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Alte Gebäude und alte Leute

Die aus Stein gebauten Häuser

Die weißen Gebäude, die zur Zeit, da Leutnant Lagerlöf den Hof übernahm, auf Mårbacka standen, waren sehr alt, aber das Gesindehaus und das Schafhaus galten als die allerältesten von allen. Man konnte das freilich nicht mit Bestimmtheit behaupten, denn die alte Pfahlhütte, die als Vorratshaus benützt wurde, und der Stall, der eine niedrige Galerie unter dem Dach hatte, sowie die Badestube, in der man das Fleisch räucherte, und die Darre, wo das Korn gemälzt wurde, waren auch keine Neulinge in dieser Welt.

Das Gesindehaus und das Schafhaus dagegen waren aus Feldsteinen aufgemauert, aus runden und glatten, großen und kleinen, wie man sie von den Feldern hereingeholt hatte. Die Wände waren zwei Ellen dick und standen in dem Rufe, eine Belagerung aushalten zu können. Eine solche Bauart war nicht von gestern und heute, und so schienen diese Gebäude, was das Alter betraf, den Preis davonzutragen.

Man vermutete, daß die ersten Menschen, die sich in Mårbacka niedergelassen hatten, aus irgendeiner Ortschaft in der Nähe gekommen waren, wo es zwar mehr als genug Menschen in alten Häusern gab, aber nicht ausreichend urbares Land, weswegen es ums tägliche Brot übel bestellt war. Es war wohl ein junges Paar gewesen, das gern zusammenkommen wollte, aber eben gar nichts besaß, so daß die Leutchen sich keinen andern Rat wußten, denn als Ansiedler in die Wildnis hinauszuziehen. Sie hatten ein gutes Auge gehabt für die Viehweide unterhalb des Åsbergs, so waren sie dorthin gezogen und hatten sich wohl zuerst in den kleinen Hütten niedergelassen, in denen früher die Sennerinnen wohnten. Aber nach einiger Zeit hatten sie sich vielleicht nicht mehr sicher dort gefühlt. Niemand wohnte in der Nähe, ab und zu statteten Bären einen Besuch im Viehstall ab, und sie selber bekamen Zuspruch von wildem Köhlervolk.

Unter diesen Umständen war es nur natürlich, daß sie sich ein paar Hütten aus Stein mauerten, eine für sich selber und eine für ihr Vieh.

Das Haus, in dem die Tiere untergebracht werden sollten, war das größere von den beiden. Es hatte keine Fenster, nur Öffnungen mit selbstgeschmiedetem Eisengitter, damit sich weder Bären noch Diebe einschleichen könnten. Der Fußboden bestand nur aus festgestampfter Erde, aber der Raum war durch eine starke Balkenwand in zwei Teile abgeteilt, damit die Tiere, die nicht gut zusammen auskommen, getrennt werden konnten. Pferde und Schafe, die stets gute Freunde sind, wohnten somit in der einen Hälfte, während Kühe und Ziegen in der andern untergebracht waren.

Die Steinhütte, die als menschliche Wohnung benützt werden sollte, war kleiner und hatte nur einen Raum. Aber dieser war mit einem Fußboden von eingerammten Holzblöcken, mit zwei Fenstern an der einen Längswand, sowie mit Herd und Schornstein versehen. An der Ostseite, der Fensterwand gegenüber, hatten die Ansiedler einen geräumigen Bettschrank eingebaut. Dieser faßte zwei breite Betten, die auf dem Boden standen, und zwei gleich breite darüber unter der Stubendecke. Sie waren so groß im Ausmaß, daß in einem jeden drei Personen gut nebeneinander liegen konnten. Der Fensterwand entlang stand eine Bank und vor dieser ein großmächtiger Tisch aus Tannenholz. Der Herd befand sich an der einen Schmalwand, der Eingang gerade gegenüber an der andern.

Zu Leutnant Lagerlöfs Zeit, wo der Bau, der früher das Hauptgebäude gewesen war, als Gesindehaus diente, war darin beinahe noch alles unverändert. Der Bettschrank war noch da, auch der runde, offene Herd und die Fenster mit den kleinen Scheiben und den Eisengittern davor. Dagegen waren die lange Holzbank und der Tisch weggenommen und durch eine Hobelbank mit gefülltem Werkzeugschrank ersetzt worden. Zwei kleine runde, dreibeinige Stühle waren auch noch vorhanden, die wohl aus der Zeit der ersten Ansiedler stammen konnten, ebenso wie der abgenützte Hackblock, der neben dem Herde stand.

Hier wohnten der Stallknecht und der Stalljunge; hier herein kamen in den Ruhestunden die Arbeitsleute, um zu essen und zu rasten, und hier herein wies man später arme Wanderer, die um eine Nachtherberge baten.

Hier genoß auch Klein-Bengt, der zur Zeit des Regimentsschreibers Stallknecht gewesen war, das Gnadenbrot. Er hatte solange im Dienste des Hauses gestanden, daß Leutnant Lagerlöf ihn für die Medaille eingereicht hatte.

Noch eine andre Person auf dem Hofe sollte dieses Ehrenzeichen bekommen, nämlich die alte Haushälterin. Sie war zwar bei weitem nicht so alt wie Klein-Bengt, versah auch noch ihren Dienst und war flink und gesund. Sie durfte in der Herrschaftskutsche zur Kirche fahren, als ihr die Medaille dort im Chor übergeben wurde.

Aber Klein-Bengt lag an diesem Tage an Hexenschuß und Gliederreißen zu Bett und war nicht imstande, in einen Wagen zu steigen, sondern mußte zu Hause bleiben.

Die Medaille bekam er zwar auf jeden Fall, aber da er nicht in die Kirche konnte, ging er eben doch der großen Feierlichkeit verlustig. Es hieß auch, der Propst von Sunne werde selbst nach Ämtervik kommen, um eine Ansprache an die treuen Diener zu halten und ihnen eigenhändig das blanke Silberstück um den Hals zu hängen.

Man kann sich vorstellen, wie betrübt Klein-Bengt war! Da mußte er nun in Schweiß und Schmerzen zu Bett liegen, während der größte Augenblick, den das Leben ihm zu bieten hatte, an ihm vorüberging.

Leutnant Lagerlöf sprach natürlich mit dem Propst darüber, daß Klein-Bengt krank sei und deshalb nicht zur Kirche hätte kommen können.

Nun aber gab es auf der Welt niemand, der einen treuen Diener, der sein Leben lang nur auf der einen Stelle gedient und mit seiner Herrschaft Freud und Leid geteilt hatte, so gern ehrte, wie der Propst von Ämtervik. Und als er vernahm, wie die Sache sich verhielt, sagte er sofort, er werde gleich nach dem Gottesdienst nach Mårbacka fahren, um dem Knechte die Medaille selbst zu übergeben.

Der Leutnant freute sich ja gewiß, als er dies vernahm, aber bedenklich erschien es ihm doch. Er verließ die Kirche, sobald er es anständigerweise nur immer tun konnte, und fuhr wie der Blitz nach Hause, um einige Zeit vor dem Propst dort anzukommen.

Nun wurde Klein-Bengt eiligst gewaschen und gekämmt und ihm sein Sonntagshemd angezogen. Er bekam reine Bettücher und eine schöne gestickte Decke anstelle des gewöhnlichen Schaffells. Die ganze Gesindestube wurde gekehrt, die Hobelspäne wurden fortgeschafft und die staubigen Spinngewebe unter der Decke heruntergeholt. Man streute Wacholderzweige auf den Fußboden, legte frisches Tannenreis vor die Tür, und ein großer Busch Birkenlaub und Flieder wurde in den Herd gesteckt.

Der damalige Propst in Sunne war niemand geringeres als Andreas Fryxell. Er war stattlich, ernst und ehrfurchtgebietend, aber nicht hochmütig, sondern sobald er in Mårbacka angekommen war, ging er in die Gesindestube zu Klein-Bengt, um ihm die Medaille umzuhängen.

Der Leutnant und Frau Lagerlöf und Mamsell Lovisa und die Haushälterin und was sich an Leuten auf dem Hofe befand, folgten ihm. Sie erwarteten natürlich, daß der Propst Klein-Bengt eine kleine Rede halten werde, und stellten sich still und andächtig an den Wänden der Stube auf.

Und anfangs ging auch alles, wie es sollte. Der Propst begann mit dem Lesen einiger Bibelsprüche, und Klein-Bengt lag ganz still und feierlich da und hörte zu.

»Du Bengt«, fuhr der Propst fort, »du bist ein solcher guter und getreuer Knecht gewesen, von denen der Herr Jesus spricht.«

»Ja«, sagte Klein-Bengt aus seinem Bett heraus, »ja, das kann man wohl sagen. Das bin ich gewißlich gewesen.«

»Du hast dein eigen Wohl nie vor das deiner Herrschaft gesetzt, und du hast gewacht über dem, das dir anvertraut war.«

»Ja«, sagte Klein-Bengt, »das alles stimmt. Ich danke dem Herrn Propst, daß er es sagt.«

Es sah aus, als fühle sich der Probst unangenehm berührt von den beständigen Unterbrechungen. Er war ja ein vornehmer Herr und gewohnt, mit vornehmen Leuten zu verkehren, und wußte sich überall richtig zu benehmen. Es kam wohl vor, daß die Leute ihm gegenüber verlegen wurden, er aber war sonst immer der Überlegene und behielt das letzte Wort.

Nun hatte er sich aber auf diese Rede nicht richtig vorbereiten können, denn die Fahrt nach Mårbacka war so plötzlich gekommen, und die Ansprache, die er in der Kirche gehalten hatte, paßte nicht so recht in die Gesindestube. Er räusperte sich ein paarmal, und dann begann er von neuem:

»Du Bengt, bist ein guter und getreuer Knecht gewesen.«

»Ja, das bin ich gewesen«, erwiderte Klein-Bengt. Doch nun stieg dem großen, geistreichen Propst Fryxell das Blut ins Gesicht.

»Du mußt schweigen, wenn ich spreche, Bengt«, sagte er.

»Ja gewiß, das weiß ich«, stimmte der alte Mann bei. »Ich widerspreche ja dem Herrn Propst nicht. Es ist auch alles ganz richtig, was der Herr Propst sagt.«

Der Propst wurde noch röter. Er räusperte sich wieder und versuchte sein Heil aufs neue.

»Bengt, du bist ein guter und getreuer Knecht gewesen, aber du hast auch eine gute Herrschaft gehabt.«

Der Alte war glückselig über das, was er hörte. Da konnte er doch unmöglich schweigen.

»Das will ich meinen, lieber Herr Propst, das will ich meinen. Alle meine Herrschaften sind riesig vorzügliche Leute gewesen, der Herr Wennervik und der Herr Regimentsschreiber und jetzt hier auch der Herr Erik Gustav.«

Damit streckte er die Hand aus, legte sie Leutnant Lagerlöf auf die Schulter und streichelte seinen Arm. Der ganze Mann strahlte vor Seligkeit.

Aufs neue erhob der Propst seine Stimme.

»Du sollst schweigen, Bengt, solange ich rede«, ermahnte er.

»Ja, ja«, sagte der Alte. »Sie haben ganz recht, Herr Propst, es ist ja auch alles wahr, was der Herr Propst sagt, jedes einzige Wort.«

Nun mußte aber doch auch der Propst den Mund verziehen.

»Mit dir ist nichts zu machen, Bengt«, sagte er. »Ich will dir die Rede schenken. Hier hast du deine Medaille, trage sie noch lange Jahre in Ehren und Wohlergehen!«

Damit trat er vor und legte die Medaille auf des Alten Sonntagshemd.

Während des Mittagessens auf Mårbacka zeigte sich der Propst etwas nachdenklich.

»Das ist mir doch noch nie passiert, daß ich steckengeblieben bin«, sagte er. »Aber man muß ja alles einmal durchmachen.«

Die Geldkassette

Klein-Bengt war jedenfalls hochbefriedigt von der Rede, die ihm gehalten worden war. Das Wort, er sei ein guter und getreuer Knecht gewesen, die Medaille, die Anwesenheit des Propstes in der Gesindestube und alle die Ehrenbeweise hatten die Kraft gehabt, das Gliederweh und den Hexenschuß zu vertreiben. Nachmittags saß der Alte aufrecht im Bett und erzählte allen, die es hören wollten, immer wieder die große Begebenheit, wie er dem Regimentsschreiber die Geldkasse gerettet hatte.

Zur Winterszeit war er einmal mit dem Regimentsschreiber auf einer Reise gewesen, um Gelder einzukassieren. Sie hatten schon alle östlichen Bezirke besucht und wollten nun zu den westlichen übergehen. Aber ehe der Regimentsschreiber damit begann, wollte er einen Tag nach Hause fahren, weil er sich nach Weib und Kind sehnte.

Das sagte er aber Klein-Bengt nicht. Er schützte vor, das Pferd bedürfe einiger Ruhetage und der Mundvorrat notwendig der Auffüllung. Außerdem sei die Kasse auch übervoll, und so wolle er sie erst leeren und die Gelder nach Karlstadt schicken, anstatt damit weiter im Lande umherzufahren.

Aber an dem Tage, an dem er die Richtung nach der Heimat einschlug, brach ein entsetzliches Schneegestöber aus. Die Wege waren schon nach kurzem so hoch mit Schnee bedeckt, daß man nur im Schritt fahren konnte. Es dämmerte schon, als sie bei Ölsäter über den Klarelf fuhren, und als der Regimentsschreiber gleich darauf am Herrenhof von Nordsjö vorbeifuhr meinte er, es wäre am Ende doch besser, wenn sie den kleinen Umweg machten und dort um eine Nachtherberge bäten. Aber wie gesagt, er sehnte sich heim, und es waren nur noch zwei Meilen bis Mårbacka, und so kam er denn mit Klein-Bengt überein, daß es doch das beste wäre, im eigenen Bett zu schlafen, wenn sie deshalb auch noch bis zehn oder elf Uhr unterwegs sein müßten.

Als sie in den dichten Wald zwischen Nordsjö und Sandviken einfuhren, waren die Wege schon grundlos, und der Schlitten ging so schwer, daß dem Braunen die Kräfte versagten. Er blieb nach jedem Schritt stehen, und weder Schläge noch gute Worte brachten ihn vorwärts.

»Das ist eine ärgerliche Sache, Bengt«, sagte der Regimentsschreiber. »Aber sag' mal, gibt es denn nicht eine kleine Kate hier in der Nähe?«

»Jawohl, Herr Regimentsschreiber. Nicht weit von hier ist eine Hütte. Aber da können wir nicht hingehen.«

»Ich kann mir denken, was du meinst, Bengt«, erwiderte der Regimentsschreiber. »Die Kate ist gewiß ein Unterschlupf für Spitzbuben und Landstreicher, und ehrliche Leute hüten sich, hineinzugehen. Aber nun haben wir drei Stunden von Nordsjö bis hierher gebraucht, und der Gaul ist halbtot vor Müdigkeit. Wir müssen ihn unter Dach bringen, damit er sich ausruhen kann.«

»Ja, Herr Regimentsschreiber, tun Sie, was Sie wollen«, sagte Klein-Bengt.

Als der Knecht auf diese Weise redete, wußte sein Herr, daß er seine guten Gründe hatte, nicht in die Kate zu gehen, und so beschloß er, noch einen Versuch zu machen, auf die Landstraße hinauszukommen.

Beide stiegen aus dem Schlitten und begannen einen Weg für das Pferd zu treten, das ihnen langsam nachfolgte. Es war eine harte Arbeit. Schon für Klein-Bengt war es schwer, und da der Regimentsschreiber hohe, bis über die Knie reichende Stiefel, Wolfspelz und Reisegurt trug, kam er völlig außer Atem.

»Nein, Bengt, es geht nicht«, sagte er, als sie die Kate beinahe erreicht hatten. »Mir geht es wie dem Braunen. Du mußt hineingehen und um Herberge bitten.«

Klein-Bengt blieb nichts übrig, als zu gehorchen. Aber seiner Ansicht nach wären sie besser die ganze Nacht im Schlitten geblieben, als sich mit Krongeldern in solch eine Räuberhöhle hineinzuwagen. Es würde sicherlich ein Unglück geben, das ahnte er deutlich.

