zu haben. Gewiß, ich bereue es und werde künftig vorsichtiger urteilen!«

»Nur vorsichtiger?« fragte Sophie.

Hertha wollte mit vollem, warmem Gefühl darauf antworten, als sie von Frau von Dalloch unterbrochen wurde, die jetzt hereintrat. Sie war bei der gestrigen Unterhaltung nur eine stumme Zuhörerin gewesen.

»Hat Sophie Ihnen gesagt, was wir von Frau von W. in Erfahrung gebracht?« fragte sie mit der ihr eigenen scharfen Betonung.

Hertha bejahte.

»Ich hoffe«, fuhr sie im Lehrton fort, »vorstehender Fall wird Ihnen den Beweis liefern, wie leicht man sich in der Beurteilung anderer irren kann. Hüten Sie sich daher, meine Liebe, eilfertige Schlüsse zu machen und bald diesem den gesunden Menschenverstand, bald jenem das gesunde Herz abzusprechen. Sie sind noch gar nicht in dem Alter, dem überhaupt ein solches Urteil zusteht! Verzeihen Sie meine Offenheit; ich habe Sie viel zu lieb, um Ihnen nicht gern einen Rat auf Ihren Lebensweg mitzugeben!«

Mit diesem versüßenden Schlußworte, das sie fast immer ihren Rat-, Warnungs- und Ermahnungs-Erteilungen hinzufügte, verließ die Geheimerätin wieder Sophiens Zimmer.

»Ach«, sagte Hertha nach einer Pause, »könnte ich die Menschen noch wie früher lieben! Weshalb mußte ich das schöne Vertrauen verlieren, das ich sonst in sie setzte!« »Was bewirkte diese Veränderung in dir?« fragte Sophie teilnehmend.

Hertha errötete tief, als sie mit bebender Stimme antwortete: »Vielleicht trägt mein heftiges Wesen einen großen Teil der Schuld. Ich glaube es, ohne es mir klar machen zu können. Das aber weiß ich gewiß, wäre Manon immer ganz wahr, sowohl gegen sich selbst als gegen andere, es würde niemals so weit mit mir gekommen sein. Daß sie es nicht verschmäht, ihre natürliche Anmut als Mittel zu ihren Zwecken – oft nicht einmal lobenswerte – zu gebrauchen, machte mich zuerst mißtrauisch. Nun kam ihr unbegrenztes Loben der alltäglichsten Alltäglichkeiten: das reizte mich zum Tadel; ich wurde zurückgesetzt, verkannt, das erbitterte mich vollends. Glaube mir, es thut recht wehe, so wenig geliebt zu sein!«

Sophie umarmte die Freundin, und Hertha verstand diese Zusicherung ihrer eigenen Liebe. »Was die Mehrzahl unserer Bekannten betrifft«, sagte Sophie, »so hast du recht; sie lieben dich weniger, als sie deinen Scharfsinn und deine Kritik fürchten. Aber erkennt meine Hertha darin nicht die überall waltende weise Gerechtigkeit? So unnachsichtlich man selbst beurteilt, ebenso unnachsichtlich wird man wieder beurteilt.«

»Sei du milde gegen mich, Sophie!« entgegnete Hertha ausweichend. »Dich liebe ich um so mehr, weil ich nur wenige Menschen liebe. Dabei wird es immer bleiben: Wenige, aber diese mit ganzer Seele!«

»Und das sagst du so ohne Scheu? Kannst du, darfst du es dir erlauben, nur wenige Menschen lieben zu wollen

»Ich gestehe, ich sehe kein Unrecht darin, einen Unterschied zwischen edlen und unedlen Menschen zu machen.«

»Kannst du immer mit Sicherheit sagen: Dieser ist ein edler, jener ein unedler Mensch?«

»Das kann ich freilich nicht«, sagte Hertha lächelnd. »Frau von W. ist ein redendes Beispiel.«

»Gesetzt auch, du könntest es, selbst dann dürftest du niemand deiner Liebe unwert erklären. Liebt Gott nicht alle seine Kinder, die hohen und geehrten wie die niedrigen und verachteten, die starken wie die schwachen? – Wir aber, die wir vollkommen werden sollen wie der Vater im Himmel, müssen zuerst nach solcher Gottesliebe, als des Gesetzes Erfüllung streben. Wir müssen ein offenes Herz und eine hilfreiche Hand für jeden haben. Den Liebenswürdigen zu lieben, fällt niemand schwer und ist nicht Tugend; aber Gerechtigkeit, Wohlwollen auch für den Fehlenden, das ist's, wonach wir unausgesetzt streben müssen.«

Eine große Thräne stand in Herthas schönem Auge, als sie klagend ausrief: »Mir scheint, du verlangst das Unmögliche! Ich habe es oft gefühlt, daß jede warme Regung in mir zu Eis wurde, wenn ich der Eitelkeit und Selbstsucht oder ähnlichen Fehlern begegnete.«

Sophie erwiderte: »Auch ich habe Ähnliches in mir empfunden, aber dann fing ich an, mich selbst zu prüfen, und fand oft den Keim jener verachteten Schwächen in meiner eigenen Brust wieder. Andere Verhältnisse, eine glücklichere Erziehung hätten ihn vielleicht nicht zur Entwicklung kommen lassen; dagegen war ein anderes ebenso tadelnswertes Etwas in mir emporgewachsen, das mit der Wurzel auszurotten meine Aufgabe war – ist! Zweifelst du noch, meine Hertha, daß man nach solchen Betrachtungen demütiger und nachsichtiger wird? Glaube mir, ein tiefer Blick ins eigene Herz muß milde und versöhnlich machen; man findet zuletzt weder Ton noch Wort zu schnödem Tadel.«

Mit der innigsten Umarmung schied Hertha von Sophien. Was dankte sie nicht schon alles diesem vortrefflichen Mädchen! Zuerst war sie ihr eine Freundin und dann eine liebreiche Lehrerin geworden.

Ehe sie sich zur Ruhe legte, schrieb sie in ihr Tagebuch: »Die Liebe ist langmütig und freundlich, die Liebe eifert nicht und läßt sich nicht erbittern. Die Liebe trägt alles, hofft alles, duldet alles. Die Liebe decket auch der Sünden Menge zu

»Gute Nacht, liebe Manon!« sagte sie bald darauf zu ihrer Schwester, und das sagte sie mit so herzlichem Tone, mit so freundlicher Miene, daß Manon aus lauter Verwunderung darüber mit einem ganz zerstreuten »Gute Nacht!« dankte.


Sophie lernte durch Herthas Mitteilungen ihren Schwager mehr kennen und lieben und erfreute sich stets daran, wenn Hertha mit begeisterter Verehrung von ihren teuern Walthers sprach. Sophie hing mit großer Liebe an ihrer Schwester, und es betrübte sie oft tief, daß sie durch Entfernung, mehr noch durch die Verhältnisse, von dieser vielgeliebten Schwester getrennt war. Durch Herthas Mitteilungen angeregt, schrieb sie jetzt fleißiger, denn je, und lief eine Antwort ein, so begrüßte sie dieselbe mit lebhafterer Freude. Aus einem Briefe der Professorin teilen wir folgendes mit:

»Meine Seele genießt mit heißem Dank all das unverdiente Glück, das mir zu teil geworden. Mein edler, herrlicher Mann ist die Güte und Liebe selbst, und wenn ich im Guten fortgeschritten bin, wenn die mir von Gott gegebenen Anlagen entwickelt wurden, so danke ich es ihm. Sein Beispiel wirkt gleich der Sonne, die jede Knospe hervorruft und zur Blüte kräftigt. Alles, was ich fühle und thue, fühle und thue ich für ihn oder durch ihn; mir ist, als wäre ich geistig tot, wenn ich von ihm getrennt bin. Schon bevor ich meinen lieben, kleinen herzigen Otto besaß, erschien mir mein Leben reich und schön; aber seitdem mir Gott dies Kind gegeben, will es mir oft scheinen, daß mein Glück zu groß ist, da ich doch nichts, gar nichts gethan, um es zu verdienen. Ich möchte alle Menschen beglücken können: wenigstens liebe ich sie alle: die Guten, weil sie liebenswert sind, die Fehlenden aus Mitleid.

Ihnen ward der Führer versagt, der mir alles Schwere leicht zu machen weiß. – Walther hält meine Weichheit für Körperschwäche und bittet mich besorgt, mich recht zu pflegen. Er begreift es nicht, wie jemand zu Mute ist, der ohne alle Verdienste immer und immer empfängt. Otto soll nicht allein bleiben, Gott will mir ein zweites Kind schenken. Ein neuer Segen! Begreifst du es wohl, meine geliebte Schwester, daß ich der Zukunft mit etwas Sorge entgegengehe –? ich Kleinmüthige! Doch genug von mir. Mit aufrichtiger, inniger Freude lese ich aus deinen Briefen, daß du meine vortreffliche Hertha mit ihrem warmen, schönen Herzen richtig erkannt hast. Befreie dies weiche Herz von seiner starren Hülle, lehre es Worte finden, damit es nicht so oft unverstanden bleibt. Hertha schämt sich jeder Gefühlsäußerung, selbst Blick und Händedruck darf selten ihr Gefühl verraten. Sage ihr, daß Gott allein uns ohne äußeres Zeichen verstehe, daß wir Menschen aber zum Verständnis der Mitteilung bedürfen. Sie möge nicht kargen mit den Zeichen, die ihre Liebe, ihr Mitgefühl bekunden. Laß sie nicht hochmütig anders sein wollen, als die andern Menschen; auch ihr thut ein Liebesblick wohl, auch sie wird durch ein warmes Wort, das aus dem Herzen kommt, beglückt; warum will sie den Menschen stolz entziehen, was sie selbst, wie du mir schreibst, oft schmerzlich entbehrt? Herthas Weggehen von hier war der einzige Verlust, den ich seit Jahren erlitt. Selbst mein Walther empfand ihn. Als sie noch hier war, sagte er oft zu mir: »Mathilde, du mußt Hertha die Menschen lieben lehren, das stolze Kind besitzt viele herrliche Eigenschaften, aber ihm fehlt Nachsicht und Geduld. Du, meine Mathilde, kannst dazu beitragen, daß Hertha sich auch diese mehr zu eigen macht. Dann erst kann aus dem rauhen Kinde ein vollkommen liebenswürdiges Mädchen werden.« Mein Herz schlug hoch auf, wenn mein Mann so sprach, und weil er mir die Fähigkeit, auf dies reich begabte Wesen einzuwirken, zutraute, so gab mir das Mut und Selbstvertrauen, und ich sah im voraus mein Werk gelingen. Da erfolgte unsere Trennung, und mein Wirken blieb nur ein erträumtes. Aber meine Liebe für Hertha ist unverändert, und ich rufe dir aus der Tiefe meines Herzens zu: Vollende du, meine Sophie, was ich kaum begonnen. Lehre Hertha nachsichtig, geduldig sein, wo sie tadeln muß. Bedauert sie doch Menschen mit angeborenen körperlichen Fehlern und zürnt ihnen nicht wegen derselben, wie viel mehr Mitleid und Geduld sollte man mit den armen geistig gebrechlichen Menschen haben, die zehnfach unglücklicher sind, als die ersteren! Wir sollen Gott ähnlich werden, der seine Sonne über alle Menschen scheinen läßt! Wohlan denn: dann dürfen wir auch niemand von unserem Herzen weisen, der sich uns naht, und je hilfsbedürftiger er ist, desto mehr hat er Anspruch auf unsre Liebe und Teilnahme. Sage ihr das alles und auch, daß ich sie innig liebe und immer lieben werde, selbst wenn sie hartnäckig wäre und ihr mürrisches, unfreundliches Wesen beibehielte! Walther sagte heute: »Einem Wesen wie Hertha müsse alles gelingen, wonach sie ernstlich strebte.« Grüße sie von uns beiden. Otto würde gewiß die Händchen nach ihr ausstrecken und ihr zulächeln wie sonst, als wir sie hier halten.«


Sophie las den Brief ihrer Schwester mit der größten Freude, und hätte sie, die so reicher Empfindungen und so tiefer Bescheidenheit fähig war, am liebsten an ihre Brust gedrückt, hätte ihr gern zugerufen: Genieße vertrauend dein Glück, denn du verdienst das reichste, schönste!

Daß sie der Schwester Wunsch schon teilweise erfüllt hatte, ehe sie ihn gekannt, beglückte sie ebenso und bestärkte sie in ihrem Vorsatze, Hertha die treueste Sorgfalt zu widmen und deren Veredlung wie die eigene nie aus den Augen zu lassen. Als sie das nächste Mal sich mit Hertha allein sah, gab sie ihr den Brief der Schwester. Hertha war bei seiner Durchlesung sehr bewegt, was sich durch den raschen Wechsel ihrer Farbe kundgab; auch rang sich, als sie zum Schlusse kam, ein tiefer Seufzer aus ihrer Brust empor. Sie ließ den Brief auf ihren Schoß fallen und blickte lange in tiefen Gedanken vor sich hin. Sophie überließ sie einige Zeit ihrer Empfindung; dann sagte sie liebevoll: »Komm näher zu mir, meine Hertha, mein Herz sehnt sich nach dir.« Hertha eilte zum Sofa, auf welchem Sophie lag, kniete nieder und verbarg weinend ihr Gesicht in die Kissen. Ihre Seele war stürmisch bewegt, und Sophiens liebevolle Worte verhallten diesmal ungehört oder unverstanden. Dieser bangte ordentlich vor dem, was sie durch ihre Mitteilungen angerichtet; da erhob sich endlich Hertha und sagte ernst, fast feierlich: »Laß mir den Brief diese Nacht, liebe Sophie, ich muß seinen Inhalt ganz begreifen, ehe ich nach ihm zu leben versuche.« – Sophie gewährte gern die Bitte. – »So lebe für heute wohl«, sagte Hertha, »ich muß allein mit mir sein!« Sie eilte davon.

Mehrere Tage vergingen, ohne daß Sophie ihre liebe Freundin wiedersah; am zweiten Tage erhielt sie der Schwester Brief, wohl versiegelt und von Hertha an sie adressiert, zurück. Diese selbst kam nicht. Hertha mußte erst mit sich ins reine kommen; die stürmischen Gefühle in ihrer Brust mußten zur Ruhe gebracht werden, ehe sie die Freundin aufsuchte und zu ihr sagte: hier hast du mich wieder, ich bin stärker und besser, als zuvor. Den Teil des Briefes, der sie betraf, hatte sie abgeschrieben und so oft gelesen, bis sie jedes Wort auswendig wußte. Aber selbst danach nahm sie das bedeutungsvolle Blatt wieder vor und vertiefte sich in dessen Inhalt. Ob dieser Brief ihr augenblicklich mehr wohl als wehe that, wäre schwer zu entscheiden. Es schmerzte sie das Erkennen, wie wenig liebenswürdig sie den geliebtesten Menschen erschienen war; sie hatte das nie vorher gewußt, und es beseligte sie auf der andern Seite das Vertrauen, das Walther und seine Frau in sie setzten, und eine heiße Sehnsucht, dies Vertrauen zu rechtfertigen, kam über sie. Sie ging am Tage wie eine Träumende umher, aber sie hörte freundlich zu, wo sie sich sonst teilnahmlos abgewendet hätte. Abends zog sie sich früh auf ihr Zimmer zurück, denn was sie im Umgänge mit den andern nur unklar empfunden, das mußte in der Einsamkeit zum klaren Gedanken werden. Spät schlief sie ein, und auch im Schlummer verließ sie das Bewußtsein des Erlebten nicht ganz, denn man hörte sie während ihres unruhigen Schlafes häufig die Worte rufen: »Liebe und Geduld!« – Sie erwachte, von der eigenen Stimme erweckt, und fühlte die heißen Thränen, die ihr Gesicht benetzten. Dann preßte sie die Hände auf das Herz, in dem sich so viel bewegte, und ihr Wachen war eine Fortsetzung ihres Traums, wie dieser das Ergebnis des ersteren. Wer hat je dies rätselhafte Doppelleben zu deuten gewußt!

So viel können wir versichern, Hertha wurde allmählich eine andere; der empfangene Eindruck war kein flüchtiger, sondern ein tief eingeprägter, bleibender. Das zeigte ihr Benehmen gegen die Großmutter, gegen Manon, das zeigte selbst ihr verändertes Benehmen gegen die Leute im Hause, denen sie sonst keine freundliche junge Gebieterin gewesen, weil sie das eine Dienstmädchen für unwahr und falsch hielt und weil das andere sie oft verletzte, indem es Hertha wie einen fremden Eindringling betrachtete und ihr wenig Aufmerksamkeit zu teil werden ließ. Hertha hatte eine Weihe empfangen, wie wir sie jedem Mädchen am Tage ihrer Einsegnung wünschen möchten.

