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Ausgewählte Gedanken

Zur Charakteristik Lagardes

Alles was ich auseinandergesetzt habe, läßt sich in eine einzige Forderung zusammenfassen, die, Ernst zu machen. Jeder, der irgendwo und irgendwie zu befehlen und zu lehren gehabt hat, weiß, daß – seine eigene Tüchtigkeit vorausgesetzt – die Jugend und der sogenannte gemeine Mann zu allem zu bringen sind, und daß Jugend und gemeiner Mann sich dann am wohlsten fühlen, wann sie tüchtig heran müssen. Bedingung ist dabei, daß die Mitbefehlenden und Mitlehrenden dasselbe wollen wie ihr Nebenmann.

Macht Ernst mit euren schönen Worten, so wird das Paradies auf Erden sein: fahrt fort Worte zu machen ohne Ernst, so werden wir alle bald in Nichts versinken: denn das 1870 vorhandene Kapital unsres geistigen Lebens ist durch die letzte Periode unsrer Geschichte nahezu aufgebraucht, und wir stehn vor dem Bankerotte.

 

Widerherstellen ist – das verhehle man sich nicht – ein Rückschritt.

 

Ich wünsche nicht eher kritisiert zu werden, als bis man mich in Ruhe gelesen hat; es wird niemandem etwas schaden anzunehmen, daß ich für gewöhnlich etwas liefere, was zweimal anzusehen lohnt, wenn man es beim ersten Ansehen nicht verstanden hat.

 

Der Werdende wird immer dankbar sein. Ich hoffe selbst mit dem Werden und Wachsen nie fertig zu werden; wenn ich irgendwem durch irgend etwas zum Werden und Wachsen helfen kann, will ich Abneigung und Spott derer, die den schönen Augenblick verweilen heißen, mit Dank gegen Gott weiter tragen, wie ich Abneigung und Spott der Fertigen und Satten bisher getragen habe.

 

Ich schreibe, was ich schreibe, mit dem Herzen und habe ein persönliches Verhältnis zu den Männern, die mir für meine Studien geholfen oder aber sie gehemmt haben; ich wünsche, daß meine Schüler meine Vorgänger alle und mich als Menschen ansehen lernen, nicht als Skribenten ansehen, oder, wenn das Glück gut will, als Gelehrte.

 

Was »echt Lagardisch« ist, das ist überhaupt echt, und darum werden verständige Männer wohl tun, in dieser verlogenen Zeit es sich auch da gefallen zu lassen, wo es ihnen bitter schmeckt.

 

Ich habe niemals und nirgends in meinem Leben das Meine gesucht und ich habe trotz aller mir in den Weg geworfenen Niederträchtigkeit weder mein Ziel aus den Augen verloren noch irgendwen ohne Hilfe von mir gehen lassen, dem ich habe helfen können, nicht einmal die, welche mir am meisten und am gemeinsten geschadet haben, sowie sie mich um Hilfe baten.

Ich verwahre mich dagegen, daß Einzelheiten irgendwelchen Lebens und irgendwelcher Arbeiten als Einzelheiten vor Gericht gezogen werden. Wer nicht alles in Einem sehen will, der bleibe wenigstens mir mit seinem Urteile vom Halse.

 

Ich habe ohne Leitung meinen Pfad finden müssen und trage die Schmarren der Dornen, die mich versehrt, im Gesichte, die Schwielen der Urwaldsaxt an den Händen; ich werde niemandem vorwerfen, der ein Pionier ist, daß er nicht wie ein maître de plaisir aussieht. Ich werde auch niemandem vorwerfen, daß er irrt: denn ich habe selbst oft geirrt und werde bis an meines Lebens Ende irren.

 

Es freut einen einsam wandelnden und für alle Opfer und Entsagungen mit beleidigender Gleichgültigkeit behandelten Arbeiter, Jüngeren die Bahn wenigstens durch einen öffentlichen Dank für ihre Leistungen leichter gangbar zu machen, als sie ihm selbst gemacht worden ist und noch gemacht wird.

