Volkmar Lachmann
Die 8 Henna-Legenden
Volkmar Lachmann

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König und Bettelmann

Kennt Ihr den alten Komödianten Töde?

Ihr schüttelt den Kopf. Aber woher solltet Ihr ihn auch kennen? Vielleicht habt Ihr ihn einmal als den König gesehen, der sein Reich verliert und es am Ende doch wiedergewinnt. Aber dann war es der König, der Euch im Gedächtnis blieb und nicht der alte Komödiant. Ich will ihn Euch schildern; denn sonst begreift Ihr sein Schicksal nicht und denkt am Ende, er sei ein Narr gewesen, wie es manche von denen dachten, die ihn bettelnd an der Kaimauer im Hafen von Henna gesehen.

Er hatte einen großen und plumpen Körper. Wenn er bei Nacht über die Straße ging, meinte man, einem gutartigen Bären zu begegnen. Sein Gesicht war faltig und trotz der grauen Haarzotteln und des Doppelkinnes das Antlitz eines Kindes. Die Augen waren blau und besaßen den freundlichen Schimmer kleiner, verträumter Teiche. Wie der Abenddunst über solchem Gewässer schienen sie wandelbar und jedem Zauber ergeben.

Töde war das Haupt einer fahrenden Komödiantentruppe, die mit ihren Karren das Land hinauf- und herabzog, über weite Alleen mit Pappelbäumen zu beiden Seiten und durch schlammige Wege, über Wiesen, Felder 12 und durch Wälder. Vor dem Zuge lief ein kleiner Hund, als Bote und Herold. Dann kamen die Wohnwagen und die Karren mit Kulissen und Kostümen. Zuletzt trabte einsam ein Esel. Wenn die Komödianten am Abend in ein Dorf kamen, sammelten sich die Jungen und Mädchen um ihre Karren. Die Männer der Truppe bauten die Bühne auf, das war ein lustiges Hämmern durch das ganze Dorf, die Weiber kochten, und Töde ritt auf dem Esel vor die Häuser, läutete mit seiner Glocke und rief: »Heute Abend großes, trauriges und lustiges Schauspiel von dem König, der sein Reich verliert und es am Ende doch wiedergewinnt! Alle müssen es gesehen haben, es ist lehrreich, erhebt die Seele und kostet fünfzig Pfennige!«

Sobald Töde von diesem Ritt zurückkam, schlug er in die Hände und rief: »Munter, Kinder! Wir wollen unsere Gäste empfangen!« Er legte den Purpurmantel um und stülpte eine hölzerne Krone auf sein Haupt, die mit Goldbronze bemalt und mit roten Tupfen verziert war. Dann ließ er sich zum Abendessen nieder. Er saß auf einem Fasse und speiste von dem Rand der Kostümkiste. Hinter ihm standen eine Frau mit der Gemüseschüssel und der Mundschenk, der aufzupassen hatte, daß des Königs Glas nicht leer wurde. Zwischen Trinken und Kauen behielt Töde ein Auge auf die Arbeit der Schauspieler. »Holla!«, rief er, »rückt die Bänke weiter nach rechts! Dürfen die Leute in unser Reich blicken? O, ein König hat es schwer! Er kann nicht einmal in Frieden zu Abend essen!« Töde wischte sich den Mund mit einem Tuche, warf es zu Boden und lief vor die Bühne. Er rückte an allen Bänken, bis es ihm dünkte, nun stünden sie richtig. »Die Gäste, die wir erwarten«, erklärte er schmunzelnd, »sollen nicht hinter die Bühne blicken. Sie sind nicht unseresgleichen. Wir dürfen uns nicht mit ihnen gemein machen.«

13 Dreißig Jahre lang war der alte Komödiant so im Lande umhergezogen, war in Dörfern und kleinen Städten Gast gewesen und hatte dem verschiedensten Volke in die Augen gesehen. Da gelüstete es ihm eines Tages, sein königliches Glück an der Königin der Städte zu erproben. Sein Leben lang hatte er in Bescheidenheit von der Pracht und dem Glanze Hennas vernommen, des ruhmreichen Sitzes der Kaiserin, wie man Legenden empfängt aus der Unwirklichkeit erträumter Gefilde, ohne Wunsch und Wehe, nur mit dem leisen und innigen Glück, welches Menschen über ein heimliches Besitztum empfinden. Niemals hatte er den Wunsch gespürt, die Bilder des Traumes mit leiblichen Augen zu schauen. Nun, da er ein alter Mann war, erwachte diese Sehnsucht in ihm und brach den Ring, welchen er, seinen Traum zu behüten, um sein bescheidenes Dasein geschlossen hatte. Doch gleichzeitig war eine unbekannte Angst in dem alten Komödianten wach geworden. Zog nicht auch der König in dem Schauspiel aus, um die goldene Stadt zu seinen Füßen zu sehen? Traf den Übermütigen nicht die grausame Strafe der Götter, die eines Königs Herz rein wissen wollen von den Begierden der Sterblichen? Als er seinen Leuten kundtat, daß die Reise auf die Stadt der Kaiserin ging, entstand eine große Unruhe unter ihnen. Töde stieg auf den Kutschbock seines Wagens, stülpte die Krone aufs Haupt und rief: »Ihr Kleingläubigen! Wovor zittert Ihr? Haben wir nicht Sieg auf Sieg davongetragen und Ruhm und Ehren in Fülle geerntet? Begehrt Ihr nicht, die goldene Stadt im Jubel zu Euren Füßen zu sehen? Nennt mir den Ort, an dem wir unterlagen! Zeigt mir das Land, das wir ruhmlos hinter uns ließen! Sagt mir den Flecken auf der weiten Erde, an dem sich unsere Kraft und unser Glück nicht glänzend erprobten! Ist es aber nur ein frommer Schauder, der Eure Herzen bedrängt – wohlan, so spottet seiner 14 und brecht mit mir auf in das Reich der Unsterblichkeit!« Töde hob die Hände und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Die Komödianten klatschten in die Hände. Was sollten sie tun? Die Worte Tödes glichen den Worten des Königs im Bühnenspiel, und wie dort ließen sich die Leute seines Volkes von ihrer Gewalt dahinreißen. Sie hatten keine Wahl, sie waren in der Welt des Stückes gefangen und mußten seinen Gesetzen gehorchen.

