Isolde Kurz
Florentinische Erinnerungen
Isolde Kurz

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Alfred Kurz

Nachruf

Zehn Monate nach dem Tode seines älteren Bruders Edgar ist auch Alfred Kurz, der Zweitälteste von den Söhnen des Dichters Hermann Kurz, völlig unerwartet einer kurzen Krankheit erlegen. Er starb am 2. März in Venedig, neunundvierzig Jahre alt. Auch mit ihm ist ein trefflicher, hingebungsvoller Arzt, eine kraftvolle Persönlichkeit von reinem Stoff und starkem Gepräge zu früh hinweggegangen. Als er am 29. April des vergangenen Jahres in Florenz uns anderen Geschwistern die Reste des schnell geschiedenen Bruders im Feuer bestatten half, da konnte niemand ahnen, dass er in weniger als Jahresfrist dem Tiefbetrauerten in die Flamme folgen würde. Nun hat ein jäher Sturm auch diese trotzige Kraft auf der Höhe des Lebens gebrochen.

Es konnte keinen grösseren Gegensatz geben, als diese beiden Brüder, diese beiden Aerzte, die sich doch gegenseitig lebenslang am nächsten standen. Schon äusserlich sprach sich der Unterschied und die Zusammengehörigkeit aus. Untereinander so unähnlich wie möglich, glichen sie beide auffallend dem Vater, in dessen Körperliches sie sich teilten: dem hageren, feingebauten Aelteren war die ganz vom Geiste ausgearbeitete väterliche Gesichtsbildung zugefallen, der Jüngere mit dem derb-kräftigen Kopf und den schönen, 226 plastisch-einfachen Zügen, hatte dagegen von Hermann Kurz die breiten Schultern, den herkulischen Bau nebst vielen Eigentümlichkeiten in Gang und Bewegung geerbt; nur in der Höhe des Wuchses erreichte keiner der Söhne den Vater. Ebenso wie in der Erscheinung unterschieden sie sich in ihrem Auftreten und in ihrem ganzen Wesen: der eine spröde und wortkarg, wo er keinen Anlass hatte, sich auszugeben, immer innerlich mit Problemen ringend und zu rascher Tat gesammelt, der andere ganz nach aussen gekehrt und der Gegenwart hingegeben, eine dionysische Voll- und Kraftnatur, eine Freude der Menschen.

Hermann Alfred Kurz kam am 4. August 1855 in Stuttgart zur Welt, neun Monate nach der Vollendung des »Sonnenwirts«, daher ihn die Freunde des Hauses den »Sonnenwirtle« nannten. Es schien wirklich, als hätte das dämonische Charakterbild auf ihn abgefärbt, denn frühe zeigte sich an dem schönen kerngesunden Knaben eine unbändige physische Kraft mit elementarer Wildheit gepaart, die nur an seiner grossen Herzensgüte eine Schranke fand. Er war der Schreck der Dienstboten und der Besucher, weil er immer irgend einen Schabernack im Schilde führte. Noch weiss man in der alten Heimat davon zu erzählen, wie er auf der Strasse die vorübergehenden 227 Mädchen umrannte, wobei er seinen dicken Kopf als Sturmbock brauchte, oder wie er einmal des Nachts einen jugendlichen Gast aus den Kissen schnellte, indem er sich unter der Lagerstatt verkroch und plötzlich als ein kleiner Seismos das Bett zusamt der erschrockenen Insassin in die Luft warf. Ein drolliger, halb unfreiwilliger Humor und behagliche Daseinsfreude wechselten mit diesen Kraftausbrüchen ab. Schon im Flügelkleide hatte ihm die Mutter die treffende Selbstcharakterisierung in den Mund gelegt:

Ich lieb die Schellenkappe,
Bin des Humores Knappe,
Und meinem mutigen Hoffen
Stehn alle Wege offen.
Was in mir wirkt und schafft,
Das ist wohl Stoff und Kraft.

Körperlich blieb er ein Prachtstück der Natur, von Gesundheit strotzend und mit den treuherzigsten Augen von der Welt, die aber, sobald er gereizt wurde, zu rollen anfingen. Dagegen ging seine geistige Entwicklung langsam vor sich, und er fühlte sich deshalb – ich weiss nicht mehr, ob mit Recht oder mit Unrecht – von dem älteren Bruder und der Schwester, die beide sehr frühreif waren, hintangesetzt, was ihn heftig ergrimmte. Wie ein wilder Stier ging er bald auf das eine, 228 bald auf das andere los. Mit dem Erstgeborenen verwickelte er sich in einen Jahre dauernden Bruderkrieg, dessen Grund er niemals anzugeben vermocht hätte. Denn die Frage vom Mein und Dein, die oft Kinder sonst so tödlich entzweit, existierte gar nicht für sein goldenes Gemüt: was ihm gehörte, war Gemeingut, und was der Bruder besass, das gönnte er ihm gerne. Ebensowenig erregten die ausgesprochenen Vorrechte, die dieser als der lange kränklich gewesene Erstling im Hause genoss, seinen Groll. Es war nur ein dumpfes Unbehagen, das in ihm wühlte und die jugendliche Berserkernatur zur Entladung zwang.