 

Ich empfinde es als eine tiefe Schmach, daß unsere, der Gelehrten, Ehre eine schlechtere, weniger empfindliche Ehre sein soll als die unserer Brüder vom Wehrstande.

 

Die lebendigste Kraft in der Geschichte ist der Mensch; die Geschichte nur die Zwiesprache, welche er über Tod und Ewigkeit hinüber mit Gott, und welche Gott über Sünde und Irrtum hinüber mit ihm hält. Haben wir den volllebendigen Menschen gerettet, so besitzen wir im Keime alles, was er jemals zustande gebracht hat.

Darum will ich für den Menschen fechten gegen die Tatsachen, für die Kraft zu schaffen gegen das Geschaffene, für den irrend Strebenden gegen jeden, der zum Augenblicke sagt: »Verweile doch, du bist so schön!« und zum Besitze: »Du bist mir genug«. Ein Vaterlandsverräter, wer anders denkt.

 

Für mich ist die Sprache Ausdruck einer Psyche, jede Sprache der Ausdruck einer andern Psyche, und jede Psyche der Gegenstand einer Erziehung durch Gott, also eines Werdens, also einer Geschichte.

 

Ich bin am Allerseelentage geboren und erkenne so viele Seelen willig an, als es Seelen gibt, aber außer Beseeltem erkenne ich gar nichts an.

Ich registriere nicht tote Fakta, sondern ich beschreibe ein Leben, ein Werden, und darum auch ein Vergehn.

Daß dies alles vor den Augen der zur Zeit noch Gewaltigen Gnade nicht finden werde, wußte ich von vornherein; daß es in zehn Jahren der Gnade nicht bedürfen wird, weiß ich und wußte ich.

 

Ich werde nicht müde werden zu predigen, daß wir entweder vor einer neuen Zeit oder vor dem Untergange stehn. Vorläufig glaube ich noch, daß Deutschland das Herz der Menschheit ist: darum glaube ich auch vorläufig noch an die Pflicht, Deutschland über die Lage der Dinge zu orientieren.

 

Es ist das Los der Vorläufer, daß sie vergessen werden, wann das von ihnen Gepredigte in das Leben getreten ist: ich will Gott danken, wenn ich als Politiker rasch vergessen werde: denn dann wird die große Zukunft gekommen sein, welche ich verkünde und fordere.

Unflügges Mövchen aus dem Nest am Strand,
ein Knabe trägt es mit sich in das Land.
Es wächst der Vogel, fern am Berg gefangen:
es wächst zugleich,
an Schmerz' und Freuden reich,
das brünstige Verlangen
nach jenem ungekannten Meer,
um das die Eltern frohgemut
nie müde Flügel schwangen.

Da springt die Tür: da steht das Fenster auf:
fort aus dem Haus! zum Himmel jetzt hinauf!
Den Wolken nah hat Umschau er gepflogen.
Nach kurzer Zeit
weiß er genug Bescheid,
und ist davongeflogen
nach jenem nicht vergessnen Meer,
deß Wogen, Winde, Vogelruf
ihm durch die Seele zogen.

Und wie die Möve dann die See erblickt,
die Well' auf Welle nach dem Strande schickt,
die draußen Well' auf andre Welle bauet,
stürzt sie geschwind,
der See heimkehrend Kind,
dem vor der See nicht grauet,
auf jenes allgewalt'ge Meer
mit einem Schrei der Lust, und schaut,
und schwebet, schwebt und schauet.

Mein Herz ist solche Möve tief im Land:
die Sehnsucht steht ihm nach fremdliebem Strand,
nach einem Meer, das jenen Strand bespület,
an dessen Flut
– wie wohl die Heimat tut! –
es seine Heimat fühlet.
O einen Schrei der Lust zum Himmel auf,
wann erst die so erwünschte Luft
mir Stirn und Wangen kühlet.

Am 7. Dezember 1885


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