Voller Sehnsucht zogen sie nun der Stadt Henna entgegen. An der Grenze hielt sie ein Zöllner an. »Oho«, rief er, »für Wurst und Butter müßt Ihr Zoll zahlen, weil sie noch nicht angebrochen sind! Die Komödianten versuchen, mich um jeden Pfennig zu betrügen. Sie sind nicht besser als alles fahrende Gesindel.« Töde tat, als hörte er diese Worte nicht. Mit spielenden Fingern kramte er in der Geldkiste, blickte auf und sagte lächelnd: »Es ist nichts mehr im Kasten.« »Oho, laßt sehen!«, rief der Zöllner und schwang sich mit einem Satz auf den Kutschbock von Tödes Wagen. »Was ist das?« fragte er und hielt Töde eine silberne Münze vor die Augen. Der Alte zuckte mit den Schultern. »Die letzte und einzige«, sprach er, »die ich von dieser Art besitze.« »Sie ist mein«, sagte der Zöllner und sprang vom Wagen herab. Schweigend setzte Töde die Reise fort. Gegen Mittag rief er die Komödianten zu sich, sah einem jeden tröstend in die Augen und streichelte ihm den Kopf. »Seid nicht traurig, meine Lieben und Getreuen!« sagte er, »betrübt Euer Herz nicht, als hätten wir eine Niederlage erlitten! Die Silbermünze, die sich der Zöllner nahm, war falsch.« Töde blickte sich triumphierend im Kreise um. »Nein«, sprach er voller Würde, »der alte Töde läßt sich von der anderen, fremden Welt nichts anhaben, er findet immer einen Weg.« Er holte eine Flasche Wein hervor, die er zwischen seinen Füßen verborgen gehalten hatte, entkorkte sie und ließ 15 sie im Kreise herumgehen. Er selbst trank den letzten Schluck. Dann warf er die Flasche gegen einen Baum und freute sich an dem Springen des Glases, das wie ein Feuerwerk zum Ruhme seiner königlichen Herrlichkeit aussah. Die Schauspieler ließen ihren glücklichen König hochleben. Je mehr die Komödianten sich dem Ziel ihrer Reise näherten, desto übermütiger wurden sie, putzten und schmückten sich und dachten im stillen, einer dem anderen die Palme des höchsten Ruhmes abzujagen. Die Wellen der Eifersucht schlugen hoch und drohten die alte Ordnung hinwegzuspülen, welche auf der Zufriedenheit und Bescheidung der Kleinen und der maßvollen Zucht der Großen beruhte. Für Töde gab es in diesen Tagen viel zu richten und zu schlichten. Zehn Meilen von der Stadt Henna entfernt ereignete sich in der Truppe ein ungeheuerlicher Frevel. Das alte Mädchen Barbara, das die Königstochter spielte, hatte die Magd bei Nacht im Schatten eines Karrens belauscht, wie sie ihre, der Königstochter, Worte sprach und dabei die Hände hob, als befände sie sich vor einer großen Schar von Zuschauern. Töde, als der Streit vor seine Ohren kam, saß sinnend unter einem Holunderbusch. Er blickte voll Mitleid auf die weinende Magd, streichelte ihr Haar und klopfte der Unglücklichen den Rücken. Nach einer Weile ergriff er die Hand der Klägerin und rief: »Ich bin unzufrieden mit Dir, meine Tochter! Habe ich Dich nicht gelehrt, Milde und Nachsicht zu üben? Du hättest dieser Unglücklichen den Frieden der Seele zurückgeben sollen, daß sie abließ von ihrem frevelhaften Tun, und hättest ihre Leiden lindern müssen! Ich bin unzufrieden mit Dir, meine Tochter!« Barbara senkte den Kopf und blickte zur Seite. Zögernd legte sie ihre Hand in den Nacken der weinenden Magd. »Du aber«, sprach Töde zu der Frau, die vor ihm am Boden hockte, »lasse ab, dem Ruhme nachzujagen, den die 16 Götter nicht für Dich bestimmt haben, und also Unfriede und Zuchtlosigkeit zu stiften! Es gibt keine größere Schuld für Dich auf Erden, als sein zu wollen, was Du nicht bist, ein fremdes Leben zu führen und Worte zu sprechen, die Dir nicht gehören!« Töde erhob sich, zog ein Stück weiter und ließ sich unter einem entfernten Busche nieder. Das alte Mädchen Barbara aber fiel der unglücklichen Magd um den Hals. So wechselten Feindschaft und Friede, Eifersucht und Großmut unter dem aufgestörten Völkchen der Komödianten, welche der Gedanke, in den Mauern der »goldenen Stadt« den letzten und höchsten Ruhm zu erringen, um alle Besinnung gebracht hatte.

Sie waren enttäuscht, als sie sich Henna näherten. Die Stadt wollte nicht anfangen. Es standen hohe Häuser einsam auf einem Felde zertretenen Grases, das staubig war wie von Mehl überschüttet, rote Matratzen und verrostete Büchsen lagen umher, und einmal war dort am Wegrand eine Kuhle, dahinein hatten die Leute Asche und Abfälle geworfen, daß es in der Sonnenglut einen scharfen Dunst gab. Endlich kamen die Komödianten in eine Gegend, wo die Häuser dichter beisammen standen, und da war es Töde, als sei die Stadt nun da. Er ließ, wie er es gewohnt war, am Rande der Häuser die Wagen zu einer Burg zusammenfahren und begann mit den Zurüstungen für den Abend. Er setzte sich, nachdem er alle Befehle erteilt hatte, auf seinen Esel, nahm die Glocke zur Hand und ritt in die Stadt ein.

Es dauerte lange, bis er wiederkam. Er war erschöpft und völlig verstört. »Meine Lieben und Getreuen!« rief er. »Dieses ist eine fürchterliche Stadt. Ich bin immer tiefer hineingeraten, eine Straße zog die andere nach sich, da gab es kein Entrinnen. In dem Lärm haben die Leute meine Glocke kaum gehört. Über den Esel haben sie gelacht, und die Gassenbuben wollten ihn am Schwanze 17 ziehen. Wo sind die Häuser, die man aus Marmor gebaut hat, in deren Kanten das Licht fließt von der Farbe des Honigs, wie es die Leute berichten? Ich habe sie nicht gesehen. Die Häuser sind von gelbem Tuff, sie sind bunt bemalt, das ist alles. Wo sind die goldenen Dächer? Alle Dächer liegen so hoch, daß man nicht hinaufsehen kann. Oh, meine Lieben und Getreuen, dies ist ein Dorf wie alle Dörfer, nur daß die Häuser hoch sind und dicht beieinander stehen und es ihrer viel mehr gibt, als einer glauben kann!« Wußte der arme Töde, daß er in eine entfernte Vorstadt geraten war und die Marmorhäuser von Henna weit davon am Gestade des Meeres lagen?

Am Abend fand sich, wider Erwarten, eine große Menge Volks vor der dürftigen Bühne zusammen. Es waren Arbeiter und Handwerker in ihrem Sonntagsstaat, Töde hielt sie aber für die Großen von Henna, von deren Ruhm die Welt voll ist. Er geriet in eine verzückte Aufregung. Die Bankreihen konnten die Zuschauer nicht fassen, es mußten Fässer und Bettgestelle heran, Töde ging überall umher und gebärdete sich wie ein König, der seine Gäste begrüßt. Das Spiel gelang wunderbar. Niemals in seinem Leben hatte Töde so gut gespielt. Prinz und Königstochter gaben ihm nichts nach, und es entstand jener zauberhafte Zusammenklang, der niemals seine Wirkung auf die Gemüter der Zuschauer verfehlt und der allein die Tränen in die Augen treibt.

Da geschah es, daß in einem der Wohnwagen ein Feuer ausbrach. Es griff schnell um sich. Die Frau, die es durch ihre Unvorsichtigkeit verursacht hatte, stürzte auf die Bühne, um Töde das Unglück zu melden. Sie geriet gerade an die Stelle, an welcher den König, auf dem Gipfel seines Glückes, im Angesicht der goldenen Stadt, alle Besonnenheit verläßt und er wie ein Trunkener zu jubeln beginnt. Welch eine Fülle der Kraft, so meinte der alte 18 Töde, sei in diese Szene eingefangen worden! Er glühte wie in Jugendtagen an ihr empor zu der Höhe seines Daseins. Dies war seine Stunde! Als er die Hände hob, um die ersten Worte gleichsam emporzutragen, trat die Frau von hinten an ihn heran und flüsterte: »Es ist Feuer, Herr!« Töde winkte ärgerlich mit dem Kopfe. »So lösche es!« zischte er. »Ich kann es nicht, Herr!« jammerte die Frau. »Fort!« flüsterte Töde, und er wandte sich wieder dem Volke zu. Er vergaß das Feuer und fühlte nur den Augenblick. »Wie weit«, rief er, »reicht unsere Macht? So weit die Sehnsucht will, und die Sehnsucht hört auf, wo unsere Kraft erlahmt! Freunde, ich fühle die Stärke, die goldene Stadt, das Haupt der Welt, zu gewinnen, und da ich sie fühle, bin ich ihr Herr, hab' ich die Gewalt über marmorne Paläste und das Gewimmel der Menschen, das da lebt und webt zu meinem Ruhm und Glanze! Die Sonne steigt, es glüht das Blut in den Adern, es schäumt die Kraft – ich bin der Herr der Welt!« Die Zuschauer lauschten mit angehaltenem Atem. Als Töde seine Worte gesprochen hatte, klatschten sie laut in die Hände und riefen, daß es weit über das Feld durch die Nacht klang. Töde rannen die Tränen über das Antlitz.