In Kirchheim besuchte Alfred die Lateinschule und in Tübingen das Gymnasium. Doch war mit seinem Lernen in den ersten Schuljahren niemand zufrieden, als er selber, der sich in naivem Selbstgefühl für den »Ersten« in der Klasse hielt, weil er an jedem Platz von sich aus zählte. Seine Zerstreutheit und geringe Lernlust liess ihn auch hier noch längere Zeit als minder begabt erscheinen, besonders da man ihn immer an den glänzenden Leistungen des älteren Bruders mass, daher der Vater ihn mit doppelter Liebe behandelte, um ihm die vermeintliche Ungunst der Natur zu vergüten. Aber auf einmal besann der kleine Wilde sich anders: es war, als ob ihm eine Binde von der Stirn fiele, der Sinn für die Gegenstände des 229 Unterrichts ging ihm auf, er gab sich selbst einen mächtigen Ruck und wurde nicht nur ein ausgezeichneter Schüler, sondern geradezu das, wofür er sich früher mit Unrecht gehalten hatte: der Primus seiner Klasse.

Fortan hielt er sich mit allem Eifer auf seines Bruders Fersen, und es zeigte sich, dass er keineswegs an Fassungskraft zurückstand; besonders der humanistischen Fächer bemächtigte er sich mit der grössten Leichtigkeit. Obwohl ihn bei der Maturitätsprüfung die Mathematik im Stiche liess, konnte er doch mit achtzehn Jahren seine medizinischen Studien beginnen, zu denen ihn das Beispiel des Bruders und eigene Neigung hinzogen, und unser Vater erlebte noch die Freude, auch den zweiten Sohn auf der Universität zu sehen, bevor er unerwartet schnell die Augen schloss. Dieser plötzliche Verlust hatte auf den Wildling die Wirkung, dass er sich noch fester zusammenfasste, um der Familie, so viel es an ihm lag, die Sorgen zu ersparen. Er wurde ein sehr fleissiger Student, der die Achtung seiner Lehrer genoss, und fand sich trotz seiner ungestümen Lebenslust mit liebevoller Einsicht in die Verhältnisse, die es ihm verwehrten, seine Jugend ebenso schrankenlos zu geniessen, wie es der ältere Bruder getan hatte. An diesen schloss ihn jetzt schon die Wahl des gleichen Studiums und 230 sein neu erwachter wissenschaftlicher Eifer an, er hörte auch die Vorträge, die Edgar als einundzwanzigjähriger Lehrer an der geburtshilflichen Klinik hielt.

Den schwersten Stand hatte noch immer die Schwester mit ihm. Da er lange Zeit nichts anerkennen wollte als physische Kraft, so hatte ich mich nur bis ins zwölfte Jahr in seiner freilich grollenden Achtung behaupten können, später war der Abstand zu gross geworden. Der knabenhafte dumpfe Ingrimm gegen das verachtete schwächere Geschlecht, der damals noch durch die Landessitte und eine einseitige Schulerziehung genährt wurde – es war für ein kleines Mädchen gar nicht rätlich, auf der Strasse allein einem wilden Knabentrupp zu begegnen – liess es ihn als Unehre betrachten, überhaupt eine Schwester zu besitzen, und um keinen Preis hätte er sich öffentlich an meiner Seite gezeigt. Noch bis in seine Studentenzeit spielte dieser Groll herein, der sich in einer fortwährenden Verfolgung äusserte: nie vergesse ich einen mit Wachs präparierten menschlichen Arm, den er von der Anatomie nach Hause brachte, um mich am Tage damit zu erschrecken und ihn des Nachts auf mein Kopfkissen zu legen. Ich war daher auch gar nicht erbaut, als ich den Auftrag erhielt, dem Unbändigen die Anfangsgründe des Englischen 231 beizubringen, und ihm missfiel der unregelmässige Bau dieser Sprache auch gleich so gründlich, dass eines schönen Tages die Grammatik hart an meinem Kopfe vorüber durchs Fenster auf den Marktplatz flog, womit die Lektionen zur beiderseitigen Erleichterung ein Ende hatten. Oft erinnerte er sich als Mann mit lachendem Bedauern an diesen Vorfall, durch den er des Englischen, das ihm als Fremdenarzt in Italien so nützlich gewesen wäre und das er sich trotz aller Mühe später doch nicht mehr vollkommen aneignen konnte, verlustig ging. Da ich von klein auf gewöhnt war, diesen Bruder nur als ein gefährliches Naturereignis zu betrachten, so tat ich auch nichts, um seinem Inneren nahe zu kommen, ja wir mussten durch grosse Weiten getrennt werden und uns später auf florentinischem Boden wiederfinden, bevor wir uns mit gegenseitigem Erstaunen als Wesen von gleichem Blute erkannten. Von da an war aber auch kein Missverständnis mehr möglich, ich konnte mich völlig auf ihn verlassen, und keine Macht der Welt hätte fortan an seiner brüderlichen Gesinnung zu rütteln vermocht.