Als sie zum erstenmal wieder zu Sophien kam, schien es dieser, als wäre das Gesicht ihrer Freundin schöner geworden. Das Auge hatte einen sanfteren Ausdruck bekommen, es blickte nicht mehr so durchdringend umher, und jede Linie des wunderbar schönen Antlitzes erschien weicher und milder als sonst. Aus dieser Wahrnehmung, mehr noch als aus Herthas kurzem Geständnis entnahm Sophie den gewaltigen Eindruck, den der Schwester Brief auf sie gemacht hatte. Auch hörte sie mit lebhafter Freude, daß die Großmutter und Manon die günstige Veränderung rühmten, die mit Hertha vorgegangen war. Sie teilte die frohe Botschaft derjenigen mit, deren Wort ein so segensreiches gewesen, und erhielt auch bald darauf eine Antwort. Mathilde war nicht stolz auf ihr Verdienst, sondern äußerte nur ihre Freude und ihren Dank; – Hertha war ihrem Herzen, wenn es möglich ist, noch teurer geworden.

Dies liebe Herz mochte wohl zu weich für seinen stürmischen Schlag sein, es stand plötzlich still, und die im Leben alle erfreut hatte, welche sich ihr nahten, betrübte durch ihr frühes Scheiden auf das allerschmerzlichste. Bald nach dem oben erwähnten Briefe erhielt Sophie ein kurzes Schreiben von ihrem Schwager. Mathilde hatte ihn mit einer Tochter beschenkt und war wenige Stunden darauf sanft und schmerzlos entschlafen. Diese Trauerbotschaft erschütterte natürlich die ganze Familie, sie kam wie ein Blitz aus heiteren Höhen, so jäh und unerwartet. Der Geheimerat ließ sich einige Tage von niemand sehen, er vermied selbst Sophie, welche seinen gerechten Schmerz doch am ersten begriffen hätte, weil auch ihre Seele tief, tief getroffen war. Nach Verlauf dieser Zeit stürzte er sich in einen Strudel von Zerstreuungen; er versuchte vielleicht auf diese Art den schmerzlichen Eindruck los zu werden. Sophie suchte und fand nur bei einer die volle Teilnahme, deren sie bedurfte, nur mit dieser einen, mit ihrer Hertha, sprach sie von der geliebten Toten und beweinte ihr allzufrühes Scheiden.

»Warum gerade jetzt, jetzt, da ich sie erst recht kennen und lieben gelernt habe?« klagte sie. »Hätte ich sie nur noch einmal gesehen, um mir ihr Bild tief einprägen zu können für das lange Leben, in dem sie mir fehlen soll!«

Hertha schwieg über ihre Empfindungen, aber auch ihr war zu Mute, als wäre ihr das Teuerste auf Erden geraubt. Sie hielt sich jetzt noch lieber als sonst bei Sophien auf, denn sie hatte einen Platz auszufüllen, den niemand gleich ihr auszufüllen verstand. Sophie war durch den Gram leidender geworden, der Schlaf floh sie, und um ihre langen, schmerzvollen Nächte etwas zu kürzen, hatte sie viel gelesen, und ihren Augen so geschadet, daß sie alles Lesen einstellen mußte; sie nahm es aber mit herzlichem Dank an, als ihr treues Mädchen Luise sich erbot, ihr einen Teil der Nacht vorzulesen. Ein-, zweimal geschah es auch; aber dann wollte Sophie es nicht mehr dulden, und Luise wurde zu Bette geschickt. Das erfuhr Hertha, und kam nun, ohne Wissen ihrer Großmutter, einen Abend um den andern, von einem Dienstmädchen begleitet, zu Sophien, las ihr entweder bis zwei oder drei Uhr vor, oder zerstreute die von heftigen Schmerzen Gequälte durch freundlichen Zuspruch. Gegen Morgen ruhte sie dann einige Stunden auf dem Sofa und kehrte, von Luisen begleitet, früh genug zurück, um mit der Großmutter zu frühstücken. Sie hätte gern diese Heimlichkeit vermieden, aber die Großmutter willigte überhaupt nur mit Widerstreben darein, daß sie Sophie so oft besuchte, und erklärte, daß Hertha aus der Krankenstube eine bleichere Farbe mitbringe. Nimmer hätte sie zu den Nachtwachen ihre Einwilligung gegeben. Das sah Hertha mit Bestimmtheit voraus und that, was ihr das Herz gebot, ohne zu fragen. Aber um die verletzte Pflicht der Enkelin gegen die Großmutter in etwas zu sühnen, bemühte sie sich, zu Hause immer aufmerksamer, dienstfertiger und liebevoller zu sein, und ihr Bemühen erwarb ihr die völlige Zufriedenheit der Großmutter.

Dem Geheimerat Dalloch und seiner Familie ganz unerwartet, stand eines Tages ein dicht geschlossener, großer Reisewagen vor dem Hause, und heraus stieg der Professor Walther, Otto auf dem Arm, und von einer Amme begleitet, welche die kleine Mathilde wohl verwahrt in Kissen trug. Er hatte diese Reise unternommen, um sich durch den Augenschein zu überzeugen, wie es mit seiner Schwägerin Sophie stehe, ob sie körperlich stark genug und Willens sei, ihm seine teuersten Schätze, seine Kinder, für die Zeit abzunehmen, während welcher sie einer sorgsamen weiblichen Pflege bedürftig waren. Ihm fiel die mögliche Trennung unsäglich schwer, besonders von Otto, der seine einzige Aufheiterung ausmachte; aber er kannte keine Frau, welche er zu der Pflege der Kinder hätte in sein Haus aufnehmen, keine, der er seine Kinder so unbedingt hätte anvertrauen mögen. Seiner Schwägerin traute er die Liebe und Sorgfalt zu, mit der er die Kinder behandelt zu wissen wünschte. Aus ihren Briefen an seine verstorbene Mathilde hatte er sie innig hochschätzen gelernt, und er glaubte aus einer Äußerung seiner Frau, die sie bei einer plötzlichen Todesahnung gethan, entnehmen zu müssen, daß sie eine ähnliche Anordnung gewünscht. Von seinem Schwiegervater wurde er mit wirklicher Herzlichkeit empfangen, von der Geheimerätin mit mehr erzwungener; sie erriet, nicht ohne ängstliche Sorge, den möglichen Zweck seines Besuchs und wog schnell das Für und Wider ab. Sophie hatte bei dem Anblick des heißgeliebten Gatten ihrer Schwester nur Thränen. Es bedurfte nicht des schwarzen Krepps um seinen Arm, um in ihm einen tief Trauernden zu erkennen, als er, Otto an der Hand führend und Mathilde im Arm, in ihr Zimmer trat. Auch sie erriet augenblicklich, was dieser Besuch für eine Bedeutung habe, und breitete ihre Arme mit der wärmsten Empfindung den Kindern entgegen, die man an ihr Herz legen wollte. Das kleine Mädchen ward neben sie gebettet, Otto aber eroberte sich schnell den Platz auf ihrem Schoße. Der liebliche Knabe schaute sie mit sinnigem Blick an, sein Gesichtchen erhielt einen immer liebevolleren Ausdruck. Plötzlich schlang er seine Ärmchen fest um ihren Hals und rief: »Du bist Mamas Schwester, ich weiß es!« Für alle Umstehenden war das eine ergreifende Scene. Der Knabe gewahrte unfehlbar die große Ähnlichkeit, die zwischen Sophien und seiner Mutter stattfand, und sein kleines Herz zitterte zum erstenmal vor Rührung. Nach einigen Stunden des Beisammenseins trennte man sich; der Professor ließ sich sein Zimmer anweisen, um nach dem an Gemütsbewegungen so reichen Tage die Stille der Einsamkeit zu genießen. Sophie blieb mit den Kindern allein. Gegen Abend kam Hertha, nichts ahnend von dem Vorgefallenen. Aber als sie neben dem Bette ihrer Freundin den schlafenden Otto erblickte und im Nebenkabinett die fremde Frau mit dem jüngsten Kinde sah, erriet ihr Herz, wem diese Kleinen gehörten, und sie brach nicht in Worte, doch in Thränen aus. Sie ging von dem Bettchen zur Wiege, von der Wiege zum Bettchen, und bog sich küssend und schluchzend bald über dieses, bald über jene. Erst sehr spät fand sie Ruhe genug, um sich von Sophien alles erzählen zu lassen.

»Walther will mir die Kinder anvertrauen«, sagte diese und sah dabei ganz verklärt aus. »Fühlst du wohl, Hertha, wie mich das beglückt?« – »Ja, ich fühle das!« erwiderte diese warm und fest und drückte Sophiens Hand an ihre Brust.

»Die Eltern, willigen darein, die Kinder hier zu behalten«, fuhr diese fort; »Luise wird meinen schwachen Kräften zu Hilfe kommen, und mit meinem Herzen und mit meinen Augen will ich sie bewachen und hüten. O, sie sollen es gut bei mir haben! Und du, meine Hertha, wirst mir beistehen, wenn mir ja einmal die Kräfte fehlen sollten, nicht wahr?«

»O immer, immer!« rief Hertha mit feierlicher Stimme und faltete die Hände wie zum Gebet.

»Wie schön, wie glücklich trifft es sich«, fuhr Sophie fort, »daß wir diesmal von meinem Kranksein wenig gesprochen haben! Sie würden mir nichts zutrauen, wüßten sie, was ich durchgemacht. Und ich weiß gewiß, Gott wird mir Kräfte geben, nun ich sie brauche; ich selbst ich werde mich zusammenraffen und dem Gram nicht mehr gestatten, meine Gesundheit aufzureiben. Mathilde wird sich im Himmel darüber freuen, wenn ich statt der vielen heißen Thränen, die ich um sie geweint, jetzt ein heiteres Lächeln für ihre Kinder haben werde. Was man mit Liebe und im Vertrauen auf Gottes Beistand anfängt, das kann nicht fehlschlagen!«

Hertha erinnerte endlich Sophie, daß es schon sehr spät sei, und bat sie, die Ruhe aufzusuchen. Wirklich gelang es ihr, sie in den Schlaf zu lesen, der ein fester, erquickender wurde. Am frühen Morgen schickte Sophie verabredetermaßen zu Frau von Beier, ließ ihr sagen, wer angekommen, und erbat sich Hertha für den Vormittag. Frau von Beier empfing die Botschaft, bevor sie aufgestanden war, und Hertha durfte das Haus verlassen, ehe sie die Großmutter selbst gesprochen, was sie diesmal in die Notwendigkeit gesetzt haben würde, ihren nächtlichen Besuch zu verraten. Sie hatte die große Freude, bei Ottos Erwachen gegenwärtig zu sein; ihre Liebe und Zärtlichkeit ward auch sofort von dem lieblichen, gemütvollen Knaben erwidert. Er ließ sich von der neuen Freundin – denn unmöglich konnte man bei ihm die Erinnerung an Hertha voraussetzen – ankleiden und empfing aus ihren Händen sein Frühstück, als wäre er es nie anders gewöhnt gewesen.

Als Hertha des Professors Schritte vernahm, floh sie in das Kabinett; ihr Herz wollte vor Wehmut zerspringen, und sie gedachte sich erst zu sammeln, ehe sie vor dem Manne erschien, den sie über alles hochhielt, und der ihr jetzt in seinem Schmerz noch größer, noch verehrungswürdiger vorkam. Sie kniete an Mathildens Wiege nieder und wollte sich durch den Anblick des schlafenden Kindes zerstreuen, aber so aufrichtig sie auch danach rang, ihre große Gemütsaufregung zu bemeistern, es wollte ihr diesmal nicht gelingen. Der Ton der bekannten, lieben Stimme drang an ihr Ohr, sie hörte des Professors schmerzliche Äußerungen über seinen Verlust, sie hörte, wie er Otto begrüßte und leise sagte: »Auch dich, mein liebes, teures Kind, soll ich jetzt lassen, o es wird sehr öde sein um mich her!« – Hertha drückte ihr Gesicht in die Kissen und weinte heftig. Sophie hatte mit ihrem Schwager schon gestern viel von ihr gesprochen; heute erzählte sie von der zärtlichen Freundschaft, die schon zwischen Hertha und Otto bestand, und forderte letzteren auf, sie zu rufen. Otto lief in das Kabinett und rief schelmisch lachend: »Hertha schläft in der Wiege – ach nein«, fügte er gleich darauf kleinlaut hinzu, »sie weint!« Der Professor war ihm gefolgt, er kannte die Heftigkeit ihrer Empfindungsweise von früher her und begriff jetzt schnell, was sie in diesem Augenblick erregt hatte. Mit mildem Ernst in seinen Zügen näherte er sich ihr und legte seine Hand aus ihr Haupt: »Fasse dich Hertha!« sagte er liebreich. – »Ich will ja gern!« antwortete sie noch in Thränen und küßte knieend seine Hand. Sie folgte ihm zu Sophien, und während diese beiden die Angelegenheiten besprachen, die ihnen zunächst am Herzen lagen, beschäftigte sie Otto, damit er nicht störe. Gegen Mittag mußte sie nach Hause, Walther dankte ihr für die Liebe, die sie für seine Kinder an den Tag legte, und sagte ihr lebewohl; er wollte am folgenden Morgen seine Rückreise antreten. Wirklich sah Hertha Sophie und die Kinder erst wieder, als der schmerzliche Abschied überstanden war.


Je fester die Bande sich knüpften, welche Sophie und Hertha aneinander fesselten, um so schwächer wurde die Zuneigung, die Manon früher für erstere gehabt. Es war ihr unbehaglich, Hertha nachzustehen, und sie fühlte es nur zu deutlich, daß die achtungsvolle Liebe, die man derselben im Dalloch'schen Hause bezeugte, den Liebkosungen vorzuziehen sei, welche sie empfing. Nelly allein blieb für sie ganz die alte, das heißt, Nelly allein zog noch immer Manon der ernsten Hertha vor. Dankbar erkannte Manon dies und erklärte, weniger als je ohne diese teure Freundin leben zu können; nur sah sie es lieber, wenn Nelly zu ihr kam; sie gehörten sich da ungestörter, Manon durfte sich dann auch nicht von der geliebten Großmutter trennen. O, wie rührte dieser Ausspruch die alte Dame! Sie selbst wurde jetzt die Fürsprecherin bei Nellys Eltern, ja, um Nelly die Erlaubnis auszuwirken, täglich zu Manon zu kommen, gestattete Frau von Beier nicht nur, daß Hertha ebenso oft Sophien Gesellschaft leistete, sondern sie willigte sogar darein, daß dieselbe in außergewöhnlichen Fällen die Nacht bei der Freundin bliebe. Sophie bedurfte in der That bei den übernommenen Pflichten Herthas Hilfe, und diese freute sich des beseligenden Gefühls, sie ihr leisten zu können. Von jetzt ab widmete sie ihr und den Kindern regelmäßig einen Teil jedes Tages und erfüllte mit dem Eifer, den nur die Liebe allein zu geben imstande ist, die übernommenen Pflichten.

Manon, Hertha und Nelly besuchten in dieser Zeit die Konfirmanden-Stunden, alle drei sollten bei demselben Prediger, an demselben Tage eingesegnet werden. Hertha war mit voller Seele bei den Stunden, aber was die schriftlichen Ausarbeitungen betraf, so erwarben sich diejenigen ihrer Schwester und Nellys den bei weitem größeren Beifall ihres Lehrers. Er konnte nicht wissen, daß Hertha meistens gedrängt von sich kreuzenden Pflichten schrieb, denn auch im Hause ihrer Großmutter hatte sie deren mannigfaltige; sie war nach und nach die Ordnerin und Leiterin der ganzen Wirtschaft geworden. Manon dagegen und Nelly arbeiteten stets bei völliger Muße; sie hatten buchstäblich nichts anderes zu thun, und, gespornt von dem empfangenen Lobe, hielten sie es für kein großes Unrecht, dies oder jenes Buch bei ihren Arbeiten zu benutzen. Was bei Hertha ganz allein Sache des Herzens und Gemüts war, wurde für sie ein Gegenstand des Ehrgeizes und der Eitelkeit. Hertha bemerkte dies nicht, denn seitdem sie ihre Zeit und ihre Gedanken so nützlich anwendete, hörte sie auf, andere so genau wie früher zu beobachten. Die Einsegnung war schön und wahrhaft feierlich. Hertha, bleich wie ein Marmorbild, sprach ihr Gelübde mit fester Stimme aus; fast schien es ihr, als spräche sie es zum zweitenmal in ihrem Leben, als habe sie schon einen Tag der Weihe gehabt: damals, als sie das Gebot der Liebe tief in ihr Herz aufgenommen. – Manchen der Anwesenden wollte Herthas ruhige Haltung inmitten der andern jungen Mädchen, deren tiefe Rührung und Andacht sich in Thränen äußerte, wie Kälte erscheinen. O hätten sie in ihr Herz blicken können!

