Isolde Kurz
Florentinische Erinnerungen
Isolde Kurz

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In den Marmorbergen

II.
Serravezza.

Man redet gemeinhin von carrarischem Marmor, wenn man die edelste Marmorsorte, die heute im Handel vorkommt, bezeichnen will. Aber die Fachleute wissen, dass in diesem Jahrhundert Carrara als Marmorkönigin entthront worden ist; das benachbarte Serravezza hat ihr den Rang bedeutend abgelaufen. Dort sind die schon von Michelangelo angelegten Marmorbrüche, die zu seiner Zeit wegen mangelnder Beförderungsmittel nicht ausgebeutet werden konnten, durch einen unternehmenden Schweizer, Herrn Henraux, nutzbar gemacht worden, und dieser liefert jetzt den Bildhauern ein Korn, dem Carrara nichts Aehnliches an die Seite zu setzen hat. Sein ist fast aller Marmor, den der mächtige Gebirgsstock des Altissimo in seinen Flanken trägt, und er gibt mit seinen Unternehmungen der ganzen Gegend Arbeit und Brot. Nur wird durch die kaufmännische Ausbeutung leider der Kunst ein schlechter Dienst erwiesen, denn die Spekulation hat den Preis des köstlichen Steines zu fast unerschwinglicher Höhe hinaufgetrieben.

Die Brüche von Serravezza sind nicht so bequem zu erreichen wie die von Carrara; dafür hat 337 ihre Besteigung aber die Reize einer wirklichen Bergwanderung.

Von der Station Querceta, die durch die Aufschrift »Serravezza« täuscht, liegt das wirkliche Serravezza noch verschiedene Kilometer entfernt. Das ganze Gelände ist ein einziger Olivenhain, der wie ein grauer Rauch zwischen See und Gebirge liegt; der rote Marmorbruch von Ceragiola schimmert kräftig hindurch. Mit Freuden lernt man hier einmal den natürlichen Wuchs des Oelbaums kennen. Drüben im Florentinischen und den angrenzenden Gebieten ist er verschnitten und niedergehalten; hier aber erreicht er mit seinem vielfach verschlungenen, ganz abenteuerlichen Stamm und der stolzen Krone eine gewaltige Höhe. An den Häusern ranken hohe Orangenspaliere, und feurig leuchten die reifen goldenen Bälle aus dem grünen Blätterschmuck hervor. Es ist ländlich still; nur die weissen, tiefgefurchten Wege und die meerwärts ziehenden Marmorfuhren lassen die Nähe eines Industriezentrums erkennen.

Bei Corvaja sind wir schon im Gebirge. Nur einen Blick im Vorüberwandern auf dieses überraschende Felsennest mit seinen hängenden Gärten, seinen von Farn umsponnenen steinernen Freitreppen, den Torbogen, durch welche weitere Steintreppen sichtbar werden, die in die 338 natürlichen Felsenstufen übergehen, einen andern Blick auf die rauhen Klippen, die hoch über diesem Terrassenbau in die blauen Lüfte starren – und nach kurzer Wanderung haben wir Serravezza erreicht.

Das Städtchen liegt schön am Zusammenfluss der Bergströme Serra und Vezza, von denen der eine aus den Schluchten des Altissimo, der andre von Valdarni herunterkommt; Marmor liegt an allen Ecken und Enden, die Strassen sind schneeweiss wie in Carrara, und auch das Gepoche und Gehämmer ist dasselbe wie dort.

Auf der Brücke, die neben der ersten Sägemühle über die Vezza führt, eröffnet sich ein Blick in die innere Bergwelt. Das enge Vezzatal erscheint im tiefen Hintergrund von der Pyramide des Monte Forato abgeschlossen. Unmittelbar davor hebt sich bei klarer Luft das kuppelförmige Haupt eines ringsum freistehenden, niedrigeren Berges ab, der die Gestalt eines Turmes hat und wie von Menschenhand geschaffen aussieht. Er heisst der Procinto und ist dadurch merkwürdig, dass sich an ihn die halb verklungene Sage knüpft, es sei Michelangelos Absicht gewesen, einen von den Bergen der Apuanischen Alpen in eine Kolossalstatue zu verwandeln.

Die beiden Ufer der Vezza sind von Marmorsägemühlen eingesäumt, die mit den Wassern um 339 die Wette lärmen. Auch hier lagert Marmor in Mengen, aber die jungbelaubten Berghänge mit den niederschiessenden Bächen, dem blühenden Ginster und dem alten, bräunlichen Grün der Steineichen mildern das grelle Weiss. Eine Geröllhalde senkt sich wie ein Gletscher ins Tal, daneben die Rutschbahn, auf der von hoch oben die Blöcke herabgelassen werden. Still und verlassen liegt der monumentale Riesenbau eines aufgegebenen Eisenwerkes inmitten der geräuschvollen Betriebsamkeit.