Da drangen Rauch und der Geruch des Brandes durch die Kulissen. Die Zuschauer sprangen von ihren Sitzen und liefen, um Eimer und Wannen voll Wasser zu holen. Vom nahen Turme klang das Geläut der Feuerglocke. Aber kostbare Minuten waren verlorengegangen. Das Feuer wollte sich nicht mehr löschen lassen, es brannte die ganze Nacht, und ein Lärmen und Rufen ging über das Feld, als sei der jüngste Tag herangekommen. Töde stand inmitten seiner Leute und ermunterte sie zum Kampf mit den Flammen. »Rettet!« rief er, »rettet das Reich! Rettet den König und Euch selbst! Sehet, es ist die Stunde gekommen, da der Feind Euch verzehren will! Zeigt Euch, rauft Euch! 19 Wasser, Wasser! Rettet das Reich!« Der Brand gab zu seinen Worten eine fürchterliche Begleitmusik, er sang und knisterte in dem trockenen Holz, er schrie, wenn der Wind hineinfuhr, und trieb die brennenden Kulissen mit einem glühenden Singen in die Luft hinauf.

Als der Morgen emporstieg mit einem grauen Schimmer, sank das Feuer zusammen, weil es keine Nahrung mehr fand. Traurig standen die Schauspieler vor den Trümmern ihrer Habe, mit gesenkten Ohren Pferde und Esel über der glimmenden Asche. Der kleine Hund hielt den Krönungsmantel in der Schnauze und trug ihn dem weinenden Töde vor die Füße. »Mit diesen Trümmern«, rief der alte Komödiant, »sollen wir heute ein neues Leben beginnen. Ach, es wird anders sein als das alte!« Hinter ihm glänzte, auf dem alten Lehnstuhl, der dem König als Thron gedient hatte, die hölzerne Krone in der Morgensonne. –

Töde hatte noch einmal eine große Stunde. Das war, als er die Komödianten seiner Truppe verabschiedete. Er saß auf seinem Throne, und die Schauspieler standen im Halbkreis um ihn herum. Er hatte die Krone aufs Haupt gesetzt und schämte sich ihrer nicht, obgleich die Leute aus der Stadt in einiger Entfernung dem Schauspiele zusahen.

»Meine Lieben und Getreuen«, sprach der König, »ich habe Euch um mich versammelt – tritt ein wenig nach links, Barbara, so will es die Rangordnung – ich habe Euch also um mich versammelt, um die Krone niederzulegen und das Ende des Reiches zu verkünden.« Er nahm die Krone von seinem Kopf und behielt sie im Schoß. »Wir haben alles verloren«, schluchzte er, »Geld und Wohnung, Kostüme und Kulissen. Ihr mögt einen neuen Anfang finden. Ich wünsche Euch Glück und schließe meine Augen. Denn was dort in Asche liegt, das bin ich.« Er 20 wischte sich die Tränen mit einem Zipfel des Purpurmantels.

Danach verkaufte Töde die Pferde, den Esel und den kleinen Hund an die Leute aus der Stadt und teilte den Gewinn unter die Schauspieler. »Nehmt es hin«, rief er, »das glänzende Gold! Es ist die letzte Wohltat, die ich Euch erweisen kann, das letzte Werk des gestürzten Königs. Nehmt es hin ohne Worte! Die Tat des Königs bedarf keines Dankes, sie kommt wie Sonnenschein über die Menschen, so reich und so selbstverständlich, und ist doch Menschenwerk. Oh, sprecht nicht, schweigt stille!« Er teilte die klingenden Münzen unter seine Leute und behielt selbst nichts zurück. Niemand widersprach, denn alle wußten, daß darin das höchste Glück des alten Komödianten lag. Einer der Schauspieler nach dem andern ging, und die Truppe war nicht mehr, ehe der Abend kam.

Am Nachmittag bezog sich der Himmel, langsam und unmerklich, als wenn die Sonne erblinde. Es wurde kalt. Gegen Abend fiel der erste Regen. Töde schlief die Nacht über allein bei der Brandstätte. Er ruhte, wie ein frierendes Tier, ein Stück versengten Tuches über sich gedeckt, das lag naß und klamm auf seinem Leibe, mit dem Kopf war er unter den Stuhl gekrochen und verharrte so bis in die Morgenfrühe. Als er die Augen öffnete, fiel sein Blick auf die Haufen grauer Asche, die feucht und schwer von dem Regen auf dem Felde ruhten. Da weinte er einsam unter seinem Tuche, bis er müde des Weinens war. Nun schien es ihm, als sei er tot und leer. Der Hunger meldete sich, er wollte es nicht wahrhaben, aber es war dennoch so. Er verlor alle Gedanken und lief wie taub umher, einen Augenblick auf den anderen verschiebend. Schließlich, als Mittag vorbei war, setzte er sich auf einen verkohlten Balken, ein Tragstück der alten Bühne, und versuchte zu glauben, er lebe gar nicht. Aber der Wind, der 21 über das Feld ging, wehte durch seine feuchten Kleider und ließ ihn die Wirklichkeit nicht vergessen.

Am Abend kam ein Arbeiter von den nahen Ziegelwerken, der sah den Alten in seinem Jammer, und sein Herz rührte sich vor Mitleid. Er hatte das Spiel mit angesehen, und als er nun den König in seinem Unglück erblickte, da kehrte ihm alles zurück, und er konnte sich der Tränen schwer erwehren. Er dachte: »Ich will ihn mit auf die Ziegelei nehmen, dort hat er ein gutes Brot und ein warmes Lager. Ist's auch das gleiche nicht wie die Schauspielerei, so scheint's mir doch besser als nichts.« Er trat an den Alten heran und machte seinen Vorschlag. Töde nickte dazu, er konnte gar nichts mehr denken; nur, als der Arbeiter ihn gleich mitnehmen wollte in den Gesindetrakt des Ziegelwerkes, da schüttelte er den Kopf und sagte mit einer müden Stimme, er wolle noch eine Nacht hier bei seinem versunkenen Reiche bleiben. »Schön«, sprach der Arbeiter, »dann hol' ich Euch morgen um sieben Uhr.«