Er trat in die Hütte und fand Mann und Frau friedlich am Herde sitzen. Daß sie die Reisenden mit Freuden aufgenommen hätten, konnte man nicht behaupten. Sie machten tausend Einwendungen: die Kammer sei ungeheizt, auch hätten sie weder Betten noch Bettücher für Herrenleute.

Schließlich mußten sie aber doch nachgeben. Das Weib trug Holz in die Kammer und heizte ein. Der Mann ergriff einen Spaten und half Klein-Bengt den Schnee wegzuschaufeln, damit das Pferd den Schlitten bis ans Haus fahren konnte.

Als Klein-Bengt an den Schlitten trat, fand er den Regimentsschreiber vor Übermüdung eingeschlafen.

»Na, der wacht auch nicht allzusehr über die Krongelder«, sagte der Kätner grinsend.

»O, bis heute hat er die Krone noch nie auch nur um einen Schilling gebracht!« schnauzte Klein-Bengt zurück.

Wenn der Regimentsschreiber und Klein-Bengt irgendwo einkehrten, pflegte stets der Herr die Geldkasse ins Haus zu tragen, während Klein-Bengt den Koffer mit dem Mundvorrat nachtrug.

Als nun Klein-Bengt sah, wie müde sein Herr war, sagte er zu ihm, als er den Schlitten nach dem elenden Schuppen gefahren hatte, in dem das Pferd untergebracht werden sollte: »Gehen Sie zu Bett, Herr! Ich komme mit den beiden Koffern nach.«

»Ach nein, du brauchst nur den einen zu bringen«, sagte der Regimentsschreiber. Er dachte dabei nur an den Geldkasten, denn der Mundvorrat war ja zu Ende. Aber das verstand Klein-Bengt nicht.

Er spannte das Pferd aus und führte es in den Schuppen. Als er von dort zurückkam, war sein Herr ins Haus gegangen, und auch der Kätner war verschwunden. Die Kasse stand nicht mehr im Schlitten, aber das war ganz in der Ordnung.

Als Klein-Bengt eintrat, saß der Regimentsschreiber in einer armseligen Kammer am Fenster. Er hörte den Knecht einen Kasten neben die Tür stellen, war aber zu müde, den Kopf zu drehen. »Schließ die Tür, Bengt, und zieh den Schlüssel ab!« sagte er.

»Das hatte auch keinen Wert, die Speisekiste mit hereinzunehmen«, sagte Klein-Bengt. »Sie ist ja leer.«

»Ja, das dacht' ich auch«, versetzte sein Herr, »aber ich glaube, wir werden heut nacht auch ohne Abendbrot schlafen.«

Damit streckte er sich auf einer Holzbank aus in Stiefeln und Pelz, wie er war. Er schob sich nur ein paar Holzscheite unter den Kopf und schlief sofort ein.

Länger als bis vier oder fünf Uhr pflegte er indes nie zu schlafen, aber jetzt wachte er ausgeschlafen und ausgeruht schon um zwei Uhr auf.

»Auf, Bengt« rief er. »Nun wollen wir in Gottes Namen weiter, daß wir zum Frühstück in Mårbacka sind.«

Klein-Bengt sprang sofort auf. Licht hatten sie keines, aber die Winternacht war nicht ganz finster. Sie sahen genug, um sich aus der Kammer zu tasten.

»Nimm du den Koffer, Bengt, und spann an!« sagte der Regimentsschreiber. »Ich will noch in die Stube gehen und das Nachtlager bezahlen.«

Kurz darauf war alles bereit, und sie fuhren ab. Das Schneetreiben hatte aufgehört, und obwohl kein Weg gebahnt war, ging es doch verhältnismäßig rasch voran.

»Es war doch ganz schlau, daß wir dort übernachtet haben«, sagte der Regimentsschreiber.

»Es ging besser als ich dachte«, erwiderte Klein-Bengt. »Aber ich habe solch böse Träume gehabt und habe sehr viel Radau gehört. Es kam mir vor, als klopfte und hämmerte man drin bei den Kätnerleuten. Und ich weiß zur Stunde noch nicht, ob sie wirklich auf waren und arbeiteten, oder ob ich geträumt habe.«

»Du hast gewiß geträumt, sie hätten meine Kasse gestohlen«, sagte der Herr.

»Ja, aber wo haben Sie denn Ihre Kasse, Herr?« rief der Knecht, indem er unter dem Fußsack nachsah.

»Die Kasse?« fragte der Regimentsschreiber. »Die hast du doch hinausgetragen.«

»Ich? Ich hab' doch nur den Speisekoffer getragen.«

»Aber ich sagte dir doch gestern, du solltest nur die Kasse hereinbringen, und das andre draußen lassen.«

Das war wohl der schlimmste Augenblick seines ganzen Lebens, als der Regimentsschreiber Lagerlöf entdeckte, daß die Geldkasse durch ein Mißverständnis nicht aus dem Schlitten genommen und in die Hütte gebracht worden war. O, der Kätner hatte sie gestohlen, das war klar! Aber was hatte er damit gemacht? War es ihm gelungen, sie zu öffnen? Es war zwar eine richtige Staatskasse mit Kunstschloß und starken Beschlägen, aber die Möglichkeit, sie aufzubrechen, war doch nicht ausgeschlossen.

Sie ließen das Pferd auf dem Wege stehen und eilten in die Hütte zurück.

Der Mann, das Weib und noch vier weitere Personen saßen um den Herd, als die Reisenden hereinstürmten. Niemand zeigte die geringste Überraschung; aber Klein-Bengt sah mit einem Blick, daß die vier Neugekommenen die gefährlichsten Halunken der ganzen Gegend waren.

»Ich hab' es ja gesagt, daß es nicht möglich für Sie sei, heimzukehren, ehe der Schneepflug durch den Schnee gegangen ist«, sagte das Weib.

»Gewiß kann ich heimkommen«, versetzte der Regimentsschreiber. »Aber meine Geldkasse ist hier im Hause stehen geblieben, und die muß ich auch mitnehmen.«

»Aber das ist doch kaum möglich! Ist der Herr ohne seine Geldkasse weggefahren? Dann steht sie wohl auch noch in der Kammer. Es ist noch niemand drin gewesen, seit der Herr weggefahren ist.«

»Die Kasse ist nicht vergessen worden«, sagte der Regimentsschreiber streng. »Und nun heraus damit! Ihr wißt, wie es dem geht, der Krongelder stiehlt.«

»Wo sollten wir denn einen so großen Kasten verbergen?« entgegnete das Weib. »Der Herr sieht ja, was hier in der Stube ist, und er kann auch das ganze Haus durchsuchen.«

Das hatte Klein-Bengt inzwischen schon getan. Er hatte jeden Winkel durchstöbert und durchsucht, aber nichts gefunden.

»Wenn ihr die Kasse nicht gutwillig herausgebt«, sagte der Regimentsschreiber, »dann bleibt nichts andres übrig, als daß ich meinen Knecht hier Wache halten lasse. Keiner darf das Haus verlassen, bis ich mit dem Gendarmen zurückkomme.«

»Soll der dort etwa hier bleiben und uns bewachen?« fragte das Weib, und es klang, als ob sie lachen wollte. Es war auch wirklich wenig Aussicht für Klein-Bengt, allein die sechs Menschen in der Stube zurückhalten zu können, während der Regimentsschreiber die Polizei holte.

Klein-Bengt hatte indes schon die ganze Zeit her über etwas nachgegrübelt. Er hörte, wie es im Backofen knisterte und brannte, aber er sah keinerlei Anzeichen, daß die Hausfrau etwas zum Backen hergerichtet hatte.

Ohne ein Wort zu sagen, schlich er sich hin und riß den Backofen auf.

»Kommen Sie, Herr, und sehen Sie, was für ein Brot in diesem Backofen gebacken wird!« rief er.

Ja, da drinnen im Backofen, mitten auf einer Schicht brennenden Holzes, stand die Geldkassette.

Der Mann und das Weib wollten sich auf Klein-Bengt stürzen, aber der Regimentsschreiber Lagerlöf war ein starker Mann. Er stieß das Diebespack zurück, und als die Landstreicher, die auch anfingen, sich zu regen, sahen, was für Püffe er austeilen konnte, verhielten sie sich ruhig.

Klein-Bengt faßte in den Ofen und zog den Kasten mit einem Griff auf den Herd heraus. Er konnte sich nicht einen Augenblick gedulden. Selbst auf die Gefahr hin, sich die Finger zu verbrennen, mußte er wissen, welchen Schaden der Kasten gelitten hatte.

»Das seh' ich, geöffnet ist er nicht worden!« rief er.

Und so war es auch. Das gute Eichenholz hatte widerstanden. Die Diebe hatten die ganze Nacht daran gehämmert und gefeilt, aber weder dem Kunstschloß noch dem Eisenbeschlag etwas anhaben können. Als letzten Ausweg hatten sie den Kasten in den Backofen gestellt. Aber Klein-Bengt war ihnen zu schnell gewesen. Nur ein kleines Eckchen war angekohlt.

Die Pfahlhütte

Alle alten Leute auf dem Hofe erklärten einstimmig, das Haus, das den Steinhäusern an Alter am nächsten komme, sei der alte Pfahlbau. Der aber stammte nicht aus der Zeit der ersten Ansiedler, sondern war etwa hundert Jahre später hergestellt worden, als Mårbacka in einen richtigen Bauernhof verwandelt worden war.

Die Bauersleute, die damals dort wohnten, hatten sich wohl beeilt, eine Pfahlhütte aufzustellen, denn eine solche gehörte auf jeden Hof, der von einiger Bedeutung war.

Jedenfalls wurde diese Pfahlhütte auf die einfachste Weise hergestellt. Sie stand auf ziemlich niederen Pflöcken und war ohne jede Verzierung. Die Tür war so niedrig, daß man sich bücken mußte, um hineinzukommen. Aber das Schloß und der Schlüssel waren dafür um so größer, sie hätten für ein Gefängnis ausgereicht.

Fenster hatte die Hütte nicht, nur kleine Öffnungen, die mit Läden geschlossen wurden. Wenn man im Sommer die Luken offenhalten wollte, setzte man eine Art Fliegengitter ein, die aus Spänen gemacht waren. Man flocht dünne Späne zu einem Schachbrettmuster zusammen, bis man eine Scheibe hatte, die groß genug war, die Öffnung zu verschließen. Viel Licht kam ja nicht durch die Ritzen, aber es war doch nicht vollständig dunkel in dem Raum.

Die Pfahlhütte hatte zwei Stockwerke, von denen das obere viel sorgfältiger eingerichtet war als das untere. Dort hatten die Bauern seinerzeit ihr kostbarstes Eigentum verwahrt.

Vermutlich sah die Pfahlhütte zu Leutnant Lagerlöfs Zeit noch ganz so aus, wie sie zu allererst gewesen war. Das äußere Dach war vielleicht erneuert worden, im übrigen aber war alles beim alten geblieben. Auch an der Treppe war nichts geändert worden, obwohl die Stufen so dicht aufeinander lagen, daß man keinen Fuß dazwischensetzen konnte. Auch kam nie eine Glasscheibe in die Fensterluken.

Im Herbst sah das Innere sehr stattlich aus. Im unteren Stockwerk standen große Kasten voll frisch gemahlenen Mehls, daneben zwei weite Kufen, bis zum Rande gefüllt mit Rind- und Schweinefleischstücken, die in einer Salzlake lagen. Neben diesen standen beieinander Bottiche und Eimer mit Würsten aller Art und Gattung, so wie sie beim Herbstschlachtfest zubereitet worden waren. Ganz hinten in der Ecke befand sich eine Heringstonne, ein Fäßchen mit gesalzenen Felchen, oft sogar mit Lachsstücken, außerdem noch Fässer mit eingesalzenen Bohnen, eingesalzenem Spinat und Behälter mit grünen und gelben Erbsen.

Im oberen Stockwerk standen große Butterfässer, die im Sommer gefüllt und für den Winter verwahrt wurden. Auf Regalen über den Luken lagen lange Reihen Käse, an der Decke hingen geräucherte Schinken vom vorigen Jahre. Der selbstgebaute Hopfen wurde in Säcken aufbewahrt, die dick wie Federbetten strotzten, und wieder in andern war das gemälzte Korn. Ein ganzer Jahresvorrat war hier angehäuft.

Hier im Vorratshause herrschte die Haushälterin. Das Vorratshaus war ihre Domäne, und der Schlüssel dazu kam selten aus ihrer Hand. Mamsell Lovisa Lagerlöf konnte in der Speisekammer schalten und walten, aber in das Vorratshaus ging die Haushälterin am liebsten selber.

Ebenso herrschte die Haushälterin auch über die Zubereitung der eigentlichen Mahlzeiten in der Küche. Saft einkochen, Heringe einlegen und kleine Kuchen backen, das mochte ja Mamsell Lovisa tun; aber wenn es einen Braten zu schmoren, Käse zu bereiten oder Hartbrot zu backen gab, dann übernahm die Haushälterin die Oberleitung.

Die Kinder in Mårbacka hegten eine große Liebe und ein unbegrenztes Vertrauen zu ihr. Es fehlte nicht viel, daß sie sie für die wichtigste Person auf dem ganzen Hofe hielten.

Sie sahen ja auch immer, daß alle Verwandten, die auf Besuch kamen, sofort in die Küche gingen, um die Haushälterin zu begrüßen, und wenn irgendein wichtiges Familienereignis eintrat, so rief Leutnant Lagerlöf sie herein und besprach es mit ihr. Und wenn Daniel und Johann nach Neujahr oder Ostern wieder in ihre Schule zurückreisten, bekamen sie strenge Anweisung, sich auch von der Haushälterin zu verabschieden.

Die Kinder hörten auch alle Gäste sagen, es sei für Frau Lagerlöf das größte Glück, eine so treue Dienerin in der Küche zu haben. Unter ihren Händen verkomme nicht das geringste.

Außerdem bekam man nirgends solches Winterbier, solches Hartbrot oder so vorzüglich zubereitete Speisen wie auf Mårbacka, und das war ganz allein das Verdienst der alten Haushälterin, das wußten alle miteinander.

So war es nicht zu verwundern, daß die Kinder sie für den Grundpfeiler hielten, auf dem alles ruhte. Sie glaubten steif und fest, ohne die Haushälterin würde auf Mårbacka alles drunter und drüber gehen.

Aber eines Tages war die kleine Anna Lagerlöf hinter ein Geheimnis gekommen, das sie ganz entsetzte. Sie konnte es auch nicht allein tragen, sondern mußte es gleich ihrer Schwester Selma anvertrauen: sie hatte eines von den Mädchen sagen hören, die Haushälterin sei verheiratet und habe einen Mann.

Die beiden kleinen Mädchen befanden sich in unglaublicher Aufregung. Wenn die Haushälterin verheiratet war und einen Mann hatte, dann war es ja gar nicht sicher, ob man sie für immer auf Mårbacka festhalten könnte.

Und was sollte dann aus ihrer Mama werden, die jetzt eine so gute Hilfe an ihr hatte? Wie würde es ihnen selber gehen, ihnen, den Kindern, denen sie einen Leckerbissen zusteckte, so oft sie in die Küche kamen? Und wie sollte der ganze Hof weiterbestehen ohne die Haushälterin?

Die beiden kleinen Mädchen mußten unbedingt ergründen, wie die Sache sich eigentlich verhielt. So beschlossen sie, die Kinder-Maja, ihr neues Kindermädchen, zu fragen, ob es denn wirklich möglich sein könne, daß die Haushälterin verheiratet sei.

Ja, die Kinder-Maja wußte die ganze Geschichte. Sie hatte ihre Mutter davon erzählen hören, die gerade zu der Zeit, als sich die Sache abspielte, auf Mårbacka diente.

So war also alles wahr und keine Lüge, obwohl die Kinder bis jetzt keine Ahnung gehabt hatten, daß die Haushälterin verheiratet sei. Und der Mann lebte noch und wohnte in Karlstadt und war ein Schreiner. Wäre er doch nur tot gewesen!

