Isolde Kurz
Der Despot
Isolde Kurz

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Als wir zusammen im Berninagebiet wanderten, kamen noch einmal Götterstunden unserer Freundschaft. Der Sohn der Mark war in der Tat einer der ersten Bergsteiger geworden, es war eine Lust, ihn gemsenartig springen und klettern oder pfeilgeschwind über Eishänge niederschießen zu sehen. Und doch – wie oft mußte er in seiner Zerrissenheit das Leben, das ihm in den hohen Schaffensstunden so kostbar war, geflissentlich aufs Spiel gesetzt haben, bis er diese Sicherheit gewann, die einem nur zum Sportsmann Geborenen Ehre gemacht hätte. Ohne Zaudern vertraute ich mein Leben, das ja erst jetzt Sinn und Wert erlangt hatte, seiner 164 Erfahrung an, wenn auch die Begegnenden, die uns führerlos ausziehn sahen, die Köpfe schüttelten.

Wir machten mit Kleinem den Anfang, da ich gänzlich außer Übung war. Von der Alp Grüm und Sassal Mason sahen wir entzückten Blicks dem Lauf des Puschlav nach ins Land Italien hinunter, wo die Veltliner Alpen, schön gewölbt und flimmernd wie eine Diamantenkrone, den fernen Hintergrund schlossen.

Wer da hinunter dürfte, sagte Gustav sehnsüchtig. So gut wollte es mir niemals werden. Aber es wird noch, es wird! Laß nur erst den Alexander fertig sein, dann schenke ich mir und Selma vier Wochen Sonne und Jugend.

Unerschöpfliche Gabe der Selbsttäuschung, was wäre das Leben ohne dich! Auch ich ließ mich wieder einmal vom Fluge seiner Phantasie fortreißen und glaubte mit ihm an das nahe Gelingen des großen Wurfes.

Mit schöner Treue sprach er noch einmal von den gemeinsamen Jugendtagen und von seinem unvergessenen Olaf Hansen. Er hielt ihm eine Gedächtnisrede wie damals am offenen Grab.

Ein schöneres Wesen, sagte er, ist der Natur nie gelungen. Er holte das Glück aus seinem eigenen Inneren und teilte es aus. Er bedurfte nichts, er hatte nur immer zu geben, ob es die kleinen Ersparnisse seiner Westentasche oder die großen Schätze seiner Seele waren. Ihn machte der bloße Wechsel von Tag und Nacht, der ihn auf seiner Welle mittrug, froh und dankbar, er hat ihn ergreifend besungen. Ein Blick aus den dunklen Augen Adeles versetzte ihn unter die Götter. – Die alten Inder erzählten, im ersten, dem Goldenen Weltalter seien die Menschen so fromm gewesen, daß sie gar keine Religion kannten: sie waren 165 eins mit dem Göttlichen. Erst nach ihrem Abfall, als sie in Not und Elend wieder zur Gottheit zurückverlangten, da begannen sie Tempel zu bauen und Opfer darzubringen. So wie jene Frühen war Olaf. Er ging nie zur Kirche, er trug unbewußt die Kirche in sich, er selbst war dauernder Gottesdienst, aufdampfender Weihrauch dem großen Unsichtbaren. Wenn er noch lebte, ich glaube, ich wäre ein harmonischerer Mensch geworden.

Gustav, sagte ich bedeutsam, du hast ein Wesen neben dir, das an unbefangener Nahrhaftigkeit nicht hinter Olaf zurücksteht.

Ja, naturhaft ist sie, antwortete er nach denklich. Vielleicht zu sehr. Könnte sie sich nach Frau Angela modeln, an der sie sieht, wie sehr man Natur bleiben und doch verfeinertes Seelenwesen werden kann. Ich wollte, die beiden Frauen hätten sich früher gekannt. Aber du hast recht: Selma hätte einen besseren Mann verdient. Gott helfe ihr, ich kann ihr nicht helfen.

Ich rechnete es ihm hoch an, daß er die schwerste Last seines Lebens ganz allein trug, ohne seiner Schicksalsgenossin ihren Anteil aufzubürden. Er ließ mich versprechen, ihr die Ereignisse von St. Hubert, soweit es an mir liege, für immer zu verheimlichen, auch über seinen Tod hinaus, für den Fall, daß sie, wie er annahm, ihn überleben würde.