Hinter Ruosina verlässt die Strasse das Vezza-Ufer und biegt in die rauhe Schlucht des Cansoli ein, der ein wildes Geröll in seinen grünen Fluten wälzt, und dem von allen Felsen herab die Wasser als breite Sturzbäche oder als dünne Fäden zuschiessen. Von oben blinkt steil und unzugänglich das weisse Berghaupt herunter, dessen jenseitiger Hang von uns erstiegen werden soll.

Bis herauf in diese Oede sind uns die Mühlen gefolgt, freilich immer kleiner und primitiver werdend. Nach der letzten, die nur noch eine Ruine ist, empfängt uns die grosse Bergeinsamkeit, in der man nichts mehr hört als die brausenden Wasser und Vogelgesang.

Die Schlucht erweitert sich und mündet auf eine mächtige weisse Geröllhalde, zu deren Füssen unter spärlichem Baumwuchs und Ginster 340 eine Steinhütte nistet, und ein paar Arbeiter sind dort mit dem Zuhauen von Marmorblöcken beschäftigt. Diese Marmorwildnis heisst der »Giardino«, und der Name wird erst verständlich durch den Kontrast mit der nackten, sonnverbrannten Bergwand, die wir zu überwinden haben, um die tote weisse Marmorregion zu erreichen, die jenseits des Tunnels liegt.

Wie eine Wendeltreppe zieht sich der schmale Fussweg in endloser Steigung hinauf; die Abgründe, die zu unsrer Rechten immer tiefer hinunterfallen, sind nur selten durch Gebüsch oder blühendes Heidekraut dem Auge auf einen Moment entzogen. Hier wandern früh am Morgen die Frauen von Ruosina und Serravezza hinauf, ihren Männern den Mundvorrat in die Brüche tragend: herrliche Gestalten, die mit nackten Füssen, schwere Körbe auf dem Kopf, leicht wie im Flug den steinigen Hang erklimmen. Den Städtern legt er eine nicht verächtliche Leistung auf.

Oben öffnet sich das schwarze Tor des Tunnels, der in die Marmorbrüche führt. Ein alter Mann, der am Eingang haust, sollte die Wanderer mit einer Laterne versehen, aber offenbar ist er mit dem linken Fuss aus dem Bette gestiegen, denn er weigerte sich mit Gebrumm. Es wird der Beschluss gefasst, den Tunnel auch ohne Laterne zu betreten.

341 Wohl zwanzig Minuten lang geht man durch Finsternis und unergründlichen Schmutz. Von der Decke träufelt die Nässe wie ein Regen herunter. In der Mitte, als schon vom Ausgang her die Tageshelle wie ein feines Lichtchen hereinschien, war noch ein unbehagliches Abenteuer zu bestehen. Es erhob sich plötzlich ein verdächtiges Getöse, das Tageslicht verschwand, das Gewölbe schütterte, und Qualm erfüllte den Tunnel. Niemand hatte an die Marmifera gedacht, die in diesen Bergen ohne Schienen als ungeheure Dampflokomobile fährt. Das Stampfen und Donnern kommt näher, ein rotes Auge stiert durch die Dunkelheit. Man kann weder wissen, wie gross ihr Umfang ist, noch auf welcher Seite des Tunnels sie heranfährt. Rufen wäre bei dem Lärm vergeblich, also drückt die Gesellschaft sich platt an die Wand, die einen das Gesicht, die andern den Rücken der unbekannten Gefahr zuwendend. So vergingen Minuten, der Qualm wurde immer dichter, bis der schwarze Koloss gerade noch rechtzeitig anhielt. Ein Mann, der mit der Laterne vorauslief, hatte die dunklen Gestalten entdeckt, die wie Fledermäuse an der Mauer klebten, und machte der Angst ein Ende.

Einmal am Tageslichte, geht es im Lauf bis zum Marmorbruch Tagliate. Eine Schienenbrücke führt über die Schlucht der Turrite Secca, deren 342 wasserloses Bette sich hier so erweitert, dass es einem schlammigen, vertrocknenden Bergsee gleicht. Am Eingang des Bruches sind zu beiden Seiten feste Stützpfeiler und lange weisse Mauern aus geschichtetem Marmorgebröckel aufgeführt. Kleine Hütten aus unbehauenem Marmor, gleichfalls ohne Kitt zusammengefügt, stehen da und dort verstreut; ihr Dach bilden glatte Marmorplatten, die durch grosse Brocken rohen Marmors beschwert sind. Man kann sie nicht ansehen, ohne an das »zuckerige Häuschen« der Hexe aus dem unvergesslichen deutschen Märchen zu denken.