Als im Jahre 1877 der grössere Teil der Familie nach Florenz übersiedelte, verliess auch Alfred das verödete Tübingen und begab sich zur Vollendung seiner medizinischen Studien nach München. Er wurde Assistent bei Ziemssen, der seinen 232 Eifer und seine Kenntnisse sehr zu schätzen wusste: die ausgedehnte, geregelte Tätigkeit an einer Klinik blieb späterhin immerdar das Ziel seiner Sehnsucht, das ihm leider durch finanzielle Verhältnisse verschlossen war. Einen wahren Triumph bildeten seine Examina, womit er sogar dem älteren Bruder den Rang ablief. Denn während dieser, seiner Fähigkeiten sicher, die Prüfung cavalièrement behandelt hatte (er kritzelte wahrend derselben witzige Knittelverse über die Examinatoren aufs Blatt und schrieb in sein Tagebuch: »Das Examen wird mehr und mehr Nebensache«), setzte Alfred, der sich erst spät aus geistiger Indolenz aufgerafft hatte, und dem es nun galt, seinen Mann zu stellen, alle Kräfte zu und erzielte in sämtlichen Fächern ein »Vorzüglich«. Von dieser Zeit ging eine völlige Aenderung mit ihm vor: er hatte in seinen eigenen Augen die Scharten seiner Jugend ausgewetzt und fühlte sich »wie andere Ritter wert«. An Stelle des Missmuts, der ihn so oft gepeinigt hatte, trat eine selbstgewisse Kühnheit, die ihn fortan nie mehr verliess, und die frühere Wildheit nahm die Gestalt eines fröhlichen Uebermuts an.

Mit einem Reisestipendium, das ihm unser Onkel verschafft hatte, kam er nach Florenz, um sich den Seinigen als zweiundzwanzigjähriger Doktor zu zeigen. Da er bei seinem tiefen 233 Familiengefühl nach dem Wegzug der Angehörigen Deutschland nicht mehr recht als Heimat betrachtete, reifte in ihm rasch der Entschluss, sich gleichfalls auf italienischem Boden seine Praxis zu gründen. Im Sommer 1878 liess er sich in Venedig nieder. Neben den gründlichen Kenntnissen, die er selbst von der Universität mitgebracht hatte, kamen dem Neuling auch die Erfahrungen des älteren Bruders zustatten, der ihn immer über die wichtigsten Vorkommnisse seiner Praxis auf dem Laufenden erhielt. Beständig gingen die medizinischen Mitteilungen zwischen Florenz und Venedig hin und her.

Mit ausserordentlichem Eifer widmete der junge Doktor sich seinem Berufe. Wenn er auch nicht die schöpferische Natur des Bruders besass, der in der Wissenschaft überall neue Wege suchen musste, so glich er ihm doch an Klarheit des Urteils, an Gründlichkeit und Gewissenhaftigkeit, wie an selbstloser, freudiger Hingabe seiner Person. Als Hausarzt war er manchen sogar willkommener, als jener, den im Grunde nur die Schwerkranken nach dem vollen Wert seines Gemüts und Charakters kennen lernten. Für Alfred gab es nichts Kleines; stets war er mit ganzer Seele dabei; ob der Fall leicht oder schwer, ob er wissenschaftlich merkwürdig oder alltäglich war, er behandelte ihn mit derselben skrupulösen 234 Aufmerksamkeit, denn er wollte vor allem helfen. Er glaubte auch selbst viel mehr an die Kunst des Arztes, daher er es mit seinen Verordnungen peinlich genau nahm und von seinen Patienten unbedingten Gehorsam verlangte. Auf seinen Berufsgängen sah man ihn nie anders als rennend und hastend; seine Eilfertigkeit wurde in Venedig, wo er schnell zu den bekannten Strassenfiguren gehörte, sprichwörtlich. Seine opferfreudige Güte machte zwischen arm und reich keinen Unterschied; zu Hunderten liessen sich die Fälle zählen, wo er ohne irgendwelches Entgelt die Mühen einer schweren, langwierigen Behandlung in den Häusern der Bedürftigen auf sich nahm. An sich selbst dachte er niemals; wer ihn rief, der fand nicht nur den sorgfältigsten Arzt, sondern auch einen teilnehmenden, fürsorglichen Freund an ihm. In schweren Fällen liess er sich's nicht nehmen, dem Kranken all jene kleinen Dienste selbst zu leisten, die von geübter, liebevoller Hand eine so grosse Wohltat sind, und wenn es ihm gelungen war, einem Leidenden durch eine bequemere Lage ein paar Stunden Schlaf zu verschaffen, so fühlte er sich für die eigene geopferte Nachtruhe reich entschädigt. Dafür genoss er auch von Seiten seiner Patienten eine Anhänglichkeit und Liebe, wie sie selten einem Arzte zuteil wird; wo sein Name genannt wurde, trat 235 ihnen die freudige Dankbarkeit von selbst auf die Lippen. Da war ein armer Gondolier namens Marco, dem Alfred die Frau gerettet hatte, und der unermüdlich versuchte, ihm seine Erkenntlichkeit zu beweisen. Immer wieder erschien er, um mit den Worten: »Dottore benedetto, ghala comandi?Haben Sie Befehle?« seine Dienste anzubieten und ihm dabei Hände und Kleider zu küssen.

