Isolde Kurz
Meine Mutter
Isolde Kurz

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Um jene Zeit wohnten wir schon in der eigenen Villa in der Via Porte Nuove mit dem von einer hohen Lorbeerwand umfriedeten Garten, wo innen die Nachtigallen sangen, der Granatbaum blühte und die dunkle Magnolie mit ihrem Wohlgeruch das Hirn fast betäubte. Dort blühten ihr unter neuen Schmerzen auch neue Freuden auf, denn es krabbelte da mit den Jahren allerlei Lebendiges herum, die Kinder zweier verheirateter Söhne, die sie fast noch leidenschaftlicher ins Herz schloß als ihre eigenen, und das Getier des Gartens. Sie blieb immer die gleiche, glühende Tierfreundin, die sie schon in Tübingen gewesen, als sie an den Hündchen und Kaninchen ihres Jüngsten Mutterstelle vertrat und die in der Speisekammer gefangenen Mäuse auf den Speicher tragen ließ, damit sie keine Not litten. Ob 51 es ihr die Tiere anfühlten, daß sie aus Liebe zu ihnen sich seit frühesten Jahren der Fleischkost enthielt? Baldes böser Papagei, der nach dem Tode seines Gebieters allen anderen Hausgenossen aufsässig war, machte mit ihr allein eine Ausnahme, er flog ihr am Tag auf die Schulter, und in der Morgenfrühe kroch er ihr durch das Nachtgewand in den Busen und blieb da warm und unbeweglich liegen, bis sie aufstand. Nie konnte sie zuviel des jungen Lebens um sich haben; im Freundeskreise hieß sie jetzt allgemein die Nonna (Großmutter). Auch einen kleinen Venezianer, Stiefsohn ihres Alfred, nahm sie ins Haus, um ihn aufzuziehen und zu unterrichten. Freilich irgendwie bewußt und planmäßig in der Einwirkung auf Kinder vorzugehen, lag ihr jetzt so wenig wie früher. Was sie ihnen vorlebte, dürfte aber unvergeßlich geblieben sein. Ihre Freistunden füllte sie mit Lesen und Briefschreiben aus. Neue geistige Werte, die ihr zugänglich wurden, sei es eine naturwissenschaftliche Entdeckung oder ein Werk über Buddha oder ein Band Nietzsche, sog sie mit Begier auf, denn ihr Geist ruhte niemals. Wenn sie dann des Gegenstandes ganz voll war, setzte sie sich flugs und teilte brieflich Freunden und Freundinnen den neuen Erwerb mit. Ihre wahlverwandte Jugendgefährtin Marie Caspart schrieb mir später: »Nie ist ein Mensch so auf Flügeln zu mir gekommen.« Auch den geistig Einfachen, die ihre Flüge nicht mitmachen 52 konnten, kamen doch regelmäßig ihre Briefe zu, es waren ja die einzigen Geschenke, die sie noch zu geben hatte. Groß war die Zahl derer, die überhaupt nur durch ihre Briefe mit der geistigen Welt in Berührung kamen. Unermeßlich die Zahl der Briefe, die aus ihrer Feder über alle Lande flogen. Doch sind ihre poetischen Beichten gewichtigere Zeugen als ihre brieflichen, in denen sie mehr die augenblicklichen Bedrängnisse, oft durch die Phantasie stark vergrößert, von sich wegstrudelte: bis der Empfänger sie in Händen hatte, saß sie schon wieder im Luftschiff und steuerte hoch durchs Blau. Wie ernst und streng die geflügelte Seele oft mit sich selber sprach:

Noch bleibt mir eine kurze Spanne Zeit,
Da nächtige Schatten mählig sich verbreiten.
Ich spreche zu mir selbst: Bist du bereit,
Die Todespfade mutig zu beschreiten?

Da tritt die Frage ernst an mich heran:
Hast du gestrebt dich selber zu entfalten?
Hast du den Deinen Liebs genug getan?
Und kannst du für den Schnitter reif dich halten?

Nicht weiß ich, ob ich jede Pflicht erfüllt,
Ob mutig ich im Lebenskampf gestritten.
Doch eins verklärt jedwedes Menschenbild:
Ich habe heiß geliebt und heiß gelitten.

53 Und was sie in bangen Nächten in sich selbst verwand:

Schöner Stern,
Der dort blinkt
In der Fern
Und mir winkt,

Ist auf dir
Gleiches Leid,
So wie hier
Kampf und Streit?

Ach, wohin
Dringt der Blick,
Siehst du blühn
Nirgends Glück.

Gleicher Stoff
Gleiches beut.
Nimmer hoff
Seligkeit!

Neben dem herben Ernst und der nie endenden Trauer lag der sonnigste Humor, der immer schnell wieder durchbrach:

Alter kam herangekeucht,
Will mit kalter Hand mich fassen,
Doch ich hab es schnell verscheucht,
Hab das Nachsehn ihm gelassen. 54

Mich im Kinderkreis versteckt,
Alter konnt mich nicht erreichen,
Von den Enkelein geneckt,
Mußte es zur Seite schleichen.

Hinterm Ofen hockt es dort,
Friert und schneidet mir Grimassen.
Laure du nur fort und fort,
Will mich noch nicht fangen lassen.

So liefen bei ihr Ernst und Spiel immer durcheinander. Die »tragische Weltanschauung« Nietzsches war ihr eingeboren, aber sie paarte sich bei ihr mit jener tragischen Heiterkeit, die über das eigene Ich weglächelt und über die großen Dinge keine großen Worte macht. Sie wollte niemals feierlich genommen sein, sie freute sich, wenn man mit ihr und über sie, das heißt über den Gegensatz zwischen dem »reinen Νοῦς«, wie ich sie neckweise zu nennen pflegte, und seiner irdischen Erscheinung, lachte.