Zur festgesetzten Zeit trat Töde seine Arbeit an. Er mußte die Steine, die in großen Stapeln vor der Ziegelei zum Kühlen lagen, auf einen Wagen packen. Die Ziegel waren hart, Klinkersteine von grünem Schimmer, sie schnitten dem Alten in die Hände, daß er große Schmerzen davontrug. Der Komödiant war nicht schnell genug, er stand den anderen im Wege. Er war die Arbeit nicht gewöhnt und hatte ihr Wesen nicht erfaßt, das in einem schönen und gleichmäßigen Rhythmus liegt. Er suchte ihrem Gesetz auszuweichen, lief in Gedanken immer wieder davon und mußte deshalb immer wieder von vorn anfangen. Endlich war er es müde. »Ich kann nicht mehr«, sagte der König und setzte sich auf eine umgestürzte Karre. Dort blieb er lange, der Regen rann an ihm herab, er fühlte ihn nicht. Denn in seinem Herzen war der gleiche Jammer 22 und die gleiche Trostlosigkeit. Als Töde einmal den Kopf hob, erblickte er unter den Arbeitern einen von seinen alten Komödianten, dem ging das Werk leichter von den Händen. Da schämte sich der König. Am Mittag kam ein Vorarbeiter und fragte: »Wie ist es, Alter? Wollt Ihr arbeiten oder nicht? Es steht Euch frei; doch wenn Ihr nein sagt, könnt Ihr fortgehen. Zuschauer müssen zahlen, sonst wirft man sie hinaus. Das wißt Ihr selbst, alter Komödiant!« Als Töde das hörte, erhob er sich seufzend und begab sich an die Arbeit. »Es heißt«, sprach der Vorarbeiter, »jeder Anfang sei schwer. Ist es doch, als müsse man einen fremden Tanz nach einem fremden Lied erlernen.« – »Ich bin nicht geschaffen«, entgegnete Töde, »einen Tanz zu erlernen, sondern die Musik zu machen.«

Tag für Tag arbeitete er nun in dem Ziegelwerk. Doch sein Schatten nur war es, der bei Morgen über den nachtkalten Boden zu den Stapeln gelber, toter Ziegel wandelte, sein Schatten griff mit leblosen Händen die Steine und bewegte sie, wie es befohlen war; sein Schatten sank müde zu Boden, wenn die Arbeit stockte, aß von dem Brote und trank das saure Bier. Und sein Schatten wanderte am Abend zurück zu der Hütte, fiel in das Stroh und blieb reglos liegen.

Eines Abends geschah es, daß Töde nach der Arbeit nicht sein Lager aufsuchte, sondern hinauswanderte auf das weite Feld. Er trug ein Bündel mit Krone und Purpurmantel in der Hand, als wolle er eine weite Reise antreten. Der Himmel klarte auf. In der Ferne, wo die Stadt Henna lag, zeigte er gar einen lichten Schimmer. Töde stand plötzlich vor den Trümmern seiner Bühne. Aus den halbverkohlten Balken hatten die Buben eine Bühne aufgebaut und hinter einem Tuche von Sackleinwand hölzerne Puppen auftreten lassen. Die Asche hatte der Regen fortgeschwemmt, es lag nur noch ein grauer Reif auf der 23 Stätte. Töde nahm das Tuch beiseite. Da war es ihm, als habe sich der Vorhang gehoben, und der zweite Teil des Spieles könne beginnen, der alle Tränen trocknete und zu einem glücklichen Ende führte. Ach, das Elend war gut, wenn es vergangen war und das Herz bereit gemacht hatte für die Fülle des Glückes, die hinter den bunten Kulissen der goldenen Stadt auf König und Zuschauer warteten! Vergangen war der Jammer, aber nicht vergessen: Er hatte die Seele geläutert, das Glück zu empfinden. Nun konnte es kommen, nun war es an der Zeit, und alle, alle warteten! Es galt, die Spuren des steinigen Weges an der Quelle klaren Wassers abzuwaschen und gereinigt die goldene Stadt zu betreten, um sie diesmal und endlich aus der Kraft des Herzens zu gewinnen, wie es das Stück vorschrieb, das die Menschen in Städten und Dörfern stets so glücklich gestimmt hatte. Töde kniete nieder, um vom Wasser der Quelle zu schöpfen – da fuhr ein Windstoß über die abendkalte Ebene und rief den alten Komödianten in die Wirklichkeit zurück. Er sah hinaus, und es war so leer auf dem Felde wie in einer Wüste. Wo blieben die Zuschauer? Der Wind fuhr noch einmal über das Land. Er trieb die Wolken auseinander und gab einen Streif blauen Himmels frei, von dem das milde Licht des Abends herableuchtete. »Ach«, sagte Töde und lächelte ein wenig, »ich bin ja gar kein Komödiant mehr.« Er ließ sich nieder auf dem Boden, denn Müdigkeit befiel ihn plötzlich, und die Nähe eines Traumes rührte ihn an. »Ich bin ja gar kein Komödiant mehr«, sprach er noch einmal und leiser: »Ich bin ein König . .« und still glitt er in die Arme des Schlafes.

Im Traum sah er sich durch tiefen Sand waten; der Weg kam ihm mühsam an, und eine unbarmherzige Sonne brannte vom Himmel. Das Bündel mit Krone und Mantel trug er unter dem Arm, es wurde immer schwerer, und 24 am Ende meinte er, er müsse es niederlegen. Aber siehe, es wollte sich aus seinen Armen nicht lösen, und er mußte es weitertragen durch den rinnenden Sand und die Glut des herzlosen Lichtes. Da rief aus einem trockenen Dornbusch eine Stimme: Wirf Deine Kleider von Dir, lege den Mantel von Purpur an und setze die Krone aufs Haupt, wie es Dir zukommt! Töde glaubte der Stimme nicht, doch dann folgte er ihrem Befehle, und es wurde ihm leicht und frei, ja es war, als schwebe er über den Sand und das Wehen des weiten Mantels fächele ihm Kühle zu. In der Ferne aber sah er die goldene Stadt am Gestade des Meeres, von den Türmen klang Musik, sie wurde lauter und jubelnder, je näher er kam, und zuletzt tönte sie ihm mächtig, wie ein trunkenes Lied, in den Ohren. Dorthin, rief Töde, dorthin will ich gehen! – Als er erwachte, sangen die Vögel schon in den Zweigen über ihm, der Tag war nahe, ein graues Licht lag über der nachtdunklen Ebene. Töde brach auf. In die erloschenen Augen war der Glanz zurückgekommen, doch es war ein anderer Glanz, ein unwirkliches Licht von ruhigem Schimmer. »Nur diesen Gipfel noch«, sprach Töde, »der vor mir liegt, muß ich ersteigen: Dann, dann seh' ich Henna, die goldene Stadt!« Der Gedanke, daß es dort eine Kaiserin gäbe und alle Dinge ihre feste Ordnung besäßen, rührte ihn an wie der Schatten einer Wolke, der über sonnenklares Land weht, und eine Furcht befiel ihn, als wäre diese Ordnung nicht für ihn, sondern stieße ihn fort als einen Fremden und Unheimlichen, um die Fröhlichkeit und Klarheit ihres Daseins zu bewahren. Bald aber verließ ihn diese Furcht. »Ist denn ein König«, fragte er, »nicht dem Gesetz enthoben? Verliert nicht der Alltag an ihm seine Macht? Sind nicht Wunder und Zauberwerk um ihn? Hat ihn noch niemand betteln gesehen? Er trägt den Purpur und trägt den Bettelrock. Seine Speise sind die Fülle der Reichsten 25 und der Abfall der Ärmsten, sein Bett Samt und Seide und fliegender Staub. Der König steht über und unter den Menschen, er ist ein Fremder, was macht es viel, ob er bettelt oder herrscht?« Und er ging, wie ein König geht zu der Stätte, an der sich sein Schicksal erfüllen soll.

Auf dem Gipfel des Berges sah er zu seinen Füßen die Stadt Henna. Betäubt von der Fülle der Schönheit, die sich seinem Auge bot, stand er in wortloser Ergriffenheit. Das Meer, wie eine Schale dunklen Wassers, glühte auf an den Rändern – die Sonne erhob sich in rotem Flammenglanz. Der Reigen der Häuser schwang um die Bucht gleich einem Felde von weißem Marmorstein. Dunkles Gesträuch blühte dazwischen, und aus den Blättern blickten Früchte wie die Augen von freundlichen Dämonen. Es war ganz still, und als das Gestirn emporstieg aus dem seidigen Dunst der Frühe, begann auch der Duft des Landes zu erwachen, er dampfte aus den Blüten und aus den trockenen Kräutern und betörte die Sinne des alten Töde. Der kniete an einer Quelle nieder und reinigte seinen Leib von den Spuren des Weges: Er trat einen heiligen Gang an, und niemand durfte ahnen, woher er kam. Töde legte den Purpurmantel um und stieg langsam durch die blühenden Gärten. Er hatte die Krone aufs Haupt gesetzt und meinte, sie müsse weithin leuchten. Doch ihr Glanz war erblindet.