In Venedig löste sich der goldene Kern seines Wesens vollends ganz aus der rauhen äusseren Schale. In der weichen Kulturatmosphäre, im vielfachen Verkehr mit dem ihm sehr sympathischen österreichischen Adel eignete er sich verbindliche weltmännische Formen und eine gewisse Eleganz des Auftretens an, worauf er fortan grossen Wert legte, ohne doch den übermütigen Studenten, der er im Grunde immer blieb, zu verleugnen. Ein freundlicher Stern stand über diesen ersten Jahren seiner Laufbahn. An dem alten, feinsinnigen Pastor Elze, dem Bruder des bekannten Germanisten und Shakespeare-Forschers, gewann er einen warmen Freund und Förderer, in dessen Hause er auch die ihm so nötige Ansprache für seine schon mit der Muttermilch eingesogenen literarischen Interessen fand. Ein Stündchen bei dem alten Herrn zu sitzen, wenn es die Zeit erlaubte, und mit ihm über deutsche 236 Literatur zu disputieren, das wurde ihm im Lauf der Jahre die liebste Gewohnheit. Auch mit Ludwig Passini schloss er damals eine Freundschaft fürs Leben, die ihm den späteren Wegzug des Künstlers von Venedig sehr schmerzlich machte. Die hervorragendsten Persönlichkeiten der Fremdenkolonie gehörten zu seiner Klientel. Er war es auch, der, nach dem Palazzo Vendramin gerufen, das Leiden Richard Wagners richtig diagnostizierte.

Im Jahre 1886 brach in Venedig die Cholera aus, und gerade die enge Calle Fiubera, die Alfred damals bewohnte, wurde der Herd der Seuche. Er schickte Frau und Kinder nach Padua und blieb selbst zur Stelle, um Hilfe zu leisten, in allen Schreckensszenen seinen heiteren Humor bewahrend. Die Aufzeichnungen, die er damals machte, wurden in medizinischen Zeitschriften veröffentlicht. Wer ihn in jenen Jahren sah mit seinem Tätigkeitstrieb, seinen gewinnenden persönlichen Eigenschaften, seinem Talent fürs Leben, der musste ihm ein glänzendes äusseres Los prophezeien. So gut hat es ihm nicht werden sollen: die Fülle seines Gemüts stand ihm bei der Erreichung persönlicher Vorteile ebenso im Weg wie sein impulsives Temperament und machte ihm eine planvolle, auf äusseren Erfolg gerichtete Lebensführung unmöglich.

237 In seinem Venedig kannte Alfred jeden Winkel und jede Geschichte, die sich daran knüpft, jeden Bogengang, wo noch ein Ueberrest der alten Herrlichkeit sich barg. Es war ein Vergnügen, ihn zum Führer zu haben, und wie manchem reisenden Landsmann hat er im Lauf der Jahre diesen Dienst erwiesen. Er liebte diese Stadt, sie umspann ihn mit unauflöslichem Zauber; das Wasser war sein vertrautes Element von Jugend auf, er hatte als geübter Schwimmer und Taucher ja schon in jungen Jahren verschiedenen Personen das Leben gerettet. Aber wie er Venedig liebte, so befehdete er die Venezianer: ihre Weichlichkeit, ihr Lungern und Schlendern in den engen Gassen erregte seine höchste Ungeduld; wenn er Eile hatte, was fast immer der Fall war, so fegte er sie mit seinen energischen Armbewegungen einfach rechts und links zu Boden, oder er trug wohl gar seinen Stock mit beiden Händen quer vor sich her. Natürlich kannte ihn alt und jung im Volke, alle rechneten auf sein goldenes Herz, auf diese nur zum Geben geschaffene, immer offene Hand, auf unentgeltliche Behandlung und Unterstützung im Krankheitsfall, sie wussten aber auch, man durfte ihm nicht widersprechen, ihm vor allem nicht im Wege stehen, wenn er eilig war, sonst wurde die Situation kritisch.

Die Jahre hatten auf sein Temperament nicht 238 den geringsten Einfluss. Wie sein reingemeisseltes männliches Gesicht, dessen Kinn kein Bartwuchs verdeckte, immer die Frische der Jugend behielt, so blieb er auch im Innern unverändert. An dem raschen Aufflammen in Freude oder Zorn, an der Begeisterung für alles Schöne, am Sinn für Poesie, an dem immer quellenden, bald ausgelassenen, bald behaglichen Humor zeigte sich die ewige Jugend seiner Seele. Seinen Kindern war er mehr Kamerad als Erzieher, bei Neffen und Nichten hiess er der »zio matto«, der tolle Onkel, dessen Uebermut das junge Volk entzückte. Ausserhalb seines Berufes behandelte er das Leben als Karneval. Den Organen der öffentlichen Ordnung ein Schnippchen zu schlagen, war ihm noch wie in der Studentenzeit ein Hochgenuss. Als er einmal Mutter und Schwester in Venedig am Bahnhof abzuholen hatte und eine kleine Verspätung ihm nicht mehr gestattete, eine Perronkarte zu lösen, schob er einfach den Portier mit der herrischen Erklärung, dass er Bahnbeamter sei, zur Seite, belud sich im Nu mit unserem zahlreichen Handgepäck in einer Weise, dass er vor lauter Kofferkanten und Schirmspitzen unnahbar wurde, und stürmte unter dieser Bedeckung mit derselben Gewaltsamkeit wieder durch die Schranken ins Freie.