Nichts stört mir so die letzte Frist,
Als daß ich euch betrüben werde,
Wenn nun mein Lauf geendet ist
Und mich empfängt die Mutter Erde.

O denket meiner nicht im Schmerz,
Mir sollen keine Tränen rinnen.
O möchtet ihr in Lust und Scherz
Stets meines Wesens euch entsinnen.

55 Dieses ihr Wesen, in seiner Mischung von Größe und Kindlichkeit, wird niemand vergessen, der ihm nahe gekommen ist.

Und jetzt steigt im Schreiben ein heiteres Bild vor mir empor und entringt mir das von ihr gewünschte Lächeln. Wir stehen zusammen in der Bahnhofshalle von Florenz und warten auf den Schnellzug nach Norden. Die Fahrscheine sind gelöst, das Haus abgeschlossen, in München erwartet sie ihr Sohn Erwin. Da im letzten Augenblick ergreift sie ein heißer Abschiedsschmerz, ein Heimweh pränumerando wie damals beim Grenzübergang nach Italien. Sie will nicht mehr fort, auch nicht auf wenig Wochen, sie kann ihr geliebtes Florenz nicht lassen, und wenn sie nicht will, so will sie nicht. Ich stehe ratlos. Doch der Himmel schickt Hilfe. Ein Eingeborener von Massauah in italienischer Uniform betritt die Halle, stracks geht die kleine Frau auf den Dunkelhäutigen zu, umgeht ihn staunend wie ein Kind von allen Seiten, sie lacht hinauf, er grinst herunter, zwei unmündige Seelen haben sich aneinander ergötzt, so sah es aus –, aber eine davon war gewohnt, mit Platon zu denken. Jetzt war ihr Gemüt wieder im Gleichgewicht und willig ließ sie sich zu der lange vorbereiteten Sommerreise entführen.

Die Jahre gingen, ihrer strömenden Lebensfülle konnten sie nichts anhaben. Die äußere Veränderung war ihr nur wie eine Verkleidung. Übrigens 56 wurde sie dem künstlerischen Auge schöner, denn ihre Züge nahmen mehr und mehr eine großartige Einfachheit an. Um ihre silbernen Haare schlang sie ein schwarzes Schleiertuch, das fest um die Stirn lag, wodurch ihr Gesicht ins Nonnenhafte stilisiert wurde. So hat sie ihr Sohn Erwin mehrfach modelliert und gemalt, und so zeigen sie alle ihre Lichtbilder. Sie trug nur die schlechtesten und billigsten Stoffe, denn sie erlaubte sich keinerlei Ausgaben außer für Bücher, und auch diese kaufte sie nur, um sie zu verschenken. Aber niemand wird unter der dürftigen Umhüllung über ihre Persönlichkeit und ihre Herkunft im Zweifel gewesen sein. Die wenigen Male, daß sie mir erlaubte, sie zu putzen, blickte sie unendlich vornehm und rasseecht aus schwarzer Seide und Spitzen. Die Spuren der Jahre in ihrem Gesicht, die bei weitem nicht so schlimm waren, wie sie sie hinzustellen liebte, gaben ihr ständigen Anlaß zu witzigen Einfällen.

Der schlechtste Maler auf der Welt,
Der nur so schmiert wie's ihm gefällt,
Das ist mein Spiegel, leider!
Er zeigt mir ein uralt Gesicht,
Doch glaub ich diesem Pfuscher nicht,
Mein Herz ist viel gescheiter.

Das weiß recht wohl, wie jung ich bin,
Der Freuden fähig noch mein Sinn,
Wie ungebeugt mein Streben. 57
Weiß ich die Lieben nicht in Not,
Von keinem Ungemach bedroht,
So ist mir süß das Leben.

Als ihr siebzigstes Jahr herannahte, dem sie mit einiger Beklommenheit entgegensah, wurde mir bange um sie. Denn da sie ganz in der Vorstellung lebte und die Zahlen belanglos nahm, auch alle ihre Bekannten stets um Jahre jünger machte, pflegte sie, wenn sie nicht gerade in den Spiegel sah, ihr Alter ganz zu vergessen. Aber bei jedem Eintritt in ein neues Jahrzehnt überkam sie ein jähes Gefühl der Vergänglichkeit mit Ahnungen nahen Todes. Ich fürchtete also die Wirkung des harten Einschnittes auf ihre bewegliche Einbildungskraft und einen plötzlichen Nachlaß der lebenerhaltenden Spannung durch ungeschickten Anstoß von außen. So ließ ich es mir angelegen sein, ihr aus der bösen Zahl ein seelisches Serum in scherzhafter poetischer Form zu bereiten, das sie gegen die zu erwartenden, minder feinfühligen Geburtstagsgrüße immun machen und ihr das Vertrauen in sich selbst erhalten sollte. Es brauchte ja so wenig, um ihr den Antrieb nach oben zu geben.

An jenem 6. August glühte eine tropische Sonne über Florenz, gleichwohl wanderte sie in meiner und eines jüngeren Freundes Begleitung tapfer und unermüdlich durch Staub und Hitze die steilen Wege nach dem Monte Senario hinauf. Als wir 58 spätabends von dem erschöpfenden Marsch nach Hause kamen, schlug ich ihr vor, weil das Dienstmädchen beurlaubt war, lieber ohne Abendbrot, auf das sie ohnehin keinen Wert legte, zur Ruhe zu gehen. Sie stimmte scheinbar bei, aber nach einer Viertelstunde kam sie ins Zimmer getanzt und lud zum Essen, das sie in aller Geschwindigkeit zusammengestellt hatte. Dabei drehte sie sich wirbelnd um sich selber und sang triumphierend: »Wie bin ich jung! Wie bin ich jung!« In der Tat, warum hätte sie nun auf einmal alt sein sollen, sie, die an seelischer Spannkraft die Jugend beschämte, die so geschwind war, daß noch viele Jahre später die Strandbewohner von Forte dei Marmi die Vorüberhuschende »das Wiesel« nannten, und die bei jedem Unrecht aus dem nie erlöschenden Krater Flammen spie.