Sie könnte sich sonst mitschuldig fühlen, weil sie durch ihr Verschweigen den ersten Anlaß zu meiner Entscheidung gab, und das soll sie nicht. Ich trage allein die Verantwortung, wie ich allein gewählt und beschlossen habe.

Vielleicht wirkte der männliche Hochmut mit, daß er der schwachen Frau keinen Teil an einem so schwerwiegenden Entschlusse 166 zuerkennen mochte. Aber dieses Schweigen im täglichen Zusammenleben durch Jahre fortzusetzen, erforderte eine schonende Selbstüberwindung, die in meinen Augen viel von dem, was er an Selma verbrach, gutmachte. Freilich wurde das Geheimnis, das zwischen ihnen lag, auch Ursache ihrer Entfremdung; es scheint, daß eine seltsame, fast körperliche Abstoßung ihn von der Frau entfernt hielt, die ahnungslos, welch grauenhafte Folgen in der weiteren Verkettung aus ihrem ersten Tun erwachsen waren, an seiner Seite hinlebte.

Ein paar Tage später hielten wir auf dem Piz Palü unsere Mittagsrast. Es war ein herzerfrischender Aufstieg bei scharfer Luft über Gletschereis und harsche Schneehalden gewesen, aber oben brannte die Sonne mit südlicher Glut. Wir tafelten unter zerstreuten Felsblöcken. Da zeigte mir Gustav einen schwarzen Punkt in der Ferne, der näher kam und über unsere Häupter hinschoß: einen Königsadler.

So leben können, seufzte der Einsame, immer die weit offenen Augen an die Sonne geheftet, fern von den Giftdünsten der Niederung, fern, fern von der Kulturschande unseres heutigen Theaterlebens.

Ich schenkte ihm den Rest des mitgebrachten Weines in den Becher:

Dein Alexander lebe! Dein Adlersohn! Und dein Arminius kehre zurück, sein Adlerbruder! Deine beiden Adlersöhne, mögen sie dich emportragen für immer in die Balsamluft der Höhen.

Auf des Dichters sonnengebräunten Wangen und in seinen schönen, verdüsterten Augen ging der Glanz seiner noch so jungen Jahre wieder auf. Er hob seinen Becher:

167 Auf unsre Dioskurenfreundschaft! Möge sie niemals welken. Viel hat mir das Leben genommen, um vieles hat es mich getäuscht, aber dich hat es mir geschenkt und bewahrt, das ist nicht wenig.

Wir errichteten auf der höchsten Stelle einen Steinmann und gaben ihm unsere Besuchskarten zu hüten.

Auch eine Art von Unsterblichkeit, meinte der Dichter scherzend. Freilich auf beschränkte Dauer, wie es die Unsterblichkeit an sich hat.

Beim Abstieg über den Cambrena-Gletscher ereignete sich ein Zwischenfall, der leicht uns beiden das Leben kosten konnte. Wir gingen angeseilt und mußten scharf aufmerken, weil der Schnee von der Sonnenglut erweicht war und unter unseren Füßen abrutschte. Schon hatten wir den schlimmsten Teil des Weges hinter uns, als plötzlich ein großer bunter Schmetterling, der sich, Gott weiß wie, da herauf verirrt hatte, an mir vorüberflatterte – in solcher Höhe und mit der leuchtenden Farbenpracht in all dem Weiß eine wahre Wundererscheinung. Ich starrte ihm betroffen nach, glitt aus und kam ins Abrutschen, bis ich mit dem Fuß an etwas Hartes stieß, wobei ich eine heftige Sehnenzerrung erlitt.