Nicht immer freilich liefen solche Handstreiche 239 glatt ab, oft genug geriet er in ernstliche Konflikte, und es wickelten sich ganze Knäuel von Ungelegenheiten um ihn auf, aber das gehörte ihm mit zum Leben, und schliesslich gewöhnte man sich in Venedig so an seine Art und Weise, dass man ihn gewähren liess. Nirgends hätte seine Freude am Abenteuer, sein Sinn für Romantik und für das Dekorative im Leben so viel Befriedigung gefunden wie dort.

Aber am Ende wurde dieses Venedig, in das er so gut passte, dass, wer ihn kannte, die Stadt sich gar nicht mehr ohne ihn denken kann, ihm doch verhängnisvoll, denn es nährte Eigenheiten, die ihm den Aufenthalt an jedem anderen Ort erschwerten, und Gewohnheiten, durch die er seinen felsenstarken Organismus unterwühlte. Das venezianische Nachtleben wurde ihm so zur zweiten Natur, dass es eine völlige Umkehr der Zeiteinteilung bei ihm bewirkte. In der abgeschlossenen Lagunenstadt fehlte es ihm an Bewegung, und auch die Neigung zum Sitzenbleiben beim Glase, wenn er einmal angeregte Gesellschaft traf, wurde durch seine gewöhnliche geistige Isolierung gefördert. Nur in den Sommermonaten in der Dolomitenwelt von San Martino di Castrozza oder in den Umgebungen des lieblich ernsten Feltre kehrte er wieder ganz zur Natur zurück. Das Grün der Wiesen und der Wälder war ihm dann nach 240 der langen Entbehrung ein unsagbares Glück, die kalten, reissenden Bäche kühlten wohltätig sein heisses Blut, er fand den Schlaf der Nächte und die Erquickung der frühen Morgengänge wieder; jeder Baum, jedes kleine Waldpflänzchen, jede Vogelstimme entzückte ihn. Dort haben wir im Sommer 1899 manchen sonnigen Tag zusammen verbracht, und unvergesslich ist mir seine Gestalt in der Pose eines Flussgottes, mitten im schäumenden Gebirgswasser auf einem Felsblock sitzend, von plätschernder Jugend umspielt, das mächtige Haupt mit Schilf bekränzt, in den zum Wurf erhobenen Händen gewaltige Steine schwingend.

Ein genialer Zug ging durch Alfreds ganzes Wesen, wenn es ihm auch nicht wie dem älteren Bruder gegeben war, Dauerndes zu schaffen und zu begründen. Er war ein Kind des Augenblicks und verstand es im höchsten Grade, das Flüchtige, nie Vorhandene, das man die Gegenwart nennt, zu erfassen und zur Realität zu machen. So schwierig war keine Lage des Lebens, dass er ihr nicht eine heitere, ja komische Seite abzugewinnen gewusst hätte. Auch seine Briefe, in denen sein Wesen sich mit allen Färbungen spiegelte, waren immer kleine Meisterstücke von Humor und Phantasie; überhaupt besass er ein hervorragendes, wenn auch leider wenig geübtes Talent zur 241 Prosadarstellung, wogegen er niemals ein Gedicht zustande brachte. Es war merkwürdig, wie haarscharf die Natur auch auf diesem Punkte zwischen ihm und seinem älteren Bruder geteilt hatte, denn dieser, dem eine so anmutige lyrische Begabung und eine bewundernswerte Sprachgewandtheit innerhalb der gebundenen Rede zugefallen war, hatte nur einen spröden, dem Ausdruck des inneren Vorgangs widerstrebenden Prosastil.