Das Betreten des Marmorbruches ist hier völlig gefahrlos, nur dass der Fuss einige Mühe hat, sich auf dem Marmorgrund, der vom Rollen der Steine glattgeschliffen ist, zu halten. In grossen Quadern liegt der abgesprengte Marmor umher; er ist von wertloser Qualität und wird soeben von den Steinmetzen zertrümmert, um in die gähnende Tiefe geschüttet zu werden, die sich schon zum grossen Teil mit dem Gerölle angefüllt hat. Auf diese Weise entstehen die scheinbaren Gletscher. Lawinen gibt es auch, denn in der Höhe über uns wird der Berg »gefegt«, und massenhaftes Gebröckel stürzt polternd herunter. Jeden Augenblick heisst es aufpassen und zur Seite springen. Ganz oben auf dem Grat sind angeseilte Männer beschäftigt, eine Mine anzulegen; 343 von unten gesehen, sind sie aber so winzig, dass ihr Tun sich nicht verfolgen lässt.

Besser hätte es der Zufall nicht mit uns meinen können; durch den Aufseher, einen wetterharten Alten mit weisshaarigem Charakterkopf, erfahren wir, dass uns noch ein dramatischer Vorgang erwartet. Man beabsichtigt, eine der grössten Minen springen zu lassen, die der Berg seit lange erlebt hat. Ein ganzer Felsvorsprung soll entfernt werden, damit das tiefer liegende edlere Gestein frei wird. Doch es soll noch eine starke Weile dauern, und unterdessen haben wir Zeit, uns weiter umzusehen.

Ein weisser, mit Schienen belegter Weg windet sich zwischen Bergwand und Abgrund hin; er führt tief in die Wunder der weissen, starren Marmorwelt hinein. In diesen Klüften schlummert das Kunstwerk der Zukunft! Wenn der Berg auf einen Augenblick durchsichtig würde! Sein Schoss ist ganz voll von Monumenten und Statuen; auch die Könige und Helden, die Dichter und Denker und Künstler der Nachwelt sind hier in Marmor beisammen. Welche erlauchte Gesellschaft! Aber es geht ebenso wie in der Menschenwelt: auf viele Nieten kommt ab und zu ein Treffer. Mancher ist nur hier, weil ihm die urteilslose Menge einmal nachlaufen wird, und er versperrt Besseren den Platz. Aber getrost: die 344 Grossen, auf die die Menschheit wartet, sind mit darunter.

Unterdessen ist die Mine fertig geworden; mit einem eisernen Stab und etwas aufgeschüttetem Wasser haben die Arbeiter ein tiefes Loch in das Gestein gerammt. Es wird ganz mit Pulver aufgefüllt und an der Oeffnung fest verstopft. Bevor die Lunte entzündet wird, ruft der Minenleger vom Felsen herab mit einer Stimme, die bis in die fernen Täler und Schluchten trägt: »Minehoo!« worauf seine Gehilfen eilig das Weite suchen. In einem Nu ist der ganze Bruch von Menschen leer. Wir werden von dem Aufseher tief auf den Schienenweg zurückgedrängt, wo flache Felsennischen Deckung gewähren. Nochmals ruft der Minenleger ein lautschallendes »Ho!« zum Zeichen, dass die Lunte brennt, dann überklettert er am langen Seile so rasch wie möglich den Felsenscheitel, hinter dem er sich verbirgt. Aufsteigender Qualm zeigt schon die Stelle, wo die Lunte raucht. Lautlose Stille tritt ein, es dauert eine Zeitlang, bis die Lunte nach innen gebrannt ist, worauf der Rauch sich verzieht. Noch ein paar Sekunden, und nun ein heftiger Schlag, dessen Echo von Tal zu Tal forthallt, – man sieht Felsstücke in die Luft geschleudert und sollte nach der Erschütterung glauben, die ganze Felsenecke sei eingestürzt. 345 Doch erweist sich bei der Besichtigung die Wirkung der Mine als ziemlich geringfügig.

Nun hat uns der Berg gastfreundlich mit all seinen Wundern bekannt gemacht, und wir können zufrieden gehen. Es versteht sich von selbst, dass diesmal der Tunnel mit einer Laterne begangen wird, und so begibt sich dort kein weiteres Abenteuer.