Töde betrat die Straßen von Henna. »Gaukler, Gaukler!« riefen die Gassenbuben und sprangen hinter ihm drein. Sie glaubten, eine Komödiantentruppe hielte ihren Einzug in Henna und dieser Alte hätte sich in das bunte Kleid geworfen, um die Aufmerksamkeit und das Gelächter der Leute auf sich zu ziehen. »Gaukler, Gaukler!« riefen die Jungen, lachten und sangen und umschwärmten Töde wie ein Haufen Mücken im Abendlicht. Bei solchen Gelegenheiten war es Sitte, daß die Buben die Gaukler an ihren 26 bunten Kleidern zupften und mit ihren winzigen Schlägen über sie herfielen. Warum verging ihnen die Lust, dergleichen mit Töde zu tun? Ruhig und unbeirrt zog der Alte seinen Weg. Er wandte sich nicht um, er lachte und drohte nicht, er fand keine Worte des spaßigen Schimpfens und keine Gebärden, die die Kleinen erheitern konnten. Eine Scheu befiel die Buben, sie hielten sich zurück, und am Ende gingen sie hinter ihm drein wie ein Gefolge von kleinen Trabanten. Sie schwiegen, doch ihre Stille war nicht tot und leer, ein ganzes Dasein voller Achtung und Hingabe lag in ihr beschlossen. »Was bedeutet dies?« fragten die Männer und Frauen. »Die Buben sind so ruhig. Das geschieht alle sieben Jahr einmal. Es muß ein großer Tag heute sein.« Sie blickten aus den Fenstern und durch die Scheiben der Krämerläden. »Kinder, lacht doch!« rief eine Frau, »Gaukler sind in der Stadt!« Doch die Buben schritten ernst und mit glänzenden Augen hinter dem wehenden Königsmantel her und dachten nicht mehr an Tanzen und Springen. Da verstummte auch die Frau, es verstummten alle, die den seltsamen Aufzug sahen, und von fern folgten sie ihm, Männer und Frauen mit Körben und Handwerkszeug. Eine stille Feier senkte sich über die wandernden Menschen, sie gingen, als trügen sie offene Kerzen in den Händen, die verlöschen müßten vor einem unbedachten Wort oder einer jähen Gebärde. Und dennoch wurde es Mittag, die Gassen füllten sich mit Glut und Dunst und dem fernen Lärm von vielen tausend Stimmen. Töde sprach leise vor sich hin. Er sprach von den Häusern aus weißem Marmor, von dem Licht, das, dem Honig gleich, golden im Leibe der Steine fließt. Wohin ging der Weg? Weit, weit – bis ans Gestade des kühlen, blauen Meeres. Das lag ruhig und ohne Regung vor seinem Blick, nur ganz leise schickte es die Wellen auf den Strand, als wolle es die Stadt nicht aus ihren Träumen wecken, wie 29 in einem Spiele so sanft, so behutsam und voller Lieblichkeit. »Wirklich!« rief Töde, »das Meer hält den Atem an, um der Stadt ein gefälliger Spiegel zu sein. Es rührt sich kaum, es ist zahm und friedlich, ist gebannt von der Macht dieser herrlichen Stadt!« Seine Seele füllte sich mehr und mehr mit einem großen und prächtigen Glücke, er war trunken, und ein schöner Wahnsinn erwachte in ihm, daß er sich umwandte zu dem Volke von Henna und die Worte sprach, mit denen der König auf der Bühne zum zweiten Male die goldene Stadt begrüßte. Die Leute standen ergriffen am Strande des Meeres. Dies alles, was sie da sahen und hörten, war ein Zauber oder ein Märchen, und doch lag der Hafen von Henna wie zu allen Tagen, und das Meer sprach mit leisen, murmelnden Worten. Als Töde geendet hatte, wußten sie nicht, was sie jetzt tun oder sprechen sollten. War der Alte dort im Purpurmantel ein Bettelmann? War er ein König? Die Leute konnten es nicht sagen. Doch es ging eine Gewalt von ihm aus, welche sie scheu und fromm machte, sie, die Leute von Henna, die selbst im Alter noch etwas von der Art der Kinder bewahrten.

Töde aber sank seufzend an der großen Kaimauer nieder. Er war müde, sein Kopf fiel auf die Brust herab und die Krone rollte zu Boden. Ein kleines Mädchen kam und legte eine Frucht hinein; andere taten das gleiche. Töde dankte, und sein Dank war wie ein Segen. Er hielt einen Apfel lange liebkosend in den Fingern. Die Leute blickten sich an. »Sieht es nicht aus«, sprachen sie, »als gäbe er ihm in seinen Händen ein Leben?« Töde führte die Frucht zum Munde, doch er aß nicht davon, er hauchte sie an, hielt sie an seine Wange und blickte auf ihren feuerstreifigen Leib, auf dem wie farblose Augen kleine, runde Warzen blühten. »Er spricht mit dem Apfel«, flüsterten die Menschen. »Er kennt sein Leben und fragt, wie er die 30 Welt von der Höhe seines Baumes betrachtet habe.« Eine Frau wollte dem Alten eine Handvoll Silbermünzen geben. Sie war bekannt in der Stadt, weil sie glaubte, die Leute von Henna ehrten und achteten sie nicht. Sie sah es gern, wenn ein Bettelmann gierig nach ihren Schätzen griff. Töde tat, als sehe er sie nicht. Als sie näher trat und die Münzen in der offenen Hand vor seinen Augen leuchten ließ, lächelte er. »Behalte sie«, sprach Töde. »Du bist arm.« – »Seid Ihr es nicht?« rief die Frau. Sie schämte sich und wünschte, weit fort in einem fernen Lande zu sein. »Mein Reichtum«, entgegnete Töde, »ist die weite Welt.« Er beschrieb mit dem Arm einen Bogen, der die Stadt, das Meer und das duftende Land umfaßte. –

Mädchen in bunten Kleidern gingen Arm in Arm durch den Hafen von Henna. Sie waren schon viele Male bei dem alten Bettler vorübergewandert und jedesmal für einen Augenblick stehengeblieben. »Wie wäre es«, fragte eine von ihnen mit leiser Stimme, »wenn wir vor ihm tanzten?« »Wir müßten es tun«, sprachen die anderen, »gewiß nimmt er nicht nur Brot und Früchte, sondern ebenso gern einen schönen Anblick.« Die Mädchen steckten die Köpfe zusammen und berieten, welchen Tanz sie aufführen sollten. Dann faßten sie sich an den Händen und bewegten sich vor Töde im Reigen, bis sie erschrocken innehielten. »Wir dürfen ihn nicht stören« flüsterten sie. »Seht doch, er ist weit fort in seinen Gedanken!« Töde aber blickte auf, winkte ihnen mit der Hand und sah sie gütig an wie ein König, der auf einem Volksfest erscheint und sich an der Fröhlichkeit der Leute ergötzt. Die Mädchen faßten einander wieder an und begannen den Reigen von neuem. Sie tanzten, bis ihre Füße müde wurden, und summten eine Melodie, die stärker ward und verwehte, so, wie der Abendwind durch den Hafen ging. Als der Reigen zu Ende und die letzten Töne 31 verklungen waren, verneigten sie sich vor dem bettelnden König. Töde schlug in die Hände und nickte freundlich mit dem Kopf. Er nestelte von einem Körbchen voller Früchte, das er von einem Buben erhalten hatte, eine Blume los und winkte einem der Mädchen, das in seiner Nähe stand. Mühsam, wie ein alter und von Sorgen gebeugter Herrscher, erhob er sich und flocht ihr die Blume in das dunkle Haar. Dann ließ er sich auf das alte Faß zurücksinken, das ihm zum Sitze diente. Buben sprangen herbei und stützten ihn, daß keine Unbill seinen Körper treffe.