Alfred war ein glänzender Gesellschafter. Wo er eintrat, brachte er eine reissende Welle von Fröhlichkeit mit sich. Verblüffende Zitate, schlagende Witze und Anekdoten, denen sein angeborenes Sprachgefühl immer eine originelle Färbung gab, quollen nur so von seinen Lippen. Sein ausserordentliches Gedächtnis liess die nicht geringe Belesenheit, über die er verfügte, als etwas Unbegrenztes erscheinen. Von einem Roman behielt er die kleinsten Einzelheiten im Kopfe, und jeden Augenblick konnte er ganze Szenen aus dem Faust oder einen Sophokleischen Chorgesang in der Ursprache rezitieren. Im Griechischen und Lateinischen war er noch so stark, dass er seinen Kindern, die beide, Sohn und Tochter, in Venedig das Gymnasium besuchten, zu Hause selber Nachhilfestunden geben konnte. Ueberhaupt hatte er das Seinige alles immerwährend zur Hand. Mit 242 seinem breitausladenden Wesen und seiner starken Stimme beherrschte er sofort jede Gesellschaft, dass auch der tiefgründige, stillere Bruder Edgar vorübergehend in den Hintergrund trat. Auf diesen übte das impulsive Naturell des Jüngeren gleichfalls einen grossen Zauber, und so wenig duldsam er sonst gegen fremde Eigenheiten war, für den Naturzwang, unter dem der völlig anders geartete Alfred stand, hatte er eine wahrhaft väterliche Einsicht, und er wurde niemals müde, die Knoten lösen zu helfen, die jener sich unüberlegt schürzte. Dagegen machte er ihn dann auch zur Zielscheibe seines eigenen Humors, was der andere sich gern gefallen liess, denn es war einer seiner liebenswürdigsten Züge, dass er sein Ich ganz als Objekt betrachten und herzlich über sich selber lachen konnte. In den 90er Jahren war ihm in seiner Eigenschaft als österreichischer Konsulararzt der Franz-Josefsorden verliehen worden, der den in Italien so viel begehrten Cavaliere-Titel mit sich brachte. Nur wenige Freunde wussten davon, denn der Empfänger machte von diesem Titel keinen Gebrauch, so wenig als er je den Orden anlegte, der vergessen im Grund der Kommode lag. Aber Edgar verfasste auf die Erhebung in den Ritterstand ein neckisches Gedicht, das ich unter dem Titel »Ritter Ralf« 243 seiner im verflossenen Herbst erschienenen Gedicht Sammlung einverleibt habe:

Herr Ralf, der ist ein Ritter wert,
Er trägt nicht Speer und trägt nicht Schwert
Und lässt sich doch nicht lumpen.
Er hat den allerbesten Durst,
Und was er trinkt, das ist ihm wurst,
    Er sitzt vor seinem Humpen.

Und wenn er vor dem Humpen sitzt,
Sein Auge rollt und droht und blitzt,
Sind all die andern Lumpen.
Die Stimme mit Trompetenton
Jagt Feind und schier auch Freund davon,
    Er sitzt vor seinem Humpen.

Er stosst ihn dröhnend auf den Tisch
Und leert ihn, hei, wie gluckst es frisch!
Bis auf den letzten Stumpen.
Mit Zittern füllt der Wirt ihn neu,
Die Gäste lauschen fern und scheu,
    Er sitzt vor seinem Humpen.

Herr Ralf, der ist ein Ritter wert,
Er trägt nicht Speer und trägt nicht Schwert,
Und lässt sich doch nicht lumpen.
Er hat den allerbesten Durst,
Die Welt ist ihm so wurst, so wurst,
    Er sitzt vor seinem Humpen.

244 Diese sinnenfreudige Kraftnatur, deren Urbehagen in diesen Versen so lustig karikiert ist, war eigentlich immerdar damit beschäftigt, sich selbst zu erleben. Ihm unbewusst, stand die Fülle seines Temperaments als Scheidewand zwischen ihm und der Aussenwelt, so dass das Geistige der anderen nicht recht an ihn herankonnte. Als er einmal bei einem Besuch in Florenz einen Band Nietzsche auf meinem Tische fand, erinnerte er sich plötzlich, mit dem Verfasser, der zu ihm in die Sprechstunde gekommen war, einen Sommer lang intim verkehrt zu haben, da Nietzsche ihn täglich zu langen Spaziergängen auf den Lido abholte und unterwegs mit grossem Interesse seinen Ausführungen über naturwissenschaftliche Dinge folgte. Wir wunderten uns beide gleichermassen bei dieser Entdeckung: er, dass sein Klient eine so berühmte Person war, ich, dass man mit Nietzsche verkehrt haben konnte, ohne von seinem Geiste einen Eindruck zu empfangen. Der stille Prophet und Umwerter der Werte war offenbar auf diesen Spaziergängen niemals zu Worte gekommen.

Ein Naturell wie dieses hat eine Anziehungskraft für das Glück; während man sich immerwährend um ihn sorgte, schossen von allen Seiten die glückhaften Zufälle an ihn heran. Er hatte sie auch nötig: Sparen und Rechnen war ihm 245 ganz unmöglich, er wusste kaum, was er einnahm, und alles Geld zerrann ihm in den Händen. Ein beständiges Auf und Nieder in den Lebensverhältnissen, das mit der Flut und Ebbe der ärztlichen Praxis in einer Fremdenstadt zusammenhing, war ihm ein ganz natürlicher Zustand geworden. Obgleich er eine zahlreiche Familie, Kinder und Stiefkinder, durchzubringen hatte, liess er die Lebensängste nicht an sich heran; er baute auf seinen allzeit hilfsbereiten Freund, den Deus ex machina, dem er oft die freudigsten Jubelhymnen anstimmte. Während der ältere Bruder alles seiner festen zielsicheren Lebensführung verdankte, liess der jüngere sich ganz vom Strome treiben und befand sich dabei im Grunde ebenso gut, denn nicht nur dem Starken, auch dem Liebenswürdigen stehen die Götter bei.