Eines freilich war die Voraussetzung ihrer Unverwüstlichkeit: ihre Kinder durften sie nicht allein lassen, nicht einen einzigen Tag. Am liebsten hätte sie das ganze Nest noch beisammen gehalten, wie da wir klein waren, und die Enkel dazu. Am meisten natürlich bedurfte sie der Tochter, dies war der einzige Punkt, wo es für sie kein Sichbescheiden gab. »Ich bin wie die Asen, denen die Verjüngungsäpfel genommen sind«, klagte sie. Kehrte ich nach Florenz zurück, so blühte ihr ganzes Wesen wieder auf. Ihr Sohn Edgar, dem sie bis zu seiner Verheiratung die Wirtschaft führte und den sie auch später nicht verlassen wollte, konnte ihr das 59 nicht leisten, weil sein ganzes kämpferisches Leben außer dem Hause verlief, daß sie nur die Rückstöße zu spüren bekam. Als es für mich zur dringenden Notwendigkeit wurde, einmal endlich wieder für längere Zeit deutsche Luft zu atmen, begleitete sie mich bis Venedig, wo ihr Alfred lebte. Die Trennung wollte ihr das Herz zerstoßen. Als meine Heimkehr sich über Erwarten verzögerte, schrieb sie in ihr Heft:

Hochsommer war's, im goldnen Mondenschein
Zog unsre Gondel den Kanal entlang.
Wir saßen stumm, mir schlug das Herz so bang.
Ich wußt es ja, nun muß geschieden sein!

Es kam der Herbst, o hüllte Schnee mich ein,
Dann währte doch die Trennung nicht so lang,
Denn bald nachdem der Lerche Lied erklang,
Bin ich nicht mehr verlassen und allein.

Das Veilchen blüht, die Rose steht in Pracht,
Ich hoffte auf des Lenzes erstes Keimen,
Doch auch der Frühling hat dich nicht gebracht.

Es strömt der Duft von den Orangenbäumen,
Leuchtkäfer hat sein magisch Licht entfacht,
Der Sommer naht – wie lange willst du säumen?

60 Mit den Jahren wurde es nun zur immer schwierigeren Frage für mich, diesem glühenden Bedürfnis und meinen eigenen Aufgaben gleichzeitig Rechnung zu tragen. Seit Edgar das Haus an der Via Porte Nuove allein besaß und mit seiner Familie ausfüllte, wohnte ich meistens außerhalb der Stadt im Grünen. Sie wollte mich weder tagelang missen noch auch dauernd zu mir ziehen, weil sie dem Sohne noch nötig zu sein glaubte, obwohl es ihr im alten Heim an jeder Pflege gebrach und viele Dornen dort für sie wuchsen. Die langen Wege, damals noch ohne Straßenbahn, bedingten einen übermäßigen Zeit- und Kraftverbrauch. Das störte sie nicht. Sehnsuchtgetrieben, in Vorfreude des Wiedersehens schwelgend, stieg sie die Hügelstraße herauf, immer früher als erwartet, von jedem Blümchen am Wege aufs innigste begrüßt, und warf sich in meine Arme, als wären wir Jahre getrennt gewesen. Gelegentlich blieb sie ein paar Tage bei mir in Sonne und Seligkeit, dann zog sie das Herz wieder in die Stadt. Jeder Abschied war wie auf Nimmerwiedersehen, immer wandte sie sich unterwegs noch einmal um und warf einen letzten, allerletzten Gruß zurück, und auf dem Heimweg hüllte sich ihr die ganze Erde in Trauer:

Sind das dieselben Stege,
Dieselben blumigen Wege,
Die jüngst mein Fuß betrat? 61
Wo ist die leuchtende Sonne,
Wo ist die Frühlingswonne,
Wenn heimwärts geht mein Pfad?

Erwartete sie mich dann in der Stadt, so stieg ihr Jubel wieder wie eine Lerche auf:

Du Vögelein in meiner Brust,
Was hörst du auf zu singen?
Was läßt du deines Liedes Lust
So schnelle mir verklingen?

Da streckt es schnell den Kopf heraus
Und jubiliert ins Weite:
»Getrost, sie kommt ins Mutterhaus,
Umarmest sie noch heute.«

Aber gleich ist wieder der böse Abschied da, der ihr jedesmal wie ein Vorschmack des letzten Scheidens ist:

Könnt ich dir froh ins Auge schauen,
Da zucket schon dein flüchtiger Fuß –

denn das Gefühl der Vergänglichkeit, das ihren starken Lebenspulsen so seltsam widerstreitet, hat ihr stets die Stunden der Freude vergällt.