Das Ganze aber war so zugegangen: Als Leutnant Lagerlöf und sein Bruder nach Karlstadt zur Schule gingen, hatte die alte Frau Lagerlöf ihre treue Haushälterin Maja Perstochter mit ihnen geschickt. Sie sollte für die Jungen sorgen und kochen; aber dort hatte Maja Perstochter den Schreiner kennen gelernt, und er hatte um sie geworben.

Und die Mutter der Kinder-Maja hatte gesagt, in dem Frühling, als die Haushälterin heimgekommen sei und berichtet habe, daß sie heiraten wolle, da sei die alte Herrin tief bekümmert und entsetzt gewesen, denn darüber habe sie sich nicht hinwegtäuschen können, daß sie mit der Haushälterin ihren größten Schatz verliere. »Und was ist es denn für ein Mann, den du heiraten willst, Maja?« hatte sie gefragt. »Weißt du auch, ob er ein braver Mensch ist?«

Ja, dessen sei sie sicher. Er sei Schreinermeister mit einer eigenen Werkstatt und eigenem Anwesen. Alles bei ihm sei in bester Ordnung, sie könnten jeden Augenblick heiraten, und einen besseren Mann könne sie gar nicht bekommen.

»Aber wie wirst du es aushalten, wenn du jahraus, jahrein in den kahlen Straßen einer Stadt sitzen sollst, du, die du lebenslang auf dem Lande gewohnt hast?« fragte Frau Lagerlöf.

O, davor war der Haushälterin gar nicht bange. Sie würde es ja wunderschön bekommen. Sie würde ein höchst bequemes Leben haben, brauchte nicht zu backen und nicht zu brauen, sondern nur auf den Markt zu gehen und alles einzukaufen, was sie für den Haushalt nötig hatte.

Als Frau Lagerlöf Maja Perstochter so reden hörte, wurde ihr eines vollkommen klar: ihre Haushälterin war von der Heiratslust erfaßt worden, und es blieb ihr selbst nichts andres übrig, als die Hochzeit zuzurüsten. Die Hochzeit fand auch auf Mårbacka statt, der Bräutigam traf ein und sah aus wie ein verständiger, tüchtiger Mann, und am Tage nach der Hochzeit fuhr er mit seiner Frau nach Karlstadt.

Aber vierzehn Tage später, ja vielleicht war es noch nicht einmal ganz so lange, hatte Frau Lagerlöf eines Abends eben die Schlüssel zum Vorratshause in die Hand genommen und ging hinaus, um Schinken zum Abendbrot abzuschneiden. Aber niemals konnte sie den Schlüssel in die Hand nehmen, ohne an Maja Perstochter zu denken und sich zu fragen, wie es ihr wohl gehen mochte.

»Hätte ich sie doch nicht nach Karlstadt geschickt!« dachte sie. »Dann hätte ich noch meine gute Stütze und brauchte nicht zwanzigmal am Tage ins Vorratshaus zu laufen, wie ich es jetzt tun muß.«

Als sie eben in das Vorratshaus hineingehen wollte, warf sie noch einen Blick die Allee hinunter nach der Landstraße, denn die Aussicht dahin war damals noch frei. Und da blieb sie wie angewurzelt stehen, denn unter den Birken tauchte die Gestalt einer Frau auf, die gerade so aussah wie Maja Perstochter, ihre treue Magd und Stütze von Kindesbeinen an, und der Schlüssel fiel ihr aus der Hand.

Je näher die Fremde kam, desto mehr schwanden alle Zweifel. Und als diese vor sie hintrat und: »Guten Abend, gnädige Frau«, sagte, mußte sie ja schließlich ihren Augen trauen.

»Aber bist du es denn wirklich, Maja Perstochter?« fragte sie. »Was führt dich her? Hast du keinen guten Mann?«

»Er trinkt den ganzen Tag«, versetzte die Haushälterin. »Solange wir nun verheiratet sind, ist er jeden Tag betrunken gewesen. Er trinkt den reinen Spiritus, den er zu seinem Handwerk braucht. Mit solch einem Schweinekerl kann ich nicht leben.«

»Aber du brauchtest ja nur auf den Markt zu gehen und einzukaufen und keine Arbeit zu tun«, sagte die alte Frau Lagerlöf.

»Ich will für Sie arbeiten, gnädige Frau, und Sie auf Händen tragen, wenn ich nur wiederkommen darf«, beteuerte die Haushälterin. »Tag und Nacht hab' ich mich nach Mårbacka zurückgesehnt.«

»Komm herein, wir wollen mit dem Herrn Regimentsschreiber darüber reden«, sagte die alte Herrin; sie freute sich so, daß ihr die hellen Tränen in den Augen standen. »Und wenn es Gottes Wille ist, so wollen wir uns in diesem Leben nie mehr trennen«, fügte sie hinzu.

Und so kam es auch. Die Haushälterin blieb auf Mårbacka. Ihr Mann schien zu verstehen, daß es sich nicht lohnte, seine Frau zurückzufordern. Er kam nie, sie zu holen, so konnte sie bleiben, wo sie war. Sie nahm ihren Trauring vom Finger und legte ihn in ihre Kleidertruhe, und dann wurde nie mehr über diese Angelegenheit gesprochen.

Die kleinen Töchter des Leutnants Lagerlöf hätten sich ja nun, nachdem sie dies gehört hatten, beruhigen können, aber sie ängstigten sich noch lange Zeit nachher. Solange der Schreiner noch lebte, könnte er doch eines schönen Tages auf den Gedanken kommen, seine Frau zurückzufordern. Und wenn sie am Vorratshaus standen, das die Aussicht auf die Landstraße hatte, erwarteten sie immer, ihn daherkommen zu sehen. Ja, und die Kinder-Maja hatte gesagt, wenn er käme und seine Frau zurückverlangte, müßte sie mit ihm gehen.

Sie wußten nicht genau, wie alt die Haushälterin war. Sie selbst hatte ihr Geburtsjahr vergessen, und was im Kirchenbuche stand, soll nicht richtig gewesen sein. Sie war wohl über siebzig, aber der Schreiner hätte sie, ein so ausgezeichnetes Wesen, wie sie nun einmal war, doch immer noch zurückverlangen können.

Und was sollte dann aus Mårbacka werden?

Die Gesindestube

In alter Zeit, wo ein Dienstbote auf einem Hofe noch seine Kleider von der Herrschaft erhielt, hatte natürlich das weibliche Gesinde das ganze Jahr hindurch alle Hände voll zu tun. Während der langen dunklen Winterabende und der langen dunklen Wintermorgen mußten sie am Spinnrad sitzen und Vorrat für den Webstuhl schaffen. Die Weberei selber aber konnten sie vor dem Frühjahr, ehe die Tage lang wurden, nicht beginnen, denn diese Arbeit kann nicht im Halbdunkel verrichtet werden.

Wenn man mit dem groben Wollzeug, der Leinwand, den Baumwollstoffen und den dünneren Wollzeugen fertig werden wollte, ehe der Dorfschneider ins Haus kam, galt es, sich am Webstuhl tüchtig zu regen. Aber nie ging es damit richtig vorwärts, wenn der Webstuhl in der Küche stand. Nein, die Weberinnen saßen am besten allein, jede für sich in einer Stube, wo sie ganz ungestört waren.

Darum hatte man früher auch auf jedem ordentlichen Hofe eine besondere Webkammer, und eine solche befand sich auch auf Mårbacka. Sie stammte aus der Zeit der alten Pastoren. Über der Gesindestube hatte man noch einen Stock aufgezimmert, der aus zwei niederen Stuben bestand, mit Kachelöfen aus Ziegelsteinen, wenn man so sagen darf, aus Lehmwänden und einer Balkendecke. In der inneren Kammer wohnte der Großknecht, in der äußeren standen zwei Webstühle, an jedem Fenster einer.

Die Webstube war noch zu Leutnant Lagerlöfs Zeit in Betrieb, obwohl man den Dienstboten ihren Lohn nicht mehr in Kleidern gab, sondern in Geld. Es war Frau Lagerlöfs größte Freude, weben zu lassen, und Handtücher, Bettücher, Tischtücher, Matten, Gardinen, Möbel- und Kleiderstoffe, kurz alles, was man im Haushalt brauchte, wurde daheim angefertigt. Den ganzen Sommer hindurch hatte sie ihre Webstühle im Gang.

Aber im Herbst stellte man die Webstühle beiseite, und an ihre Stelle kam ein langer, niedriger Tisch, der über und über mit Pechflecken bedeckt war, und die runden dreibeinigen Schemel aus der Gesindestube. Das war das Zeichen, daß man den Gemeindeschuster erwartete, den Soldaten Svens.

Der Schuster und seine Lehrjungen kamen auch bald daher mit großen Ranzen, die ganz vollgestopft waren mit Ahlen, Hämmern, Leisten, Pechdraht, Borstenbündeln, Absatzeisen, Schnürringen und Stiften, was alles auf dem niedern Tisch ausgebreitet wurde.

Der Schuster war lang und mager mit schwarzem Haar und Vollbart, und wer ihn zum ersten Male sah, hielt ihn für einen selbstbewußten, gefährlichen Kerl, der am besten in den Krieg paßte. Aber wenn er sprach, hörte man eine weiche, schüchterne Stimme. Die Augen waren blau und sanft, und seine ganze Haltung war ein wenig linkisch. Alles in allem war er nichts weniger als gefährlich.

Die Kinder auf Mårbacka waren überglücklich, wenn der Schuhmacher eintraf. Sobald sie eine freie Stunde hatten, stürmten sie die schwierige Treppe hinauf in die Webkammer. Sie kamen weniger, um zu schwatzen, denn der Soldat Svens war ein fleißiger und wenig redseliger Mensch, als um bei der Arbeit zuzusehen und zu beobachten, wie ein Stiefel entstand, vom Aufspannen des Leders auf den Leisten an bis zum Ausschneiden der Schnürriemen.

Meist saß der Schuhmacher still mit gesenktem Kopfe da, aber er lebte ganz auf, wenn er Leutnant Lagerlöfs Schritt auf der Treppe, die zu der Knechtkammer führte, hörte.

Er und der Leutnant waren alte Regimentskameraden, und wenn sie eine Zeitlang über Stiefel und Sohlleder und Wichse verhandelt hatten, so fingen sie an, von den alten Geschichten aus dem Lager bei Trosnäs zu reden. Wenn sie so recht im Zuge waren, konnte der Leutnant den Schuhmacher dazu bringen, ein altes Soldatenlied anzustimmen, das recht verschieden war von allen anderen Kriegsgesängen, denn es begann: »Wir Helden all von Schweden, wir schlagen uns nicht gern.« Dieses Lied hatten die Soldaten selber gedichtet, als sie im Jahre 1848 nach Dänemark hinabzogen, in den Feldzug, der der »Butterbrotkrieg« genannt wurde.

Es war sehr sonderbar, daß der Schuhmacher Svens so gern Geschichten von dem Schneider Lager erzählte, der zur Zeit des Regimentschreibers so manches liebe Mal in der gleichen Stube gesessen und genäht hatte, und der ebenso munter und spaßig gewesen war, wie der Schuhmacher düster und tiefsinnig.

»Der Herr Leutnant haben doch gewiß gehört, wie es zuging, als der Schneider Lager seinen Namen bekam?« sagte der Schuhmacher.

Der Leutnant kannte die Geschichte zwar so genau wie sein Vaterunser, aber er antwortete trotzdem: »Vielleicht hab' ich es schon einmal gehört, aber Ihr könnt es ja erzählen, Svens, wie Ihr es wißt.«

»Na also: Lager war ja Soldat wie ich, obwohl vor meiner Zeit. Sie sagten im Regiment, er habe Lars Andersson geheißen. Aber dann kam die Verordnung, die Soldaten sollten sich neue Namen wählen, weil es gar zu viele gab, die Andersson und Johannsson hießen.

Eines Tages bei einem Appell in Trosnäs wurde von der Mannschaft einer nach dem andern zum Regimentsschreiber Lagerlöf, dem Vater des Herrn Leutnant hereingerufen, um sich darüber zu äußern, unter welchem Namen man ihn in die Stammrolle eintragen solle. Lars Andersson kam dann auch mit den andern herein, und der Herr Regimentsschreiber kannte ihn recht wohl; er wußte, welch ein Spaßvogel dieser Schneider war, denn er hatte ja Jahr für Jahr wochenlang in Mårbacka gehockt und Anzüge für ihn selber und die Leute genäht. Von seinem Kommen bis zum Gehen gab es da nichts als Possen und Gelächter. Er konnte alle Leute auf jedem Hofe im ganzen Kirchspiel nachahmen, er ließ Gegenstände verschwinden wie ein Taschenspieler und konnte auf einem Stock blasen, daß man glaubte, ein ganzes Regiment anmarschieren zu hören. Aber er war auch gefährlich, denn er log allerhand Geschichten zusammen und hetzte die Leute auf den Höfen gegeneinander auf.

›Nun, Lars Andersson, wie willst du heißen?‹ fragte der Regimentsschreiber, und er setzte seine ernsthafteste Miene auf, damit ihm der andere nicht mit irgend welchen Possen kommen solle.

›Ei der Tausend, Herr Regimentsschreiber!‹ erwiderte der Schneider. ›Darf ich mich nennen, wie ich will?‹ Und er legte seine Stirne in Falten, damit es aussehen sollte, als dächte er angestrengt darüber nach, welchen Namen er sich zulegen könnte.

›Ja, Lars Andersson, das darfst du‹, antwortete der Regimentsschreiber. Aber er kannte seinen Mann, und deshalb fügte er hinzu, es müsse ein ordentlicher, anständiger Name und nicht irgendein Unsinn sein.

Können sich der Herr Leutnant noch erinnern, wie Ihr Herr Vater aussah? Er war gewiß ein guter Mann, aber es gab doch viele, die sich vor ihm fürchteten, nur weil er so groß und stattlich war und schwarze buschige Augenbrauen hatte.

Aber der Schneider fürchtete sich nicht, o nein!

›Nun, dann will ich Lagerlöf heißen‹, sagte er, ›denn das ist ein ehrlicher und geachteter Name. Ich kenne keinen zweiten in ganz Wermland, der einen so guten Klang hätte.‹

Als der Regimentsschreiber hörte, daß der Schelm sich Lagerlöf heißen wollte, stieg ihm das Blut in den Kopf.

›Nein, das geht nicht‹, sagte er. ›Zwei gleiche Namen sollen nicht in demselben Regimente sein.‹

›Es sind aber mindestens drei da, die sich Uggla, und vier, die sich Liliehöök heißen‹, erwiderte der Schneider. ›Da wird wohl niemand an mir und dem Herrn Regimentsschreiber Anstoß nehmen‹, setzte er hinzu.

›Aber begreifst du denn nicht, Lars Andersson, daß dies nicht angeht?‹ fragte der Regimentsschreiber.

›Ich hätte den Namen gar nicht gewählt, wenn der Herr Regimentsschreiber mir nicht selber erlaubt hätte, mich zu heißen, wie ich will‹, sagte der Schneider und stellte sich recht ernsthaft und demütig. ›Ich weiß ja, wenn der Herr Regimentsschreiber etwas sagt, so kann man sich darauf verlassen.‹

Damit schwieg er; aber der Regimentsschreiber saß in tiefe Gedanken versunken da, wie er sich wohl aus dieser schwierigen Lage ziehen könne. Denn er wußte nicht nur, daß er zum Gespött des ganzen Regiments werden würde, sondern er wollte auch um keinen Preis, daß so ein Schlingel wie dieser Schneider Lagerlöf heißen sollte.

›Hör mal, Lars‹, begann er, ›es wäre ja vielleicht möglich, daß wir beide denselben Namen innerhalb des Regiments führten; aber siehst du, daheim auf Mårbacka ist dies ganz ausgeschlossen. Du mußt also darauf gefaßt sein, nie wieder in Mårbacka nähen zu dürfen, wenn du auf dieser Sache beharrst.‹

Nun war die Reihe des Erschreckens an dem Schneider, denn die Wochen, die er auf Mårbacka verbrachte, waren die schönsten des ganzen Jahres. Nirgends wurde er so gut aufgenommen, und nirgends freute man sich so über seine Geschichten und Späße wie dort.