Zur Zeit der ersten Dämmerung trat der Hafenwärter an einen Mann heran, tippte ihm mit dem Finger auf die Schulter und sagte leise: »Geht nach Hause, Freund! Es ist Abend geworden.« Der Mann blickte sich flüchtig um und tat, als habe er nichts gehört. Der Wärter faßte eine Frau bei der Hand, führte sie ein Stück fort und sagte: »Was steht Ihr hier und gafft? Es ist wider Brauch und Ordnung.« Die Frau machte sich los und betrachtete den Wärter wie einen, der an diesem Platz und in dieser Stunde nichts zu suchen hat. Der Wärter seufzte. Er ergriff einen kleinen Buben und trieb ihn mit Schlägen vor sich her. Der Junge entwischte ihm und rief: »Ihr werdet es büßen, wenn Ihr dem König ein Leid antut. Er spricht mit Äpfeln und Birnen, er wird Euch verzaubern, und Ihr müßt tun, was er will.« Da nahm der Wärter all seinen Mut zusammen und trat vor den Bettler. Töde sah ihn an wie einen braven Mann aus seinem Volke, dessen Name ihm entfallen war. Er bewegte zwischen den Fingern das fortgeworfene Ende eines Taues, als kramte er in dessen Fäden nach dem verlorenen Namen. Endlich fragte er mit einem gütigen Lächeln: »Was ist Dein Begehr, mein Sohn?« Der Mann zog seine Mütze und antwortete: »Ich bin der Wärter des Hafens von Henna, 32 Ordnung und Reinlichkeit sind in meine Hand gegeben. Alles muß sein, wie es gestern war und morgen sein wird . .« Er hielt inne. »Es ist gut, daß Du kommst«, sagte Töde. »Du trägst eine kleine Schaufel am Gurt, und Dein Stock besitzt eine Spitze, das Papier fortzunehmen. Sieh her!« Töde wies mit der Hand auf einen Haufen von Abfällen, die zu seiner Rechten angehäuft waren. Der Wärter bückte sich. Er hielt das Gesicht tief auf den Boden, daß die Leute von Henna nicht sahen, wie seine Wangen rot geworden waren. Schweigend tat er Töde seinen Willen. Später, in der Dunkelheit, kam er zurück. Er hatte Schaufel und Stock in einem Güterschuppen untergestellt und wollte zu dieser Stunde nichts sein als ein Mann aus dem Volke von Henna, das den königlichen Bettelmann umgab wie ein heimlicher Hofstaat.

Als es Nacht werden wollte, kamen zwei Matrosen des Weges, die die Hafenstraße hinabschlenderten. Sie sahen den König am Boden hocken und meinten, er müsse frieren auf seinem dürftigen Lager. Sie besannen sich nicht lange, brachten Lumpen und Werg, Leinwand und Sacktuch und bereiteten davon dem Alten eine warme Ruhestätte. Sie rollten Fässer gegen den Wind heran und banden die Tücher an rostige Anker. Als sie das letzte Stück gebracht hatten – die Ecke von einem roten Kissen, darauf Töde sein Haupt legen sollte –, verschwanden sie in der Dunkelheit. Töde aber sank in einen glücklichen Schlummer.

In der Nacht wanderte die Legende von dem Einzug und dem Gebaren des bettelnden Königs durch die Häuser von Henna. Die den Alten im Purpur mit eigenen Augen gesehen hatten, erzählten von ihm in der Sprache der Märchen. »Die Kinder waren so still«, sagten sie, »die Gassen verstummten, und da schritt er daher im wehenden Königsmantel, eine goldene Krone auf dem Haupt. 33 Es war, als ginge ein fremder Wind durch die Straßen, doch ein warmer und lieblicher, der die Blüten aufbrechen heißt und einen duftenden Schnee über die Bäume gießt . .« »Er hat zu dem Meer gesprochen«, erzählten sie weiter, »und da waren es nicht mehr Wasser und Wellen, da war's ein Geschöpf, das eine Seele besaß, ein silberschimmerndes Wesen mit einem kühlen, sprühenden Atem und seltsamen Worten, die niemand begriff. Nur der Alte verstand sie. Er spricht mit Brot und Früchten, und alle Dinge sind ihm untertan.« Solche Worte gingen von Mund zu Mund, sie drangen in alle Winkel von Henna, in Paläste und Hütten, kletterten die Treppen empor bis zu den höchsten Dachstuben und stiegen herab in die dunkelsten Kellergelasse. In einer einzigen Nacht zog die Legende von Töde durch die ganze Stadt, eine tausendzüngige Mär, schöner und wunderbarer mit jedem Schritt, den sie tat. –

Nun saß der Alte Tag für Tag am Rande der großen Kaimauer von Henna. Er war glücklich. Ein wunderbarer Herbst senkte seinen Zauber über die Stadt, die Luft war voll von dem Dufte der sterbenden Blumen, die Sonne glühte, und goldene Fäden schwebten schimmernd unter dem schieferfarbenen Himmel. Er hatte alles von sich geworfen, nun war er frei und leichten Herzens, hingegeben seinen großen Träumen, die unter der Wärme wuchsen wie bunte Blumen. Er zählte die Stunden nicht, die über den Hafen von Henna gingen. Das Treiben der Matrosen, das Kommen und Gehen der Schiffe, der Trubel und die Stille über dem weiten Kai – dies alles waren ihm Bilder ohne Gedanken, Duft vieler Augenblicke, erblüht und verweht, gefühlt und vergessen. Er segnete die Vorübergehenden, die ihm Brot und Früchte in die umgestülpte Krone legten, und redete zu ihnen, wenn seine Stunde gekommen war. Um ihn webte der Geruch von 34 Teer und getrockneten Fischen, der Rauch von den großen Schiffen und der salzige Duft des Meeres.

Eines Tages kam der Präfekt des Hafens zur Kaiserin und sprach: »Es sitzt ein Bettler an der Kaimauer im Hafen.« – »Ist es möglich?« entgegnete die Kaiserin. »Wißt Ihr nicht, daß ich keine Bettler dulde in meinem Lande?« – »Ich weiß es«, sprach der Präfekt. – »Was also«, rief die Kaiserin, »kommt Ihr zu mir und sprecht von einem Bettler? Seid Ihr nicht Manns genug, im Hafen Ordnung zu schaffen?« Der Präfekt senkte den Kopf. »Das Volk von Henna liebt diesen Bettler«, sagte er mit leiser Stimme. Die Kaiserin horchte auf. »Erzählt mir von ihm«, sprach sie. »Er ist alt«, berichtete der Präfekt, »und trägt einen verblichenen Purpurmantel, dazu eine Krone von goldbemaltem Holz, wie sie die Theaterkönige besitzen. Das Volk verehrt und achtet ihn wie einen wirklichen König. Was soll ich tun, da es doch in Henna keine Bettler geben darf?« Da lächelte die Kaiserin und sprach: »Vielleicht ist er wahrhaftig ein König. Es gibt manche Könige, offenbare und verborgene. Des einen Krone ist von Gold, des anderen von Holz. Könige soll man ehren.« Der Präfekt rang die Hände. »Das gerade ist es«, rief er, »was mir mein Werk so schwer macht: Ich darf keinen Bettler im Hafen dulden, und nun sitzt dort einer, der ein König ist.« – »Vielleicht«, entgegnete die Kaiserin, »ist er auch nur ein Bettelmann. Habt Ihr ihn niemals betrachtet, daß Ihr mir nicht sagen könnt, ob er ein König oder ein Bettler ist?« – »Ich bin ihm immer aus dem Wege gegangen«, sagte der Präfekt. »So sucht ihn auf«, sprach die Kaiserin, »und trachtet, sein Geheimnis zu ergründen!«