Der jähe Ruck des Seiles riß auch den Freund, der mir folgte, ein Stück weit mit sich. Aber es gelang ihm einen Halt zu finden und das Seil um einen vorspringenden Stein zu schlingen. Dann schlug er unter mir mit Kraft den Pickel ein, daß mein gesunder Fuß eine Stütze fand, und zog mich zu einem kleinen Felsblock, der aus dem Eis ragte. Da saß ich und der Schmerz war so grausam, daß die Welt mit mir im Kreise ging. Er goß mir allen noch übrigen Kognak ein, weil ich am ganzen Körper zitterte, und 168 umwickelte den verletzten Fuß mit einer festen Binde. Währenddessen verdunkelte sich plötzlich der Himmel, die schon schrägstehende Sonne verschwand hinter einem weißlichen Schleier, und einzelne Schneeflocken fielen. Wenn das Wehen zunahm, wurden unsere gehauenen Tritte zugedeckt, und unter dem Neuschnee konnte der Abstieg auch für den Unverletzten bedenklich werden. Ich bat ihn mich da zu lassen, allein zu gehen und aus dem Tal Hilfe zu schicken.

Die hätte schwer dich zu finden in der frühen Dunkelheit, und bis zu ihrer Ankunft hättest du Zeit zu erfrieren, sagte er.

In der Tat hatte nun auch aufs neue ein scharfer Wind eingesetzt, der den frischen Schnee zum Teil in Glatteis verwandelte, und es wurde schneidend kalt. Aber ich wollte mich lieber der Strafe meiner Unachtsamkeit aussetzen, als den Freund jetzt eben im Hochflug seiner neuen Pläne und Hoffnungen möglicherweise mit mir ins Verderben ziehen.

Das wäre eine würdige Dioskurenfreundschaft, lächelte er. Begreifst du noch immer nicht, was du in meinem Leben bedeutest? Glaub' mir, ich weiß, wie meine Rechnung steht. Einen Freund gewinne ich mir nimmermehr und suche auch keinen, also muß ich mit dem, was ich habe, sparsam sein. Aber Feinde hoffe ich noch manche zu finden. Gott schenke mir deren recht viele, damit ich nicht länger brauche mein eigener Feind zu sein.

Es wehte stärker, und die wachsende Gefahr schien ihn nur heller und froher zu machen.

Und Frau Angela? Wie soll ich der unter die Augen treten, wenn ich dich hier verlasse? sagte er, als ich noch immer beharrte.

169 Da war ich geschlagen. Er preßte mir den umwickelten Fuß in den aufgeschnittenen Stiefel, und mit Gottes Hilfe erreichte ich teils bäuchlings rutschend, teils unter der Achsel gehalten und geschleppt, den Talgrund. Zum Glück kam man uns, durch unser Ausbleiben beunruhigt, mit Laternen entgegen und brachte mich mit vereinigten Kräften unter Dach. Als wir im Hospiz eintrafen, war es Nacht.

Gustav ging trotz der Ermüdung nicht zur Ruhe, er saß bis zum Morgen an meinem Bett, machte Umschläge mit Schneewasser und erwärmte mich durch heißen Tee. Ich hatte ihn für ungeeignet zu solchen Handreichungen gehalten und fand nun das Gegenteil. Die soldatische Erziehung zum Zugreifen und Ausdauern hatte sich segensreich erwiesen. Der sonst so Zerstreute, Gleichgültige war unermüdlich in kleinen Aufmerksamkeiten, die Erleichterung schafften, und erriet mit frauenhaftem Einfühlen alle meine Bedürfnisse.

Noch im Hospiz brachte er die Sterbeszene Alexanders zu Papier, wie sie ihm bruchstückweise während des Steigens aufgegangen war, und ließ mich nach seiner Art gleich daran teilhaben. Sie paßte in ihrer Großheit zu dem herzerweiternden Blick, der sich uns droben aufgetan hatte. Ich erinnere mich noch, daß dem sterbenden Welteroberer der tote Brahmane wieder erschien mit einem Häufchen Asche in der Hand, die ungesuchte Symbolik, die Goethe als ein Höchstes von der dramatischen Dichtung forderte.

Die Heimfahrt war kein Vergnügen für den schmerzenden Fuß, aber für die Freundschaft war sie ein Triumph: der Zerschundene führte einen Genesenden nach Hause. Die innere Verkrampfung 170 hatte sich gelöst und sogar das Gesicht von seiner maskenhaften Starrheit entbunden.

Allein die Dämonen, die Unheil wollten, waren inzwischen am Werke gewesen, und es ging wie mit einem rinnenden Sack, der, während man ihn auf einer Seite stopfen will, an der anderen aufbricht. Als wir in Zürich anlangten, rang Selma mit dem Tode.