Liebenswürdigkeit war in der Tat der Grundzug seines Wesens, der aus seiner tiefen Liebe zu aller Kreatur entsprang. Hilfreich zu sein, war bei ihm nicht Ausfluss eines Prinzips und einer Weltanschauung, sondern ein Naturinstinkt. Trotz seiner Heftigkeit konnte er gegen niemand einen Groll bewahren, alles löste sich ihm in Humor und Heiterkeit auf; auch wer ihm Schaden getan hatte, stand bald aufs neue in seiner Gunst. Als Familienvater entwickelte er eine geradezu frauenhafte Sorgfalt und Zärtlichkeit. So lange 246 seine Kinder klein waren, wusch und badete er sie selbst, überhaupt nahm er, dem Landesbrauch sich anpassend, einen grossen Teil der häuslichen Mühen auf sich. Die Erinnerungen seines Elternhauses pflegte er mit wahrhaft religiöser Andacht; es genügte, ihm mit einem Zitat aus den Werken seines Vaters entgegenzutreten, um ihn für immer gewonnen zu haben. Wer einem seiner Geschwister irgend Liebes erwiesen hatte, war seines feurigsten Dankes gewiss. Wer einen Gruss aus der Heimat brachte, wurde gastfrei aufgenommen. Hundertmal missbraucht, liess er sich nie verbittern, sondern kam dem Nächsten mit der gleichen Wärme entgegen. Einer der Gründe, weshalb er Venedig liebte, war, dass er dort das Leiden der Pferde nicht zu sehen brauchte. In den Sommerfrischen auf dem Festland wachte er über das Schicksal aller Tiere im Ort, den Vogelstellern suchte er ihr barbarisches Vergnügen zu verleiden, und wehe dem Kutscher, der vor seinen Augen ein Pferd misshandelte. Aber bei den Tieren machte seine Liebe noch nicht Halt, auch die Pflanzen schloss er darin ein: Blumen waren seine Wonne, allein er mochte sie nicht pflücken; um ein paar Bergveilchen heimzubringen, schleppte er unverdrossen einen schweren Klumpen feuchter Walderde mit. In dem vegetationslosen Venedig hielt er sich auf dem Dach des Hauses einen 247 luftigen Garten, zu dem er täglich das Wasser drei Treppen hoch selbst hinauftrug; als er beim Wegzug in eine andere, minder günstige Wohnung genötigt war, die geliebten Pflanzen einem befreundeten Gartenbesitzer zu schenken, war ihm die Trennung von jeder einzelnen ein Schmerz, und er versäumte nicht, sie an ihrem neuen Standort von Zeit zu Zeit zu besuchen. Durch einen blühenden Strauch, den man vor ihn stellte, konnte man einen Ausbruch seiner Heftigkeit abschneiden: in der Betrachtung jeder einzelnen Blüte ging ihm eine Welt von Glückseligkeit auf, und indem er sich den Vorgang bei der Erschliessung der Blüte durch die Sonnenstrahlen und ihre Befruchtung durch die den Blütenstaub weitertragenden Insekten vergegenwärtigte, pries er sich glücklich, die Geheimnisse zu kennen, mit denen die Natur hier waltet. Auch darin zeigte sich seine glückliche Anlage, dass er seine Kenntnisse genoss, sie nicht wie die Faust-Naturen bloss als Unzulänglichkeit, sondern als positiven Besitz empfand.

In den letzten Jahren trat dieses sonnenfrohe Leben mehr und mehr auf die Schattenseite. Mit dem zeitweiligen Rückgang des Fremdenverkehrs in Venedig verminderte sich die Praxis, und die Sorgen wurden grösser. Die Empfindung bedrückte ihn, dass er mit seinen Kenntnissen und Gaben doch nicht erreicht hatte, wozu er von 248 Natur befähigt war. Der südliche Boden, eine herrliche, aber untergehende Kultur, die jeder Tatkraft einen stumpfen passiven Widerstand entgegengesetzt, hatten ihn nicht zur vollen Ausnützung seiner Kräfte kommen lassen; wäre ja doch auch seinem willensstärkeren Bruder Edgar auf deutschem Boden ein viel breiterer Erfolg seines rastlosen Strebens vergönnt gewesen, als er ihn in Italien fand.

Schmerzliche Verluste gesellten sich hinzu, die liebsten Freunde starben nacheinander weg. Zuerst war der alte Pastor Elze gegangen; sein langes schweres Sterben griff dem Arzt und Freunde tief ins Herz, obschon er ihn wie einen Weisen enden sah: noch bis zum letzten Todeskampf dauerten ihre literarischen Debatten fort. Dann kam die Reihe an Ludwig Passini, der, nach Venedig zurückgekehrt, in den Armen meines Bruders verschied. Immer einsamer wurde es um den Geselligen, Liebevollen: sein einziger Sohn ging zur Marine, und man musste bei jeder Abreise mit der Möglichkeit rechnen, ihn nicht wiederzusehen. Dass die Tochter im letzten Herbst die Maturitätsprüfung bestand und zur Hochschule nach Padua abging, erfüllte ihn zwar mit Stolz und Freude, allein nun musste er auch sie entbehren.