Niemand verstand dieses warme Herz besser, als der kleine Otto; niemand erwiderte dessen aufopfernde Liebe mit größerer Hingebung. Er jauchzte vor Freuden, wenn Hertha erschien, wich keinen Augenblick von ihrer Seite, und mußte sie endlich fort, dann schied er von ihr, nicht mit Thränen – deren schämte sich der kräftige Knabe – aber mit ernstem, fast kummervollem Gesicht. Solange er sie aus dem Fenster mit den Augen verfolgen konnte, so lange that er es; verschwand sie um die Ecke, dann seufzte er gleich einem Erwachsenen und schlich betrübt zu Sophien. Komisch war es, daß er gewissermaßen der Erzieher Herthas wurde, indem er ihr eine tief eingewurzelte Unart abgewöhnte: den finstern Ausdruck ihres Gesichts. Einmal, als Hertha ihrer Gewohnheit gemäß die Augenbrauen fest zusammenzog, blickte Otto sie verwundert an und rief: »Was machst du, Hertha? Ich fürchte mich!« Die Umstehenden lachten, Hertha mit ihnen. Das merkte sich der Knabe, und sobald sich wieder die Augenbrauen zusammenziehen wollten, wiederholte er sein: »Hertha, ich fürchte mich, ich fürchte mich!« und das liebe, schöne Gesicht klärte sich auf, und die entstellenden Falten verloren sich allmählich ganz.

Sophie fühlte sich wirklich, seitdem sie den neuen Pflichtenkreis übernommen, wohler und kräftiger, und konnte sie sich auch nur selten selbst Hand anlegend nützlich erweisen, weil ihr kranker Fuß ein Hindernis für jede körperliche Regsamkeit blieb, so war ihr Geist um so reger, und sie blieb die Seele jeder Anordnung, welche die geistige oder körperliche Pflege der Kinder betraf. Hertha stand ihr fortwährend helfend zur Seite, wetteiferte mit ihr in treuer Liebe und Sorgfalt für die Verwaisten. An den Professor Walther schrieb Sophie wöchentlich einmal, und jeder seiner Briefe sagte ihr, welch eine Freude ihm die ausführlichen Berichte gewährten, die er über seine Kinder erhielt. War Sophie zu angegriffen, um dieser ihrer lieben Pflicht nachzukommen, so mußte Hertha schreiben. Freilich faßte diese den ersten Brief etwas steif und förmlich ab: denn sie fühlte sich sehr geängstigt durch den erhaltenen Auftrag. Als aber das Antwortschreiben des Professors an Sophie einen herzlichen, warmen Dank für sie enthielt, war sie reich belohnt und vertrat jetzt mit der größten Freudigkeit Sophie, wenn es galt, dem geliebten, verehrten Manne Nachricht über das Gedeihen seiner Kinder zu geben. In ihren Briefen liebte sie es ganz besonders, Otto redend einzuführen und den Vater auf diese Art teilnehmen zu lassen an den possierlichen oder naiven Bemerkungen seines lieblichen Knaben. So schrieb sie einmal: »Sophie hatte gestern Ottos Haare geschnitten, sie wuchsen gar zu üppig und verdeckten ihm fast die Stirn. Bald darauf tritt er vor einen Spiegel, besieht sich ganz ernsthaft und sagt: »Tante Sophie versteht sich aufs Haarschneiden, ich sehe um zehn Jahre jünger aus.« – Heute, nachdem ich ihm, zu unserm beiderseitigen Vergnügen, von der Form der Erde erzählt und ihm die fünf Weltteile genannt hatte, machen wir zusammen einen kleinen Spaziergang in dem Garten. Otto ist mit seinen Gedanken noch immer bei dieser seiner ersten geographischen Stunde. Plötzlich gräbt er mit einem Stäbchen ein Loch in die Erde, tief, so tief es gehen wollte. Dann bückt er sich und ruft überlaut: »Amerikaner, Amerikaner, kommt ein bißchen herauf!«

Man kann sich leicht denken, wie solche Briefe den Vater erfreuten, aber auch seine Sehnsucht nach den Kindern weckten. Die Reise ließ sich jedoch so schnell nicht wieder unternehmen, sein Beruf fesselte ihn. Endlich aber, gerade als Hertha sich mit der Großmutter und Manon zum Besuch bei Tante Herbig aufhielt, kam Professor Walther einmal in B** an. Das Wiedersehen war unbeschreiblich schön, rührend die Freude des Vaters und sein mehr durch Blicke, als mit Worten geäußerter Dank.

Hätte Hertha es vorhergewußt, daß sie durch ihre Reise dieses Besuchs verlustig ginge, so wäre ihre Freude stark getrübt worden; so aber genoß sie mit vollem Herzen das längst ersehnte Glück, wieder in der Nähe der geliebten Tante zu weilen. Schnell fand sie auch dort einen kleinen Posten – wer, der sich gern nützlich und angenehm macht, fände den nicht überall? Sie löste die Tante abends bei der Schachpartie mit ihrem Vater ab, was derselben eine große Erleichterung war, denn sie spielte nun schon seit Jahren täglich vier Stunden Schach. Auch begleitete Hertha regelmäßig den alten Herrn auf seinem täglichen Spaziergange. Manon machte sich das Leben in dem fremden Ort viel leichter, sie ging ebenfalls spazieren, aber nicht in den einsamen Gängen des Gartens wie Hertha, sondern schön geschmückt auf der belebtesten Promenade, oder sie fuhr mit der Großmutter hierhin und dorthin, besuchte das Theater, die Konzerte, die Kunstkabinette, und kehrte jedesmal sehr befriedigt zurück; denn sie erntete überall, wo sie sich zeigte, ungeteilte Bewunderung. Herthas pflichttreues Ausharren bei dem Schachspiel konnte sie nicht begreifen und neckte sie unaufhörlich damit. Das machte erstere aber keineswegs irre; sie wußte ja, daß sie der Tante einen großen Dienst damit erwies. Eines Abends ward sie sehr angenehm in ihrem Spiel unterbrochen. Die Tante brachte einen Brief von Sophien, begleitet von einer Rolle. Hertha sah bittend die Tante an. – »Darf ich?« – »Ei, versteht sich, du liest deinen Brief, mein trautes Kind, und der Vater nimmt unterdessen mit seiner alten Schachspielerin vorlieb.« Die Tante setzte sich auf Herthas Platz, diese eilte mit ihrem Schatze auf ihr Zimmer. Zuerst ward natürlich der Brief erbrochen. Er enthielt nebst den wärmsten Liebesausdrücken und den immer wiederholten Versicherungen Sophiens, daß sie sich unbeschreiblich nach ihr sehne, die Nachricht von Walthers Besuch. Welche wichtige Botschaft für Hertha! Sie sah im Geist den zärtlichen Vater von seinen Kindern umschlungen, sie konnte sich Otto lebhaft vorstellen, seine stürmische Freude, seinen innigen Blick. Mathildchen hatte in ihrem weißen Kleide sicher wie ein Engel ausgesehen. Sophie schrieb, wie sie den Vater angelächelt und ihm beide Händchen entgegengestreckt habe. »O hätte ich wenigstens diesen Augenblick mitgenießen können!« seufzte Hertha. Weiter schrieb Sophie, daß sie den Schwager noch immer sehr verändert finde, seine alte Heiterkeit beginne indessen schon zurückzukehren, besonders wenn er mit ihr und den Kindern allein gewesen. Er habe mit Otto Versteck gespielt und über des Knaben Eifer dabei herzlich gelacht. Das hätte Hertha auch wohl mitansehen mögen! »Als er mir so warm und gerührt dankte«, fuhr Sophie weiter unten fort, »sagte ich ihm, daß du meine Sorge um die Kinder redlich teilst. Ich erzählte ihm, was er durch meine Briefe auch schon wußte, daß du Otto während der Masern gepflegt, und daß du in dieser Zeit von aller Welt abgesperrt gewesen. »Gott lohn' es ihr!« sagte er, und seine Lippen bebten und – o wärst du hier gewesen, meine Hertha, ich vermag dir seinen Dank nicht so wiederzugeben. Niemand dankt mit so wenig Worten wie er, und doch liegt so viel Innigkeit darin.« Hier hielt Hertha mit Lesen inne, sie war so glücklich, so beseligt! – dennoch verdunkelten heiße Thränen ihre Augen. Als sie sich wieder gesammelt hatte, las sie weiter: »Ich habe hin und her gesonnen, meine Hertha, womit ich dir eine große, recht große Überraschung machen könnte, endlich fiel es mir ein. – Ich rief mir eines Tages unsern Otto und fragte: »Möchtest du wohl viele Stunden recht ruhig sitzen, wenn du damit Hertha eine Freude machen könntest?« »O immer, Tante,« sagte er; »sieh, ich setze mich hierher – so – ich rühre mich nicht, Tante, aber – – macht das Hertha Freude? sie ist ja nicht hier.« »Ich werde dich für sie zeichnen«, sagte ich. Er sah mich fragend an. Ich werde ein Bildchen von dir machen, und es ihr zuschicken. Das gefiel ihm sehr gut, er klatschte in die Hände und rief: »Das ist schön und freut mich sehr! Aber, Tantchen, male mir blonde Locken, wie des Gustav Breuer seine, und schwarze Augen, das würde Hertha sehr gefallen.« – Was sagst du zu diesem Vorschlag? Mir sagte er nicht ganz zu. Ich benutzte schnell des trauten Jungen günstige Stimmung und fing die Zeichnung an. Er hat treulich ausgehalten, bis sie fertig war; und man sagt, mir sei die Ähnlichkeit gelungen, ich habe das Bildchen für Walther kopiert, und wenn du dich nur halb so freust wie dieser, so bin ich für meine kleine Mühe mehr als belohnt. Otto grüßt dich tausendmal, er denkt und spricht eigentlich unaufhörlich von dir. Komm bald zu denen, die dich mit Liebe und Sehnsucht erwarten.

Sophie.«

 

So geduldig auch Hertha sein konnte, wenn es verlangt wurde, so ungeduldig zeigte sie sich bei dem Auseinandertrennen der Rolle. Mit der Schere wollte es nicht gehen, sie nahm ein Messer, das ging auch zu langsam, sie riß und fürchtete zu tief zu reißen, das Messer mußte wieder zu Gnaden aufgenommen werden: endlich, endlich war die Wachsleinwand abgetrennt. Nun kamen noch eine Menge andrer Papiere, und dann erst rollte sie das geliebte Bildchen vor sich auf. Die Ähnlichkeit war sprechend! Das waren Ottos treue, sinnige Augen, das der kleine schelmische Mund, der das: »ich fürchte mich, ich fürchte mich!« so oft gesprochen, aber noch öfter die zärtlichsten Liebkosungen. Hertha küßte Mund, Augen, Haare, sie war ganz außer sich vor Freude. Ja, Sophie hatte es getroffen, nichts auf der Welt konnte für Hertha eine liebere Überraschung sein. Als sie sich recht satt gesehen und den Brief noch einmal gelesen hatte, eilte sie ins Wohnzimmer: jeder mußte Ottos Bild sehen und an ihrer Freude teilnehmen. Manon kam spät aus dem Theater, die Tante begrüßte sie zuerst und sagte ihr, daß Hertha eine große, große Freude gehabt.

Manon fragte neugierig: »Wodurch?«

»Sieh her!« rief Hertha und hielt ihr das Bildchen hin.

»Ach, Otto! – wie ähnlich! – Ich dachte, die Großmutter hätte dir die Brosche in Gestalt einer Taube, die dir neulich so sehr gefiel, zum Geschenk gemacht. Also das ist die große Freude?«


Frau von Beier hatte mit innigem Wohlgefallen den Beifall bemerkt, den Manon in der fremden Stadt gefunden, und konnte, nach B** zurückgekehrt, kaum den herannahenden Winter erwarten, um ihre Enkelinnen in die große Welt einzuführen. Früher äußerte sie oft, sie wolle noch ein Jahr damit warten, jetzt erklärte sie plötzlich, daß die Mädchen groß und alt genug wären, um die Freuden der Jugend zu genießen, daß sie selbst aber die Zeit wahrnehmen müsse, in der sie noch imstande sei, sie in die Welt zu geleiten. Kurz, sie eröffnete Manon und Hertha die nahe Aussicht auf eine Reihe glänzender Vergnügungen. Fast erschraken die Mädchen über die unerwartete Erklärung, es kam ihnen allzu überraschend. Hertha wußte in allem Ernst nicht, ob sie lachen oder weinen sollte: der Gedanke an die Kinder, an Sophie beängstigte sie. Wie wird sich das Gesellschaftsleben mit ihren Pflichten vereinen lassen! Ihr Kopf schwindelte von mannigfachen Gedanken, die durch denselben zogen, indes Manon lachend und plaudernd die Herrlichkeiten aufzählte, welche sie jetzt in Gestalt von Bällen und glänzenden Gesellschaften erwarteten. Sie sah sich schon im Geist in den schönsten Kleidern den hell erleuchteten Sälen entgegeneilen, sie fiel Hertha um den Hals und jubelte laut. Der Geheimerat von Dalloch hatte einmal Manon feierlichst versprochen, daß Nelly mit ihr zusammen die ersten Bälle besuchen solle; das fiel Manon jetzt ein und vermehrte ihre freudige Aufregung. »Der Geheimerat muß Wort halten!« rief sie jubelnd; »Großmutter, laß mich hin zu Dallochs.« Hertha zeigte sich Willens, sie zu begleiten. O es war ein Glückstag! Die Schwestern begaben sich also eiligst auf den Weg. Hertha ging zu Sophien, Manon unmittelbar zur Geheimerätin. Aber, o weh! Dort hatte sie eine böse Stunde, Frau von Dalloch schlug ihre Einwilligung zu der Einführung Nellys in die größeren Gesellschaftskreise ab. Sie sagte, es sei durchaus gegen ihre Ansicht, ein so junges Mädchen den vielen Gefahren auszusetzen, die ihm dort drohten. Nelly wäre noch zu schwächlich, das Tanzen könne ihrer Brust schaden und so weiter. Diese war dagegen schnell für Manons Vorschlag gewonnen und erklärte: sie sei ganz gesund, und was noch mehr sagen wolle: sie fühle sich nie wohler, als wenn sie tüchtig getanzt habe.

Die Geheimerätin schüttelte ungläubig den Kopf. Manon und Nelly baten, beteuerten, flehten.

»Ich würde mich auch schwer darein finden«, fuhr Frau von Dalloch immer noch desselben Sinnes fort, »so übereilt all die Anstalten zu treffen, es geht unmöglich!«

»Aber welche Anstalten?« fragten die Mädchen.

»Mein Himmel, die Einkäufe, das Besprechen mit den Putzmacherinnen und Schneiderinnen! Glaubst du, das macht sich alles so in einem Tage ohne weiteres ab? Für künftiges Jahr wäre ich auf diese Unruhe gefaßt, diesen Winter will ich noch in aller Behaglichkeit und Ruhe genießen.«

Hier trat ihr Gemahl ins Zimmer und war nicht wenig überrascht, als sich schnell die Mädchen – Hertha und Sophie hatten sich auch eingefunden – zu ihm wandten. Sie sprachen alle auf einmal, und er konnte beim besten Willen kein Wort verstehen. »Darf ich gehorsamst darum bitten, daß jede Dame allein spreche?« sagte er lachend. Natürlich kam die Geheimerätin zuerst an die Reihe, und Manon und Nelly zitterten schon vor Angst, daß sie den Gemahl für ihre Ansicht gewinnen werde, als dieser plötzlich ganz erfreut ausrief: »Recht so, Mädchen, ihr müßt diesen Winter die Bälle verherrlichen! Frau von Beier hat eine scharmante Idee gehabt. Wozu das lange Warten! Die Jugend ist ein Fehler, der täglich abnimmt, das ist eine bekannte Sache. Also nicht länger gewartet! Der Landtag kommt zusammen, wir werden einen glänzenden Winter haben. Liebe Frau, glaube mir, die jungen Dämchen können in keiner günstigeren Zeit auftreten. Ich wollte dir schon neulich den Vorschlag wegen Nelly machen, aber ich vergaß es glücklich wieder. Nun kommt man mir zuvor. Flink, gieb deine Einwilligung! – Nelly, die meinige hast du!«

Die Geheimerätin wollte noch dies und jenes sagen, aber man ließ sie nicht mehr zu Worte kommen. Jauchzend tanzten die beiden Freundinnen um den Vater, küßten die bedächtige Mutter und ließen den herrlichen, prächtigen Geheimerat hochleben. Sie waren im eigentlichsten Sinne ganz ausgelassen vergnügt. Herr von Dalloch trat indessen an seinen Geldschrank und kam mit zwei gewichtigen Geldrollen zurück. – »Mütterchen«, sagte er, »hier ist etwas, das dir die Sorgen erleichtern wird; kaufe dafür alles, was unser Kind nötig hat, um sich aufs prächtigste herauszuputzen. Tüll, Atlas und Musselin.«

»Dank, tausend Dank, Herzenspapa!« rief Nelly und küßte des Vaters Hände; »aber mit deiner Erlaubnis, Musselin wird nicht gekauft.«

»Nun denn, keinen Musselin. Tarlatan, Gaze, aber hübsch muß es sein, das ist alles, was ich verlange.«

Die Mädchen lachten, denn der Himmel hing ihnen voller Geigen.