Sie hatte am Abend nach unserer Abreise einen ihrer größten Siege gefeiert. Man gab ein heute vergessenes Rührstück französischer Mache, das damals alle Spießbürger der alten und neuen Welt entzückte. Nach dem Kunstwert fragte sie nicht, sie spielte sich selber. Ein leidenschaftlicher Ehezwist, eine Frau, die sich für den Gatten, der sie mißkennt, opfern will, mehr brauchte sie nicht, um ihr Unmittelbarstes und Eigenstes zu geben und in die Rolle eine innere Wahrheit zu legen, von der der Verfasser nichts wußte. Sie muß an diesem Abend hinreißend schön gewesen sein. Die Erregung des Spiels und des Triumphs gab ihr allen Jugendzauber wieder, veredelt und verfeinert durch einen Zug heimlichen Leides, der zum Stück zu gehören schien. In einem Zwischenakt, als Angela, die trotz der dürftigen Fabel tief ergriffen war, sie im Künstlerzimmer beglückwünschte, wurde ein wunderbares Blumengebinde hereingebracht mit einer Besuchskarte: Dr. Heinrich Sommer, Assistenzarzt an, ich weiß nicht mehr welcher Berliner Klinik.

Selma stieß einen Jubelruf aus: Mein alter Freund und Verehrer! Wie mich das freut! Warum zeigt er sich nicht selber?

Sie hatte noch nicht ausgesprochen, so schob sich ein blatternarbiges Gesicht zur Tür herein, und Angela, die dem Ausgang 171 zunächst stand, begrüßte ihren ehemaligen Vorgesetzten aus dem Lazarett La Gloriette.

Selma eilte ihm entgegen und schüttelte ihm mit voller Herzlichkeit beide Hände.

Ich komme gerade von der Bahn, sagte er, aber als ich an den Anschlagsäulen las, daß Sie heute abend auftreten, ging ich nur schnell in den Gasthof, um die Kleider zu wechseln und fuhr dann gleich hierher. Diesen Glücksfall hätte ich um alles in der Welt nicht versäumen mögen.

Selma spielte weiter und gab sich immer glühender und hinreißender aus. Die Gegenwart dieses Zeugen ihres Jugendglanzes entband alles verhaltene Lebensgefühl in ihr.

Herrlich, herrlich, sagte Sommer immer aufs neue zu Angela und fiel durch die Stärke seines Beifallklatschens allgemein auf. Nach jedem Aktschluß drängte er sich aufs neue an die Künstlerin heran.

Das geht über die Stuttgarter Tage, sagte er ihr. Sie haben die Selma überselmat. Ganz Berlin hat keine Künstlerin, die sich neben Sie stellen dürfte.

Selma strahlte. Die Bewunderung des alten Verehrers hob sie für einen Abend aus allem Leid ihrer Ehe hinaus, machte sie wieder jung und selig. Daß der Ankömmling mit keinem Wort nach ihrem Gatten fragte, muß ihr gar nicht aufgefallen sein.

Sommer wünschte nach Theaterschluß die Damen zum Abendbrot in ein bekanntes Weinhaus zu führen. Aber Angela kam zuvor, indem sie ihn und Selma zu sich in den Gasthof einlud. Beide nahmen mit Freuden an, und Selma wiegte sich den ganzen Abend entzückt in den gemeinsamen Erinnerungen an die 172 Glanzzeit ihrer Jugend, die Sommer vor ihr ausbreitete, an das liebe Schwabenland, wo man sie so warm gehalten hatte. Dann begleitete Sommer sie nach Hause.

Angela, die ein starkes Vorgefühl für nahende Ereignisse besaß, verbrachte die Nacht voll Unruhe, so gingen ihr in der Erinnerung die Blicke nach, mit denen ihr Gast jeder Bewegung der Künstlerin gefolgt war. Der persönliche Charakter dieses Mannes, den sie nur als pflichttreuen Arzt kennengelernt hatte, war ihr durch meine und Kunos Andeutungen verdächtig geworden. Wenn sie ihn auch keiner Niedertracht fähig hielt, so war ihr doch nicht wohl dabei, ihn unter vier Augen mit Selma zu wissen.