Diese verzehrende Mutterliebe, die ganz den Charakter einer Liebesleidenschaft an sich trug, mit der 62 sie auch das stete Auf und Ab der Empfindung teilte, hatte etwas Atemraubendes, das ebenso rührend war wie für eigene Lebensziele erschwerend. Es war ein Schicksal, ihre Tochter zu sein. Ich konnte auch nur stoßweise oder bei gelegentlichen Abwesenheiten arbeiten, weil die vielen Erschütterungen ihres Lebens sich immerzu in das meinige fortsetzten. Bei aller Begeisterung für künstlerisches Schaffen wollte sie doch nicht einsehen, daß es dazu der Sammlung und dauernden Versenkung bedarf: wie sie ihre Verse aus dem Ärmel schüttelte, so meinte sie, könnten auch zusammenhängende Werke wachsen. Daß es mein Vater anders gehalten und sie ihn dabei unterstützt hatte, erinnerte sie sich nicht mehr. Liebe war für sie das erste, Liebe zwischen Mutter und Kind, davor versank ihr alles andere. Sie hätte mich am liebsten in einen Säugling zurückverwandelt, um mich ganz für sich allein zu haben; mich mit andern zu teilen, war ihr eine unerträgliche Pein. Das erfüllte mein Dasein mit verhängnisvollen Wirrungen. Was sie für mich niederschrieb, sind wahre Liebesgedichte mit jener Vergötterung des geliebten Gegenstands, die den Liebenden eigen ist und von der Bacon sagt, daß sie alles übertreffe, was der eitelste Mensch von sich selber Gutes denke, daher ich keine Proben davon geben kann. Allerdings sollten sie nicht zu ihren Lebzeiten in meine Hände kommen, höchstens daß sie mich gelegentlich ein hingelegtes Blättchen 63 finden ließ, sie waren bestimmt, über ihren Tod hinaus das Zusammensein fortzusetzen:

Hört ihr, meine kleinen Lieder,
Nie ans Licht der Welt getreten!
Lasset euch bescheiden nieder,
Kommt hervor nicht ungebeten!

Doch wenn dieses Herz steht stille,
Das gerufen euch ins Leben,
Sollt ihr – 's ist mein letzter Wille –
Euch zu meinem Kind begeben.

Sollt euch selbst als Liebesgabe
Nun zu ihren Füßen legen,
Weil ich heiß geliebt sie habe,
Nimmt sie freundlich euch entgegen.

Sollt ihr singen, sollt ihr sagen,
Leise flüstern in die Ohren,
Daß sie nicht um mich soll klagen,
Denn ich bleib ihr unverloren.

Werd im Lufthauch sie umringen
Und im Blitzstrahl niederfahren,
Laut im Lied der Lerche singen,
In ihr selbst mich offenbaren.

Immer werden wir uns grüßen
In des fernsten Weltalls Weiten 64
Und getrost zusammenfließen
In das Meer der Ewigkeiten.

Endlich um die Jahrhundertwende fand ich den Weg, Unvereinbares, soweit das möglich, zu vereinen. Ich baute mich am Strand von Forte dei Marmi nahe beim Sommerhause Edgars an. Jetzt begannen für meine Mutter noch einmal glückliche Jahre. Sie, die ihr Leben lang anderen gedient und ihr Leibliches in einen Winkel gedrückt hatte, war auf einmal wie im Märchen Königin geworden. Mein Haus gehörte ihr, denn sie war ich, sie lud ein, wen sie wollte, und tat ihrem Herzen Genüge. Am meisten beglückte sie's, daß sie dem Sohne stündlich nahe sein konnte und doch bei mir wohnen. Er sah ihre griechischen Übungsstückchen durch, denn jetzt endlich fand sie Muße, ein wenig ihre stete Begierde nach dieser Sprache zu stillen, und sie hatte kein Arg dabei, wenn er ihr wie einem Schulkind ihre Fehler mit roter Tinte anstrich. Was könnt ich da noch alles treiben, sang sie später, als auch er ihr geraubt war, in sehnsüchtiger Erinnerung:

Könnt griechische Exerzitien schreiben,
Und jeden Morgen frühe schon
Stand neben mir der teure Sohn.
Den Rotstift tat er mit sich führen,
Der Mutter Schrift zu korrigieren.

65 Aller Familien- und Freundschaftsverkehr zog sich nun in das kleine Haus am Meere, daß ich von all dem Umtrieb bald nicht wußte, wohin mit meiner Arbeit flüchten. Am größten wurde die Unruhe in den Stunden, die Edgar allein mit seinem Boot auf dem Meere verbrachte. Dann irrte sie ruhelos durchs Haus und an den Strand und vom Strand ins Haus und begriff nicht, daß ich es nicht ebenso machte. Unzählige Male trieb sie mich vom Schreibtisch auf, daß ich ihn mit dem Fernglas auf der See suchen helfe. Sie nahm zwar wärmsten Anteil an der »Stadt des Lebens«, die ich gerade unter der Feder hatte, aber wenn die Angst über sie kam – und für Edgar lebte sie eigentlich in steter Angst –, dann gab es keine Schonung. Einmal mußte sie Zeuge sein, wie er bei hohem Seegang nicht weit vom Ufer mit dem schweren Mast umschlug: im gleichen Augenblick schlug sie selber ohnmächtig in den Sand und hat es mir hinterher verargt, daß ich ihr und nicht dem Bruder beisprang, der sich ganz gut selber helfen konnte und nur ärgerlich war, daß der Unfall Zeugen gehabt. Das Gefühl, daß sie diesen Sohn werde überleben müssen, scheint sie von seiner Geburt an verfolgt zu haben. Ich mußte mir angewöhnen, fast ganz bei Nacht zu arbeiten. Aber auch die Nacht gab nicht immer Gewähr der Ruhe. Sobald die See stieg, glitt es im Nebenzimmer aus dem Bett und huschte die Treppe hinab. Sie öffnete das sechsfach verriegelte Tor und 66 stahl sich hinaus auf den öden hallenden Strand, den keine der Frauen vom Ort jemals bei Nacht zu betreten wagte. Es blieb mir nichts übrig, als nachzueilen, da fand ich sie dann jedesmal mit ihren schwachen Kräften an das Boot ihres Sohnes geklammert, um ihm zu helfen, es aufs Trockene zu ziehen.