Von nun an begann im Hause der Frau von Beier ein reges, geschäftiges Treiben. Die Geheimerätin hatte es übernommen, mit den Einkäufen für Nelly auch zugleich die Haupteinkäufe für die beiden Schwestern zu besorgen. Aus den Läden zurückgekehrt, kramte man die Schätze im Zimmer der alten Dame aus und hielt große Ratsversammlung. Alle Tische, Sofas und Stühle waren bald beladen mit Herrlichkeiten, als da sind: Krepp, Atlas, Blumen, Spitzen, Blonden, Bänder. Alles lag drunter und drüber, und die erhitzten Mädchenköpfe steckten zusammen und konnten sich nicht satt daran sehen. Täglich wurden einige Besuche gemacht. Eine Einladung zu einem Ball bei dem Minister F., im Nähkästchen aufgehoben, war jetzt Manons liebste und zugleich einzige Lektüre. Stets in der besten Laune und in beständiger Aufregung, hatte sie, wie sich leicht denken läßt, keinen Gedanken, der sich nicht auf die zu erwartenden Freuden bezog. Hertha hoffte, nach einem Gespräch mit Sophien, nach wie vor ihren Pflichten leben zu können, und diese Hoffnung ließ sie jetzt erst recht rein die Aussicht auf angenehme Zerstreuungen genießen. Sie gedachte täglich einige ruhige Stunden zu gewinnen, in denen sie sich und dem lebte, was ihr oblag, und sie zeigte gleich jetzt im Rausche der ersten Zeit, daß sie, ungleich Manon, der Besonnenheit und ernsten Beschäftigung fähig blieb, auch wenn ein Ball – ein erster Ball – zu erwarten stand.

Die Großmutter sah in ihrer schwarzen Samtrobe recht stattlich aus, als sie an jenem Ballabende in das Zimmer ihrer Enkelinnen trat, um nachzusehen, ob der Anzug bald vollendet und alles in gehöriger Ordnung sei. Aber Himmel, wie schön war Hertha in ihrem Kleide von glänzender, rosenroter Gaze! – Die Farbe des Kleides wetteiferte mit der ihrer Wangen. Im Haare trug sie einen Kranz von weißen Rosen. Sie war wirklich bildschön und fesselte einige Augenblicke ausschließlich der Großmutter Aufmerksamkeit. Jetzt suchte sie Manon auf. Diese trat eben vor den großen Spiegel, um sich in dem faltigen, weißen Kreppkleide zu sehen, das makellos ihre schöne Taille umschloß. Das Weiß stand zu ihren lichten, durchsichtigen Farben ganz besonders schön, ihre hellblonden Locken legten sich reizender als je um das holde Gesichtchen, das dem Maler herrlich zu einem Engelskopf dienen konnte, vorzüglich wenn es von Freude strahlte, wie eben jetzt. Die Großmutter stand geblendet und fragte heute zum erstenmal: Welche ist die Schönste? Doch sie war nur einen Augenblick zweifelhaft, schnell hatte sie für Manon entschieden, und mit innerer Befriedigung dachte sie daran, daß dies schöne Mädchen ihre Züge trage, und daß sie selbst einst nicht minder schön gewesen.

»Was nimmst du ins Haar, mein liebes Kind?« fragte sie jetzt zärtlich. »Etwa diese Rosenknospen?«

»Nein, Großmütterchen«, entgegnete Manon, und klebte auf das kleine Mal an ihrem Oberarm ein rosa Pflästerchen; »ich finde es nicht hübsch, wenn man etwas Falsches an sich trägt; gemachte Blumen sind aber meiner Ansicht nach etwas Falsches, deshalb werde ich sie nie zu meinem Schmucke wählen.«

»Ganz gut, mein Kind, aber dann hättest du dir frische aus den Treibhäusern besorgen müssen!« – Die Großmutter wollte eben, weil nun doch etwas versäumt sei, ganz niedergeschlagen werden, als ein zweiter Blick auf Manon jeder Besorgnis ein Ende machte. Nichts konnte geschmackvoller sein, als das Netz von feiner Silberarbeit und Perlen, das jetzt Manons weiches Haar umschloß. Ein weißer, durchsichtiger Shawl, um die Schultern geworfen, vollendete den anmutigen Anzug.

»Bist du zufrieden, Großchen?« fragte sie mit zierlicher Verbeugung. »Und ist es so nicht besser, als wenn deine Manon sich mit falschen Blumen schmückte?«

»Ja doch, mein holder, frommer Engel! Nun aber schnell, schon höre ich den Wagen!« Hertha bemühte sich, den kleinen Verdruß zu überwinden, welchen das Blumenkapitel in ihr erregt hatte; es gelang ihr auch schnell, und als sie an dem Schloßportal hielten, klopfte ihr Herz vor Freude und Erwartung.

Es bedarf wohl nicht erst der Versicherung, daß unser Schwesternpaar gefiel. Hertha und Manon waren ohne Frage die schönsten Mädchen in dem herrlich blühenden Kranze der versammelten jungen Damenwelt, und von dem Augenblick ihres Hereintretens fesselten sie aller Blicke. Da war niemand, der sich nicht in ihre Nähe drängte, teils um sie zu bewundern, teils um sich zu überzeugen, ob diese blendenden Erscheinungen auch die genauere Prüfung aushalten könnten, und niemand war da, der dies nach geschehener Prüfung noch in Frage stellte.

»Mein Himmel, wer ist denn die junge Dame in Rosenrot?« fragte die Gräfin D. ihren Nachbar, als Hertha mit dem jungen Prinzen von G. zum Galopp antrat.

»Ich kenne sie nicht«, antwortete der Gefragte, »jedenfalls eine blendende Schönheit.«

»Möglich, aber es bleibt doch sonderbar, daß der Prinz mit dieser unbekannten Schönen tanzt, während noch junge Damen aus den ersten Familien ohne Tänzer sind. Dort zum Beispiel Fräulein von G.« Daß der Gräfin Tochter auch noch nicht engagiert war, bildete sicherlich den Hauptpunkt des Verdrusses. Zum Glück trat sie gleich darauf mit einem kleinen Gardeoffizier in die Reihen der Tanzenden.

Manon schwebte an dem Arme eines Österreichers durch den Saal: Baron von Eichen, Legationsrat bei der Gesandtschaft. Es war ein großer, schön gewachsener Mann mit einem Gesichte, das, ohne einen fast an Härte grenzenden Ausdruck auch schön genannt werden konnte. Dieser Ausdruck machte indessen einem durchaus anderen Platz, wenn Herr von Eichen Manon gegenüberstand, deren Erscheinung ihn vollkommen bezaubert hatte. Er hatte wenige Tage vorher die gefeierteste Sängerin in der Rolle der Undine gehört, hatte ihren Gesang gelobt, aber ihre Erscheinung nicht zart, nicht blendend genug gefunden. Jetzt, als er Manon sah, dachte er wieder daran. Ja! das ist eine Undine! So muß der Dichter sie sich gedacht haben: so, gerade so! Baron von Eichen verlor sein Herz an Manon-Undine!

Der Abend hätte ein durchaus froher und ungetrübter genannt werden können ohne einen kleinen, für Hertha höchst unangenehmen Auftritt. Ermüdet vom Tanze und auch der Unterhaltung ihres letzten Tänzers müde, gedachte sie sich für einige Augenblicke aus dem großen Saale zu entfernen, um sich in einem der angrenzenden Zimmer, fern von der Musik und dem ungewohnten Geräusch, zu erholen. Sie ersah auch bald ein anziehendes Plätzchen, wo sie von blühenden Gesträuchen halb verdeckt die ersehnte Stille fand. Ihr zur Seite, nur durch die duftende Blumenwand getrennt, saßen im Halbkreis einige reich geschmückte, nicht mehr junge Damen. Sie spielten mit ihren Fächern oder Blumensträußen und ließen dabei ihre Blicke in das glänzende Gewühl des Ballsaals schweifen, dann und wann einander ihre Bemerkungen mitteilend. Im ganzen ging das Gespräch etwas stockend, und die Gesichter sahen bedeutend gelangweilt aus. Hertha ergötzte sich in ihrem Winkelchen viel besser und dachte an nichts weniger als an ihre Nachbarinnen, als sie plötzlich den Namen Nelly aussprechen hörte. Dadurch aufmerksam gemacht, wandte sie den Kopf zum erstenmal jener kleinen Gruppe zu.

»Es ist die jüngste Tochter des Geheimerat von Dalloch«, sagte eine Dame im gelben Atlaskleid; »kaum den Kinderschuhen entwachsen, bringen die Eltern die blasse Treibhauspflanze hierher, hoffend, man werde es beim Schimmer der Lampen nicht gewahr werden, daß der Kranz von Immergrün in rotes Haar geflochten ist«

»Im übrigen ist sie nicht gerade häßlich«, meinte eine zweite Dame, »und da es die einzige Tochter ist, so muß man der Eltern kleine Schwachheit entschuldigen.«

»Bitte um Verzeihung«, erklärte die Gelbe, »Sie vergaßen die Stiefschwester, die um mehrere Jahre älter ist, – davon spricht man nicht gern.«

Herthas Herz schlug heftig, als das Gespräch diese Richtung nahm. Was meinte die Dame, indem sie Sophiens auf diese Weise erwähnte? Sie trat aus ihrem Versteck hervor, um auch den Schein des Horchens von sich abzuwenden, und einen kleinen Kreis umschreibend, nahm sie auf einem Taburett Platz, das der Sprechenden gerade gegenüberstand. Die Damen sahen einen Augenblick verwundert nach ihr hin, doch da sie keiner vorgestellt war, so wollte man sie nicht beachten und fuhr absichtlichen dem begonnenen Gespräch fort.

»Bitte erklären Sie sich näher!« bat man von allen Seiten.

»Es ist eine traurige Geschichte«, sagte die gelbe Dame und seufzte; »es überläuft mich immer ein Schauer, wenn ich diese salbungsreiche Geheimerätin sehe, die so viel von Tugend spricht und so jämmerlich handelt; und nun gar ihr Gemahl! Seine lächelnde Mime täuscht mich nicht, in seiner Brust muß es anders aussehen.«

Hertha starrte die Gegenübersitzenden mit weit geöffneten Augen an. Was konnte das alles bedeuten?

»O, erzählen Sie!« baten die Damen, und ihre matten Züge belebte die Hoffnung auf eine anregende Unterhaltung.

»Es ist nichts weiter, als daß die herzlosen Eltern die älteste Tochter aus Verdruß über ihre seltene Häßlichkeit – das arme Geschöpf soll bucklig und lahm sein – von Kindheit auf so schlecht behandeln, daß die ohnehin schon Geistesschwache jetzt vollständig blödsinnig geworden ist. Da sie im übrigen nicht bösartig sein soll, so benutzt man sie, so gut es gehen will, zu allerlei niedrigen Dienstleistungen, jetzt zum Beispiel muß sie die Kinder einer verstorbenen Schwester warten.« – Herthas Augenbrauen verzogen sich wie sonst; sie wollte sprechen, aber die Stimme versagte ihr.

Die Dame fuhr fort: »Die Familie ist reich und macht alljährlich große Reisen; natürlich wird dann nur die jüngste Tochter, das Herzblatt der Eltern, mitgenommen; auch sollen diese es jetzt am bequemsten finden, nur von einer Tochter zu sprechen. Die unglückliche, durch die Natur, mehr noch durch die eigenen Eltern Vernachlässigte ist gewissermaßen aus dem Register der Lebenden gestrichen.«

»Das ist ja abscheulich!« rief man im Chor; »giebt es kein Gesetz, das so unnatürliche Eltern bestraft?«

Jetzt hielt es Hertha nicht länger aus. »Von allem,« rief sie, »was Sie da erzählen, ist ja kein einziges Wort wahr!« – Man denke sich das an Entsetzen grenzende Erstaunen, als Hertha mit diesen Worten von ihrem Sitze aufsprang und wie ein Engel der Rache vor die gelbe Dame trat. Aller Augen wandten sich nach ihr hin, und in einem Augenblicke waren die Zuhörer um das Dreifache vermehrt.

Hertha hatte in ihrer großen Aufregung keine Ahnung davon. Die Blicke fest auf die eine gerichtet, die sie bis ins Innerste gekränkt hatte, fuhr sie erhitzt fort: »Sophie von Dalloch ist nicht allein wohlgestaltet und geistreich, nein, viel mehr als das, jede Empfindung, ihrer reinen Seele ist edel und schön. Ihr Geist ist durch die sorgfältigste Erziehung, die nur jemals liebreiche Eltern ihren Kindern geben können, gebildet, und ihr frommes Gemüt durch die Schmerzen, die ihr der Himmel gesandt, fast verklärt und geheiligt. Und solch eine Tochter sollte von ihren Eltern verleugnet werden? O, ehe Sie so etwas sagten, hätten Sie sich besser unterrichten müssen!« – Hertha schöpfte Atem und bemerkte jetzt erst die vielen Menschen um sich her. Von ihrer Empfindung überwältigt, brach sie in Thränen aus und rief klagend: »Wie ist solche Verleumdung nur möglich!«

»Gemach, gemach, mein liebes, heftiges Mädchen!« sagte eine sanfte Stimme hinter ihr, und eine weiche Hand berührte ihre Schulter.

Hertha wandte sich um und erkannte die Dame des Hauses, die allgemein verehrte Gemahlin des Ministers. Dieselbe hatte zwar nur Herthas Verteidigungsrede vernommen, aber schnell das Vorhergegangene erratend, eilte sie vermittelnd einzuschreiten und die sonderbare Scene zu beendigen.

»Verzeihen Sie diesem allzuraschen Kinde, das, wie es scheint, in einem warmen Freundschaftsgefühl verletzt, mit zu heftiger Art einen unglücklichen Irrtum zu berichtigen suchte.« Diese, auf die verbindlichste Weise gesprochenen Worte, richteten sich an die beleidigte Dame, die noch sprachlos dasaß und Hertha mit ihren Blicken zu verzehren schien. »Haben Sie die Gewogenheit,« fuhr Frau von F. fort, »und nehmen Sie auf einige Augenblicke meine Karten; Herr von Bitter ersucht Sie um die Ehre, Sie an den Spieltisch führen zu dürfen.«

Die gelbe Dame entfernte sich, und so hatte die gewandte Weltfrau ihren Zweck erreicht, denn auch die übrigen zerstreuten sich gleich darauf. Hertha blieb allein mit ihrer gütigen Beschützerin; sie stand einen Augenblick verwirrt und niedergeschlagen, denn sie war recht unzufrieden mit sich selbst. Um so dankbarer für die ihr gewordene Hilfe, ergriff sie die liebe Hand ihrer Wirtin und führte sie an ihre Lippen. »Verzeihen Sie mir«, bat sie kindlich; »ich weiß, daß ich einen argen Verstoß begangen, aber ein Engel ward unverdient geschmäht, und ich – ich bin leider noch immer so heftig!«

»Wer so schnell seine Fehler erkennt und bereut«, entgegnete die liebreiche Frau, bedarf keiner weiteren Zurechtweisung. Ich habe Ihre Empfindung vollständig begriffen und freue mich auf die Zeit, wo diese starke Seele Irrtümer mit Milde berichtigen wird; sie ist hoffentlich nicht mehr fern. Grüßen Sie Sophie Dalloch, auch ich kenne und liebe sie; doch nun genug hiervon. Der Kontertanz beginnt, und Ihr Tänzer sucht Sie; hier, Herr von Darmont, ist Ihre Dame!«

Hertha konnte nicht mehr mit Lust tanzen, sie sehnte sich nach Hause und war daher recht froh, als die Großmutter den Wunsch äußerte, noch vor dem Cotillon den Ball zu verlassen. Manon willigte nur ungern ein, sie war mit Baron von Eichen zum Cotillon engagiert. Zum Glück lagen, wie sie soeben erfahren, zu Hause schon wieder zwei Balleinladungen; das erleichterte den Abschied.