›Vielleicht begnügst du dich damit, Lager zu heißen‹, fuhr der Regimentsschreiber fort, als er bei dem andern ein Schwanken zu bemerken glaubte.

So mußte sich also der Schneider für den Namen Lager entschließen, und so hieß er denn auch sein ganzes Leben lang.«

Das Dienstmädchen

Sie war eine alte Jungfer, die mehrere Jahre bei Frau Lagerlöfs Eltern in Filipstadt gedient und ihre spätere Herrin schon als Kind gekannt hatte. Jetzt, auf ihre alten Tage, wohnte sie in Ämtervik, aber ein paarmal im Jahre kam sie nach Mårbacka zu Besuch.

Sie war groß, ansehnlich und hatte schneeweißes Haar, einen strengen Mund, eine energische Nase und ein ernsthaftes Wesen. Für die Geistlichkeit und für Kolporteure hatte sie sehr viel übrig und besuchte gern Betstunden und Nähvereine. Von Tanzvergnügen oder Romanen und Liebschaften durfte man nicht mit ihr reden, das konnte sie nicht ausstehen.

Auch durfte man in ihrer Gegenwart weder üble Nachreden führen noch von schönen Kleidern sprechen, und von dem sündhaften Treiben der Welt wollte sie gar nichts wissen.

Es war gar nicht leicht, etwas zu finden, worüber man mit ihr sprechen durfte. Da blieben fast keine anderen Gesprächsgegenstände als das Wetter und das Kochen. Das tat ja eine Weile den Dienst, aber schließlich erschöpfte es sich auch, denn das Mädchen war nicht redselig und gab auf alle Fragen nur kurze und wohlerwogene Antworten.

Immerhin gab es ein Mittel, das Mädchen zum Sprechen zu bringen, aber auch das war ein Wagestück. Sie war nämlich eine Zeitlang Haushälterin in einer großen Propstei gewesen, und Propstens hatten zwanzig Kinder gehabt, die noch alle am Leben und schon in reifen Jahren waren. Mit dieser Familie stand das Mädchen noch immer in Verbindung, und es war ihre größte Freude, von ihr zu sprechen.

Eines Nachmittags saß man in Mårbacka im Eßzimmer und trank Kaffee. Das Auftragebrett stand auf dem Eßtisch mit Tassen und Untertassen, Zuckerdose, Rahmkännchen und Brötchenkorb, und daneben stand die Kaffeemaschine, denn nur bei feierlichem Besuch wurde der Kaffee in die Kanne gegossen.

Jeder einzelne holte sich der Reihe nach seinen Kaffee. Keiner nahm mehr als ein Stückchen Zucker, einen Weizenzwieback und einen Roggenzwieback. Ebensowenig nahm man mehr als eine Bretzel oder einen Pfefferkuchen oder ein Stückchen Backwerk, wenn welches aufgetragen wurde. Wer seine Tasse gefüllt hatte, setzte sich wieder auf seinen Platz und trank. Frau Luise Lagerlöf saß in einer Sofaecke, Mamsell Lovisa in der anderen und Leutnant Lagerlöf in seinem Schaukelstuhl, der sein ausschließliches Eigentum war, und in den sich sonst niemand zu setzen wagte. Herr Tyberg, Johanns Hauslehrer, saß auf einem Rohrstuhl, und zwischen diesen Vieren stand ein runder Tisch aus Erlenholz. Johann Lagerlöf hatte seinen Platz an einem der kleinen Fenstertischchen, an dem andern saß Anna, und an ihrem Spieltischchen im Ofenwinkel saßen die beiden Kleinsten, Selma und Gerda, die übrigens, weil sie noch zu klein waren, keinen Kaffee bekamen, sondern sich mit einem Glas Milch zufrieden geben mußten.

An diesem Tage war das Mädchen zu Besuch gekommen und beim Kaffee zugegen. Sie hatte auf einem der schwarzen Rohrstühle, die gewöhnlich unter den Eßtisch geschoben waren, Platz genommen und saß ungefähr mitten im Zimmer, wo alle sie sehen und sich mit ihr unterhalten konnten.

Während man Kaffee trank, hatte man schon alle unverfänglichen Gesprächsgegenstände abgehandelt, jetzt waren diese zu Ende, und so begann Leutnant Lagerlöf, der keine Pause in der Unterhaltung leiden konnte, das Mädchen nach den Missionen, den Kolporteuren, den Betstunden und Nähvereinen zu fragen.

Wenn man wußte, wie sie war und wie er war, so wußte man auch, daß das nicht lange gut tun würde.

Frau Lagerlöf versuchte zwar, dem Gespräch eine andre Wendung zu geben, Mamsell Lovisa versetzte ihrem Bruder einen kleinen Stoß mit dem Ellbogen, und Herr Tyberg warf eine Bemerkung über den besonders gut geratenen Kaffee dazwischen. Aber der Leutnant und das Mädchen ließen sich nicht irre machen, und jetzt bekamen sie auch schon heiße Köpfe.

Nun wußte aber Frau Lagerlöf eines ganz bestimmt: wenn das Mädchen an irgendeiner Äußerung des Leutnants über die Mission Anstand nahm, so kam sie mindestens ein Jahr lang nicht wieder. Aber das Mädchen war darauf angewiesen, sich wenigstens alle halben Jahre in Mårbacka einzufinden, da ein paar gute Mahlzeiten zu halten und einen tüchtigen Vorrat Mehl mitzubekommen.

Nun wußte sich Frau Lagerlöf in ihrer Angst keinen andern Rat mehr, als das Mädchen zu fragen, was aus den zwanzig Kindern des Propstes geworden sei.

Und sofort vergaß das Mädchen sowohl die äußere wie die innere Mission und alle Kolporteure und Heidenkinder und sogar den gottlosen Leutnant Lagerlöf. Sie strahlte wie eine Sonne und fing sofort an zu berichten:

»Ja, das ist das merkwürdigste, was ich je im Leben mitgemacht habe. Dort auf dem Hofe mußten wir alle vierzehn Tage große Wäsche halten, und die Bütten waren immer übervoll mit Kleidungsstücken. Niemand durfte je allein essen, man mußte immer auf jeder Seite ein Kind sitzen haben, für das man Essen zurichten und das man füttern mußte. Und wenn man Weißzeug nähte, bekam man immer ganze Stücke Wäschetuch mit nach Hause. Und der Schuhmacher, der Schneider und die Näherin kamen nie in ein andres Haus im Kirchspiel, sie hatten in diesem einen ausreichend zu tun.«

»Aber, liebe Anna, wie konnten Propstens nur eine solche Schar Kinder aufziehen?« sagte Frau Lagerlöf, um das Gespräch richtig in Gang zu bringen.

»Ja, wissen Sie, das ging, und sie sind allesamt vortreffliche Menschen geworden«, versetzte das Mädchen. »Bessere Kinder hat es auch nie gegeben. Bedenken Sie doch nur, was die älteste Tochter, die Eva, für eine Arbeit hatte, die Kinderkleider zu nähen und die Kleinen zu hüten! Sie hat sich aber auch schon mit siebzehn Jahren mit dem Diakonus Jansson in Skilanda verheiratet, und als dieser starb, bekam sie einen Propst in Westergötland. Sie selbst bekam auch eine Menge Kinder, aber seit ihrer ersten Hochzeit ist sie nie wieder in ihr Elternhaus heimgekommen.«

»Sie dachte wohl, es sei dort ohnedies schon voll genug«, bemerkte Leutnant Lagerlöf trocken.

Bei diesen Worten kicherten die Kleinen im Ofenwinkel ein wenig; da traf sie aber ein so strenger Blick des Mädchens, daß sie sofort verstummten.

»Der zweite in der Reihe war ein Knabe, der Adam hieß«, fuhr das Mädchen fort. »Er war der ärgste Schreihals, der mir je vorgekommen ist. Als er dann Pfarrer geworden war, sang er beim Gottesdienst prachtvoll, und so wurde er zum Hofprediger ernannt. Er hätte heiraten können, wen er wollte, aber er blieb sein Leben lang Junggeselle, warum weiß ich nicht.«

»Ei, was Sie sagen!« rief Herr Tyberg; und wieder fingen die Kleinen an zu kichern, aber es traf sie und Herrn Tyberg ein Blick, bei dem sie entsetzt verstummten.

»Der nächste in der Reihe war ein Junge, namens Noah«, berichtete das Mädchen. »Und wissen Sie, meine Herrschaften, der war ein wahrer Meister beim Fischfang und schaffte auch sonst Nahrung ins Haus, ja, dem waren wir von Herzen dankbar, ich und seine Mutter. Er wurde Pfarrer in Halland, und solang er lebte, schickte er seinen Eltern jedes Jahr eine große Tonne gesalzenen Lachs.« »A propos, Lachs!« rief Leutnant Lagerlöf, und er hatte die Absicht, zu sagen, sie wollten doch auch einen neuen Vorrat Lachs kommen lassen; aber es war nicht möglich, das Mädchen zu unterbrechen.

»Dann kam wieder ein Junge, der Sem hieß«, fuhr sie fort, »und er war ein ebenso großer Jäger wie Noah ein Fischer. Die Herrschaften sollten nur die Auerhähne und die Hasen gesehen haben, die er heimtrug! Er wurde auch Pfarrer und bekam eine große Pfründe unten in Schonen. Und jeden Winter schickte er ein selbstgeschossenes Reh heim.«

Als das Mädchen mit Sem fertig war, schöpfte sie tief Atem und blickte umher. Aber alle saßen schweigend und ergeben da, und niemand dachte daran, sie zu unterbrechen.

»Nach den drei Jungen kam wieder ein Mädchen, das Sara hieß, und ich kann vor Gott und den Menschen beschwören, daß ich in meinem Leben niemand gesehen habe, der ein solches Genie im Gurkeneinlegen und im Einmachen von Heringen war. Immerhin ist sie ledig geblieben. Sie ging nach Stockholm und hielt ihrem Bruder, dem Hofprediger, Haus.«

»Die nächste war auch eine Tochter, und ihr Name war Rebekka«, erzählte das Mädchen weiter. »Ich muß sagen, von allen Kindern kam ich mit ihr am wenigsten zurecht. Sie hatte einen so guten Lernkopf, daß sie hätte Pfarrer werden können wie die Brüder. Außerdem verstand sie sich aufs Versemachen. Die Leute sagten, es gebe im ganzen Lande niemand, der so geschickt im Dichten von Wiegenliedern sei. Jedenfalls hat sie geheiratet, aber nur einen Schulmeister.« In diesem Augenblick wurde das Mädchen aber doch unterbrochen, denn das Stubenmädchen trat herein und brachte frischgekochten Kaffee zur zweiten Tasse.

»Es soll mich wundern, ob in der ganzen Gesellschaft dort eines war, das einen anständigen Kaffee kochen konnte«, meinte Leutnant Lagerlöf.

»Der Herr Leutnant nimmt mir das Wort aus dem Munde«, sagte das Mädchen. »Es klingt wohl komisch, allein von all den vielen Kindern hatte der vierte Junge ein ganz besonderes Talent fürs Kochen. Er hieß Isaak, und er zeigte sich so anstellig im Saucenrühren und Bratenbräunen, daß man an ihm wirklich eine große Hilfe in der Küche hatte.«

»Na, er war wohl am geübtesten im Kochen von Kinderbrei«, warf Herr Tyberg ein.

Nun ertönte ringsum im Zimmer ein Kichern, und zwar nicht nur aus der Ofenecke; doch Frau Lagerlöf blieb auch jetzt noch ernsthaft.

»Es ist wunderbar, was Sie für ein Gedächtnis haben, Anna, und wie gut Sie sich an alles erinnern können«, lobte sie, damit die Alte die gute Laune nicht verlieren sollte.

Das Mädchen war sonst äußerst empfindlich, aber nie, wenn sie von ihren geliebten Propstkindern erzählen durfte. Dann blieb sie unbewegt. Aber Herr Tyberg hatte die Anwesenden jedenfalls von dem Isaak befreit. Sie bekamen nicht zu hören, welchen Gebrauch er von seinen Talenten machte.

»Die beiden nächsten waren Zwillinge und hießen Esau und Jakob«, fuhr das Mädchen unentwegt fort. »Sie glichen einander aufs Haar, und ich habe sie nie unterscheiden können. Ich habe nie geschicktere Kinder im Reiten, Springen und Schlittschuhlaufen gesehen. Aber auch diese beiden wurden Pfarrer.«

»Ich dachte, sie wären Seiltänzer geworden«, warf Leutnant Lagerlöf ein.

»Pfarrer sind sie geworden wie die anderen«, stellte das Mädchen fest, ohne sich stören zu lassen. »Esau kam nach Jämtland und konnte da in den Bergen herumklettern. Jakob war in Bohuslän angestellt, und da konnte er sich nach Herzenslust in Booten und Schiffen herumtreiben. Sie kamen beide an den rechten Platz und hatten Gelegenheit, die Gaben zu verwerten, die Gott ihnen so gut wie ihren Geschwistern gegeben hatte.«

»Aber wie ging es dann dem Josef?« fragte der Leutnant.

»Zuerst kamen zwei Mädchen, Herr Leutnant, die Rahel und Lea hießen«, stellte das Mädchen fest, ohne sich aus der Ruhe bringen zu lassen. »Die waren anstellig im Garten, die eine pflanzte, die andre jätete. Als der Bischof zur Visitation kam, sagte er, er habe noch nirgends so gute Erbsen und so herrliche Erdbeeren vorgesetzt bekommen. Das war Rahels und Leas Verdienst. Alle beide heirateten Hüttenbesitzer. Und nun komme ich zu Josef.«

»Der wurde wohl Landmann«, bemerkte der Leutnant.

»Ja, er wurde Verwalter bei seinem Vater«, sagte das Mädchen. »Er verstand sich gut auf Ackerbau und Viehzucht und schaffte seinen Eltern und Geschwistern Brot ins Haus.«

»Dachte ich mir's doch!« sagte der Leutnant, und damit stand er auf, ging zur Tür, wo sein Hut und sein Stock hingen, und machte sich ohne weiteres Wort auf und davon.

»Der dreizehnte war der Daniel«, berichtete das Mädchen weiter. »Er war dreimal verheiratet, und von jeder Frau hatte er drei Kinder. Wenn die Herrschaften wünschen, kann ich Ihnen gleich sagen, wie die Frauen und die Kinder hießen. Aber vorerst ist es wohl besser, wenn ich mich an die zwanzig Geschwister halte.«

Ja, das erschien ihnen allen am rätlichsten; aber Frau Lagerlöf wurde es angst und bange bei diesen Aussichten. »Ich will mir eine Handarbeit holen«, sagte sie, »dann kann ich besser zuhören.« Aber es dauerte eine recht gute Weile, bis sie mit dieser Arbeit wieder erschien.

»Die vierzehnte war ein Mädchen und hieß Deborah. Sie ging mir beim Brotbacken außerordentlich geschickt zur Hand. Aber sie hat sich nicht verheiratet, sondern ist daheim geblieben und hat ihrer Mutter geholfen, die kleinen Geschwister aufzuziehen. Zuweilen wurde sie ganz sonderbar, dann sagte sie, sie liebe die katholische Religion, weil sie ihren Geistlichen das Heiraten verbiete.«

Als das Mädchen so weit gediehen war, hörte man ein kleines Geräusch an der Tür. Herr Tyberg hatte sich so leise hinausgeschlichen, daß niemand es merkte, ehe er draußen war.

»Die fünfzehnte war ein Mädchen, das Martha hieß. Sie war die größte Schönheit, die man sehen konnte, aber sie war auch ein wenig sonderbar. Mit siebzehn Jahren heiratete sie einen zweiundsechzigjährigen Propst, nur um von daheim fortzukommen.«

Nun standen Johann und Anna auf. Sie sagten, sie wollten hinausgehen und Licht holen, denn es werde nachgerade dunkel. Aber es zog sich sehr in die Länge, bis sie das Licht zustande brachten.