Am nächsten Morgen, in der Frühe, meldete sich der Präfekt zum zweiten Male bei der Kaiserin. »Er sitzt«, sagte er, »auf einem alten Fasse und spielt mit dem fortgeworfenen Ende eines Taues, wenn er in Gedanken versunken 35 ist. Die Leute aus Henna«, fuhr er fort, »wandern in Scharen zum Hafen, um den königlichen Bettler oder den bettelnden König zu sehen. Sie kommen mit lachenden Gesichtern wie zu einem Jahrmarktsfest und kehren ernst, doch mit leuchtenden Augen zurück. Ich habe eine Frau gesehen, die war aus dem hintersten Winkel von Henna herbeigewandert. Sie trug ihr Kind auf dem Arm und stand lange in der Sonnenglut an der Kaimauer. Müde war sie gekommen, leicht und frei zog sie am Abend von dannen. Einen alten Mann habe ich weinen sehen und zwei Matrosen dem Bettler ein Lager für die Nacht herrichten.« – »Ihr habt viel gesehen«, sagte die Kaiserin, »nun will ich wissen, was Ihr von alledem haltet.« Der Präfekt sah die hohe Frau verzweifelt an. »Ist es ein Schauspiel«, rief er, »ist's eine Feier? Ich weiß es nicht. Man sagt, der bettelnde König sei früher ein Komödiant gewesen. Ist er ein Gaukler, ist er ein Heiliger? Stiftet er Glück oder bringt er Verwirrung? Bedeutet er Segen, bedeutet er Fluch? Ich weiß nicht, von wem er seine Macht besitzt, ob von den Göttern, ob aus der Unterwelt – ich weiß nur, daß er sie besitzt, und mehr kann ich nicht sagen.« Die Kaiserin sprach: »Ihr habt Euch Mühe gegeben und alles getreulich aufgezeichnet, was Ihr gesehen. Ist es Eure Schuld, daß Ihr damit nichts anzufangen wißt?« Als es Abend war, rief sie den Kanzler zu sich und sagte: »An der großen Kaimauer im Hafen von Henna sitzt ein Bettler. Das Volk achtet ihn wie einen König. Er trägt einen Purpurmantel und eine hölzerne Krone. Sollte er wirklich ein König sein?« Die Kaiserin lächelte bei diesen Worten, und auch in des Kanzlers Antlitz kam ein schalkhafter Zug. »Ich habe von ihm gehört«, sagte er. »Der Alte an der Kaimauer von Henna streckt seine Hände nicht dem Volk entgegen. Sein Mund spricht nicht von Hunger, und seine Augen kennen keine Klage. Er 36 beugt sich nicht vor den Menschen, und doch ist seine Krone, die er als Bettelschale im Schoße hält, niemals leer. Er nimmt die Gaben wie einen Tribut, der ihm zukommt.«

»Wenn er ein König ist«, sprach die Kaiserin, »so muß ich es wissen.« – »Kann der ein Gaukler sein«, fragte der Kanzler, »den das Volk von Henna wie einen König verehrt?« – »Seid Ihr dort im Hafen gewesen«, entgegnete die hohe Frau, »und habt das Schauspiel mit angesehen? Habt Ihr dem Volke in die Augen geblickt? Der Präfekt hat mir Wunderdinge erzählt; doch da er den König nicht erkannte, wie vermochte er da in den Augen des Volkes zu lesen?« – »Ich begreife nun meine Aufgabe«, sprach der Kanzler. »Morgen um diese Stunde weiß ich, ob der Bettler ein König oder der König ein Bettler ist.

Und also geschah es, daß am Abend unter den vielen Menschen, die Töde zusahen, unerkannt der Kanzler stand und kein Auge von dem bettelnden König ließ. Töde wurde um diese Stunde müde. Er lebte mit dem Tage, erhob sich mit dem steigenden Gestirn der Sonne aus dem Nichts seiner Nacht, glühte am Mittag in seinem hellsten Glanze und fiel am Abend zu einem stillen verklärten Leuchten zusammen, um mit der sinkenden Nacht zu verlöschen. Zur Zeit des Abendrotes war seine Seele wie der Himmel über ihm in ein mildes, verglimmendes Licht getaucht, in welchem die Glut des Tages gebändigt und gesammelt ruhte, war gleich der Luft, in der kein Blatt sich regte, voll Ruhe und Reife und schon unendlich fern den Wirrnissen des Tages. In dieser Stimmung erzählte er die Geschichte von den drei Versuchungen des Königs, der letzten und schwersten Prüfung, bevor die Götter ihn emporhoben in die irdische Wirklichkeit seines königlichen Standes:

37 »Er sitzt und blickt hinab auf die Häuser der goldenen Stadt. Da tritt der Geist der Versuchung an ihn heran und spricht: ›Ich gebe Dir Brot, soviel Du brauchst. Jeglichen Hunger sollst du stillen können, und Deine Macht wird ins Ungemessene wachsen.‹ Aber der König entgegnet: ›Bin ich geschaffen, mein Werk zu verkaufen an den Dämon des Hungers?‹ Der Geist der Versuchung lächelt. ›Du sollst‹, flüstert er, ›die Gewalt des Schicksals besitzen. Du wirst die Hand heben, und Deine Feinde werden sich beugen. Vor der Sprache Deines Mundes werden Städte in Trümmer sinken und andere erblühen. Dein Blick wird Regen und Dürre schaffen, Dein Wille segnen und fluchen.‹ – ›Bin ich ein Gott?‹, entgegnet der König, ›dürft' ich die Krone tragen, wenn ich ein Gott wäre und kein Mensch?‹ Da spricht der Geist der Versuchung zum dritten Male: ›Ich werde Dir die Liebe aller Menschen schenken, Männer und Frauen werden alles für Dich geben und wie die Narren vor Deinen Augen sein.‹ ›Soll ich geschenkt nehmen‹, ruft der König, ›was das Werk meiner Mühe und die Quelle meines Glückes ist? Hebe Dich von mir! Des kostbarsten Schatzes, den ein König besitzt, willst Du mich berauben: der Demut des Menschen!‹ Da verschwindet der Geist, wird zu dem Schatten, aus dem er gekommen. Der König ist allein. Er blickt hinab auf die Häuser der Stadt, in denen Glück und Unglück wohnen, Glauben und Mißtrauen, Liebe und Feindschaft wie all überall auf Erden. Und aus Jubel und Schmerz, aus Hoffnung und Zweifel ist auch sein Herz gewoben, das Herz des Königs, dessen menschliches Los sich dem göttlichen fügt.«

Der Alte schwieg. Die Leute, die im Kreise um ihn herumstanden, sahen sich an. Was hatten sie gehört? War es Wahnsinn oder eine tiefere Wahrheit? Geschah es in einem fernen Lande, war's eine Sage längst vergangener 38 Zeit? Oder sagte es nur mit verzauberten Worten, was hier vor ihren Augen geschah, so nahe, daß sie's mit Händen greifen könnten? Die Leute wußten es nicht.