Zweiundzwanzig Jahre lang hatte nun der Tod den engeren Familienkreis verschont. Vierfach gezimmert ist mein festes Haus! hatte sie im Hinblick auf die vier ihr Gebliebenen zu singen gewagt. Am 27. April 1904 zu Florenz griff er wieder herein und entriß ihr den Einen, auf dem ihr Mutterstolz immer am triumphierendsten verweilt hatte. Sie hat gewiß alle ihre Kinder mit gleicher Inbrunst geliebt, aber bei diesem Sohne schwang noch die Jugendromantik mit, weil er der Erstling ihrer Liebe war und in den Gesichtszügen dem Jugendbilde des Vaters glich. Sie war jetzt achtundsiebzig alt und hatte in den letzten Jahren mehrfach Krankheiten durchgemacht. Wie sollte sie diesen Schlag überstehen? Aber wiederum begab sich das Wunder, das den Tod zunichte machte. Mittrauernde Freunde umgaben sie im Garten und hielten sie auf meine Bitte von dem letzten Ringen fern. Als ich dann zu ihr trat und sie aus meinem Schweigen erkannte, daß es zu Ende sei, erhob sie sich fest und ergeben mit den Worten: »Jetzt darf ich mein Kind sehen«, und trat mit unvergeßlicher Hoheit und Fassung zu dem Toten. 67

Nun ward die Stirn vom Lorbeerzweig umlaubt,
Sie kamen Rosen dir aufs Herz zu legen,
Sie gossen auf dein vielgeliebtes Haupt
Nach Griechenbrauch des Balsams vollen Regen –

schrieb sie später in der Erinnerung an diese Stunden. Willig ließ sie sich von mir des Abends in meine Wohnung am Arno führen, und auch dort erfolgte der gefürchtete Rückschlag nicht. Sie ging stumm durch alle Räume und tat etwas, für sie, die nie eine peinliche Hausfrau gewesen, in diesem Augenblicke ganz Seltsames: sie hob in der Küche einen vergessenen Deckel von der Milch. Es war eine unbewußt symbolische Handlung, die ergreifender sprach als die größten Worte; sie sollten sagen: Eine lebt noch, der ich nützlich sein kann. Ich meinerseits wußte, daß es nur eines gab, was sie im Leben halten konnte: ihr das Bild des Sohnes lebendig bewahren. Ich schrieb sein Lebensbild für die »Süddeutschen Monatshefte«. Von allen Seiten kamen Zustimmungen, sowohl von hervorragenden Kollegen wie von dankbaren Patienten des Verstorbenen, es kamen posthume Liebeserklärungen von Frauen, die ihn nie gesehen, sich aber an der Schilderung des hochherzigen Arztes und Menschen begeistert hatten. Da jauchzte das Mutterherz auf: er lebte wieder! Er lebte in der Verklärung, lebte doppelt, weil ihm nichts Leides, nur noch Liebes widerfahren konnte. Ihr Dank für 68 diese Tat war überschwenglich wie ihre Liebe zu ihm, von beidem strömen ihre hinterlassenen Hefte über. Man durfte wirklich sagen: Tod, wo ist dein Stachel?

Ich konnte sie gefahrlos auch wieder nach Forte dei Marmi führen, ohne daß sie am Anblick des verwaisten Nebenhauses zerbrach. Da sie unendlich mehr in der inneren Vorstellung als mit den äußeren Sinnen lebte, bedurfte sie seiner leiblichen Gegenwart nicht mehr, nun war er überall. Am meisten lebte er in ihrem Dichten, das sich jetzt fast ausschließlich um ihn schlang, da lebte er in Kult gehüllt ein heroisiertes Leben. Daß ich noch im selben Jahr ein Bändchen seiner Lieder und Balladen bei Cotta herausgeben konnte, machte ihr den Auferstandenen noch lebendiger. Sie hat wohl keine Stunde ihres Lebens mehr ohne ihn verbracht; sie saß über seinen Gedichten, seinen wissenschaftlichen Abhandlungen, sogar über seinen alten Schulheften. In einem Körbchen trug sie seine in Gips gegossene Hand auf allen Reisen mit. Aber gleichzeitig gehörte sie noch mit allen Fasern den Lebenden, und nicht nur denen, die ihres Blutes waren. Den alten Freunden blieb sie die wärmste Freundin, aber auch jede neue Erscheinung wurde noch von ihr mit Anteil begrüßt, und unter der Jugend mochte sie noch immer am liebsten sein. Das aber war auch für ihre Widerstandskraft zuviel, daß zehn Monate nach dem Tode des Ältesten auch 69 ihr zweiter Sohn Alfred starb. Jetzt begann der starke Stamm zu wanken. Aber noch ergab sie sich dem Alter nicht. Sie übernahm noch, als ich vorübergehend ferne war, allein die Pflege einer schwer erkrankten Anverwandten, jedoch schon damals bestand sie nur noch aus Nerven- und Willenskraft, die körperliche war verzehrt. Von nun an lebten wir unter dem Schwert. Wer mir damals gesagt hätte, daß der sieche Leib, den von Zeit zu Zeit schwere Anfälle durchrüttelten, sich noch sechs Jahre lang gegen den Zerstörer wehren würde! Freilich, siech war der Leib allein, das Geistige triumphierte mehr als je. Immer neue Hefte füllten sich, es war ja jetzt noch Einer, den sie mit der Magie des Wortes im Sein erhalten mußte und dem sie zu vergüten hatte, daß sie, krank und durch weite Strecken getrennt, nicht zu ihm geeilt war, ihm die Augen zuzudrücken und ihn durch die Lagune nach seinem letzten Rastort zu begleiten:

Das all versagt mir mein Geschick,
Was bleibt von meinem Kind zurück?
Was bleibt noch meinem Herzeleid?
Ein Häufchen Asche, das ins Kleid
Ich eingenäht nun auf mir trage
Bis an das Ende meiner Tage,

Am nächsten aber blieb ihr Edgar, selbst ihre Träume von ihm verzeichnet sie im Gedicht: 70

Wieder hab ich dich gesehen
In der trauten stillen Nacht,
Sagtest, ich soll mit dir gehen,
Hab mich gleich zurecht gemacht.
Deine Schwester stand daneben,
Wollte mich nicht lassen gehn.
Sie bedeutete das Leben,
Du das baldige Wiedersehn.