Manon war angenehm überrascht, als sie am folgenden Morgen einen herrlichen Strauß der seltensten Blumen auf ihrem Nähtischchen fand. Ein kleines gefaltetes Blättchen lag tief versteckt in der Mitte; sie zog es heraus und las ein Sonett an »Undine.« Es feierte mit glühenden Worten Undinens Reize, ihren Zauber. Selbst ohne die Erwähnung eines gewissen Perlennetzes hätte Manon die Heldin des Gedichts erraten, auch wohl den Dichter; aber das letztere mochte sie niemandem eingestehen. Ein untrügliches Zeichen dafür, daß der Dichter und Verehrer ihr Herz gerührt hatte.

Auf dem nächsten Feste erschien nur Manon. Hertha hatte um die Erlaubnis gebeten, zurückbleiben zu dürfen, weil die kleine Mathilde krank geworden und die ängstliche Sophie ihre Nähe beruhige. Die Großmutter willigte nach einigen Gegenvorstellungen ein und fuhr demnach mit Manon allein zum Ball. An der Eingangsthür harrte Baron von Eichen, und Manon bewilligte ihm errötend zwei Tänze, die übrigen ebenso schnell den herumstehenden Bittstellern zusagend. Jeder dieser Herren pries sich glücklich, Manon, die in Herthas Abwesenheit für die schönste aller anwesenden Damen erklärt wurde, zum Tanze führen zu dürfen. Nach Hertha war beständige Nachfrage, und Manon freute sich darüber; nahm diese Huldigung ihr doch keine der ihrigen. Ganz besonders und angelegentlich erkundigte sich Graf Pahlo nach der Abwesenden; er hatte auf dem vorigen Balle mit Hertha getanzt, und in der Zwischenzeit waren seine Gedanken ausschließlich mit ihr beschäftigt gewesen. In seinen Augen entbehrte das Fest nun jeden Reiz, und verstimmt verließ der sonst so leidenschaftliche Tänzer den Ballsaal und bald darauf die Gesellschaft. Die Urheberin dieses Unheils saß währenddessen, nichts davon ahnend, an dem Bettchen der kleinen Mathilde und bewachte jede ihrer Bewegungen; Sophiens Besorgnisse erwiesen sich diesmal als grundlos, denn die Kleine schlief ruhig und hatte schon am folgenden Morgen ihr leichtes Unwohlsein überwunden.

»Wie schade, o wie schade, daß du nicht da warst!« rief Manon bedauernd, als sie der Schwester von dem Balle erzählte. »Die prächtigsten Säle, die geschmackvollste Dekoration, Musik, Beleuchtung, alles ausgesucht! Und endlose Nachfragen nach dir, das kannst du glauben! – Graf Pahlo wurde melancholisch und verschwand, sobald er erfuhr, daß du zu Hause geblieben seist.« –

»Graf Pahlo, wer ist das?« fragte Hertha.

»Noch besser, nun weißt du nicht einmal etwas von ihm! Du tanztest den zweiten Tanz mit ihm.«

»Ach, der Herr mit der Lorgnette, ich besinne mich jetzt auf ihn.«

»Sieh, da ist er!« rief Manon. »Welch ein schönes Pferd er reitet, er grüßt, ei wie tief! Man könnte meinen er verneige sich vor einer Königin.«

Hertha lachte über die Wichtigkeit, die Manon dem Gruß beilegte; sie hatte nichts Auffallendes darin gesehen. Gleich darauf galoppierte Baron von Eichen vorbei, Manon errötete und verstummte. – Hertha hätte kein Mädchen sein müssen, wenn sie nicht dem nächsten Ball mit freudiger Erwartung entgegengegangen wäre. Sie sprach es lebhaft aus und ordnete mit Lust und vielem Geschmack den Anzug, den sie anzulegen gedachte. Für frische Blumen durften die jungen Damen nicht sorgen, sie wurden durch unbekannte Übersender damit fast überschüttet. Hertha nähte bis gegen Abend an ihrem Putz, dabei plauderte sie munter, durch die Aussicht auf das Fest lebhaft angeregt. Diesmal, meinte sie, sollte es ihr durch nichts getrübt werden. Als sie mit ihrer Arbeit fertig war, ging sie an ihre Toilette, obgleich Manon behauptete, es sei noch eine volle Stunde zu früh. Das lange wundervolle Haar war geordnet und mit einer dunkelroten Kamelie geschmückt. Eben legte sie das kostbare weiße Kasimirkleid an, das sie als ein Geschenk der Tante Herbig doppelt liebte, als Manon erhitzt und geräuschvoll ins Zimmer trat. »Was fehlt dir«, fragte Hertha, »und weshalb ziehst du dich nicht an?«

»Ich habe Zahnweh«, klagte Manon weinerlich, »und trotz aller Mittel, die ich angewandt habe, will es nicht besser werden; im Gegenteil, es wird immer ärger.«

Die Großmutter, im vollen Putze, trat jetzt mit einem Zuckerwasser ins Zimmer, das als Abkühlungsmittel jedenfalls zu empfehlen war. »Bitte, trink mir zu Gefallen!« bat sie; sichtlich hatte sich Manon schon dagegen gesträubt.

»Nur ein halbes Glas, ich bitte dich!«

Aber Manon weigerte sich standhaft; sie behauptete, die Zahnschmerzen von Süßigkeiten bekommen zu haben, das Zuckerwasser könne nur schaden.

»Nun, so laß den Zucker und trink reines Wasser!« bat die alte Dame.

Manon gebärdete sich wie ein unartiges Kind, wies das Glas Wasser eigensinnig zurück und brauchte eine sehr scharfe Tinktur, vor der sie gewarnt wurde.

»Ach Gott, wie das brennt!« jammerte sie jetzt laut. »Schnell, die Opiumtropfen! Au, au! ich halte es nicht aus! Besorgt mir die Pillen, die haben mir schon einmal geholfen, aber schnell! schnell!«

»Mein armes, liebes Kind, glaube mir, die Pillen erhitzen noch mehr das Blut; dir thäte ein Brausepulver not, hier ist eins, darf ich es dir einschütten?«

»Nein, nein, das kann nicht helfen. Ich will die Pillen haben, gebt mir die Pillen!« Sie legte sie in den kranken Zahn, und was die Großmutter vorausgesehen, geschah: der Schmerz wurde noch heftiger und anhaltender.

Die Zeit verging, schon rollten die Wagen; ängstlich blickte Hertha nach der Uhr: sie mochte nicht daran denken, ihr heutiges Vergnügen aufzugeben. Auch Manon blickte nach der Uhr und nach ihrem Putze; dazwischen jammerte sie laut und wandte ein erhitzendes Mittel nach dem andern an.

»Es ist ein Unglück, daß wir den Apotheker so nahe haben«, sagte Hertha, »du würdest sonst nicht jede Minute etwas anderes verlangen. Laß doch den armen Zahn einmal in Ruhe, vielleicht lohnt er dir Gleiches mit Gleichem.«

»Du hast wenig Mitleid mit mir!« schluchzte nun Manon, froh, einen andern Grund für ihre üble Laune aufgefunden zu haben. »Hättest du meine Schmerzen, du würdest auch nicht ruhig sein.«

»Das ist möglich«, entgegnete Hertha; »aber ich weiß gewiß, daß ich nicht zehnerlei brauchen würde. Notwendig muß ein Mittel die Wirkung des andern aufheben.«

»Ich gehe gar nicht auf den Ball!« rief Manon nun heftig und warf sich auf ein Ruhebett.

Verlegen blickte die Großmutter von einer Enkelin zur andern »sie hoffte noch immer; der Schmerz könne ja jeden Augenblick nachlassen, meinte sie. Dagegen protestierte die Kranke laut, es schien ordentlich, als wolle sie ihn nicht verlieren.

Hertha saß still und traurig auf dem kleinen Ecksofa, das in dem dunkelsten Teile des Zimmers stand; ihr trübes Gesicht paßte wenig zu dem glänzenden Putze.

Jetzt meldete ein Mädchen, daß die Familie von Dalloch am Hause halte, und daß die Frau Geheimerätin fragen lasse: ob ihr Fächer hier sei und ob die Damen fertig wären.

Der Fächer fand sich vor und ward hinabgesandt, zugleich mit der betrübenden Nachricht von Manons Leiden. Einen Augenblick darauf waren sämtliche Herrschaften oben. Nun begann ein lebhaftes Hin- und Herreden, ein Bedauern, Klagen, Raten. Das Ergebnis des Ganzen war, daß Manon bestimmt erklärte: sie würde zu Hause bleiben, und die Großmutter, sie könne ihr Kind nicht verlassen.

»Und Hertha?« fragte Frau von Dalloch.

»Die fährt natürlich mit uns!« rief der Geheimerat, und Herthas Augen leuchteten froh auf über den herrlichen Vorschlag.

»Geschwind, ziehen Sie die Handschuhe an, mein schönes Pflegekind«, fuhr Herr von Dalloch heiter fort; »das wird einen herrlichen Spaß geben, wenn ich mich heute der Gesellschaft als Ihren Papa präsentieren werde. O, ich steige gleich um zehn Prozent im Preise!«

Die Großmutter war mit dem Vorschlag zufrieden, und Hertha freute sich wie ein Kind. So sollte also doch noch etwas aus dem Vergnügen werden! Die Geheimerätin half ihr gefällig bei dem Zuknöpfen der Handschuhe, und Nelly verließ die kranke Freundin und küßte Hertha. »Mein Schwesterchen für heute Abend!« sagte sie schmeichelnd.

Alles war fröhlich und guter Dinge, nur Manon nicht; sie kämpfte mit der übelsten Laune, welche durch die kleinlichste Eifersucht jede Sekunde vermehrt wurde und, unfähig, sich länger zu überwinden, rief sie plötzlich im Tone bitteren Unmuts: »Hertha, es ist nicht schön von dir, daß du mich hier allein zurücklassen und tanzen willst, während ich so schreckliche Schmerzen habe. Du denkst nicht daran, daß mir das Zuhausebleiben nicht halb so schwer werden möchte, wenn du auch zurückbliebest. Was soll ich wohl den ganzen, langweiligen Abend über beginnen?«

»Aber, liebe Manon«, entgegnete Hertha sanft, »die Großmutter bleibt ja bei dir, und ich kann deine Schmerzen doch nicht lindern!«

»Die Großmutter kann abends nicht lesen, und ich möchte den Roman beendigen, den wir angefangen haben.«

»So lies ihn für dich zu Ende!« sagte Hertha.

Manon wollte davon nichts hören. »Ich kann nicht lesen, wenn ich Zahnweh habe!« klagte sie weinend.

Frau von Dalloch wurde nun ungeduldig und bat um schnelle Entscheidung; sie stimmte natürlich dafür, daß Hertha mit ihnen käme. Ihr Gemahl war nicht nur vollständig derselben Meinung, sondern äußerte auch ganz bescheidentlich: Fräulein Manon wäre gewiß viel zu gut und viel zu liebenswürdig, um aus bloßer Laune ihrer Schwester ein Vergnügen zu entziehen; er wenigstens könne das nimmer glauben. Aber Manon war durchaus nicht liebenswürdig und ebensowenig in der Stimmung, sich erziehen zu lassen. Sie warf der Großmutter einen jener beschwörenden Blicke zu, welche Hertha genau kannte; solch ein Blick fand stets Gewährung.

»Im Grunde könntest du ganz wohl zurückbleiben, mein Töchterchen!« sagte Frau von Beier zu Hertha; »es giebt diesen Winter noch Bälle genug, einer mehr oder weniger wird zu deinem Glücke nicht beitragen.«

»Wie?« sagte Herr von Dalloch ganz erstaunt, »ist es möglich, Hertha sollte, geschmückt wie sie ist, zu Hause bleiben, nur weil –«

»Ja doch! Es kann ihr unmöglich schwer werden, solch ein kleines Opfer ihrer leidenden Schwester zu bringen, da es ihr vor wenig Tagen so leicht ward, eines Kindes wegen, das uns nicht einmal verwandt ist, zu Hause zu bleiben.«

Diesen ziemlich gereizten Worten der Großmutter ließ sich nichts entgegenstellen. Herr und Frau von Dalloch schützten große Eile vor und nahmen einen kurzen Abschied. Selbst Nelly schied ohne besonders schmelzende Redensart von der leidenden Freundin.

Als Hertha die Kamelie aus ihrem Haar löste, fiel eine Thräne der Kränkung in ihren Kelch, aber schnell sich fassend, fuhr sie mit der Hand über die Augen und sagte kurz: »Schade um die Blume; sie hätte am Stamme noch lange blühen können!«

Kam es denn wirklich noch zum Vorlesen? Keineswegs. Manon jammerte noch ein Weilchen, dann entschloß sie sich zu einem Brausepulver; das that ihr gut, sie legte sich ermüdet nieder und schlief gleich darauf fest ein. – Hertha konnte nicht so schnell die Ruhe finden; Manons Selbstsucht und der Großmutter Parteilichkeit hatten sie tief verletzt, sie kämpfte lange mit ihrem Verdruß und dem Verlangen, nachsichtig und milde zu sein. Ihr edles Streben trug den Sieg davon, und jeder Groll verschwand aus ihrem Herzen, als sie betete: »Vergieb uns unsre Schuld, wie wir vergeben unsern Schuldigern!« – Ein süßer Schlaf senkte sich auf ihre Augenlider und führte ihr die lieblichsten Träume zu. Sie lächelte, schön wie ein Engelsbild.

Mit heiterem Gesicht, durch den Ausdruck inneren Friedens verklärt, trat Hertha am folgenden Morgen zu ihrer geliebten Sophie ins Zimmer. Diese hatte noch in der Nacht von Frau von Dalloch gehört, wie es der armen Hertha ergangen; sie empfing die Freundin mit offenen Armen und rief: »Heute hätte ich dir schon ein wenig Verdruß nachgesehen, du liebes Herz, aber sieh da, du hast das heiterste Gesicht von der Welt. O, Walther hatte recht, als er von dir sagte, dir wäre alles möglich; du bist jetzt schon mein Stolz und meine Freude!«

Hertha erglühte freudig bei diesen Worten und gelobte sich von neuem, so vieler Liebe immer würdiger zu werden.


Manons und Nellys Freundschaft bekam im Laufe dieses Winters eine mattere Färbung, denn trotz des Vaters Stellung und Reichtum konnte der Beifall, den Nelly erntete, demjenigen, der den beiden schönen Schwestern zu teil ward, gar nicht verglichen werden. Diese waren unbestritten die Königinnen aller Feste: wo sie fehlten, fehlte der Magnet, der die Männerherzen anzog und fesselte. Aber nur die durch Rang, Stellung oder andere hervorstechende Eigenschaften Begünstigten gelangten zu dem Vorzuge, mit ihnen in nähere Beziehungen zu kommen; die unbedeutenderen oder auch bescheideneren jungen Männer überließen schweigend jenen den Vorrang; dessenungeachtet betete mancher von ihnen im stillen die schöne Hertha an oder seufzte der holden Manon schmachtend entgegen. Erstere freute sich unbefangen der Huldigungen, die ihr dargebracht wurden, bemerkte aber in der That nur den geringsten Teil davon; Manon hingegen entging kein Blick, kein Seufzer, sie kannte genau die Zahl ihrer Verehrer, und war gegen keinen ganz erbarmungslos. Sie hatte für alle ein huldvolles Lächeln, ein gütiges Wort, und konnte sie nicht anders erfreuen, so war es durch kleine Aufträge, mit denen sie die Unbedeutendsten entzückte und in ihrer Nähe fesselte. Dieser durfte ihr ein Glas Limonade holen, ein zweiter hielt den seidenen Fenstervorhang, damit der Zug sie nicht treffe, ein dritter trug den Shawl nach, und für den vierten, fünften und sechsten fanden sich noch ähnliche Ehrenämter. Das beglückte die kleinen Herrchen sehr, und Manon hatte keine geringere Freude daran. Aber damit diese vollständig werde, mußte sie auch von ihren Triumphen sprechen, und das war die Klippe, an der diese heißeste aller Mädchenfreundschaften zu zerschellen drohte. Nelly konnte ihre Eifersucht immer weniger bemeistern, und beklagte sich oft bitter bei ihrer Mutter über die verletzende Weise, mit der Manon sich ihrer Siege rühmte und das mehrte der Geheimerätin Vorliebe für Manon eben auch nicht. Zum Glück bemerkte letztere die Abnahme von Nellys Freundschaft so wenig, als eine Fürstin die Kälte irgend einer ihrer Hofdamen empfunden haben würde. Die niedlichsten Mädchen drängten sich nach der Ehre, ihre Freundin zu heißen; sie durfte nur wählen, so hatte sie zehn für eine. Aber auf der Erde giebt es nichts Vollkommenes!! das ist ein alter Satz, eine tausendmal gemachte Erfahrung. Auch Manon mußte sie machen, denn es gab bei allen Triumphen, allen Siegen dennoch ein gewisses Etwas, das sie anders gewünscht hätte, einen Fleck, an dem sie verwundbar und verwundet war.