Diese hatte sich schon beim Abendessen, als von ihrer heutigen Rolle die Rede war, Andeutungen entschlüpfen lassen, die man auf ein gestörtes Eheverhältnis beziehen konnte, und Angela war nur immer bestrebt gewesen, den Sinn ihrer Worte ins Allgemeine umzudeuten und abzulenken. Auf dem Nachhauseweg mochte sie dann in ihrer hemmungslosen Art gegen den Mann, den sie für den ergebenen Freund ihres Gatten hielt, noch deutlicher geworden sein und er diese Offenherzigkeit für ein Entgegenkommen im Sinn seiner alten, längst begrabenen Wünsche und Hoffnungen genommen haben. Statt der beabsichtigten Weiterreise machte er ein Wiedersehen für den nächsten Tag aus, und Selmas Kindersinn ging mit Entzücken auf seinen Vorschlag einer Wagenfahrt am Seeufer mit anschließender Einkehr in einer beliebten Gaststätte draußen im Grünen ein. Vielleicht spielte ein gewisser heimlicher Trotz gegen Gustav, für den es keine Erholung als in Männergesellschaft gab, dabei mit, denn ich bin gewiß – und die tiefer blickende Angela war es gleichfalls –, daß die Ärmste 173 niemals eine Hinneigung für Sommer empfunden hat, sie ließ sich einfach vom Augenblick tragen.

Angela aber sorgte sich, ob Sommer nichts gegen Gustav im Schilde führe und ob er wirklich abgereist sei. Sie wollte gleich am Morgen zu Selma fahren, wurde aber durch den Besuch einer Jugendbekannten, die zufällig von ihrer Anwesenheit gehört hatte, aufgehalten. Als sie nach einem Gang mit diesem bei der Künstlerin vorsprach, hieß es, die gnädige Frau sei mit einem fremden Herrn weggefahren. Betreten kehrte sie in den Gasthof zurück und hörte dort, daß die zwei sie hatten abholen wollen; es war die Bedingung, an die Selma ihr Mitfahren geknüpft hatte. Da die dritte nicht zu haben war, konnte sie nicht mehr umkehren und setzte ihre Fahrt allein mit Sommer fort.

Was an dem unseligen Tage zwischen den Beiden vorging, hat man nie genau erfahren. Ohne Zweifel wollte er die einst auch von ihm umworbene Frau von dem Manne, der sie eingestandenermaßen nicht glücklich machte und den er auch nach seinem kurzen Sinn ihrer unwürdig hielt, losreißen und vorübergehend oder dauernd an sich ziehen. Selma widerstand, er wurde dringender, und da sie ihn empört in seine Schranken wies, muß er ihr in einem Ausbruch plötzlicher Roheit die Vorgänge aus dem Feldlazarett von Gravelotte ins Gesicht geworfen haben, die Gustav ihr verheimlichte. Möglich, daß er ihr sogar in seiner Wut mit einer Veröffentlichung drohte, die ihres Gatten bürgerliche Stellung vernichtet hätte. Das plötzliche Wegreißen dieses Schleiers und die Erkenntnis, wohin ihr Einfluß den immer noch leidenschaftlich geliebten Mann geführt hatte, muß tödlich gewirkt haben. Am späten Nachmittag fuhr ein Wagen im langsamsten Schritt 174 an Gustavs Hause vor, und eine fast leblose Gestalt wurde von Sommer und einem unterwegs angerufenen Arzt vorsichtig die Treppe hinaufgetragen. Eine Viertelstunde später gab der erstere beim Vorüberfahren an unserm Gasthof zwei eilig gekritzelte Zeilen ab:

Ihre Freundin, die schon lange leidend zu sein scheint, hat unterwegs einen Blutsturz erlitten. Begeben Sie sich schleunigst zu ihr. Ich mußte sie den Händen eines Kollegen überlassen, da meine Weiterreise unaufschieblich ist. Sagen Sie ihr, sobald sie zu hören fähig ist, daß ihrem Gatten von mir keine Gefahr droht.