Am unmittelbarsten fühlte sie seine Nähe in Forte, dort geschah es einmal, als wir in der Mittagshitze an seiner ehemaligen Besitzung hingingen, daß sie einen leisen Schrei tat: »Soeben ist er an uns vorbeigestreift und durch die Hecke weggeglitten!« Gesehen hatte sie ihn nicht, wie sie sagte, nur völlig deutlich gespürt. Dennoch glaubte sie keineswegs an jenseitige Kundgebungen und wies den Spiritismus weit von sich.

Ihren 80. Geburtstag verlebte sie in Deutschland und noch immer hätte sie sagen können: Wie bin ich jung! Wenigstens schüttelte sie zu einem Geburtstagsfeuilleton einer jüngeren Dichterin, das sie als »gütige Greisin« feiern wollte, befremdet den Kopf. Das Wort »Greisin«, das schon im Klang den Marasmus mit sich führt, paßte so gar nicht auf diese lodernde Flammenseele in diesem beweglichen Leib. Und gütig? Nein, gütig wollte sie nicht genannt sein. Einer guten alten Frau war sie in gar nichts ähnlich, diese Kämpfernatur, die 71 gleich glühend hassen wie lieben konnte! Hassen freilich niemals ihre persönlichen Widersacher, sondern nur solche, die ihren Kindern Leides taten oder die ein höheres Gebot verletzten. »Ich bin gar nicht gut«, sagte sie mir wiederholt mit Nachdruck noch in ihren letzten Lebenstagen, noch immer die gewaltige Energie ihrer Seele spürend. Es war eine tiefere Wahrheit darin, als oberflächlicher Sinn heraushören konnte. Güte ist häufig nur eine in Tugend umgebogene Schwäche. Sie war die Flamme der Liebe selbst, die wärmte, leuchtete, auch zehrte oder mit schnellem Zauberschein über die Dinge verklärend hinglitt. Dabei selber unbedürftig, auch der Gegenliebe (außer von ihren Kindern!), weil immer nur helfend und gebend. Sie wollte nicht einmal verstanden sein, sie besann sich nie, ob sie es war, sie wirkte nur ganz unbewußt wie die Flamme, die eben brennt, weil sie Flamme ist. Wie groß war sie jetzt, wo die Stürme sich legten und ihr Wesen, endlich harmonisiert, im Rhythmus des Planeten mitschwang. Endlich war auch der Rest der allzu einseitigen Dogmen vollends ausgeschmolzen, sie begriff jetzt, daß das vielgestaltige Sein in Lehrsätzen keinen Platz hat, und ließ einem jeden seine Überzeugung. Und jetzt war es eine Lust, mit ihr zu leben. Ein tiefer Dank für alles ihr Gebliebene war in ihr: 72

Ich rief den Tod, doch er ist nicht gekommen
Und hat mir meine Last nicht abgenommen.
Er sprach erzürnt: Was rufst du mich?
Die Teuren, die dir sind zum Trost geblieben,
Sind's wert fürwahr zu leben, um zu lieben,
Wenn's Zeit ist, nicht vergeß ich dich.

Die ich dir nahm, sie ruhen wohl geborgen
In meinem Arm, befreit von allen Sorgen.
Dir ließ ich die Erinnerung
An ihres Geistes prächtiges Entfalten,
An ihres Lebens pflichtgetreues Walten,
Vom Alter unberührt und ewig jung.

Der große Friede war jetzt über ihr, wo sie in die Dinge des Lebens nicht mehr eingreifen wollte und wo nur noch das Dauernde zu ihr sprach. Auch die Sommer am Meer wurden noch immer schöner. Unvergeßlich sind mir besonders ihre Geburtstage. Ich verwandelte, während sie schlief, das Haus in einen Blumentempel, sie wandelte dann in der goldenen Frühe als erste durch eine Blumenpforte von einer bekränzten Nische zur andern, wo neben den Bildern ihrer Lieben kleine Geburtstagsgrüße sie erwarteten. Ihre Phantasie erweiterte und verschönte alles, daß sie durch eine geschmückte Unendlichkeit selig dahinschritt und zuletzt mit kindlicher Betrübnis den schönen Tag versinken sah. Sie badete bis in den Spätherbst hinein und hat sogar 73 zweimal den Winter furchtlos in dem kleinen Strandhäuschen mit mir verbracht, wo kein Dienstmädchen mit uns zu schlafen sich getraute. In manchen Nächten brüllte das Meer und lief Sturm gegen den Strand, als wollte es das kleine Haus mit sich forttragen. Sie bangte nicht, sie war ja mit mir, was konnte sie da Übles treffen? Jeder Abschied von Forte dei Marmi erschütterte sie tief, denn jeden hielt sie für den letzten. In Schubladen versteckte sie gereimte Liebesgrüße, die ich da finden sollte, wenn ich allein zurückkehren würde.

Ruckweise brach das starke sterbliche Gefäß. Es kamen die Krisen, wo ich monatelang, von einem treu ergebenen italienischen Arzt und Freunde unterstützt, Tag und Nacht mit dem Tode um sie ringen mußte.