Baron von Eichen, der schöne Österreicher, umschwärmte sie nach wie vor, erzählte von seinen Gütern und Schlössern, seinem Onkel, dem Minister X., seiner Tante, der Reichsgräfin Y., aber – dabei blieb es, zu einer Bewerbung wollte es nimmer kommen. Und doch sah Manon dieser mit der lebhaftesten Erwartung entgegen; jeder Ballabend hielt sie in Spannung, die immer größer, immer aufregender wurde, je länger es dauerte. Die Aussicht, an der Seite dieses feinen, vornehmen Mannes im Sommer auf einem schönen Landgute, im Winter in Wien zu leben, von glänzenden Verhältnissen und einflußreichen Verwandten hier wie dort gehoben, erschien ihr gar zu herrlich, gar zu lockend, und ihre Stimmung litt durch die folternde Spannung, in der sie sich befand, was sie keineswegs liebenswürdig erscheinen ließ. Frau von Beier begann jetzt den innern Wert Herthas zu begreifen und ihr mehr Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Sie besprach am liebsten mit ihr alle ernsten Lebensverhältnisse, und was Hertha besonders beglückte, war, daß die Großmutter ihr allmählich alle die kleinen Leistungen übertrug, die sonst ihre Tagesgeschäfte ausgemacht hatten, ihrem vorrückenden Alter aber unbequem wurden. Wie gern, wie willig übernahm Hertha alles, was ihr einen dankenden Blick oder ein freundliches Wort der Großmutter einbrachte, oder was ihr die Gewißheit gab, dieser den Lebensabend angenehmer zu machen. Nun erst ward ihr das Haus der Großmutter zur wirklichen Heimat. Daß Hertha zu allem, was ihr oblag, Zeit behielt, kann nur dadurch erklärt werden, daß sie, selbst nach einem Balle, früh aufstand und eine regelmäßige Zeiteinteilung beobachtete. Überdies nahmen ihr die Rückerinnerungen an verlebte Feste keine Zeit weg. Sie genoß jene Vergnügungen unbefangen und heiter, aber, war der Ballputz bei Seite gelegt, was stets schon geschah, während Manon noch im tiefsten Schlafe lag, so waren es bis auf weiteres auch die Ballgedanken. Zu diesen zähle ich unter anderem die Tänzer. Hertha dachte wirklich erst dann wieder an sie, wenn es wieder zum Tanze ging. Sie gehörten ja nicht zu ihrer eigentlichen Welt, für die sie lebte und wirkte, die sie liebte und pflegte. Diese allein hatte das unbestrittene Recht an ihre Zeit, an ihr Herz. Sowohl Sophie als die Kinder wurden ihr von Tag zu Tag teurer, und wenn sie diese jubelnd begrüßten, jeder seine Liebe zu ihr auf seine Weise ausdrückte, sich ihr so nahe wie möglich stellte und nach kurzer Trennung von der Sehnsucht nach ihr sprach, dann fühlte sie sich ganz glücklich, tausendmal glücklicher, als im glänzend erleuchteten Saale. Sie wußte und sagte es oft, daß in jenem Kreise ihre schönsten Freuden wohnten. Welche Überraschung mußte es demnach für sie sein, als ihr eines Tages der Antrag eines Mannes zukam, den sie zwar als ihren eifrigen Tänzer kannte, aber niemals ernster ins Auge gefaßt hatte.

Es war ein kleiner Zirkel im Hause der Frau von Beier. Die wiederholten Einladungen, welche diese selbst erhielt, mehr noch die angelegentlichen persönlichen Nachfragen einiger eleganter junger Herren nach ihrem Befinden, schienen ihr notwendig eine Gegenartigkeit zu verlangen, und so entschloß sie sich endlich zu einigen kleinen Gesellschaften, die sich durch geschmackvolle Einrichtungen und das feinste Souper den ganzen Beifall der verwöhnten Gäste erwarben. Jeder weiß es, daß die schönen Zeiten längst vorüber sind, in denen die junge Welt noch froh und zufrieden sich vergnügte, ohne an die Tafelfreuden zu denken, die, wie es damals schien, ausschließlich den älteren Herrschaften zukamen. Jetzt ist es anders. Auch an der Seite seiner Angebeteten weiß der junge Kavalier ganz genau, welche Schüssel und was für eine Sorte Wein verabreicht wird, und fühlt sich sehr unbehaglich, wenn ihm der Champagner und die Fasanen fehlen. Sind diese da, und ist auch kein Mangel an bequemen Sofas, Bergeren, Roll- und Polsterstühlen, so setzt er sich behaglich nieder und spricht: »Es ist hier ganz artig, ich bin zufrieden!«

Ähnliches war in den kleinen Zirkeln, von denen wir eben sprechen, gewiß gesagt oder mindestens gedacht worden, und Baron Eichen sowohl, als Graf Pahlo wünschten sich Glück zu den Höflichkeitsbesuchen, welche Frau von Beier im Laufe des Winters von ihnen erhalten, als sie die zweite Einladung zu einem Souper erhielten. Graf Pahlo war den ganzen Tag in der lebhaftesten Aufregung, er trug sich schon lange mit dem Gedanken, um Hertha zu werben, er liebte sie glühend – oder besser gesagt, er war von ihrer äußeren Erscheinung zur höchsten Bewunderung hingerissen. Ihre edle Haltung, ihre feinen Manieren hatten den jungen Aristokraten bezaubert; von ihrem eigentlichen innern Wesen konnte er nur wenig erraten, aber er nahm blindlings an, daß das herrliche Mädchen alles besitze, was er seiner künftigen Gemahlin wünschte, was er von einer Gräfin Pahlo zu fordern berechtigt sei. Wohlhabend, einer der ältesten Familien des Landes angehörend, durfte er gewisse Ansprüche erheben. Er war nicht mehr und nicht minder eitel, als die Mehrzahl junger Männer und glich, was seine guten und seine schlechten Eigenschaften betrifft, den meisten unter ihnen. Er sagte sich also: er sei so übel nicht und wolle das Beste hoffen. Je näher aber die Stunde rückte, wo er Hertha wiedersehen und seine Werbung vorbereiten sollte, um so zaghafter und unruhiger wurde er. Jedes Wort, jeden Blick von ihr rief er sich zurück; er hätte so gern in einem oder dem andern eine Gunstbezeigung gefunden; er redete es sich auch ein, daß er es dürfe, aber gleich darauf gestand er sich, daß Hertha sich jedem Manne gegenüber immer artig und freundlich gezeigt, doch weder ihn noch einen anderen ausgezeichnet habe. Nicht ihn, das drückte ihn zu Boden – keinen andern, das erhob ihn wieder. Der arme Graf! Er war ordentlich erleichtert, als die Stunde schlug, die ihn diesen quälenden Grübeleien entriß, machte sich so schön als möglich und eilte fort. Alles besser, als diese Ungewißheit! rief er sich selbst beruhigend zu.

Frau von Beier empfing ihre Gäste mit der liebenswürdigsten Zuvorkommenheit; man merkte es ihr gar nicht an, daß sie an heftigem Kopfschmerz litt. Sie hoffte, in den Pflichten der Wirtin dadurch nicht behindert zu werden, umsomehr, da die Anzahl ihrer Gäste durch einige abschlägige Antworten verringert, und sie durch Manon und Hertha kräftig unterstützt wurde. Die früheren kleinen Zirkel waren durch Musik und Gesang belebt worden, diesmal hatte Frau von Beier aber keine Virtuosen oder anerkannt große Musikfreunde eingeladen, was bei ihrem Kopfweh eine wahrhafte Erleichterung war, denn Musik griff sie, wenn sie nicht wohl war, sehr an. Das wußten ihre Enkelinnen und hatten versprochen, jede Aufforderung zum Gesang oder zum Spielen abzulehnen. – Manon war nach dem Thee mit einem Teile der Gesellschaft in das zweite Zimmer gegangen, in dem ihr Pianino stand; ein Epheubogen überwölbte es malerisch, dazwischen schlangen sich andere blühende Schlinggewächse. Vögel in zierlichen Bauern und buntfarbige Ampeln machten die kleine Ecke zu einem reizenden Aufenthalt. Baron von Eichen fand Manon heute bezaubernder als je, und ward nicht müde, es ihr zu sagen: »Wissen Sie wohl, daß ich Sie noch nie singen gehört?« klagte er leise. »O, singen Sie jetzt, bitte!«

Manon widerstand, aber sehr schwach; sie wußte, daß sie eine hübsche Stimme hatte und sich überdies an dem Klavier, unter ihren Blumen, sehr wohl ausnahm. Baron von Eichen flehte: »Lassen Sie mich das Bild der heiligen Cäcilia sehen!« Damit nahm er ihren Arm und führte sie an das Klavier. Hertha wäre gewiß abwehrend eingeschritten, hätte nicht soeben Graf Pahlo, einen unbewachten Augenblick benutzend, ihre Hand ergriffen und ihr mit kurzen Worten seine Erklärung gemacht. Sie stand wie versteinert vor ihm; nie war ein Heiratsantrag einem Mädchen überraschender gekommen. Kaum konnte sie sich von den Gedanken losmachen, mit denen sie eben beschäftigt gewesen; sie betrafen die Zubereitung eines Getränks, welches der Großmutter einmal bei ähnlichem Unwohlsein gutgethan. Sprachlos schaute sie den Grafen an, sie glaubte alles Ernstes, falsch gehört zu haben. Aber Graf Pahlo, ihr Verstummen mißdeutend, wiederholte jetzt lauter, was er vorher nur geflüstert hatte. Sie konnte nicht mehr zweifeln, und sie zauderte keinen Augenblick, ihm eine bestimmte Antwort zu geben.

»Ich danke für Ihr mich ehrendes Vertrauen, Herr Graf«, sagte sie freundlich, aber fest; »es macht mir Schmerz, Ihnen keinen –«

»Gnädiges Fräulein, übereilen Sie nichts, geben Sie mir nach Verlauf von drei Tagen die Antwort!« fiel der Graf erbleichend ein. »Lassen Sie mir Hoffnung, ich will ja nicht im Augenblick Gewißheit.«

Hertha wollte sprechen, aber Graf Pahlo war von ihrer Seite verschwunden, und die Töne des Klaviers, Manons Gesang begleitend, drangen an das Ohr der vor Erstaunen fast Betäubten. Sie eilte zur Großmutter und sah diese erbleichen, doch, um ja kein Aufsehen zu machen, winkte Frau von Beier abwehrend; sie hoffte noch immer den Abend hinzubringen, ohne für ihre Gäste störend zu werden. Hätte sich Manon nur an dem einen Liede genügen lassen! Aber von der Eitelkeit getrieben, sang sie gleich darauf ein zweites, das sie oft mit dem größten Erfolge vorgetragen hatte. Es war ein einfaches, höchst ansprechendes Lied, das schon Herthas und Manons Mutter gesungen, und welches Frau von Beier jedesmal tief bewegte, weil es ihr die Verstorbene so lebhaft ins Gedächtniß rief. Manons Stimme nahm sich nie vorteilhafter aus, sie sang die alte wohlbekannte Weise mit einem Ausdruck, der ihr sonst leicht fehlte; alle Zuhörer standen lauschend umher; da erscholl plötzlich ein ängstlicher Ruf, er galt Hertha. Man drängte sich ins andere Zimmer und fand Frau von Beier ohnmächtig in ihrem Lehnstuhle.

Natürlich unterbrach dieser Vorfall nicht nur Manons thörichtes Musizieren, das allein das Unwohlsein der Großmutter so vermehrt hatte, sondern es machte der ganzen Gesellschaft ein frühes Ende. Einige Wagen waren da, nach andern wurde geschickt, die Damen hüllten sich geräuschlos in ihre Mäntel, die Herren empfahlen sich ebenso, und ehe eine Stunde verging, hatte sich die Scene vollständig verwandelt. Hertha saß mit dem Arzt am Bett der Kranken und lauschte aufmerksam auf seine Verordnungen. Manon kniete davor und machte sich durch ihr Weinen und Klagen wieder so sehr zur Hauptperson, daß der verständige Arzt ihr ernstlich erklärte, sie solle der Großmutter Ruhe lassen; wo nicht, so könne, was jetzt nur ein nervöser Krampfzufall sei und schnell vorübergehen werde, ernstliche Folgen haben, und dann wäre sie ganz allein schuld daran. Das wirkte! Manon ging weinend zu Bett, Hertha wachte bis gegen Morgen und hatte dann die Freude, die Großmutter aus ihrem Schlummer gestärkt, und fast ganz genesen, erwachen zu sehen. Sie erhielt warmen Dank für ihre Sorgfalt und wurde zur Ruhe geschickt, deren die arme Hertha, nach so mannigfachen Gemütsbewegungen, auch recht bedürftig war.

Am dritten Tage kam ein Brief vom Grafen Pahlo. Er war an Frau von Beier gerichtet und enthielt eine formelle Werbung um Herthas Hand. Letztere hatte zu niemand von ihrer letzten Unterredung mit dem Grafen gesprochen. Teils wollte sie sein Gefühl schonen, teils erschien ihr der flüchtige Augenblick wie ein Traumbild, das sie vergessen hätte, wenn der Brief nicht gekommen wäre und ihr neue Unruhe bereitet hätte. Frau von Beier erklärte sich nach Lesung des Briefes entschieden für den Grafen und wünschte Hertha mit sichtlicher Freude Glück zu einer so vorteilhaften Partie, und es dauerte mehrere Stunden, ehe sie Herthas Weigerung begriff oder begreifen wollte. Erst als kein Zureden half, sondern Hertha zwar ruhig aber bestimmt erklärte, sie fühle durchaus keine Neigung für Graf Pahlo und sei fest entschlossen, seinen Antrag zurückzuweisen, ergab sie sich in die Notwendigkeit, nicht ohne die Enkelin großer Thorheit zu beschuldigen. Sie ging an das saure Geschäft des Briefschreibens, aber ehe sie die Feder angesetzt, kam sie noch einmal zurück; es war ihr ein Mittelweg eingefallen. Hertha durfte ja nicht unmittelbar einen Korb geben, Graf Pahlo wartete gewiß ein Jahr, ein Jahr ändere so viel – –.

»Liebe, liebe Großmutter«, bat Hertha mit überzeugendem Tone, »schreibe das ja nicht, denn ich weiß es gewiß, ich denke nach einem, ja nach zehn Jahren noch ebenso wie heute, ich kann nie des Grafen Gattin werden.«

»Nun so habe denn deinen Willen!« entgegnete Frau von Beier unmutig, setzte sich an den Schreibtisch und bemühte sich, die abschlägige Antwort so höflich, so verbindlich als möglich abzufassen. Für den armen Grafen war sie deshalb doch nichts anderes als eine abschlägige Antwort, die seine frohen Hoffnungen und Wünsche zerstörte. Er verließ noch an demselben Tage die Stadt und sah Hertha nie wieder.