Als sie sich erstaunt und sprachlos im Kreise umblickten, sahen sie den Kanzler in ihrer Mitte stehen. Sie erkannten ihn alle und hingen an seinen Lippen, um ein Zeichen von ihm zu empfangen. Da er sich aber nicht rührte, wandten sie sich von ihm ab und ließen den Dingen ihren Lauf. Der Kanzler hielt den Blick unverwandt auf Töde gerichtet, der sich aus Tauwerk und Sacklumpen ein Lager für die Nacht bereitete. »Geht nach Haus!« sagte der Alte, »ich möchte schlafen.« Er spürte die Nähe des Kanzlers nicht, er wußte nur, daß viel Volks bei ihm war, und dies schickte er fort, weil er schlafen wollte. Die Leute gingen. In der Dämmerung verloren sie den Kanzler aus den Augen. Sie hätten ihm gern das Geleit gegeben und ein Wort aus seinem Munde über den König gehört. Seltsam, dachten die Leute von Henna, was doch der Bettler für eine Macht besitzt! Wir alle müssen ihm gehorchen. Er ist ein wirklicher König.

Was aber mochte der Kanzler seiner Kaiserin berichtet haben? Das blieb lange im Dunkel, und manches Gerücht ging in der Stadt um. Dann aber kam der Tag, da es vor allem Volke offenbar wurde.

Das Mittagslicht glühte auf den Hafen von Henna, und wie die Luft über den heißen Steinen, so stieg Tödes Glück empor, zitternd und flimmernd wie ein gläserner Rauch. Er saß auf einem Fasse und sprach die Worte, die der König dem Prinzen auf der Bühne sagte, ehe der Jüngling die Hand seiner Tochter nahm. Alle Erfahrung seines Lebens, die Fülle durchlittener Schmerzen und Freuden, gewandelt in Weisheit und verklärt in eine göttliche Ruhe, waren in diese Szene eingefangen wie das Licht der Sonne in einen Edelstein. Töde hatte die Augen 39 geschlossen und die Hände erhoben, als kniee im Staube vor ihm der Prinz. Seine Stimme klang laut und leise zugleich, als erhöbe sie sich aus dem Rauschen des Meeres, das hinter ihm mit stiller Gewalt bebte und sang. »Die Stunde wird kommen«, rief er, »da Du die Kniee beugst und den purpurnen Mantel um Deine Schultern legst. Dann erst beginnt Dein Leben. Heute ist es eine verschlossene Blüte und wird es noch lange sein. Sorge dafür, daß sie nicht vor der Zeit erblüht! Gibst Du Dich hin an die Welt, so gehörst Du ihr. Dann ist die Krone auf Deinem Haupte ein Spott. Was gilt eine Blume, die schon anderen zur Freude blühte? Was ein Gekrönter, der sich den Menschen gab? Der Könige Heiligkeit ist, daß sie lange warten können, bis die Zeit reif ist und sie ihr Werk erfüllen, so gewiß, wie die Sonne am Morgen emporsteigt und am Abend verglüht, wenn die Nacht kommen soll!« In dem Volke entstand eine Bewegung. Ein Summen ging über den Platz wie in einem Korbe voll Bienen. All diese Seufzer und gemurmelten Worte waren Antwort und Echo auf die Rede des Königs und selbst eine königliche Rede, atemlos und flüsternd gesprochen, doch wohl zu vernehmen für den, der Ohren hatte zu hören. Plötzlich wurde es still im Kreise, und als die Leute sich umblickten, sahen sie die Kaiserin, die in einem schlichten Gewande unter das Volk getreten war. War es ein Traum, war's Wirklichkeit? Der Hauch einer großen Stunde wehte über den Platz. Er machte die Leute trunken, daß sie nicht mehr wußten, ob sie glauben sollten, was dort vor ihren Augen geschah. »Siehe«, rief Töde, »des Königs Werk ist, mehr zu sein als ein Mensch. Hat er's erfüllt, so bedeuten seine Taten nicht mehr, als der Duft bei Blumen, nicht mehr, als das Bild dem Spiegel –« Töde brach seine Rede ab und sah mit großen Augen in das Volk. Hatte er die Kaiserin erkannt? Sie war ihm niemals zu Gesicht gekommen. Spürte 40 er ihre Nähe? Töde war es, als wehte ein fremder Wind über den Platz. Plötzlich kam ein Lächeln über sein Antlitz. Er hatte die Kaiserin, die er niemals gesehen, unter dem Volke erblickt. Vielleicht erriet er sie aus dem Hauche der Achtung, der sie umwehte, vielleicht auch drang sein Blick tiefer in dem heiligen Wahn, der ihn befallen – er ging, als wandle er in einem Traum, auf die Kaiserin zu. Die Leute wichen ihm aus. Was würde der Bettler tun, fragten sie sich in tiefer Beklommenheit, und zum ersten Male empfanden sie eine Furcht vor dem Gebaren Tödes, als könnte er in seinem Traume der hohen Frau die Ehre versagen. Töde aber, lächelnd und mit der traumhaften Sicherheit seines Königtums, sank in die Knie vor der Kaiserin, die aller Könige Königin ist, und beugte das Haupt, das die Krone trug, vor der Frau im schmucklosen schwarzen Kleide. So verharrte er reglos, bis ihn die Kaiserin emporhob wie einen fremden König. Keiner aus dem Volke, das atemlos und betäubt im Kreise stand, wußte nun Traum und Wirklichkeit, Spiel und Ernst mehr zu trennen. Wußte es die Kaiserin? »Ihr sollt in meinem Lande in einem schönen Hause wohnen«, sagte sie und lächelte dazu, wie eine Frau lächelt, die ein kleines Versehen eingesteht. Es war, als wolle sie sich entschuldigen, daß sie den fremden König nicht früher aufgesucht und ihm Ehr' und Gnade erwiesen hatte. Dann wandte sie sich um und ging durch die Reihen des Volkes hinweg. Am Tor des Hafens, unter den marmorweißen Säulen mit den glänzenden Bronzekandelabern, blickte sie noch einmal zurück, und winkte ihrem Volke. Da erst brach der Jubel los und wollte kein Ende finden. Die Kaiserin aber senkte den Kopf, ihr Gesicht verschloß sich, und für einen Augenblick stand sie still und versonnen. Ein großer Ernst hatte ihre Züge verwandelt, und unhörbar sprach sie zu sich: »Ich muß wieder Ordnung schaffen im Hafen von Henna.« 41 Töde nahm die Krone vom Haupt und ließ sich auf seinem Lager nieder, müde und erfüllt schon am frühen Nachmittag, als brauche es der sinkenden Sonne und des stillen Glanzes des Abendrotes nicht mehr, um seine Seele zu verklären und in eine überirdische Heiterkeit emporzuheben. »Ich habe sie gewonnen«, sprach er, »die goldene Stadt, nun ist offenbar geworden, daß ich ein König bin. Hörte ich nicht die Stimme der Götter aus den Worten der Kaiserin? ›Der Himmel öffnet sich, das Lied klingt aus – sehet, die Zeit ist reif!« Die letzten Worte aus dem Spiel von dem glücklichen König verhallten leise wie ein verschwebender Ton. Niemand hatte sie gehört, doch sie waren gesprochen worden, und der Vorhang konnte fallen.

Am nächsten Tage, als die Leute von Henna über den Kai gingen, fanden sie den Platz, an dem der Alte gesessen hatte, leer. Nur ein kleiner Rest von Abfällen lag am Fuße der Mauer. Am Nachmittag kam der Hafenwärter, der nahm die Abfälle auf seine Schaufel und trug sie fort. Das Meer dehnte sich hell und farblos unter der Weite des Himmels, und ein kühler Wind wehte durch den Hafen von Henna.

 


 


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