»Die sechzehnte hieß Mara«, fuhr das Mädchen fort. »Sie war häßlich und sagte, sie bekomme doch keinen Pfarrer oder sonst einen Herrn; aber weil sie sobald wie möglich von daheim fort wollte, ging sie hin und heiratete einen Bauernknecht.«

Mamsell Lovisa saß die ganze Zeit treulich still in ihrer Sofaecke. Sie schlief sanft und selig, aber das merkte die Erzählerin nicht.

»Die siebzehnte war kaum achtzehn Jahre alt, als ich aus der Propstei wegging. Sie blieb zu Hause und half ihrer Mutter beim Briefschreiben an alle die Geschwister, denn das war mehr, als ein einziger Mensch bewältigen konnte.«

Jetzt machte sich jemand an der Türklinke zu schaffen, und die Tür ging ein wenig auf. Aber sie schloß sich auch sofort wieder.

»Die achtzehnte«, fuhr das Mädchen unentwegt fort«, »war erst fünfzehn Jahre alt, aber sie sagte, sie gehe nach Amerika, denn sie hielte es nicht aus mit all der Verwandtschaft, mit der sie sich schleppen müsse. Und Numero Neunzehn und zwanzig waren erst dreizehn und vierzehn Jahr alt, als ich sie das letztemal sah.«

In dem Augenblick, wo sie das gesagt hatte, kam Frau Lagerlöf mit ihrem Strickzeug, Johann und Anna kamen mit der Lampe, und Mamsell Lovisa wachte auf.

»Danke, danke, liebe Anna«, sagte Frau Lagerlöf. »Wir werden nie vergessen, was Sie uns erzählt haben. Das ist sehr lehrreich gewesen für mich und meine Kinder.«

Die Brautkrone

Mamsell Lovisa Lagerlöf pflegte Bräute anzukleiden. Nun darf man aber nicht glauben, es seien alle, die in der Gemeinde heirateten, zu ihr gekommen, um sich von ihr schmücken zu lassen. O nein, das taten nur die Töchter aus den angesehensten Bauernhäusern. Zuweilen waren es zwei oder drei im Jahre, zuweilen überhaupt keine.

In früheren Jahren, als die Pfarrer noch auf Mårbacka wohnten, hatte es wahrscheinlich zu den Pflichten einer Pfarrfrau gehört, die Bräute zu schmücken, besonders solche, die in der Kirche getraut wurden. Mamsell Lovisas Mutter und Großmutter und Urgroßmutter und Ur-Urgroßmutter hatten sicherlich auch schon dasselbe getan. Es war einfach ein alter Brauch, dessen Erbschaft Mamsell Lovisa angetreten hatte.

Zugleich war sie auch die Erbin all des Brautschmucks geworden, der sich im Laufe der Zeiten in Mårbacka angesammelt hatte. Sie besaß einen alten, großen Schrank, der in einer seiner Schubladen lange Halsketten aus Glasperlen, Korallen und Bernstein barg. Ebenso hatte sie eine Sammlung alter Schildpattkämme, die den Kopf eine Viertelelle überragten, sowie auch einige kleine, steife, runde Pappformen, die entweder mit Blumen bemalt oder mit weißer Seide überzogen und zu jener Zeit in Gebrauch waren, wo eine Braut in Mieder und Mütze der Volkstracht gekleidet sein mußte. Sie besaß auch eine hohe Brautkrone aus Pappe, deren Zacken teils mit Goldpapier, teils mit grünem oder rosa Taft überzogen waren. Wiederum hatte sie Kränze aus künstlichen Rosen und viele Ellen eines grünseidenen Bandes mit aufgenähten Blumen aus rosa Seide. Die gleiche Schublade enthielt auch Jenny-Lind-Locken, die auf die Stirne niederfallen mußten, Haarnadeln mit wippenden Knöpfen, Ohrringe aus langen, unechten Perlen, alle Arten von Broschen, Armbändern und messingnen Schuhschnallen, die mit falschen Rubinen, Amethysten oder Saphiren besetzt waren.

In der Zeit, wo diese Dinge gebraucht wurden, war es ebenso mühsam wie verantwortungsvoll, eine Braut anzukleiden. Da mußte man vor der Hochzeit tagelang sitzen und bunte Seidenbänder um den Rock und die Ärmel des Brautkleides nähen, zuweilen auch neues Goldpapier um die Brautkrone kleben, neue Blumen anfertigen und alle Messingsachen blank putzen, damit sie wie Gold glänzten.

Und obwohl all der Schmuck unechtes Zeug war, kann man sich doch denken, daß ein Bauernmädchen mit großer hoher Krone und einem üppigen Blumenkranz auf dem Kopfe, mit einem Gewinde vielfarbiger Perlenketten um den Hals, mit bunter Seidenschärpe und bunten Bändern am Rock, mit Armbändern und Schuhschnallen der großartigste Anblick war, dessen man teilhaftig werden konnte.

Es war auch die passendste Tracht für ein hochgewachsenes, helläugiges und rotwangiges Bauernmädchen, dessen Körper durch harte Arbeit entwickelt und dessen Gesicht von dem vielen Aufenthalt im Freien gebräunt war. In dieser Pracht bewegte sie sich stolz und würdevoll, als ob sie sich emporgehoben fühle über ihresgleichen. Dem Bräutigam erschien sie am Hochzeitstage wie eine Königin, eine Göttin des Reichtums. Sie war schöner als alle Rosen des Feldes und strahlte in seinen Augen wie ein vergoldeter Schrein.

Zu der Zeit jedoch, wo Mamsell Lovisa Bräute schmückte, durfte sie den alten Brautschmuck nicht mehr verwenden. Nun wurde eine kleine, dünne Krone aus Myrtenzweiglein und ein kleiner, dünner Kranz, gleichfalls aus Myrtenzweiglein, verlangt, dazu ein großer weißer Schleier – das war alles. Zuweilen durfte sie ein rotes Seidenband um die Mitte des schlichten schwarzen Wollkleides schlingen, auch pflegte sie ihren Bräuten eine goldene Brosche, goldne Ketten, goldne Armbänder und eine goldne Uhr zu leihen, um die einfache Kleidung damit etwas zu beleben.

Jedenfalls seufzte Mamsell Lovisa den alten Zeiten nach. Sie sagte, es sei eine Torheit, so sparsam mit Schmuck und Farben zu sein und die kräftigen, wenn auch vielleicht etwas groben Gesichtszüge mit einem zarten, weißen Schleier zu verhüllen. Das sei eine Mode, die recht gut für blasse Stadtfräulein passe, die ihrem Bräutigam wie ein Traumbild und unberührt erscheinen wollten. Jawohl, das sei ebenfalls ganz schön, das wollte Mamsell Lovisa gerne zugeben, aber die Bauernmädchen hätten sich in dem alten Brautstaat doch weit besser ausgenommen.

Und wie beschwerlich war es, sich so weit auf dem Lande draußen zu Kranz und Krone Myrten zu verschaffen! Mamsell Lovisa zog selber Myrtenbäumchen groß, aber die wollten bei ihr nicht recht gedeihen, und die Bräute waren oft gar nicht in der Lage, ihr behilflich zu sein.

Einmal ging es Mamsell Lovisa ganz schlecht. Ein Mädchen, schon in etwas vorgeschrittenen Jahren, Kajsa Nilstochter, kam zu ihr und bat sie, ihr doch den Brautstaat anzulegen. Kajsa stammte zwar aus keiner besonders vornehmen Bauernfamilie, aber der Mann, den sie heiraten wollte, war der Schullehrer, und so war sie der Meinung, bei einer so guten Partie dürfe niemand geringeres als Mamsell Lagerlöf sie für die Trauung zurechtmachen.

Und Mamsell Lagerlöf wollte es auch tun, aber nur unter der Bedingung, daß die Braut helfe, die Myrtenzweige herbeizuschaffen.

»Mein Myrtenbäumchen ist am Eingehen, und ich weiß nicht, wo ich andre hernehmen soll«, sagte sie.

Die Braut versprach, sich Myrtenzweige zu Krone und Kranz zu verschaffen, aber sie hielt dies Versprechen nur ganz obenhin. Am Tag vor der Hochzeit schickte sie ein paar Zweiglein nach Mårbacka mit ganz schwarzen und verkümmerten Blättchen, die zu einer Brautkrone kaum verwendet werden konnten.

Das war ein Jammer! Mamsell Lovisa beraubte zwar ihr eigenes Myrtenbäumchen aller grünen Zweige, aber auch diese reichten nicht weit. Die Dienstmädchen liefen auf die großen Höfe, um dort Hilfe zu finden, kamen aber auch mit leeren Händen oder nur mit einigen ärmlichen Zweigen zurück. Es war, als seien dieses Jahr alle Myrten krank; die Blättchen waren schwarz und fielen ab, sobald man sie berührte.

Aber etwas anderes als Myrten in die Brautkrone zu flechten, das ging nicht an. Feine, frisch ausgeschlagene Preißelbeerzweigchen sehen ja genau wie Myrten aus; aber eine Brautkrone aus Preißelbeerzweiglein zu tragen, das wäre geradezu entehrend gewesen. Die Braut würde sich vorkommen, als sei sie nicht richtig verheiratet.

Mamsell Lovisa legte die kümmerlichen Zweiglein ins Wasser und arbeitete dann bis tief in die Nacht hinein an Krone und Kranz; sie tat, was sie konnte, aber es sah hoffnungslos genug aus.

Am nächsten Morgen ging sie still und unbemerkt die Allee hinauf und in den nahen Wald. Sie trug nichts in den Händen, als sie ging, und auch nichts, als sie wiederkam.

Als sie durch die Küche in ihr Zimmer ging, sagte sie seufzend, es sei ihr noch nie so sauer geworden, eine schöne Brautkrone zu binden, wie dieses Mal. Sie tat den Mädchen so leid, daß diese sich erboten, noch weitere Höfe abzusuchen und um Myrten zu bitten.

»Nein, ich danke euch«, wehrte Mamsell Lovisa ab, »jetzt ist es zu spät, das Brautpaar kann jeden Augenblick ankommen.«

Damit ging sie in ihr Zimmer und steckte noch einige Zweiglein in Krone und Kranz, wo sie noch am dünnsten waren. Dann zeigte sie der Haushälterin und den Mädchen ihr Werk.

»Aber wie in aller Welt haben Sie das zustande gebracht, Mamsell Lovisa?« fragten diese. »Diese Krone und dieser Kranz sind so schön wie alle die andern, die Sie gebunden haben. Und Sie hatten doch nur kahle Zweige und schwarze Blätter.«

Mamsell Lovisa sagte, die Myrtenzweige hätten sich in dem Wasser, in dem sie lagen, erholt. Und sie fügte hinzu, was die Blätter so schwarz gemacht habe, sei größtenteils Rauch und Staub gewesen.

Gleich darauf traf auch richtig das Brautpaar ein, und die Braut wurde in Mamsell Lovisas Zimmer angekleidet. Sie war gar nicht mehr jung, sah aber gut und stattlich aus. Als sie fertig war, wurde sie in das vordere Zimmer geführt, damit sie sich in dem großen Spiegel betrachten konnte, und da war sie hochbefriedigt.

»Ich hätte gar nicht gedacht, daß ich so aussehen könnte«, sagte sie.

Dann nahm sie ein Fläschchen Kölnisch Wasser und ein hübsches Kästchen, eine Gabe des Bräutigams, in die Hand. Das Kästchen, war mit Rosinen und Zuckerwerk aller Art gefüllt; die Braut ging nun herum und bot erst Mamsell Lovisa und dann auch allen den andern davon an. Man bekam etwas von dem duftenden Wasser, und jedes nahm sich ein Stückchen aus dem Kästchen. Die Braut sah froher und zufriedener aus als die jungen Bräute zu tun pflegten, und alle sagten ihr, sie sei schön und gut angezogen.

Gleich darauf gingen Braut und Bräutigam ins Pfarrhaus zur Trauung, und von da ins Elternhaus der Braut, wo die Hochzeit gefeiert wurde.

In der ersten Zeit nach der Hochzeit war Kajsa Nilstochter vollkommen glücklich. Ihr Mann war viel älter als sie, aber sie hatte eine solche Hochachtung vor seiner Gelehrsamkeit, daß sie ihre Ehre dareinsetzte, ihn gut zu pflegen und ihm ein behagliches Heim zu schaffen.

Aber dann drang ein Gerücht an ihr Ohr. Es mußte von irgend jemand in Mårbacka ausgegangen sein, aber niemand konnte sagen, wer es in Umlauf gesetzt hatte. In der ganzen Gemeinde sprach man davon, und schließlich fand sich auch irgendeine befreundete Seele, die es Kajsa Nilstochter ins Ohr flüsterte.

»Mamsell Lovisa Lagerlöf hat deine Brautkrone aus Preißelbeerzweigen gebunden«, tat sie kund.

Als Kajsa das zum erstenmal hörte, wollte sie es nicht glauben. Es konnte ja einfach nicht möglich sein. Aber dann dachte sie über die Sache nach. Ihre Brautkrone war ebenso schön gewesen wie irgendeine andre; sie hatte in frischem Grün auf ihrem Haupte geschimmert. Und Kajsa dachte daran, wie stolz sie gewesen war, daß eine feine Dame sie ihr aufgesetzt hatte.

Aber war denn nicht die Krone eigentlich zu grün gewesen? In dem Frühjahr, als sie heiratete, hatten alle Myrten gekränkelt, das wußte sie selber nur zu gut. Sie hatte sich viele Mühe gegeben, sich schöne Myrtenzweige zu verschaffen, es war ihr aber nicht geglückt.

Mamsell Lovisa hatte wohl gedacht, bei ihr, einem armen Mädchen, brauche man es nicht so genau zu nehmen. Sicherlich hätte sie niemals gewagt, einer Großbauerntochter Preißelbeerzweige in die Brautkrone zu binden!

Nun grübelte Kajsa immerfort darüber nach, und sie besprach es auch mit ihrem Manne. Sie meinte, sie sei nicht richtig verheiratet, wenn ihre Krone tatsächlich aus Preißelbeerzweigen gebunden worden wäre.

Ihr Mann wußte sich keinen Rat mit ihr. Sie weinte und war unglücklich. Sie fühlte sich entehrt und gedemütigt. Mamsell Lovisa hatte sie nicht für vornehm genug gehalten, um von ihr zur Hochzeit gekleidet zu werden, deshalb hatte sie ihr die Krone aus Preißelbeerzweigen geflochten. Ja, jetzt lachte Mamsell Lovisa über sie, und die ganze Gemeinde lachte mit!

Da riet ihr der Mann, nach Mårbacka zu gehen und Mamsell Lovisa zu fragen, wie sich die Sache verhalte. Und das tat sie auch.

Kajsa kam so ungelegen wie nur irgend möglich in Mårbacka an. Dort war an jenem Tag eine große Festlichkeit, und als sie in die Küche trat, hatte man kaum Zeit, sie zu begrüßen. Sie fragte nach Mamsell Lovisa; aber diese war bei den Gästen und konnte nicht herausgerufen werden. Kajsa müsse entschuldigen, aber es sei heute ein ganz besonderer Festtag. Sie wurde gebeten, sich in das Küchenzimmer, Mamsell Lovisas eigenes Zimmer, zu setzen und dort auf sie zu warten.

Kajsa trat in das Zimmer. Ja, hier hatte man ihr die Preißelbeerkrone auf den Kopf gesetzt! Sie dachte daran, wie glücklich sie an jenem Tage gewesen war. Als sie jetzt in diesem Zimmer stand, kam es ihr auch ganz unmöglich vor, daß sie so betrogen worden sein könnte.

Nach einer Weile kamen zwei Mädchen aus der Küche heraus, jede mit einem Tablett mit gefüllten Weingläsern, die sie in das Gesellschaftszimmer trugen. Die Tür blieb halb offen stehen, und so konnte Kajsa in den Saal und das Wohnzimmer hineinsehen, die beide voller Menschen waren. Ja, das war wirklich ein großes Fest! Nicht nur die Herrschaften von Ämtervik waren anwesend, Kajsa erkannte auch Propstens und Doktors von Sunne und den Magister Hammargren von Karlstadt, der Mamsell Lovisas Schwester zur Frau hatte.