Hertha sehnte sich, nachdem der Sturm der letzten Tage vorüber, recht herzlich nach Sophien, nach den Kindern und vorzüglich nach dem ununterbrochenen Frieden, der in jenen lieben Räumen herrschte. Sobald sie konnte, begab sie sich dorthin. Aber kaum saß sie der geliebten Freundin gegenüber, so bemerkte sie, daß hier auch etwas Ungewöhnliches vorgegangen sein mußte. Sophie war sichtlich aufgeregt, ihre Stimme bebte, ihre Hand zitterte, und ihre Wangen brannten wie in Fieberhitze; dennoch sagte ein seltsam helles frohes Aufleuchten der Augen, daß sie keine Schmerzen litt. Ab und zu blickte sie zerstreut nach den Kindern, die sich an Hertha anklammerten und des Erzählens kein Ende fanden. Hertha hatte sich ja mehrere Tage nicht sehen lassen, kannte noch nicht Ottos kleine Kanone, die der Vater geschickt, und Mathildchens neue Puppe; sie mußte alles sehen und bewundern, und sie that es so gern und mit unendlichem Liebreiz. Endlich konnte Sophie ihre Aufregung nicht mehr bemeistern, sie gab Luisen einen Wink, und diese lockte die Kinder mit dem Versprechen, ihnen ein neues, ganz neues Märchen zu erzählen, aus dem Zimmer; die beiden Freundinnen blieben allein.

»Was hast du, meine Sophie?« fragte jetzt Hertha, »darf ich wissen, was dich bewegt?«

»Gewiß, du vor allem mußt es wissen. Aber ich fühle in diesem Augenblick, daß ich mich zu sehr von meinem Gefühl fortreißen lasse, und daß du, meine Hertha, schon längst mit edler Selbstbeherrschung die ältere Freundin beschämst. Ich traue mir nicht die Kraft zu, dir eine mündliche Mitteilung von dem zu machen, was mein Herz so mächtig erschüttert, und ziehe es vor, dir diesen Brief zu geben. Geh und lies ihn dort in dem Kabinett, und ist das geschehen, dann komm wieder zu mir, damit ich dir ins Herz schauen kann.«

Hertha that, wie Sophie geheißen, sie entfaltete das Blatt, erkannte sogleich Walthers Schriftzüge und las, wie folgt:

»Ihr letzter Brief, verehrte Schwägerin, hat mich in seltsame Unruhe versetzt, denn ich sehe mich genötigt, jetzt schon über etwas zu sprechen, das ich gern noch eine Zeitlang verschwiegen hätte. Sie werden sich ohne Zweifel über den Eingang dieses Briefes wundern und nicht erraten, womit Sie mich beunruhigt haben, also hierauf zuerst meine Antwort: Die Mitteilungen über Ihre Freundin Hertha sind es, welche die Unruhe in mir heraufbeschworen. Sie erzählen mir von der jugendlichen Freude, mit welcher Hertha Anteil nimmt an allem, was die Geselligkeit der großen Welt zu bieten im stände ist, Sie freuen sich des ungeteilten Beifalls, den sie überall genießt, und schließen mit der warmen Versicherung, daß Hertha unverändert dasselbe Herz für Sie und meine verwaisten Kinder behalte. – Lassen sie mich jetzt auf die Vergangenheit zurückkommen, auf die letzte, trübe Zeit vor dem Tode meiner geliebten Mathilde. Sie wissen, daß meine liebe Frau, von den traurigsten Ahnungen gequält, unzähligemal ihren Tod voraussagte und sich dann in all der Liebe, deren sie fähig war, mit Plänen für meine Zukunft beschäftigte. Sie mochte sich Mann und Kind nicht vereinsamt, ohne die Fürsorge treuer Liebe denken, und während ihr Auge schmerzlich auf mir oder unserem Sohne ruhte, schweifte ihr Geist umher und suchte das Herz, das mir ein verlorenes Glück wiedergeben sollte. Sie glaubte es in Hertha gefunden zu haben!! Mathilde hatte von jeher eine innige Liebe für dieses seltene junge Mädchen. Herthas seelenvolle Freude, als sie Otto zum erstenmal erblickte, konnten wir beide nie vergessen; vielleicht hat eben die Erinnerung daran Mathilden den Gedanken eingegeben, diese zu ihrer Nachfolgerin zu bestimmen; vielleicht haben es auch Ihre Briefe gethan, in welchen Sie, beste Sophie, von Herthas Anhänglichkeit für uns und deren frühzeitigen Ernst den Pflichten des Lebens gegenüber sprachen. Gewiß ist, daß Mathilde mir in einer sehr bewegten Stunde das Versprechen abnahm, daß, im Fall ihre Ahnungen sich erfüllten, ich mich nicht eher verbinden würde, als bis ich Hertha gefragt: ob sie meine Lebensgefährtin, ob sie die Mutter meiner verwaisten Kinder werden wolle? – Sie wissen, verehrte Freundin, wie tief ich die Trennung von meiner Mathilde betrauert habe, wie sehr mein Leben an Freude und Inhalt verloren hat. Um desto lebhafter sehne ich mich nach dem Verlorenen, nach einem liebenden Wesen, das mir wieder zur Seite stände und mein jetzt so armes Leben verschönte. Dann hätte ich auch meine Kinder bei mir, meine lieben, lieben Kinder! – sie fänden im väterlichen Hause die sorgsame, weibliche Pflege, deren sie bedürftig sind! – Aber darf ich, kann ich meine Hoffnung auf Hertha richten? – Der ältere Mann wird zaghaft bei solchen Wünschen. Wenn mich jede Zeile Ihrer Briefe die von Hertha handeln, jedes Wort, das Ihre warm beredte Zunge über das herrliche Mädchen aussprach, auch in der Überzeugung bestärkte, daß Hertha allein mich noch beglücken könnte, so fühlte ich auch ebenso deutlich, daß ich zu so kühnen Hoffnungen nicht berechtigt bin. Indessen war es mein fester Vorsatz, bald nach B** zu kommen und mir Gewißheit zu verschaffen. Da läßt Ihr letzter Brief mich Hertha mit ganz andern Augen ansehen, als bisher. Hertha ist eine junge, vornehme Dame, die von einem Ball auf den andern eilt, ein schönes Mädchen, dem die ausgesuchtesten Huldigungen zu teil werden. Können einem solchen meine Wünsche anders als thöricht erscheinen? Und gesetzt, Hertha ließe sich durch ihr edles, aufopferndes Herz bestimmen, sie zu erfüllen, wird sie noch fähig sein, in dem engen Kreise als meine Hausfrau ihr Glück zu finden? Schreiben Sie mir offen, was Sie hierüber denken, und handeln Sie, wie Sie es für gut finden; ich vertraue Ihnen ganz, Sie treue, liebende Pflegerin meiner Kinder! – Jetzt werden Sie auch erraten, was mich damals bestimmte, gerade in Herthas Abwesenheit zu Ihnen zu kommen. Mir war es, als beginge ich ein Unrecht gegen die Verklärte, wenn ich mich an der Entwicklung Herthas erfreute, bevor sie mir das werden konnte, wozu Mathilde sie selbst ausersehen hat.«

Was Hertha bei Lesung dieses Briefes empfand, ist schwer zu beschreiben. Bald pochte ihr Herz vor Freude, bald schien es erstarrend stillzustehen in bebender Angst und Erwartung. Genug, es war die bedeutungsvollste Stunde ihres Lebens, und sie bedurfte aller ihrer Kraft, als sie, von Sophien gerufen, gesenkten Hauptes vor dieselbe trat.

»Sprich!« sagte Sophie und zog sie zu sich auf das Sofa.

Hertha ergriff der Freundin Hand und drückte sie an ihr Herz: »Ist dieses Herz solches Glückes würdig?« fragte sie leise. – Eine lange, stumme Umarmung war die beredteste Antwort.

»Walther soll also kommen?« rief Sophie. »Du willst an die Stelle unserer Mathilde treten, willst die Verlassenen beglücken?«

»Wenn ihr mich dieser heiligen Stelle würdig erachtet, so nehme ich das reiche Glück dankbar an; ich erkenne seine volle Größe und werde streben, es zu verdienen. O möchte er nie Ursache haben, seine Wahl zu bereuen!«

Als später die Kinder, nach ihrer geliebten Hertha verlangend, hereinstürmten und sie mit Liebkosungen überhäuften, da kehrte auch das vor dem Übermaß der Empfindungen gewichene Rot in Herthas Gesicht zurück, und inniger als je drückte sie die Kinder an ihr Herz. »O mein Otto«, sagte sie mit holdem Lächeln, »wer hätte das gedacht, als ich zum erstenmal an deiner Wiege stand!«

»Daß du mich so sehr lieben würdest?« fragte der herzige Knabe.

»Mich auch lieben!« bat Mathildchen, und Hertha umschlang sie beide noch einmal.

»Wie schade, daß du heute versagt bist!« äußerte Sophie; »du müßtest sonst zu mir kommen, ich habe dir jetzt tausend Dinge mitzuteilen.«

»Meinst du den Ball?« fragte Hertha, »o den besuche ich jetzt nicht. Überhaupt«, fügte sie lächelnd hinzu, »ich gehe auf keinen Ball mehr, wenn – wenn jemand dadurch eine unruhige Minute haben sollte.«

Der Ball ward von Hertha nicht besucht; glücklich und tief bewegt, plauderte sie mit der geliebten Freundin von dem, was sie allein jetzt beschäftigen und was sie doch nur mit dieser besprechen konnte, da natürlich erst des Professors Ankunft abgewartet werden mußte, ehe man den übrigen das Vorgefallene mitteilen durfte. Mit wahrer Engelsgüte freute sich Sophie im voraus des Glücks, das ihren Lieben zu teil ward; sie dachte nur daran, daß die durch den Tod ihrer Schwester verödeten Räume nun Wieder durch Freude und Frohsinn belebt werden sollten, und klagte weder leise noch laut über den Verlust, der ihr drohte.

Nach Verlauf von zehn Tagen kam Professor Walther an, und es bedarf wohl kaum der Erwähnung, daß er sehnsüchtig den Augenblick erwartete, wo man ihn mit Sophien allein lassen würde. Aber der Geheimerat hatte heute besonders viel zu erzählen, die Geheimerätin nötigte dringend zu Erfrischungen aller Art; endlich – endlich! kam es zu dem ersehnten Zwiegespräch. Walther lauschte mit stummer Freude den Berichten Sophiens, auch die kleinste Besorgnis wußte sie zu zerstreuen; er hatte indessen immer noch etwas zu fragen, er traute so vielem Glücke nicht, da – öffnete sich die Thür, und die nichts ahnende Hertha tritt herein. Nun war es an Sophien, das Feld zu räumen, was sie auch freudig und ohne Säumen that. Leicht öffneten sich beider Herzen, und schon nach einer Stunde hatte sich Herthas scheue, liebende Ehrfurcht in bräutliche Liebe, in ein unbefangenes, hingebendes Vertrauen verwandelt. Sie las mit der natürlichsten Freude in Walthers strahlenden Augen seinen Beifall, seine Bewunderung, und als nun gar die Kinder herbeieilten und ihren Anteil an Liebe forderten, da meinte Hertha, der schönste Augenblick ihres Lebens sei gekommen, und ihre Augen flossen über in heißen Freuden- und Dankesthränen.

Noch an demselben Tage ging Professor Walther zu Frau von Beier, um sich ihre Zustimmung zu dieser Verbindung zu erbitten. Die alte Dame hörte ihn verwundert an. Sie hatte ihn stets hochgeschätzt, sie kannte den liebenswürdigen, edlen Mann und hatte die vollkommenste Hochachtung vor dem Gelehrten; aber dieser Antrag kam ihr ganz überraschend, dennoch zauderte sie keinen Augenblick mit ihrer Einwilligung. Vielleicht hätte sie in ihrem achtzehnten Jahre dem Grafen den Vorzug gegeben; daß Hertha anders dachte, that ihr jedoch diesmal keinen Schaden, im Gegenteil, sie war fast stolz auf die Enkelin, die mit so schönem Mute ernste Pflichten übernahm, und kannte sie genug, um zu wissen, daß sie halten würde, was sie versprach.

Wie erstaunte Manon, als sie, von einigen Besuchen heimkehrend, den Professor Walther im Hause fand und er ihr als der Verlobte ihrer Schwester vorgestellt wurde! Mannigfache Empfindungen kämpften in ihrem Herzen: sie waren alle nicht wohlthuender Art. Die jüngere Schwester früher Braut, als sie! Sie kam sich vernachlässigt vor, man hatte ihr das ganze Verhältnis verschwiegen, das – so glaubte sie – schuld sei an des Grafen Pahlo Zurückweisung, und obenein gefiel ihr auch der künftige Schwager sehr wenig. Sie bemühte sich, eine freundliche Miene anzunehmen, aber es wollte ihr damit nicht glücken, ja selbst ihre Worte an Hertha klangen nicht wohlwollend: »Du wirst gewiß eine sehr ehrbare Frau Professorin sein und eine musterhafte Stiefmutter!« – Der Ton war frostig und herbe. Als nun gar der Professor die dringende Bitte aussprach, ihm die schmerzlich entbehrte Häuslichkeit nicht lange vorzuenthalten, sondern ihm sein Glück so bald als möglich zu gewähren; als Frau von Beier, von seiner einnehmenden Persönlichkeit schnell gewonnen, die Hochzeit für den nächsten Sommer festsetzte, was die beiden Verlobten mit großer Freude erfüllte: da fühlte sich Manon immer weniger an ihrem Platze und zog sich, über Kopfweh klagend, in ihr Zimmer zurück.

Herr und Frau von Dalloch wünschten dem Professor zu seiner getroffenen Wahl von ganzem Herzen Glück, und ersterer hatte an der jungen, schönen Braut seine aufrichtige Freude. Er sagte es wohl zehnmal am Tage und vergaß darüber fast das Anekdotenerzählen. Ich sage: fast. Eine Anekdote kam doch zur Sprache: »Apropos, thut mir den Gefallen und vergeßt an eurem Ehrentage eure Trauringe nicht«, bat er heiter lächelnd; »so ein gelehrter Herr, wie Walther, ist leicht zerstreut, und ich kann euch eine Geschichte von einem meiner Freunde erzählen, die euch zur Warnung dienen wird. Der Justizrat B. hatte den für seine Braut bestimmten Ring sorgfältig in ein Papier gewickelt, denn um ihn, wie man sonst wohl thut, an seine Hand zu stecken, war der Ring zu klein. Was geschieht? Als es zur Trauung geht, steckt B. statt des Ringes einen Bonbon in seine Westentasche und wird des Irrtums erst gewahr, als der Pastor den Ring verlangt. Er überreicht ihm mit jämmerlich verzagter Miene den Bonbon, und wäre ersterer nicht ein vernünftiger Mann gewesen, der mit vieler Geistesgegenwart seinen Ring hergab und den Bonbon in den Mund steckte, so wäre aus der ganzen Heirat nichts geworden. Daher aufgepaßt und besser gemacht!«


Die erste Bitte, welche Hertha an ihren Verlobten that, war diese: er möchte Sophiens Eltern bewegen, ihnen Sophie für längere Zeit mitzugeben. Herzlich gern erfüllte Walther ihren Wunsch und fand wider alles Erwarten, daß die Geheimerätin jetzt ohne Weigerung einwilligte. Ihr schien es ganz natürlich, daß Sophie im Anfange der jungen Frau bei dem Überwachen der Kinder helfen wollte; auch der Welt mußte, nach ihrer Ansicht, diese Erklärung für den Besuch genügen, und ihr Gemahl sagte niemals »nein«, wenn seine strenge Frau »ja« sagte. – Sophiens Gesicht belebte sich bei dieser frohen Hoffnung, denn es war ihr allmählich doch schmerzlich klar geworden, daß sie im Begriff stand, alles zu verlieren, was ihr am teuersten war.

So gern Walther auch länger bei Hertha und seinen Kindern geblieben wäre, so folgte er doch der Pflicht, die ihn nach wenigen Tagen schon von B** abrief. Die Aussicht auf den Sommer erleichterte den Abschied, und überdies war den Verlobten selten ein gemütliches Zusammenleben verstattet gewesen, da die Verhältnisse es notwendig machten, einige Gesellschaften zu besuchen und zu geben.