Meine Frau fand Selma im Morphiumschlaf und ließ sich als helfender Engel an ihrem Bette nieder, von dem sie nur wich, um an das meinige zu eilen, nachdem Gustav mich im Gasthof abgeliefert hatte. Dort lag ich dann drei Wochen mit ausgestrecktem Fuß untätig, ohne den schwer bedrängten Freunden helfen zu können.

Mit dem Gesicht eines Verzweifelnden erschien Gustav an meinem Lager. Denn er liebte Selma doch, und mehr, als er selber gewußt hatte. Seit er in die Gefahr, sie zu verlieren, blickte, ging ihm auf, was er an ihr besaß und was er bisher vor seinem inneren Wühlen übersehen hatte. Diesmal klagte er auch nicht über die Dämonen, die sich aufs neue gegen sein Schaffen verschworen, er sprach nur von Selma. Täglich wenigstens einmal holte er Angela weg, weil die Kranke sich nach ihrer weichen Stimme und ihren linden Händen sehnte. Als sich nach langen vierzehn Tagen ihr Zustand zu bessern schien, und man daran denken konnte, sie in die mildere Luft des Genfer Sees zu bringen, fuhr er nach Montreux voraus, wo er vergeblich ein Unterkommen für die Kranke suchte. Ein 175 freundlicher Zufall führte ihm jedoch seinen alten Freund und Anhänger Dr. Ruhland in den Weg, der sich einer schwachen Lunge wegen am See aufhielt, und dieser fand ihm in dem gleichfalls windgeschützten kleinen La Tour de Peilz ein schönes sonniges Stockwerk unmittelbar am Wasser. Dorthin brachte er die Kranke in Gesellschaft einer geschulten Wärterin und der vertrauten Magd. Daß wir nachfolgen würden, sobald mein Fuß es gestattete, verstand sich von selbst und war schon bei Übernahme der Doppelwohnung vorgesehen. Die beiden Frauen trennten sich mit Leid, doch verlangte Selma in ihrer Schwäche nach keiner Aussprache mehr; nur die Botschaft Sommers hatte Angela ihr noch tröstend zugeflüstert.

Ehe er schied, brachte Gustav mir seinen »Befreier« in der neuen Fassung.

Du hast jetzt Zeit und Sammlung zum Lesen, sagte er ernst; lies und sage mir dann klar und offen, wie ich dich kenne, was du davon hältst. Dein Urteil soll mir ein Gottesurteil sein.

Ich las einen ganzen Tag und eine halbe Nacht, und als ich fertig war, las ich zum zweitenmal. Es war die alte, bezwingende Sprache, vielleicht in noch gesteigerter Kraft, es waren die Gestalten, an denen ich mich einmal berauscht hatte. Aber ein seltsames Dämmerlicht umschwankte sie, entkleidete sie ihrer Unmittelbarkeit und überzeugenden Nähe. Oder lag es an mir, daß ich, um soviel älter geworden, die erste jugendliche Begeisterung nicht mehr aufbringen konnte? Nein, es lag an der Sache. Zwar der Anfang war fast derselbe geblieben, und auch die »Varusschlacht« hatte noch viel von ihrer alten Größe, aber den dritten Teil, den Tod des Befreiers, konnte ich nur als völlig mißlungen 176 betrachten. Die Vorstellung, daß Arminius kein anderer als Siegfried sei, hatte gewiß etwas Bestechendes und war ja dem Dichter schon früher nahegetreten; jetzt wurde sie Anlaß, daß sich alles trübte und verwirrte. Die beiden ersten Teile standen noch im hellen Licht der Geschichte, der dritte verlor sich ins Mythisch-Mystische. Die erschlagene Alraune, Wotan und die Siegsgöttinnen waren in der »Varusschlacht« nur Mittel gewesen, die der von hellenisch-römischem Geist berührte Cheruskerfürst brauchte, um sein Volk aufzurütteln. Im dritten Teile spielten sie leibhaft herein. Der vernichtete Varus spukte in Gestalt des Drachen Fafner verwirrend herum. War's nicht, um ernstlich an dämonische Einflüsse zu glauben? Der Gedanke, aus dem das Unglück des Oheims geflossen war, sollte auch dem Neffen zum Verhängnis werden. Sein Werk hatte sich rächend gegen ihn selbst gewandt. Nicht seine Innenkraft hatte versagt, sie ging nur fehl, weil sie nicht mehr von der natürlichen Quelle gespeist war. Wie hatte er doch selbst einmal bei Molfetta im Hinblick auf die Griechen geurteilt? Große Dichtung, sagte er, ist nicht das Werk eines Eigenbrötlers, an der großen Dichtung schafft ein ganzes Volk. Jetzt war er losgerissen von seinem Volk, er büßte seine Entfremdung von Heimat und Leben. Das Schlimmste war, daß er, um einen Ausgleich zwischen den beiden verschiedenen Auffassungen des Cheruskers herzustellen, nachträglich die Varusschlacht im gleichen Sinne überarbeitet und damit das fertige Stück zwar auf geistreiche Weise, aber höchst verderblich entstellt hatte. Wohl lag auch noch in dieser abgeirrten Fassung reiches poetisches Gold ausgeschüttet, aber als Ganzes war das Werk eine Mißgeburt.