Kajsa war es höchst unbehaglich zumut, und sie wollte eben die Tür schließen, als sie einige Worte vernahm, die sie veranlaßten, sich zu verbergen und zu lauschen. Ein Weinglas in der Hand, stand Leutnant Lagerlöf mitten im Zimmer und verkündigte mit wenigen Worten die Verlobung seiner Schwester Lovisa mit dem Hilfsgeistlichen in Ämtervik, Pastor Milén.

Dann erhob sich in dem Zimmer drinnen fröhliches Gratulieren und Hochlebenlassen! Alle sahen vergnügt und befriedigt aus, und das war auch nicht weiter verwunderlich. Mamsell Lovisa war vierzig Jahre alt, und ihre Verwandten hatten wohl die Hoffnung, sie verheiratet zu sehen, aufgegeben. Pastor Milén war Witwer und hatte vier kleine Kinder, die der Aufsicht und Pflege bedurften. Da war diese Verlobung ganz das Richtige.

Kajsa Nilstochter hatte sagen hören, in ihrer Jugend habe Mamsell Lovisa nie heiraten wollen, weil sie es nicht übers Herz gebracht, ihre Eltern zu verlassen. Jetzt aber, wo beide Eltern tot waren, freute sie sich wohl, ein eigenes Heim zu bekommen.

Desgleichen hatte Kajsa gehört, Mamsell Lovisa wolle nicht von Mårbacka fort. Nun fügte sich auch das sehr schön, das Pfarrhaus lag nur fünf Minuten vom Hofe entfernt.

Kajsa Nilstochter ging es wie ein Stich durchs Herz, daß Mamsell Lovisa es nun so gut haben sollte, sie, die ihr eine Preißelbeerkrone gebunden hatte, und sie trat rasch von der Türe zurück.

Da sah sie die alte Haushälterin hinter sich stehen. Diese hatte ja gewußt, was im Werke war und nur die Bekanntmachung der Verlobung mit anhören wollen.

Kajsa legte ihre Hand schwer auf die Schulter der Haushälterin.

»Ich bin hierhergekommen, um zu erfahren, ob Mamsell Lovisa meine Brautkrone aus Preißelbeerzweigen gebunden hat«, sagte sie. »Aber es schickt sich wohl nicht, an einem solchen Tage danach zu fragen.«

Die Haushälterin erschrak, aber sie war nicht so leicht außer Fassung zu bringen.

»Wie könnt Ihr so dumm daherreden, Kajsa!« sagte sie. »Alle hier im Hause wissen, was für eine Mühe Mamsell Lovisa mit Eurer Brautkrone hatte. Auf allen Höfen sind wir herumgelaufen und haben um Myrtenzweiglein gebettelt.«

Kajsa starrte die Haushälterin an, als wolle sie ihr in die tiefste Seele blicken, um die Wahrheit zu ergründen.

»Man sagt es aber überall in der ganzen Gemeinde.«

Die alte Haushälterin war nur darauf bedacht, Kajsa zu beruhigen und aus dem Hause zu bringen, damit sie Mamsell Lovisas Freudentag nicht verderbe.

»Ich sage Euch, Kajsa«, sagte sie, »so gewiß Mamsell Lovisas Brautkrone aus Myrten gebunden werden wird, so gewiß ist Eure auch aus Myrten und nichts andrem gebunden worden.«

»Ich will an diese Worte denken«, sagte die Lehrersfrau. »Wenn ich sehe, woraus Mamsell Lovisas Brautkrone gebunden ist, so werde ich wissen, wie es mit meiner beschaffen war.«

»Das könnt Ihr ruhig tun«, versetzte die Haushälterin.

Darauf gingen die beiden zusammen hinaus in die Küche. Dort reichte Kajsa Nilstochter der Haushälterin die Hand.

»Es ist am besten, ich gehe«, sagte sie und sah ganz ruhig aus. »Heute kann ich Mamsell Lovisa doch nicht sprechen.«

Damit ging sie ihrer Wege, und die Haushälterin kehrte an ihren Herd und zu ihrer Kocherei zurück. Über all der Arbeit für das Verlobungsmahl vergaß sie den Besuch vollständig. Erst einige Tage später erzählte sie Mamsell Lovisa, was Kajsa Nilstochter gefragt und was sie ihr geantwortet hatte.

Mamsell Lovisa erblaßte, als sie es hörte. »Ach Maja, wie konntest du nur so sprechen? Es wäre doch besser gewesen, einzugestehen, daß ich zwei oder drei Preißelbeerzweiglein mit in die Krone hineingebunden habe. Mehr war es ja nicht.«

»Ich mußte sie beruhigen, damit sie ihrer Wege ging«, entschuldigte sich die Haushältern.

»Und nun hast du gesagt, meine eigene Brautkrone werde aus Myrtenzweiglein gebunden, ebenso gewiß als Kajsas aus Myrten gebunden war. O Maja, du wirst sehen, ich werde überhaupt keine Brautkrone bekommen!«

»Ach was, Mamsell Lovisa, Sie werden sicherlich heiraten, Pastor Milén wird Sie nicht sitzen lassen.«

»Da kann auch noch andres dazwischenkommen, Maja, da kann auch noch andres dazwischenkommen.«

Mamsell Lovisa grübelte noch ein paar Tage über diese Sache nach, dann dachte sie wohl nicht mehr daran. Sie hatte ja jetzt so vieles zu überlegen. In einem halben Jahr sollte die Hochzeit sein, und sie fing mit Eifer an ihrer Aussteuer zu arbeiten an. Sie kaufte Garn und setzte ihren Webstuhl in Gang, sie säumte und stickte ihren Namen ein. Schließlich fuhr sie nach Karlstadt und machte Einkäufe. Sie brachte Stoff zu ihrem Brautkleid mit nach Hause und eine kleine Krone aus Draht, an die die Myrtenzweiglein gebunden werden sollten. Sie wollte ihre eigene Brautkrone tragen, nicht die gewöhnliche Form, die schon von so vielen Bräuten benützt worden war.

Aber kaum waren alle diese Dinge eingekauft, als wirklich ein Hindernis eintrat. Pastor Milén erkrankte und mußte zu Bett liegen. Als er wieder etwas besser war und Besuche außer Bett empfangen konnte, war er ganz verändert. Man merkte, daß er jeder Unterredung mit seiner Braut aus dem Wege ging und nie die kleine Strecke Wegs nach Mårbacka zurücklegte, um sie zu besuchen. Sobald der Sommer kam, reiste er in ein Bad. Man hoffte, er würde dort ganz hergestellt und wieder der Alte werden, und das gelang vielleicht auch; aber während der ganzen Zeit seiner Abwesenheit schrieb er nicht ein einziges Mal an Mamsell Lovisa.

Diese hatte eine entsetzliche Zeit voll Bangen und Sorgen durchlebt; aber dann hielt sie es für ausgemacht, daß er mit ihr zu brechen wünschte, und so schickte sie ihm den Ring zurück.

An dem Tag, wo dies geschah, sagte sie zu der alten Haushälterin: »Nun, siehst du, Maja, meine Brautkrone wird auch nicht aus Myrten gebunden, nein, die auch nicht.«

*

Viele Jahre später bat eine der jungen Töchter des Leutnants Lagerlöf ihre Tante, ihr den Brautschmuck zu leihen, mit dem sie sich verkleiden wollte, und Mamsell Lovisa gab ihr den Schlüssel zu dem Schrank, in dem die alten Herrlichkeiten verwahrt wurden. Der Schrank stand nicht im Zimmer der Tante, sondern droben in einer Bodenkammer. Das junge Mädchen stieg hinauf, steckte den Schlüssel ins Schloß des Schrankes und zog eine Schublade heraus.

Ganz verblüfft starrte sie hinein. Vor ihr lag nicht der gewohnte bunte Hochzeitsschmuck – in der ganzen Schublade lag nur ein Päckchen Tüll, daneben farbiger Seidenstoff und eine kleine Brautkrone aus Draht.

Das junge Mädchen merkte sofort, daß sie an die verkehrte Schublade geraten war. Der Brautschmuck lag in dem linken Fach dicht daneben. Aber sie blieb doch einen Augenblick stehen und schaute gedankenverloren in die Schublade. Es schnitt ihr ins Herz, daß ihre arme Tante die Dinge, die hier lagen, nicht hatte tragen dürfen. Sie wußte, wie unglücklich die Tante jahrelang gewesen war, und daß sie jeden Trost zurückgewiesen hatte. Ja, man hatte sogar für ihren Verstand gefürchtet.

Eine Erinnerung tauchte im Herzen des jungen Mädchens auf. In der Zeit des schwersten Unglücks und tiefsten Kummers war sie eines Tages in das Zimmer der Tante getreten. Da sah sie diese am Tisch sitzen mit einem Haufen Preißelbeerreiser vor sich und der kleinen Drahtkrone in der Hand. Sie hatte ein paar Zweiglein zurechtgeschnitten und angefangen, die Krone damit zu bekleiden.

Doch zugleich war auch Frau Lagerlöf ins Zimmer getreten.

»Aber Lovisa, was machst du denn da?« hatte sie gesagt und dabei schrecklich angstvoll ausgesehen.

»Ich dachte –« sagte Mamsell Lovisa, »wenn ich mich mit einer Krone von Preißelbeeren begnügte – – Ja, das ist nun eine dumme Sache.«

Sie sprang hastig auf und stieß Krone und Preißelbeerzweiglein weg.

»Ja, ich weiß, es ist alles aus«, klagte sie und ging händeringend hin und her. »Jetzt hilft nichts mehr.«

»Liebe Lovisa«, hatte Frau Lagerlöf gesagt, »die Krankheit ist ja an allem schuld.«

Aber Mamsell Lovisa setzte ihre Wanderung fort, hin und her, hin und her in größter Seelenangst und Qual. »Hätte ich doch keine Preißelbeerzweige in Kajsa Nilstochters Brautkrone gebunden!« sagte sie.

»Nein, nein, Lovisa, so mußt du nicht denken«, fing Frau Lagerlöf wieder an. Doch jetzt erblickte sie ihr Kind, das mit weit offenen Augen dastand.

»Geh hinaus in den Saal, Selma«, sagte sie. »Tante Lovisa ist traurig, da dürft ihr Kinder nicht hereinkommen und sie stören.«

Wachenfeldt

Ein Silberglöckchen erklingt auf der Landstraße. Der Fahnenjunker Karl von Wachenfeldt kommt angefahren.

Der Fahnenjunker Karl von Wachenfeldt – war er es nicht, der vorzeiten für den schönsten Mann in Wermland, ja in ganz Schweden galt? War nicht er der Günstling der Stockholmer Damen gewesen, im Jahre 1820 den ganzen Winter hindurch, den er in Stockholm zubrachte, um irgendein Examen in der Landesvermessung zu machen? War er es nicht, der Schlittenfahrten arrangierte und Kotillone aufführte, so schneidig, daß er die Ballkavaliere der höchsten Gesellschaft ganz in den Schatten stellte? War er es nicht, der so entzückend Walzer tanzte und so bezaubernd plauderte, daß seine vornehmen Verwandten, die zuerst nichts von dem armen Wermländer Unteroffizier wissen wollten, ihm die untertänigsten Einladungsbriefe schrieben, weil die jungen Damen keine Freude an einem Ball hatten, wenn er nicht dabei war?

Und war er es denn nicht, der ein solch unglaubliches Glück im Spiele hatte, daß er sich damit die Mittel verschaffte, während seines ganzen Aufenthaltes in Stockholm so flott wie ein Gardeleutnant zu leben? War er es nicht, der mit Grafen und Baronen auf du und du stand und sie dabei alle an Eleganz und Ritterlichkeit überstrahlte? War er es nicht, der eines Abends in einem Liebhabertheater bei Admiral Wachtmeister den ersten Liebhaber spielte und seine Couplets so feurig sang, daß er am andern Morgen zwanzig Liebesbriefe in seinem Briefkasten fand?

War er nicht der erste, der durch die Straßen Stockholms mit einem Geschirr fuhr, das mit einer Unzahl von silbernen Glöckchen besetzt war? War er es nicht, der in ganz Stockholm so bekannt war, daß überall, wo man ihn erblickte, im Hofgarten sowohl wie am blauen Tor, im Opernsaal wie im dichtesten Straßengewimmel, hinter ihm her geflüstert wurde: »Seht, da kommt Wachenfeldt! Ach, ach, ach, seht, da kommt Wachenfeldt!«

War er es nicht, der nach dem einen wunderbaren Winter in Stockholm das gleiche Leben in Karlstadt führte, ja überhaupt überall, wo er auftauchte? War er es nicht, der mit Fahnenjunker Sellblad als Gefährten und dem Trommler Tyberg als Bedienten nach Göteborg reiste, sich da für einen finnländischen Baron ausgab, vierzehn Tage lang finnisch sprach und für die lebenslustigen Söhne der reichen Kaufherren eine Spielbank hielt? War er nicht der einzige Unteroffizier, der jemals mit der stolzen Gräfin Apertin tanzen durfte, und war er es nicht, der sich sterblich in die schöne Mamsell Widerström verliebte, als sie die Preziosa im Karlstädter Theater sang, sie dann entführte und mit ihr nach Norwegen geflohen wäre, hätte nicht unglücklicherweise in Arvika ihr Theaterdirektor ihn wieder eingefangen?

Jawohl, und war er es schließlich nicht auch, der als eine Art von Adjutant zu Hauptmann Wästfelt auf Angersby in Sunne versetzt worden war und nun Leben in die Jugend Frykentals brachte? Wann hatte es je dort so glänzende Kirchweihbälle oder so rauschende Weihnachtsfeste gegeben, oder so lustige Ausflüge zum Krebsessen, oder so romantische Wanderungen zu schönen Aussichtspunkten? Sah denn nicht die schwärmerische Frau des Hauptmanns, auf Angersby, die nie etwas anderes tat, als auf dem Sofa liegen und Romane lesen, in ihm einen verkörperten Romanhelden, und war er nicht der Gegenstand des ersten Liebestraums ihrer jungen Töchter? Und wie ging es auf dem Nachbargute in Mårbacka, wo das Haus voll schöner Töchter war? Konnte man einem Kavalier widerstehen, der die Brennschere genau so kunstgerecht handhabte wie die Gitarre, und dem ein aus Liebesabenteuern gewobener Glorienschein um das lockige blonde Haar strahlte?

Fahnenjunker von Wachenfeldt fährt bergauf und bergab, und sein einziges Silberglöckchen klingelt schwach, fast jämmerlich. In alten Zeiten, in den Tagen seines Glanzes, hatten die sechzig Silberglöckchen, die am Zaumzeug und an den Zügeln hingen, unbeschreiblich lustig und schneidig geklungen. Sie hatten sozusagen seine Triumphe eingeläutet, hatten verkündet, daß ein Sieger nahte. Aber jetzt verkündet das übrig gebliebene einzige Glöckchen nur noch, daß ein Mann angefahren kommt, dessen Glück und Glanz dahin sind.

Der Fahnenjunker fährt mit seinem alten Pferd Kalle, einem ganz merkwürdig kleinen Tier, nach dem sich alle, die ihm begegnen, umwenden, um ihm nachzusehen. Aber nach seinem Eigentümer, nein, nach ihm dreht auch nicht einer mehr den Kopf.

Wie er am Gasthof von Gunnarsby vorbeifährt, stehen ein paar junge Mädchen am Brunnen und winden Wasser herauf. Der Fahnenjunker grüßt sie mit der Peitsche und spendet ihnen nach alter Gewohnheit sein verführerisches Lächeln, aber sie streifen ihn nur mit gleichgültigen Blicken. Nein, sie lassen nicht vor Staunen den Brunneneimer fallen und sehen ihm nicht mit glühenden Wangen nach.

Fahnenjunker von Wachenfeldt versetzt dem Pferd einen Schlag mit der Peitsche. Er ist doch kein Dummkopf, sondern weiß genau, wie es steht: sein Haar ist ergraut und sein Gesicht voller Falten, sein Schnurrbart ist dünn und struppig und sein eines Auge starr und grau vom Star, während das andre, schon operierte, durch eine stark vergrößernde Starbrille verunstaltet wird. Ja, er weiß es wohl, er ist alt und kein schöner Anblick mehr, aber er meint, man brauche deshalb doch nicht ganz zu vergessen, wie und was er einstens war.