Daß Hertha, nach Walthers Abreise, nicht mehr auf Bälle kam, ward vielfach belächelt, aber mehr noch, daß dies schöne, wohlhabende Mädchen von der Verbindung mit dem Professor wie von einem unverdienten Glücke sprach. – Einmal wurde dieses Thema von einigen jungen unbedeutenden Männern in einer Gesellschaft verhandelt, in der sich auch Frau von Beier mit Manon befand, und Herr von Dalloch stand mit Baron von Eichen den Sprechenden nahe genug, um das fade Geschwätz mitanzuhören. Man merkte es den Sprechenden an, daß sich jeder von ihnen sehr viel würdiger für diese Partie hielt; ganz besonders war dies mit einem Husarenoffizier der Fall, der sich vergebens um Herthas Gunst beworben hatte. Er rümpfte seine kleine Nase, strich sich den Bart und endete das Gespräch mit den zuversichtlichen Worten: »Auf Ehre, es ist Thorheit oder Affektation! Das Mädchen wird es früh genug bereuen.«

»Man spricht jetzt oft von dem bedeutenden Vermögen der jungen Braut«, bemerkte Baron Eichen nachlässig gegen den Geheimerat. »Ist denn wirklich etwas an dem Gerücht? Sie als genauer Bekannter des Hauses müssen das wissen.«

»So ist es!« erwiderte der Gefragte lachend. »Ich weiß ganz genau, daß jedes der Mädchen jetzt zwanzigtausend Thaler Mitgift erhält und von der Großmutter mindestens noch einmal so viel zu erwarten hat. Apropos Herr Baron! Ein Freund von mir sagte, als man ihm ein armes Mädchen zur Frau vorschlug: Muß sehr danken, eine Lerche ohne Butter ist ein schlechter Vogel; er nahm sich später eine reiche Frau. Wie ist mir denn? Sie sind doch nicht auch solch ein raffinierter Jäger?«

Der Baron lächelte herablassend und brach das Gespräch ab. – Zwei Tage darauf war Manon seine Braut, und jeder, der sie sah, mußte eingestehen, sie sei nie reizender, als jetzt, da der Ausdruck des Glücks ihr Gesicht verklärte. An die Dauer dieses Glückes glaubte freilich nicht jeder.

Der Großmutter war die Einwilligung zu Manons Verlobung abgerungen worden. Sie zitterte bei dem Gedanken, das Kind ihres Herzens von einem Manne wegführen zu lassen, den sie fast gar nicht kannte. Durfte sie hoffen, es häufig wiederzusehen? War Eichen so brav, so edel, so zart, als sie sich den Gatten ihrer Manon erwünscht hatte? – Überdies hatte der Geheimerat, sehr zufrieden mit der Antwort, die er dem Baron gegeben, dieselbe noch an jenem Abende der Großmutter wiedererzählt und damit einen bösen Argwohn heraufbeschworen. Es mußte ihr auffallen, daß Baron von Eichen gerade jetzt, nicht früher und nicht später, um Manon anhielt. Sie schüttelte mißbilligend das Haupt, als die schriftliche Werbung ankam, und sprach von einer abschlägigen Antwort. Aber, o Himmel, wie heftig wurde da Manon!! Sie nannte die Großmutter lieblos, bekam Brustkrämpfe und weinte, bis die arme Frau von Beier, ratlos wie sie war, nachgab und eine zusagende Antwort an Baron von Eichen sandte. Von diesem Augenblick an war sie ganz verändert, ging still und gebeugt einher, und aller Glanz der Verlobung vermochte die sonst ehrsüchtige Frau nicht zu erfreuen. Manon aber war sehr heiter, sehr glücklich; ihr Verlobter beschäftigte sie so ausschließlich, daß sie gar nicht daran dachte, die Großmutter jenen heftigen Auftritt vergessen zu machen; sie hatte für sie, wie für alle übrigen, sehr freundliche Mienen, aber Gedanken hatte sie nur für Baron von Eichen. Sie ahnte nichts von dem Kummer, der die Großmutter erfüllte, seitdem sie diesen einen Blick in ihres Lieblings Herz gethan und erkannt hatte, wie wenig wahre Liebe für sie darin wohne.

Der Monat Mai kam inzwischen heran, und Herthas Ausstattung war fast ganz besorgt. Nun begannen die Einkäufe für Manon, die sich aber nur auf Dinge erstrecken durften, welche der Mode nicht unterworfen waren, da die Verbindung noch in ganz unbestimmte Ferne hinausgeschoben war, was Frau von Beier eine Art von Beruhigung gewährte. Leider sollte ihr auch diese genommen werden! – Baron von Eichen trat eines Morgens unerwartet ins Frühstückszimmer und teilte den Anwesenden die eben erhaltene Nachricht mit, daß er nur noch vier Wochen in B** zu verweilen habe und dann nach Wien heimkehren müsse. Diese Trennung kam Manon so plötzlich, daß sie dem Schmerze zu erliegen drohte. Das steckte ihren Verlobten an, und er versicherte: es sei ihm ganz unmöglich, ohne Manon zu reisen; er beschwöre die Großmutter, die Heirat zu beeilen und ihm die Geliebte jetzt schon mit in die Heimat zu geben.

Frau von Beier fuhr bei diesem Vorschlage entsetzt zurück; die übereilten Vorkehrungen, der Gedanke, beide Enkelinnen auf einmal zu verlieren, in wenigen Wochen ganz vereinsamt dazustehen, – das war zu viel auf einmal. Sie erklärte sich fest und bestimmt dagegen. Doch Manon hielt ebenso fest an dem, was sie wollte, und regte die Großmutter mit ihren Bitten und Klagen dergestalt auf, daß sie krank wurde und sich zu Bette legen mußte. Manon setzte sich schmollend zu ihr und sann auf wirksamere Mittel, um ihr Ziel zu erreichen.

»Willst du mich arme alte Frau denn wirklich so unerwartet, so plötzlich und auf immer verlassen?« jammerte Frau von Beier. »Habe Mitleid mit meiner Schwäche und gieb mir Zeit, mich an den Gedanken der Trennung von dir zu gewöhnen. Was soll ich beginnen, wenn du mir fehlen wirst, für die allein ich gelebt habe, auf die allein alle Gedanken meines Herzens gerichtet waren? – Habe ich gegen dich gefehlt, so geschah es aus allzu großer Liebe, kannst du mir das zum Vorwurf machen? – O mein Herzenskind, berücksichtige nur dies eine Mal meine Wünsche, bleibe noch ein halbes Jahr nach Herthas Hochzeit bei mir, damit ich mich nach und nach an das Vereinsamen gewöhne, damit ich mich auf die Trennung von meiner Manon vorbereiten kann.« Thränen erstickten hier ihre Stimme. Aber zu der verwöhnten Manon Herzen drangen weder die Worte der klagenden Frau, noch ihre Thränen.

»Ich«, rief sie heftig, »ich soll meine Wünsche aufgeben, meinem Glück entsagen, und die immer kühle Hertha soll ungehindert ihrer Neigung folgen können? Laß diese ihre Hochzeit verschieben, der Herr Professor wird wohl noch warten können; die Kinder aber sind wohl aufgehoben, und Hertha kann sie hier, ebenso gut wie dort, beaufsichtigen. Ihr wird auch jedes Opfer leicht; ich aber würde im Entsagen sterben!«

Sie schluchzte laut und fuhr noch heftiger fort: »Du sprichst von deiner Liebe zu mir, Großmutter, und bist so hart und grausam, mir mein Lebensglück nehmen zu wollen! – Gut denn, ich werde bleiben, wenn du es verlangst, aber mein Herz, meine ganze Seele, mein Leben und Lieben begleiten ihn, und meine Thränen, die nie versiegen werden, mögen dir ein immerwährender Vorwurf für deine Härte sein!« –

Man kann sich kaum eine Vorstellung von der Stimmung der armen Großmutter machen. Für ihre blinde Liebe hatte sie Strafe verdient, aber sie ward ihr auch in vollem Maße zu teil. In dieser kummervollen Zeit war Hertha ihr einziger Trost; diese zog sie bei allem zu Rate und teilte ihr auch Manons Klagen und bittere Äußerungen mit. Hertha küßte, statt einer Antwort, liebkosend ihre Hände und bat sie, ruhig zu sein, es würde sich noch alles besser gestalten, als sie meine. Mit diesen Worten verließ sie das Zimmer. Bald daraus ging sie zu Sophien, und nach einer langen Unterredung mit dieser schrieb sie an Walther. Den Inhalt dieses Briefes werden wir sogleich aus des Professors Antwort entnehmen. Ehe dieser aber erfolgte, gab es noch viele unangenehme Scenen zwischen Frau von Beier und Manon. Erstere wollte nicht nachgeben, und letztere ertrug den ungewohnten Widerstand, wie man es von ihr erwarten konnte. War Baron von Eichen da, so erschien sie wie eine von Schmerz gebeugte, aber ergebene Märtyrerin; hatte er das Haus verlassen, so gewahrte man sehr bald, daß sie keineswegs ergeben war, sondern mit eisernem Willen das Versagte zu ertrotzen strebte. Sie zeigte jetzt weder Liebe für die Großmutter, noch nahm sie die Rücksichten, die sie ihr schuldig war. Hertha litt schmerzlich darunter und sah mit Sehnsucht dem Briefe ihres Verlobten entgegen. Endlich kam er, und die betreffende Stelle lautete ungefähr so: »Wenn es die Rücksicht für deine Großmutter verlangt, meine liebe Hertha, dann laß uns jedenfalls unsere Verbindung weiter hinausschieben; ich gebe dir hierin unbedingte Vollmacht, denn ich weiß ja, das Herz und der Verstand meiner Hertha werden das Rechte wählen. Aber ich gestehe, ich zählte schon die Tage bis zu unserm Wiedersehen, und es wird mir nicht leicht, meine schönen Hoffnungen nicht so bald erfüllt zu sehen. Erlaube mir daher einen Vorschlag, der zwischen Pflicht und Wunsch vielleicht vermitteln kann. Wenn deiner Schwester Hochzeit noch in diesem Monat stattfände, so müßte sich deine liebe Großmutter so viel Zeit lassen, als sie bedarf, um sich von der überstandenen Unruhe recht gründlich auszuruhen. Ist das geschehen, dann feiern wir ohne weiteres unsere Hochzeit und reisen allesamt gemeinschaftlich hierher. Frau von Beier kommt auf diese Weise über die erste, schwere Zeit hinweg, und wir wollen unser möglichstes aufbieten, um es ihr in unserm Hause wohl werden zu lassen. Du weißt, es ist nicht klein, es hat Raum und Behaglichkeit für uns alle, unsere Sophie mit eingeschlossen. Wir fangen unser Zusammenleben mit frohem Herzen und dem Bewußtsein an, daß durch unser Glück niemand beeinträchtigt ist, und ich hoffe mit Zuversicht, unsere lieben Hausgenossen werden es teilen und somit erhöhen. Sage mir bald, ob mein Vorschlag angenommen ist, oder ob du noch einen besseren kennst!«

Hertha ging mit freudig pochendem Herzen zur Großmutter, um ihr den Hauptinhalt des Briefes mitzuteilen; ihr sagte alles zu, was Walther vorgeschlagen, und sie hoffte ein Gleiches von Frau von Beier. Die alte Dame saß in tiefster Verstimmung, auf alle nur mögliche Weise von Decken und Tüchern umhüllt, in ihrem Lehnsessel und achtete kaum darauf, als Hertha sich zu ihr setzte. Manon war eben wieder einmal sehr unliebenswürdig gewesen und hatte sie mit rotgeweinten Augen verlassen. »Wenn mir nur jemand mit Rat und Hilfe beistehen wollte«, jammerte Frau von Beier; »soll ich dem trotzigen Mädchen den Willen thun, soll ich –«

»Großchen, höre einmal, was mir Walther schreibt«, sagte Hertha, »vielleicht findest du eine Antwort auf deine Frage.« Sie las ihr den Brief mit dem warmen Ausdruck der Liebe vor, ergänzte das Fehlende und sah mit wahrer Herzensfreude, wie ihre Worte mit innigem Dank aufgenommen wurden. Sie schienen nicht allein äußerlich, sondern auch innerlich erwärmend zu wirken, denn, wie Auge und Züge sich belebten und freudig strahlten, so legte Frau von Beier ein Tuch nach dem andern ab. Sie erhob das Haupt, das sie jetzt immer so gebeugt trug, und sah wieder verjüngt und glücklich aus. »Ihr liebt mich also wirklich ein wenig, meine Kinder!« rief sie und drückte mit ihrem glücklichsten Lächeln Hertha an die Brust. »Ist es auch wahr, daß Walther meinen Besuch wünscht, wirklich herzlich wünscht?«

»Wirklich herzlich wünscht«, wiederholte Hertha und küßte die sie umfassenden Hände. »Ist das nicht ganz natürlich?«

»O meine lieben, guten Kinder!« fuhr Frau von Beier lebhaft erregt fort; »habt Dank für diese Freude; ich komme, o ich komme gern! Sie, die ich mit Liebe überschüttet habe, kränkt mich mit Selbstsucht, und du, meine Hertha, du vergißt dich über die alte Großmutter, die dir nur wenig Gutes gethan hat. Aber ich danke dir um so inniger, um so gerührter, und folge eurem Rate; ich nehme eure Einladung mit frohem Herzen an. Gottlob, ich stehe nicht ganz allein in der Welt!«

Sie klingelte und ließ Manon rufen. »Ich halte dich nicht länger auf!« sprach sie, als diese zögernd, gesenkten Blickes in das Zimmer trat; »bestimme den Tag deiner Verbindung und deiner Abreise.« – Manon war wie aus den Wolken gefallen. – »Ja, ja«, fuhr jene fort, »mache jetzt alles nach deinem Belieben, ich werde deinen Wünschen nicht länger hinderlich sein. Was an der Ausstattung fehlt, kannst du dir in Wien kaufen; alles, was den Putz betrifft, findest du dort in schönerer und größerer Auswahl, als hier!«

Manon war wie umgewandelt, ihre Verstimmung machte lautem Jubel Platz, und sie erfreute Frau von Beier wieder mit Worten voll Liebe und Zärtlichkeit. Wunderbar! es that dieser so wohl, ihren Liebling wieder wie sonst zu sehen, daß sie es gar nicht bemerkte, wie Hertha schnell das Zimmer verließ, sobald Manon ihren kleinen Liebesergüssen Ausdruck gab.

Schon nach vierzehn Tagen schlug die Abschiedsstunde; die reizende Baronin von Eichen drückte zwar ihr feines Batisttüchelchen an die Augen, als sie den letzten Kuß auf der Großmutter Hand gedrückt hatte, aber ihre Thränen waren bald getrocknet, und strahlend von Glück und voller Erwartung einer glänzenden Zukunft, fuhr sie an der Seite ihres stattlichen Gemahls der neuen Heimat entgegen.


Auch Herthas Hochzeitstag kam, auch sie hoffte auf Tage des Glücks, auch sie fuhr einer neuen Heimat entgegen, aber sie fuhr nicht allein mit dem geliebten Manne und dessen Kindern; Sophie und Frau von Beier kamen gleich mit und teilten mit ihr den herzlichen Empfang, den ihr die Liebe und Vorsorge Walthers bereitet hatte. Nichts hatte er vergessen, was ein Haus behaglich machen kann, und wie ein glückliches, fröhliches Kind durchstrich Hertha an seinem Arm die hübsch eingerichteten, mit Blumen geschmückten Zimmer, besah und bewunderte alles und dankte und dankte immer wieder dem durch ihre Freude reich belohnten Gatten.

Frau von Beier und Sophie fanden sich auch bald heimisch in den für sie bereiteten Gemächern, umsomehr als Hertha, deren Gewohnheiten und Neigungen kennend, ohne Verzug alles herbeiholte, was ihnen lieb und angenehm sein durfte. Es wäre überflüssig, hinzuzufügen, daß Hertha niemals in dem Streben, ihrer Umgebung wohlzuthun, nachließ: Gatte, Kinder, Großmutter, Freundin und Dienerinnen fühlten das und liebten und ehrten sie, und wie sie Friede und Freude verbreitete, so erfüllte auch ihr Herz das Gefühl stillen, reinen Glückes.

Nach den ersten Wochen eines gemütlichen Zusammenlebens, erklärte Frau von Beier, sich nie mehr von Hertha und deren Familie trennen zu können, und da gerade in dieser Zeit eine sehr hübsche Villa mit einem Garten ganz in der Nähe des Walther'schen Hauses zu kaufen war, so erstand Frau von Beier dieselbe und richtete sie sich mit Hilfe des Professors und Herthas auf das behaglichste ein. Es war ein hübsches, fröhliches Fest, als sie ihre Kinder, Sophie, Otto und Mathilde gehörten nach ihrem eigenen Ausspruche mit dazu, in dem neuen Hause bewirtete und alle zur Erinnerung daran beschenkte. Ein Brief von Manon traf zufällig an demselben Tage ein; er war aus Paris datiert, war aber so kurz und so wenig befriedigend für das verlangende Herz der Großmutter, daß sie ihn seufzend beiseite legte, um die heiteren Stunden ungetrübt zu genießen; entweder war Manon nicht glücklich und wollte das nicht aussprechen, oder sie war so sehr Zerstreuungen hingegeben, daß ihr weder Zeit noch Gedanken für Mitteilung blieb. Die Zukunft wird Antwort darauf geben. –


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