Im Frühsommer 1910 brachte ich sie zum Besuch ihres einzigen überlebenden Sohnes Erwin, nach dem sie sich immer sehnte, wieder nach München. Diesmal war das Scheiden von Florenz kein kindlicher Schmerz wie in den Jahren ihrer Kraft, es ging auf Nimmerwiedersehen. Sie schrieb in ihr Heft:

Fort, ach fort
Zum fernen Ort!
Wie wird mir weh,
Wenn ich nun geh
Aus der geliebten Blumenstadt,
Der Stadt voll Sonne, 74
Die meine Wonne,
Die dennoch nicht gewährt mir hat
Den Wunsch in ihr zu ruhn,
Den letzten Schlaf zu tun,
Um dann dort obenIn Trespiano, Edgars Ruheplatz,
Des Leibs enthoben,
Im letzten Hafen
Bei meinem Sohn zu schlafen.

In München nahm sie am Leben ihrer Lieben noch einmal mit alter Frische und Wärme teil. Doch sie litt vom Klima, bald zog sie's wieder nach Italien: Florenz, das Meer wiedersehen, dann verhauchen! Äußere Umstände verhinderten die Reise. Im Frühjahr hoffte ich ihren Wunsch erfüllen zu können und traf alle Vorbereitungen, aber es zeigte sich, daß die körperlichen Kräfte der Wunschkraft nicht mehr folgen konnten. Solange ich sie kannte, hatte sie Auge in Auge mit dem Tod gestanden, ihn immer umtastend, wohl auch mit ihm spielend, ihn niemals fürchtend. Kein Name erscheint in ihren Gedichten häufiger als der seinige. Jetzt vertrat er ihr leibhaft den Weg. Die Auflösung hatte begonnen, obgleich noch immer durch das Auflodern des inneren Feuers verdeckt. Zuzeiten hoffte ich wieder. Sie selber hatte schon in der Sylvesternacht 1910 in ihr Heft geschrieben: 75

Leise kommt der Tod an mich heran,
Öfters macht er Halt auf seiner Bahn
Um sich still von mir besehn zu lassen.
Bleicher Freund, du bist mir ja bekannt,
Schon seit lang verknüpft sich uns ein Band,
Ruhig kannst du bei der Hand mich fassen.
Dein ist alles, was erfüllt vom Leben,
Alles muß sich endlich dir ergeben.
Selbst im All die hohen Lichtgestalten
Werden deinen Scheidekuß erhalten.
Bist du selbst ein tückischer Zerstörer
Oder bist du neuen Lebens Mehrer?
Wer von uns kann's zu entziffern wissen?
Du erscheinst umhüllt von Finsternissen.

So hat sie bis zum Ende weitergedichtet. Wenn einmal der Guß matter war, das nächstemal strömte es umso kraftvoller. Und die Handschrift behielt Festigkeit und Schwung der Jugend.

Unterdessen hatte ich meine Wohnung in der Ainmillerstraße gemietet, um sie wieder ganz bei mir zu haben, und hier sollte sie ihr Leben ausatmen. Die geistige Luft wurde womöglich noch höher und heller um sie. Es war mir, als hätte ich ein unirdisches Wesen zur Mutter gehabt, das sich jetzt anschickte, mich zu verlassen. »Wer bist du? Aus welcher Welt bist du zu uns gekommen? Sag es mir endlich«, fragte ich sie oft in ihren letzten Lebenswochen, denn wir sprachen nur noch scherzend in 76 Märchen und Gleichnissen miteinander, weil alle ernsten und großen Dinge längst gesprochen waren, aber hinter der Frage barg sich ein tiefer Sinn, denn von der Erde war sie ja nie gewesen. »Bist du eine Meerminne? Eine Schwanfrau? Oder vielleicht ein kleiner Kobold?« Sie lachte dann ganz koboldartig, als wollte sie durchaus nicht sagen, was sie wüßte. Dabei hatte sie ein Hinaufziehen der Augenbrauen und ein Lächeln um den Mund, so fein, so spitzbübisch, so strahlend, die hundert Fältchen des Greisenalters waren bei ihr in eine einzige Längsfalte zusammengezogen, die wie eine Lachfalte aussah, ihre noch weiche Haut war rosig durchblutet. Das merkwürdigste waren ihre Augen, in die der Diamantenglanz ihrer jungen Jahre zurückgekehrt war, sie warfen in jenen Tagen ordentliche Strahlen. Wohl noch nie ist der Tod so unter Blumen versteckt worden, die doch weder die Scheidende noch die Zurückbleibende täuschten. »Ich werde jetzt immer kleiner werden«, scherzte sie über den Schwund ihrer Leiblichkeit, »bis du am Ende gar nichts mehr im Bett findest.« »So will ich dich in eine Flasche füllen, wie die Sibylle von Cumä«, antwortete ich ebenso, »und dich immer bei mir tragen, damit ich doch deine Stimme noch höre.« – Daß diese Stimme mir nie verhallen sollte, dafür hatte sie schon selbst gesorgt.

Mit Sorgfalt ordnete sie noch ihre kleinen Habseligkeiten. Das war nicht schwer: ihr kleiner Koffer, 77 der noch im Zimmer steht, umschließt ihren ganzen irdischen Besitz. Dann las sie ein letztesmal von Anfang bis zu Ende »Schillers Heimatjahre«, von den Werken meines Vaters ihr das liebste, weil es sie und ihn zuerst zusammengeführt hatte. Mit gleicher Begier versenkte sie sich in meine Hermann-Kurz-Biographie, wo sie ihre eigene Jugendgestalt wiederfand. Der Rest gehörte den griechischen Tragikern. Einmal in der Nacht fuhr sie mit einem Wehschrei aus dem Schlaf: »Nein! Das ist zu viel! Das hätte er nicht dürfen!« – »Wer?« fragte ich, über sie gebeugt. »Orestes«, war die Antwort. »Es war ja doch seine Mutter! Und da sagt Elektra: Triff noch einmal! Nein, das ist zu viel!« Sie war im Traume mitten unter den Atriden. Ein andermal aber sagte sie des Nachts erwachend mit innigem Ton: »Ach, ich hab die Tierlein so lieb.« »Welche Tierlein meinst du?« fragte ich. »Alle, alle.«