Sein bester Trost waren seine Bücher. »Hätte ich nicht die Bücher und meine Welt für mich,« 249 schrieb er noch in seinem letzten Brief an eine Freundin, »so wäre ich bettelarm«. Im Reichtum seiner geistigen Welt fand er wieder, was ihm das Leben versagte. Mit tiefer Dankbarkeit erkannte er immer an, dass es seine Mutter war, die ihm diesen grössten Schatz fürs Leben mitgegeben hatte, denn das Kulturniveau eines Hauses wird durch die Frau bestimmt. Im Palazzo Falier, seiner letzten Wohnung, die er um ihrer historischen Schatten willen liebte, wo es ihm aber nie gelingen wollte, in den weitläufigen öden Räumen das ersehnte häusliche Behagen herzustellen, gab es nur ein Zimmer, in dem er sich völlig zu Hause fühlte. Es war sein Bücherzimmer, dessen reiche Schätze in den letzten Jahren noch durch einen Teil der schönen Bibliothek seines Freundes Elze vermehrt wurden. Dort sass er jetzt halbe Nächte lang. Schon als Kind hatte er sich zuweilen andächtig unter seines Vaters Bücherschrank gesetzt und sich da ganz stille gehalten mit der Erklärung, er sei jetzt im »Bücherland«, und so fühlte er noch als Mann: die blosse Nähe der Bücher stimmte ihn höher. Wenn er las, so geschah es mit einer gewissen Vorbereitung, des Abends in Feierstimmung bei angezündeter Pfeife, vor einem Fiasko Wein. Da genoss er dann aus tiefster Seele. Auch in der Lektüre blieb er dem getreu, was er schon in der Jugend geliebt hatte. 250 Mit der italienischen Literatur befreundete er sich niemals, und es war ihm stets ein inniges Anliegen, seinen aus einer italienischen Ehe stammenden Kindern die deutsche Poesie nahe zu bringen, wobei er nur die sprachliche Schwierigkeit nicht richtig einschätzte. Wenn sein Sohn Tristan zu Besuch nach Hause kam, konnte es geschehen, dass er dem Jungen, der sich auf seinen Weltumseglungen fast nur das zusammengewürfelte Matrosendeutsch hatte aneignen können, nachts am Bette aus dem zweiten Teil des Faust vorlas, erfreut, wenn der Schläfer traumumfangen murmelte: Oh papà, come è bello!

Der Verlust des Bruders brachte den letzten und tiefsten Riss in sein zuvor schon verarmtes Leben. Zu lange hatte ihre beglückende innere Gemeinschaft gedauert, die keine Charakterverschiedenheit und keine äussere Einwirkung jemals zu trüben vermochte. Noch in den letzten Lebenstagen des Aelteren, als dieser sich fast nur noch mit Blicken und Nicken unterhalten konnte, hatten sie ihre neuesten medizinischen Erfahrungen miteinander ausgetauscht. Zwar über den Schmerz riss sein herrliches Naturell den Ueberlebenden hinweg, aber in seinem Dasein blieb eine Lücke, die ihm niemand hätte ausfüllen können. – Es entsprach ganz seiner physischen Anlage, dass der Krankheitssturm, der ihn so bald nach dem 251 Hingang des Bruders anfiel, den starken Stamm noch wilder rüttelte und noch schneller fällte. Eine schwere Influenza, die sich mit einem älteren Nierenleiden komplizierte, war die Ursache seines Todes; es scheint aber, dass auch eine Infektion, die er sich vor Jahren am Krankenbette geholt und infolge deren er den Geruchsinn gänzlich verloren hatte, mit zu dem stürmischen Verlauf beitrug. Er war nur vier Tage krank gewesen.

Schwerer Wolkenhimmel hing über der Lagune, und der Sturm peitschte das Wasser des Meeres in den Canal Grande, als der Entschlafene aus dem Portal des alten Dogensitzes auszog, um auf der Wasserstrasse die stille Insel San Michele zu erreichen, wo ihn das Flammengrab erwartete. Mitten durch das Getriebe des venezianischen Karnevals ging die Fahrt. Von der Rialto-Brücke beugten sich die Masken herab, bunte Faschingsbänder flatterten auf das Blumenfahrzeug nieder, das Fest des Lebens drängte sich noch einmal heran, um von dem Festfreudigen, Lebensfrohen Abschied zu nehmen. Wind und Wellen schienen sich seinem Auszug zu widersetzen, der Regen goss in Strömen, und schwere Wetterwolken zogen nach, aber seine Gondel kämpfte sich wacker durch den Aufruhr, dass das Geleite kaum folgen konnte. Als von der Toteninsel der Rauch emporstieg, der sein Vergängliches mit hinwegnahm, 252 da hörte der Regen auf, die Wolken teilten sich und die Sonne glänzte.

 

(Geschrieben im März 1905.)

 


 


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