Ach ja, er weiß, er besitzt keine andre Heimat mehr als ein paar Zimmer, die er in einem Bauernhause in der Gemeinde Kila gemietet hat. Ein Pferd, ein Wagen, ein Schlitten und ein paar Möbel sind sein ganzes Eigentum. Und er weiß noch mehr: er hat keine andern Untergebenen als eine alte, treue, unausstehliche Magd, aber er meint, man sollte doch nicht vergessen, daß er einstens der Wachenfeldt gewesen ist, der in ganz Wermland berühmte Wachenfeldt!

Da sitzt er nun in seinem schäbigen Pelz und seiner noch schäbigeren Seehundsfellmütze! Er trägt dicke Handschuhe, um seine kranken Hände zu schützen; aber die Gichtknoten, die sich über seine Knöchel hinziehen, werden dennoch sichtbar. Dennoch aber ist er es, der so viele schöne Frauen in seinen Armen gehalten hat. Dieses Bewußtsein kann ihm niemand rauben. Wer in aller Welt hat ein Leben geführt wie er? Wer ist geliebt worden wie er?

Er beißt die Zähne zusammen und sagt sich, daß er nichts zu bereuen habe. Wenn er sein Leben noch einmal leben sollte, er würde es nicht anders führen. Alles, was Jugend, Schönheit und Kraft einem Manne bieten können, das hat er genossen. Abenteuer und Liebe im reichsten Maße.

Eine einzige Tat vielleicht, ja eine einzige, möchte Fahnenjunker von Wachenfeldt doch ungeschehen machen. Er hätte Anna Lagerlöf, die edelste aller Frauen, die er je gekannt hatte, nicht heiraten dürfen. Er hatte sie namenlos geliebt, aber er hätte sie niemals heiraten dürfen.

Paßte denn das für einen Wachenfeldt, still zu sitzen und seinem Hauswesen klug und umsichtig vorzustehen, wenn er auf eine leichtere und lustigere Art Geld einheimsen konnte? Wenn auch seine Frau noch so anbetungswürdig war, sollte er sie darum für die allein anbetungswürdige halten? Konnte er seine Natur umgestalten, weil er verheiratet war? Hatte er sich denn nicht gerade durch sein Glück im Spiel und in der Liebe seine Berühmtheit erworben?

Ja, er bereute seine Ehe. Seine Frau paßte nicht zu ihm, sie war in der Tat viel zu gut für ihn, das will er gerne zugeben. Sie wollte Fleiß, Ordnung, Ruhe und Behagen. Sie hatte sich abgearbeitet, um sich und ihm ein Heim zu schaffen gleich dem ihrer Eltern in Mårbacka.

Andre würden vielleicht sagen, er brauche weniger zu bereuen, daß er sich verheiratet hatte, als daß er seiner Frau fortwährende Enttäuschungen und Kummer nicht hatte ersparen können. Deshalb hatte ihn auch jede Art von Unglück getroffen, als Anna von Wachenfeldt sich nach einer siebzehnjährigen unglücklichen Ehe am Rande ihrer Kräfte zum Sterben niedergelegt hatte. Da hatten die Gläubiger keine Schonung mehr für ihn gehabt, sondern ihm die Heimat genommen. Er mußte aufhören zu spielen, denn jetzt verlor er, sobald er nur eine Karte anrührte. Die Gicht kam, es kam der graue Star. Ehe er sechzig Jahre zählte, war sein Haar weiß, er war steif, hilflos, halbblind und bettelarm. O welch ein Glück wäre es nun für ihn gewesen, wenn er seine gute, liebevolle Frau noch gehabt hätte!

Durch ihren Tod war er auch von allem Verkehr ausgeschlossen worden. Niemand fragte danach, ob er lebte oder starb. Niemand lud ihn ein. Es sah aus, als ob alle Leute nur um seiner guten Frau willen Umgang mit ihm gepflogen hätten! Wenn er sich nun nach Scherzen und Lachen sehnte, wenn er gern einmal eine gut zubereitete Speise gegessen und sich gern mit gebildeten Menschen unterhalten hätte, so wußte er nicht, wohin er sich wenden oder wen er aufsuchen könnte.

Tatsächlich gibt es nur einen Ort auf der Welt, wohin er fahren kann, um wieder einmal einigermaßen das alte Leben zu kosten, und das ist jenes Mårbacka, von wo er einst seine Frau geholt hat. Er weiß wohl, was man dort denkt und sagt: er habe seine Frau ins tiefste Unglück gestürzt, ja, er habe sie einfach zu Tode gequält; aber nichtsdestoweniger reist er zwei- oder dreimal im Jahre dorthin, zu den großen Festtagen, denn sonst könnte er sein Leben nicht mehr ertragen.

Das Silberglöckchen klingt schrill und klagend. Fahnenjunker von Wachenfeldt hat seinem Pferdchen einen kräftigen Peitschenhieb versetzt. Das Leben trägt viele bittre Früchte, mit denen man sich abfinden muß. Und da ist es nur in der Ordnung, daß das Pferd mit seinem Herrn leidet.

Wenn die Kinder von Mårbacka aus keinem Anzeichen sonst hätten schließen können, daß Weihnachten herannahe, so hätten sie es doch gemerkt, wenn Fahnenjunker von Wachenfeldt angefahren kam.

Daher waren sie auch so überaus vergnügt, wenn sein Wurstschlitten oben in der Allee auftauchte. Sie sprangen durchs ganze Haus und verkündeten die Neuigkeit, sie standen auf der Treppe, um den Ankömmling in Empfang zu nehmen und zu begrüßen, sie holten Brot für das Pferdchen, und sie trugen die dünne Reisetasche, die mit Blättern und Blumen in Kreuzstich verziert war, in das Zimmer, in dem der Fahnenjunker wohnen sollte.

Es war eigentlich sonderbar, daß die Kinder den Fahnenjunker von Wachenfeldt immer so fröhlich begrüßten. Er brachte ihnen keine Zuckersachen und keine Geschenke mit; aber sie müssen wohl gedacht haben, er gehöre eben mit zu Weihnachten, und das war schon Grund genug zur Freude. Jedenfalls war es gut, daß sie ihn freundlich begrüßten, denn die Erwachsenen machten nicht viel Aufhebens von ihm. Frau Lagerlöf und Mamsell Lovisa kamen zu seinem Empfang nicht einmal auf die Veranda heraus, und Leutnant Lagerlöf legte nur mit einem tiefen Seufzer die Wermlandszeitung weg und erhob sich aus dem Schaukelstuhl, um den Angekommenen zu begrüßen.

»So so, bist du wieder da, Wachenfeldt«, sagte er, wenn er an der Treppe auftauchte. Dann stellte er einige Fragen über die Reise und den Zustand der Wege und führte hierauf den Schwager in das Kontor. Er machte eine Schublade in der Kommode leer und sah nach, ob im Kleiderschrank noch Platz sei. Dann zog er mit den Kindern ab und überließ seinen Gast sich selbst.

So oft der Fahnenjunker von Wachenfeldt nach Mårbacka kam, wurde in Leutnant Lagerlöfs Herz die Erinnerung an seine verstorbene Schwester wieder lebendig. Sie war die älteste gewesen, hatte ihn großziehen helfen und sich in jeder Weise seiner angenommen. Keine seiner Schwestern hatte er so lieb gehabt, auf keine war er so stolz gewesen. Und da mußte sie sich in diesen Nichtsnutz von Wachenfeldt verlieben! Sie war schön und stattlich gewesen und ebenso gut und vortrefflich, wie sie schön war. Selbst immer fröhlichen Herzens, suchte sie auch allen, die um sie waren, das Leben leicht zu machen. Sie hatte bis zum äußersten gekämpft, ihr Heimwesen zusammenzuhalten. Ihr Mann hatte nur verjubelt und verschwendet. Sie hatte auch ihre Lieben daheim in Mårbacka nie wissen lassen wollen, wie schlecht es ihr ging, damit man ihr nicht zu Hilfe gekommen wäre. Deshalb ging es auch so plötzlich zu Ende mit ihr, als sie kaum in den Vierzigern war.

Das war eine traurige, aufregende Geschichte, und der Leutnant konnte nicht gleich freundlich zu Wachenfeldt sein, solange das alles noch in ihm gärte. Er mußte stets einen längeren Spaziergang machen, bis er die Bitterkeit etwas überwunden hatte.

Dasselbe empfanden auch Frau Lagerlöf und Mamsell Lovisa. Anna von Wachenfeldt war Frau Lagerlöf die liebste von allen ihren Schwägerinnen gewesen und sie hatte mit wirklicher Verehrung zu ihr aufgesehen. Keine von all den Verwandten hatte sie aber auch so freundlich in der Familie willkommen geheißen wie die verstorbene Schwägerin. Frau Lagerlöf konnte es dem Fahnenjunker von Wachenfeldt nie verzeihen, daß er dies geliebte Menschenkind so unglücklich gemacht hatte.

Mamsell Lovisa war als Kind oftmals in Välsäter zu Besuch gewesen, auf dem Hofe, wo ihre Schwester und ihr Schwager gewohnt hatten, und sie wußte besser als alle andern, welch schweres Leben ihre Schwester gehabt hatte. Sie konnte Wachenfeldts Namen nie nennen hören, ohne an einen Morgen denken zu müssen, an dem zwei Knechte nach Välsäter kamen und die beiden besten Kühe aus dem Stalle holten. Die Schwester war hinausgestürzt und hatte gefragt, was das heißen solle; aber die Knechte hatten ihr ganz ruhig geantwortet, der Fahnenjunker habe die beiden Kühe in der letzten Nacht an ihren Herrn verspielt. Mamsell Lovisa sah noch heute, wie verzweifelt ihre Schwester gewesen war.

»Er kommt nicht zur Vernunft, bis er mich unter den Boden gebracht hat«, hatte sie gesagt.

Immerhin aber war Mamsell Lovisa die erste, die sich an ihre Pflichten als Gastgeberin erinnerte. Sie stand von ihrem Nähtisch auf, an dem sie mit einer Stickerei gesessen hatte, was sie aber nicht hinderte, nebenher noch einen Blick in einen Roman zu werfen, der aufgeschlagen im Nähkorb lag, und öffnete die Küchentür ein wenig.

»Liebe Maja«, sagte sie halb entschuldigend, »nun ist Wachenfeldt wieder gekommen.«

»Ich begreife wirklich nicht, daß der Mensch, der seine Frau so schändlich behandelt hat, zu jedem Fest hierherkommen darf«, sagte die Haushälterin sehr ärgerlich.

»Aber man kann ihn doch nicht hinauswerfen«, entgegnete Mamsell Lovisa. »Und nun sei so gut, liebe Maja, und sorge für Kaffee; er muß doch nach der Reise etwas Warmes haben.«

»Natürlich muß er auch gerade immer dann kommen, wenn die Herrschaften schon Kaffee getrunken haben und der Herd kalt ist!« brummte die Haushälterin und sah aus, als ob sie nicht gedächte, sich vom Fleck zu rühren.

Der Kaffee mußte aber doch zustandegekommen sein, denn nach einem Weilchen wurde das Zimmermädchen zu Fahnenjunker von Wachenfeldt geschickt, um ihn zum Kaffee zu bitten.

Als der Fahnenjunker über den Hof ging, stützte er sich auf einen Stock, den er aber im Vorzimmer ablegte, und dann trat er mit ziemlich guter Haltung in den Salon. Mamsell Lovisa, die im Zimmer stand, um ihn zu begrüßen, sah jedenfalls, wie sauer ihm das Gehen wurde, sie fühlte, wie gichtgeschwollen seine Hände waren, als sie ihn begrüßte, und als sie zu ihm aufsah, starrte das operierte Auge sie unheimlich vergrößert an. Da verflog ein gut Teil ihres Grolls. Sie dachte, die Strafe habe ihn schon ereilt, und so wollte sie ihm nicht noch eine weitere Last aufbürden.

»Das ist ja schön, Wachenfeldt, daß du auch in dieser Weihnachtszeit zu uns kommen konntest«, zwang sie sich zu sagen.

Dann schenkte sie ihm Kaffee ein, und er setzte sich an seinen gewohnten Platz in der Ecke zwischen dem Ofen und dem zusammengeklappten Spieltisch. Es war ein bescheidenes Plätzchen, aber es war das wärmste im ganzen Zimmer. Fahnenjunker von Wachenfeldt wußte, was er tat, als er sich dahin setzte.

Er fing auch sofort an, mit Mamsell Lovisa über seine Magd zu sprechen und erzählte von ihrem ewigen Schimpfen und Streiten mit den Bauersleuten, bei denen er sich eingemietet hatte. Er wußte, seiner Schwägerin behagte eine solche Unterhaltung über alltägliche Dinge, und es entging ihm auch keineswegs, daß sie sich nach einer Weile selber ein Täßchen Kaffee einschenkte und ihm beim Trinken Gesellschaft leistete.

Während sie noch zusammen beim Kaffee saßen, dämmerte es bereits, die Lampe wurde hereingebracht und auf den runden Tisch vor dem Sofa gestellt. Gleich darauf kam auch Frau Lagerlöf herein.

Sie hatte das erste Gefühl des Widerwillens noch nicht ganz überwunden, und ihre Begrüßung war auch danach: sie gab dem Fahnenjunker nur eben die Hand, ohne ein Wort zu sagen. Dann setzte sie sich mit ihrer Arbeit nieder.

Der Fahnenjunker fuhr ganz ruhig im Gespräch mit Mamsell Lovisa fort, aber gleichzeitig änderte er den Gegenstand. Er berichtete von einigen sonderbaren Krankheitsfällen bei Menschen und Tieren auf dem Hofe, wo er wohnte, und deren Heilung ihm merkwürdigerweise geglückt sei.

Dem konnte Frau Lagerlöf nicht widerstehen, das war ihr Fall, und ehe sie es selber wußte, war auch sie in die Unterhaltung mit hineingezogen.

Zuletzt kam auch noch Leutnant Lagerlöf und setzte sich in seinen Schaukelstuhl. Er war auch verstimmt und wortkarg, als er eintrat. Aber nun glitt die Unterhaltung ganz unmerklich wieder in eine andre Bahn hinein. Man sprach von Karlstadt, wo der Fahnenjunker geboren und der Leutnant zur Schule gegangen war, und darüber unterhielt sich Leutnant Lagerlöf jederzeit gerne. Das Gespräch verstieg sich sogar bis Stockholm; man sprach über Emilie Högquist und über Jenny Lind und manches andre Schöne und Erinnerungswerte aus alten Zeiten. Schließlich kam man noch auf allerlei Geschichten aus Wermland, und der Abend verging so schnell, daß alle ganz erstaunt waren, als das Mädchen kam, um den Tisch zu decken.

Aber das Merkwürdigste war doch noch etwas anderes: Wenn der Fahnenjunker von Wachenfeldt von seinen eigenen Erlebnissen erzählte, dann stand er selber immer als der klügste und vorsichtigste Mensch da, den man sich nur denken konnte. Allerdings hatte er einige abenteuerliche Erlebnisse gehabt, das war nicht zu leugnen; aber er hatte immer die Rolle des ratgebenden Freundes dabei gespielt und törichten Menschen aus der Patsche geholfen.

Wenn man zum Beispiel nur an Wästfelts auf Angersby dachte! Welche Stütze war er doch diesen liebenswürdigen, kindlichen Menschen gewesen, besonders damals, als die Braut des Sohnes diesen aufgab und einen andern heiratete!

Man konnte niemand mit größerer Verehrung von seiner Mutter und von seiner Frau reden hören. Einen solch edlen Sohn, einen so liebevollen Gatten hätte sich jedermann nur wünschen mögen!

Er war es auch gewesen, der den jungen Damen stets überaus vernünftig zugeredet, Braut und Bräutigam versöhnt und Ehen wieder befestigt hatte, die im Begriff gewesen waren, auseinanderzugehen.

Alle Unglücklichen hatten ihn zum Vertrauensmann erwählt, und er hatte sie nicht im Stich gelassen. Ja, er hatte sogar Menschen gerettet, die der Spielwut verfallen waren, hatte ihnen die Meinung gesagt und sie an ihre Pflichten erinnert.