Um die steile Bergwand des Giardino zu vermeiden, folgen wir auf dem Rückweg der schönen Fahrstrasse, die von den Ochsenfuhren und der Marmifera benutzt wird. Nach wenig Schritten ein überraschtes Halt: die weite Bergwelt, die zu unsern Füssen liegt, ist ganz unten am fernen Horizont durch einen blauen Streifen abgegrenzt; mit dem Fernglas lassen sich weisse, bewegliche Punkte darauf erkennen. Es ist das Meer mit seinen Segeln, das weite, blaue Meer, das uns erwartet! Dort hinunter geht unser Weg, und es ist, als wüchsen uns Flügel bei dem Anblick. Aus der Tiefe läuten jetzt die Abendglocken; ein friedliches Tal mit blühenden Kirschbäumen, das ebensogut in Deutschland liegen könnte, ladet zu kürzerem Abstieg ein.

Doch der Berg will uns nicht entlassen, bevor er uns noch eine letzte Ueberraschung bereitet hat. Auf halber Höhe der steilen Halde liegt eine kleine graue Ortschaft hingeduckt; Terrinca 346 heisst sie. Auf abschüssigen Gassen, die mit spitzigen Steinen gepflastert sind, rutscht und stolpert man da in eine verzauberte Welt hinein. Die müden Sinne sind kaum mehr fähig, neue Eindrücke aufzunehmen, aber die Ueberraschung rüttelt sie noch einmal wach. Wir sind zwischen zwei enge Reihen kleiner, massiver Steinhäuser von der erstaunlichsten Architektur geraten; sind sie gemauert oder aus dem lebendigen Gestein gehauen? Es lässt sich nicht erkennen, so grau und bröckelig sind Torbogen, Treppen und Pfeiler, so über und über mit Farn behangen. Viele Gassen sind gänzlich überwölbt, so dass nie die Sonne hineinscheint; über die andern führen von den Dächern schmale Brücken hinüber. Schöne Frauenbilder steigen mühelos mit blossen Füssen auf dem spitzigen Pflaster herauf; sie tragen grosse, seltsam geformte Gefässe auf den Köpfen. Endlich gelangen wir, immer absteigend, aus der Dämmerung wieder ins Helle; ein flacher Kirchplatz tut sich auf, wo die ganze Dorfjugend feierabendlich beisammen ist. Die Kinder haben grosse hölzerne Schnarren in der Hand, wie sie in der Karwoche durch ganz Toskana üblich sind, und sie empfangen die Fremdlinge mit betäubendem Lärm. Und um das Mass des Befremdlichen voll zu machen, rast plötzlich ein Wahnsinniger, barfuss, die Glieder aufs unbegreiflichste 347 schlenkernd, durch die Kinderschar, die nur noch toller hinter ihm herlärmt, bis der Unglückliche durch das hintere Pförtchen der Kirche verschwunden ist.

Mit einer Art von Grausen verlassen wir das verhexte und doch so seltsam schöne Nest, und draussen unter den eben ausschlagenden Kastanienbäumen fragen wir uns, ob nicht das ganze Terrinca eine Fiebervision unsrer übermüdeten Nerven gewesen ist. Jetzt noch ein steiler Abstieg vierzig Minuten lang auf einer Pflasterung, die ein böser Geist ersonnen hat, dann ist die Cansolibrücke erreicht, und unten an der Ecke hält schon der Wagen, der uns in unser Nachtquartier an der Marina von Forte dei Marmi tragen soll.

Wie im Traum fliegen noch einmal die Erscheinungen des Morgens vorüber; die Cansolischlucht, das Eisenwerk, die Mühlen, aber es dämmert schon, und die Müdigkeit wird überwältigend. Auf der Landstrasse von Ruosina bot sich den schlaftrunkenen Augen noch ein überraschender Anblick. Da stand im Mondschein einsam ein marmorner König am Strassenrand, lebensgross, im wallenden Mantel, die Krone auf dem Kopf, mit dem Gesicht der Bergwand zugekehrt. Wie er dahin gekommen, weiss ich nicht; vermutlich war es ein »verhauener« Stein, den die Punktierer aufgegeben hatten.

348 Die Gegend wird immer flacher, bis etwas Helles durch die Oelbäume schimmert, und ein wachsendes Rauschen kündigt die Nähe des Meeres an. Forte dei Marmi liegt vor uns, das mit seinem von Marmor besäten Strande in der Abendstille einem weiten Friedhof gleicht. Hier gibt es Nachtquartier, gute Kost, reinen Wein, und das Meer singt uns ein donnerndes Schlaflied. In der Frühe des andern Morgens sehen wir noch den Marmor auf die Schiffe verladen, reisefertig für den Welthandel, dann sagen wir den Marmorbergen und allen ihren Wundern Lebewohl.

 


 


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