Sie wurde als herzkrank behandelt und täglich mit dem abscheulichen Strophantus gequält. Trauriger Irrtum der Wissenschaft! Ihr Herz war so stark, daß es nach sieben Jahren des Leidens nicht von selber brechen konnte! Immer wieder sehnte sie sich nach dem Lande zurück, wo drei ihrer Söhne schliefen. Als ihr Geist sich zu umfloren begann, ließ ich sie des Morgens in einem ganz von Grün umstellten Bette erwachen, wobei die Wärterin, die zuletzt bei der Pflege half, sie mit ein paar schnell beigebrachten italienischen Worten begrüßen 78 mußte. So glaubte sie im Nachtzug nach Florenz gereist zu sein; die fromme Täuschung war ihre letzte Freude.

Am 26. Juni 1911 tat dieses starke Herz seinen letzten Schlag. Schon im nachfolgenden Herbst begann ich zu ahnen, daß es zu ihrem Heile war, – als in Italien, das bis dahin die Hochburg des Friedens und der Völkereintracht gewesen, das Kriegsfieber ausbrach zusamt dem Deutschenhaß und in Afrika die ersten Schüsse fielen. Ganz verstand ich die Fügung aber erst nach drei Jahren, und ich schöpfte den tröstlichen Glauben, daß dem Menschenherzen nicht mehr auferlegt wird, als es zu tragen vermag. Ein Glück für sie, daß sie den Weltkrieg nicht mehr erlebte. Italien auf der Seite unserer Feinde! Ein Enkel im deutschen, einer im italienischen Heere kämpfend!

»Eine Entelechie und darum unzerstörbar«, schrieb mir nach ihrem Tode Otto Crusius, meinem eigenen Gedanken begegnend. Auch in ihr selbst, der ewig Fragenden, hatte sich mehr und mehr die Goethesche Überzeugung durchgerungen, daß, wer bis zu Ende geistig weiterstrebe, sich ein Recht auf Fortdauer erworben habe. Noch ein anderes Goethewort war mir in der furchtbaren letzten Nacht, wo Geist und Stoff gewaltsam auseinander wollten und noch immer nicht konnten, zum Ereignis geworden: 79

Wenn starke Geisteskraft
Die Elemente
An sich herangerafft,
Kein Engel trennte
Geeinte Zwienatur
Der innigen Beiden.
Die ewige Liebe nur
Vermag's zu scheiden.

Hier hatte ich es vor Augen. Sie saß knieend, halbnackt im Bett mit dem Kopf nach oben strebend, daß vom Aug nur das Weiße sichtbar war, und strich mit den Händen unablässig an den bloßen Seiten herunter, als müsse sie ein unerträglich gewordenes Kleidungsstück vom Leibe ziehen. Erst als sie im Sarge lag, trat die unbegreifliche Schönheit ihres inneren Wesens in einem Lächeln von kindlich überirdischer Holdseligkeit wieder hervor, das wie ein Siegel auf dem zu Ende gelebten edelsten Leben lag. Aus dem Raum, in den sie entschwunden war, tönte nun ihr Geistergruß zurück:

Ich bin bei dir, wenn ich auch längst vermodert,
Die Liebe, die so heiß in mir gelodert,
Sie konnte mit dem Tode nicht vergehn.
Nicht suche mich in fernen Himmelsräumen,
Ich komme nachts zu dir in deinen Träumen,
Als Hauch der Liebe werd ich dich umwehn. 80

Ich bin in dir, du kannst mich immer halten,
Ich folge keinen höheren Gewalten,
In dir nur such ich die Unsterblichkeit.
Geliebtes Kind, verbanne deine Klagen,
Denn das, was sie von mir hinausgetragen,
Das war ja längst schon ein verbrauchtes Kleid.

*

Der Feier im Ulmer Krematorium hatte die Weihe gefehlt. Als ich nach Forte dei Marmi zurückkam, stellte ich ihr daher mit Freundeshilfe eine hellenische Totenfeier an, wie sie ihrem Herzen wohlgetan hätte. All die kleinen Dinge des täglichen Gebrauchs, Reste der Zeitlichkeit, die falsche Pietät für Motten- und Würmerfraß aufbewahrt, wurden im Garten am Strande zusammengetragen, wohlriechendes Pinien- und Zypressenholz aufgeschichtet und mit Strömen von Luccheseröl und edlen Harzen begossen. Prasselnde Lorbeerzweige nährten das hochlodernde Feuer, und da alle ihr gehörigen Gegenstände etwas von ihren Mienen an sich hatten, konnte es scheinen, als ob es ihr Irdisches selber sei, was in der Glut verglomm und in der Rauchsäule weit auf das Meer hinauszog. Dann wurde der Brand mit goldhellem Wein gelöscht. Es war zufällig die Nacht von Allerseelen, und gleichzeitig flammten nach Landesbrauch die Friedhöfe an den dunklen Bergen. Wenn je der 81 freigewordene Geist noch einmal den alten geliebten Schauplatz besuchte, muß es an jenem Abend gewesen sein.

Viele Jahre sind seit ihrem Tod vergangen. Aber auch heute wieder muß ich beim Durchblättern ihrer Papiere wie damals fragen: Wer war sie? Vielleicht ein seliger Geist, der gekommen war, um irgendeine kleine liebenswürdige Rebellion hier abzubüßen und im Hinschweben einen Lichtstreif zu hinterlassen? Denn von dieser Erde war sie nicht.

* * *


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