Nach dem Abendessen, als Fahnenjunker von Wachenfeldt in seine Kammer hinuntergehinkt war, saßen Leutnant Lagerlöf, seine Frau und seine Schwester stumm beieinander und schauten sich an.

»Ja, der Wachenfeldt«, sagte der Leutnant, »das ist ein sonderbarer Kauz. Er ist klüger, als wir alle zusammen.«

»Es war immer nett, sich mit Wachenfeldt zu unterhalten«, sagte Mamsell Lovisa.

»Wenn es wahr wäre, daß er allen andern solch eine Stütze gewesen ist, wie wäre es dann möglich, daß er für sich selber so schlecht gewirtschaftet hat?« warf Frau Lagerlöf trocken ein.

»Na ja, solche Leute gibt es nun mal!« sagte der Leutnant.

*

Von da an lebte der Fahnenjunker die ganzen Weihnachtstage hindurch auf Mårbacka »wie unser Herrgott in Frankreich«, und immer behielt er die Rolle eines weisen und erfahrenen alten Mannes bei. Man konnte ihn über alles um Rat fragen, er wußte Mittel gegen Finnen und gegen Schnupfen, konnte Ratschläge geben in Toilettenangelegenheiten, über Kochrezepte und Anleitung zum Färben sowie über die Feldbestellung mitreden, er gab die besten und weisesten Urteile über Menschen ab.

Man pflegte sich in schwierigen Fragen an ihn zu wenden.

»Kommt es dir nicht sonderbar vor, Wachenfeldt, daß dies Kind nicht dazu gebracht werden kann, gedämpfte Möhren zu essen?« sagte eines Tages Mamsell Lovisa. »Möhren sind doch so gut.«

Und Fahnenjunker von Wachenfeldt enttäuschte ihre Erwartungen nicht.

»Weckt mich mitten in der Nacht und bietet mir Möhren an, so werde ich sie essen!«

Es war geradezu unnatürlich, wie weise und mäßig und vernünftig er war. Von dem alten Kavalier Wachenfeldt, dem Triumphator mit den sechzig Silberglöckchen, war rein nichts mehr zu spüren.

Aber eines Tages begab es sich, daß Leutnant Lagerlöf mit seinen Damen in Streit geriet wegen eines jungen Mädchens aus der Umgegend. Frau Luise sowohl wie Mamsell Lovisa erklärten sie für reizend und süß, der Leutnant dagegen behauptete, es sei nichts Schönes an ihr zu finden. Und so rief er, wie es jetzt Brauch im Hause war, Wachenfeldt als Schiedsrichter auf.

»Sag mal, Wachenfeldt, du verstehst dich ja auf Frauenzimmer«, sagte Leutnant Lagerlöf. »Möchtest du so einen kleinen Grasaffen küssen?«

Man konnte den Aufruhr wohl bemerken, der sich bei diesen Worten in Wachenfeldts Gemüt erhob. Er errötete, so alt er war, schlug mit der Faust auf den Tisch, stand halb vom Stuhle auf und donnerte los: »Mir eine solche Frage! Ich habe nie und nimmer ein häßliches Weib geküßt!«

Das gottlose Volk an seiner Seite brach in ein schallendes Gelächter aus. Nun hatte er sich die ganze Zeit über bemüht, ja recht weise zu sein, hatte den Alltagsmenschen spielen wollen, und diese einzige Frage hatte ihn entlarvt. Auf dem Grunde seines Herzens war der alte Kavalier eben noch immer lebendig. Elend und krank, alt und hinfällig war er, aber das sollte doch niemand glauben, niemand annehmen, daß er jemals ein häßliches Weib geküßt hätte.

Ach Wachenfeldt, Wachenfeldt!

Das Orchester

Der Major Ehrenkrona, ein geborener Finnländer, hatte früher in einem prächtigen Hause gewohnt und war ein vornehmer Herr gewesen, aber auf seine alten Tage hatte er sich in einem Bauernhause eingemietet und lebte ungefähr ebenso arm und eintönig wie der Fahnenjunker von Wachenfeldt. Es ging zwar das Gerücht, er sei ein Meister auf dem Waldhorn, aber seitdem er arm und verlassen war, hatte ihn nie jemand spielen hören.

Und da war auch der Herr Tyberg, der seine Laufbahn als Trommler bei dem Wermländischen Regiment begonnen hatte, aber am Suff zugrunde gegangen wäre, wenn nicht Leutnant Lagerlöf auf Mårbacka sein großes Talent, kleinen Kindern Lesen und Schreiben beizubringen, entdeckt und ihn zuerst zum Lehrer seiner eigenen Kinder gemacht hätte. Und später hatte er ihm eine Stelle an einer Vorschule in Ost-Ämtervik verschafft.

Und da war Jan Asker, der auch Musikant im Wermländischen Regiment gewesen war und nun die Stelle als Küster und Totengräber in Ost-Ämtervik bekleidete. Dieser Mann stammte aus einer alten Musikantenfamilie und blies die Klarinette bei allen Hochzeiten und Tanzereien. Er war trübselig und verbittert, und nur allein die Musik söhnte ihn etwas mit dem Leben aus.

Der Buchhalter Gejer wohnte in einer Bodenkammer im Schulhaus und führte sich selber die Wirtschaft. Er liebte Musik über alles in der Welt, war aber bettelarm und konnte sich deshalb keinerlei Instrument halten. So hatte er sich auf seinem Holztisch eine Klaviatur eingerichtet, und darauf spielte er.

Und schließlich war da auch der Kantor Melanoz, den der Propst Fryxell in eigener Person unterrichtet hatte, und der Gedichte und Stiefel machen, Möbel schreinern und Landwirtschaft treiben konnte. Er war der Festordner bei allen Hochzeiten und bei allen Begräbnissen, außerdem war er aber auch der beste Schullehrer im ganzen Frykentale. Jeden Sonntagvormittag mußte er auf der schauderhaften Orgel in der Ost-Ämterviker Kirche spielen. Da er aber von Grund auf musikalisch war, wäre ihm das unerträglich gewesen, hätte er nicht seine eigene Geige gehabt, auf der er dann am Sonntagnachmittag zu seinem Troste spielte.

Alle diese Leute beschlossen, sich in den Weihnachtsfeiertagen auf Mårbacka zu treffen, solange dort noch was übrig war vom Weihnachtsbier, Weihnachtsschinken und Gewürzbrot.

Als der erste von ihnen in Mårbacka eintraf, ging er nicht gleich ins Haus, sondern wartete, bis alle beisammen waren, der Major Ehrenkrona und Herr Tyberg, der Küster Jan Asker, der Buchhalter Gejer und der Kantor Melanoz.

Dann marschierten sie, der Major an der Spitze, nach der großen Treppe, indem sie sangen: » Portugal, Spanien und Großbritannien

Leutnant Lagerlöf hatte wohl etwas Wind bekommen, was im Werke war, aber er war nicht hinausgegangen, um den Gästen nicht ihre Freude zu verderben. Als er aber den Gesang hörte, stand er sofort auf und eilte hinaus, ihnen entgegen. Und wer diesmal auch nicht faul war, das war der Fahnenjunker von Wachenfeldt, der natürlich auch noch auf Mårbacka saß, da ja die Feiertage noch nicht vorüber waren.

Aber während die Gäste in die Kammer gingen, um ihre Pelze und Überschuhe abzulegen, schickte Leutnant Lagerlöf seine beiden Jungen Daniel und Johann auf die Bodenkammer und ließ sie Gitarre, Waldhorn, Flöte und Triangel holen, die dort hingen. Er selber eilte ins Schlafzimmer und zog unter dem Bett einen starken Geigenkasten hervor. Er stellte ihn auf einen Stuhl, steckte den Schlüssel ins Schloß und hob andächtig die in ein rotseidenes Taschentuch gewickelte Geige heraus.

Und obgleich er selber nie rauchte oder duldete, daß im Hause geraucht wurde, schickte er doch die Jungen fort, um eine alte Tabakspfeife mit langem Rohr, die noch aus Pastor Wennerviks Zeit stammte, zu holen, sowie einen viereckigen Holzkasten, der voll Knaster war, damit der Major Ehrenkrona seine gewohnte Pfeife schmauchen konnte und nicht in üble Laune geriet.

Als dann die fünf Gäste mit dem Fahnenjunker von Wachenfeldt und Leutnant Lagerlöf in den Saal getreten waren, wurde ein Servierbrett mit den gefüllten Punschgläsern hereingebracht, und der heiße Punsch wurde von allen – mit Ausnahme von Herrn Tyberg, der dem Alkohol für immer und ewig abgeschworen hatte – mit Behagen geschlürft. Wenn dann des Majors Pfeife auch noch in Zug gebracht war, dann kamen alle miteinander zu dem einmütigen Entschlusse, lieber Musik zu machen, als die Zeit mit Klatsch oder Kartenspiel totzuschlagen, dazu seien sie sich wirklich zu gut.

Darauf hatte der Leutnant nur gewartet, und nun beeilte er sich, die Instrumente herbeizuholen, die er so rasch hatte zusammensuchen lassen.

Seine eigene Geige reichte er dem Kantor Melanoz, der zwar erst Komplimente machte, weil die Geige die Königin der Instrumente sei und sich hier in diesem Zimmer noch andre befänden, die würdiger seien als er, sie zu spielen. Als aber niemand Anspruch darauf erhob, war er so selig, als hätte er einen Schatz gefunden, und fing sofort an zu stimmen und zu schrauben.

Natürlich sollte Herr Tyberg die Flöte haben. Die war sein Instrument beim Regiment gewesen, als er über die Trommel hinausgewachsen war. Er kannte auch gar wohl die alte Flöte auf Mårbacka und wußte, daß sie undicht und ausgetrocknet war. Er eilte daher in die Küche, um die Flöte in Dünnbier zu tauchen und die Sprünge mit Werg zu umwickeln, damit sie zusammenhielten.

Die Gitarre gab der Leutnant dem Buchhalter Gejer. Der Buchhalter hatte ein langes, schmales Gesicht und einen langen, dünnen Hals, wasserblaue Augen und lange, dünne Finger, in seinem ganzen Wesen war etwas Zierliches und Schmachtendes. Er hängte sich das breite, buntseidene Gitarrenband mit dem Gelächter eines Backfisches um den Hals und drückte die Gitarre so innig an sich, als wäre sie seine Geliebte. Er sah zwar wohl, daß sie nur noch drei Saiten hatte, aber die waren ihm auch genug, ihm, der gewohnt war, auf einem Holztische Klavier zu spielen.

Der Küster Asker war weitsichtig genug gewesen, seine eigene Klarinette mitzubringen. Er hatte sie in seiner Manteltasche und brauchte nur in die Kammer zu gehen und sie zu holen.

Fahnenjunker von Wachenfeldt saß in seinem gewohnten Ofenwinkel und machte alle Anstrengungen, vergnügt auszusehen, obwohl er wußte, daß er mit seinen steifen Händen kein Instrument mehr spielen konnte. Aber da trat der Leutnant zu ihm mit dem Triangel, denn diesen konnte er doch noch handhaben, und da wurde auch er höchst aufgeräumt.

Major Ehrenkrona saß mit seiner Pfeife ruhig da und blies Rauchwolken durch seinen starken weißen Schnurrbart. Er sah, wie einer nach dem andern ein Instrument bekam, aber er schien es nicht zu merken.

»Gib mir ein paar Topfdeckel«, sagte er zu Leutnant Lagerlöf, »dann kann ich auch Lärm machen. Ich weiß ja, daß das Instrument, das ich spielen kann, hier im Hause nicht zu finden ist.«

Der Leutnant schoß wie ein Pfeil ins Nebenzimmer und kam zurück mit einem blitzblank geputzten Waldhorn an grüner Seidentroddel, das für den Major beschaffen zu können, er so glücklich gewesen war.

»Was sagst du dazu, Bruderherz?« fragte er.

Der alte Mann strahlte. »Du bist doch ein famoser Kerl, Bruder Erik Gustav«, sagte er.

Dann legte er die Pfeife weg und begann in das Waldhorn zu tuten, entsetzlich laut und gewaltig.

Nun waren alle versehen, aber jetzt merkten sie auch, daß der Leutnant allein kein Instrument hatte.

Der aber zog eine kleine Holzpfeife hervor, die man zur Hälfte in Wasser stecken mußte, wenn man darauf blasen wollte. Wenn man nur ein bißchen achtgab, konnte man Triller damit hervorbringen, deren sich keine Nachtigall zu schämen brauchte.

Zu guter Letzt baten sie noch Frau Lagerlöf, hereinzukommen und sie auf dem Klavier zu begleiten.

Dem Major zu Ehren versuchten sie zuerst den »Björnebürgermarsch«. Frau Lagerlöf spielte vor, und sieben Instrumente fielen ein, so gut sie konnten. Das war ein geradezu verblüffendes Getöse.

Alle taten ihr Bestes. Der Kantor Melanoz und Jan Asker und Herr Tyberg waren die sicheren Stützen. Aber der Major kam nicht immer mit, und der Leutnant brachte seine Triller an den verschiedensten Stellen an, teils weil seine Wasserpfeife ihre Launen hatte, teils weil er die andern gern aus dem Takt bringen wollte.

Als sie den Marsch glücklich zu Ende gebracht hatten, waren sie alle hochbefriedigt und beschlossen, ihn noch einmal zu spielen, damit er ganz tadellos gehen sollte. Gut, der Major tutete und blies, daß er rote Augen bekam und seine Backen zu platzen drohten. Aber ein so großer Meister auf dem Waldhorn, wie er selbst vermeinte, war er doch nicht, denn auch jetzt wollte es ihm nicht glücken, Takt zu halten.

Aber mit einem Male fuhr er heftig auf und schleuderte sein Waldhorn gegen den Ofenwinkel, so daß er fast des Fahnenjunkers schmerzhafteste Zehe zerschmettert hätte.

»Hols der Teufel!« schrie er. »Ich will euch doch den Björnebürgermarsch nicht verhunzen. Spielt ihr ihn allein, denn ihr könnt ihn!«

Die anderen waren erst etwas bestürzt, begannen aber zum drittenmal, und da fing der Major an mitzusingen: » Söhne eines Volkes, das blutete und litt!«

Er begleitete das Spiel mit seinem schönen, kräftigen Baß, der das ganze Haus erfüllte. Und die menschliche Stimme floß dahin wie ein starker Strom und riß das klapprige Klavier und die wimmernde Klarinette mit fort, ebenso die Geige, die der Kantor nach alter Spielmannsart handhabte, Herrn Tybergs zersprungene Flöte und die dreisaitige Gitarre mitsamt der von dem Fahnenjunker mit steifen Händen geschlagenen Triangel und des Leutnants launenhafte Nachtigall.

Allen wurde warm ums Herz dabei, denn es brannte ihnen noch in der Seele, daß wir Finnland verloren hatten, und nun war es ihnen, als zögen sie mit den tapfern Björnebürgerjungen, um das verlorene Land den Russen wieder zu entreißen.

Als der Marsch beendet war, machte Leutnant Lagerlöf seiner Frau ein Zeichen, und sie fing an zu spielen: » Edle Schatten würd'ger Ahnen« aus der Oper Gustav Vasa, des Majors Leibstück.

Der Major sang das Lied mit kräftiger Stimme, und die anderen Instrumente schienen beinahe auch zu singen.

Aber auf dem steifbeinigen Sofa zwischen den Saalfenstern hatten sich alle Kinder des Hauses eingenistet, Daniel und Johann, Anna und Selma und Gerda. Sie saßen mäuschenstille und waren ganz Ohr.

Es war wohl an ihnen, sich still zu verhalten, wenn die Alten spielten und sich belustigten, als wären sie Kinder. Als der Major sang: » Edle Schatten würd'ger Ahnen«, da glaubten sie, er meine sich selbst damit sowie die andern Mitspielenden im Saal. Denn für die Kinder waren sie doch wie Geister der Entschwundenen, Schatten aus einer reichen, glänzenden Zeit, von der nur dieser schwache Widerschein zurückgeblieben war.


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