177 Als ich fertig war, gab ich, ohne irgendeine Meinung zu äußern, die Blätter an Angela, die keine geeichten Kunstmaße, aber ein sehr lebendiges, angeborenes Gefühl für poetische Werte besaß.

Sie las entzückt und hingerissen. Aber von Zeit zu Zeit ließ sie das Blatt mit einem »Das verstehe ich nicht« sinken. Als sie zu Ende war, blätterte sie zurück, wie ich es getan hatte, und sagte dann ganz bestürzt und verwirrt:

Aber das sind ja unmögliche Dinge.

Es waren in der Tat unmögliche Dinge. Und ich stand vor der Aufgabe, ihm das zu sagen, denn von mir erwartete er die Wahrheit! Der unglückliche Mann hing jetzt, wie ich vor wenigen Tagen auf dem Gletscherhang, zwischen Sein und Nichtsein. Und ich, statt zu tun, was er getan hatte, dem Freund einen Halt zu geben, ich sollte ihn hinunterstoßen! Es gibt keine Zeit in meinem Leben, wo ich mehr gelitten hätte als damals. Auch die schwersten Lagen hatten sonst immer noch das Gute, daß der Weg unweigerlich vorgezeichnet war. Hier standen zwei Wege offen, die beide ins Verderben führten. Welchen sollte ich gehen? Ich hatte Augenblicke, wo ich wünschte, er hätte mich in den weißen Abgrund rollen lassen.

Angela sagte: Wenn er so groß ist, wie ich ihn halte, wird er die Wahrheit hören können.

Das wird er freilich, entgegnete ich, aber wie wird sie auf ihn wirken, jetzt, in diesem traurigen Augenblick?

Und doch bleibt dir nichts andres übrig, da er sie von dir erwartet, meinte sie. Schweigen wäre schlimmer, und das Schlimmste: ihn auf dem Irrweg weitergehen zu lassen.

Tag und Nacht ging es in mir auf und ab: Was sage ich? Wie 178 sage ich's? Und sollte ich wirklich sprechen, da ihm ja doch nicht zu helfen war? Ich sah bereits auch die Alexandertragödie ahnend ins Uferlose zerrinnen. Der Brahmane auf dem Scheiterhaufen hatte mir's angetan. Sein Wiedererscheinen in Babylon, wie er dem fiebernden Alexander die Hand voll Asche hinreicht, schien mir ein echter Dichterfund. Aber würde es bei dieser Symbolik sein Bewenden haben? Was würde der alte Grübler bei der letzten Fassung von dem Urgegebenen übriglassen? Würde es überhaupt eine letzte Fassung geben oder würde man auch von diesem Werke sagen müssen: Alles fließt? Nie verstand ich besser den Spruch: Weniger ist mehr. Nur ein kleines an Selbstbeschränkung, an Zurückdämmen des Urfeuers, und es wären dauernde Werke geschaffen worden. Es war der alte Schaden des Zuviel, den er selber ehedem am deutschen Genius gerügt hatte. War da von der Aussprache irgendein Gewinn zu erwarten? Fühlte er nicht mit seinem feinen Kunstempfinden schon alles, was ich ihm sagen konnte, heimlich selbst?

Die Nachrichten aus La Tour flossen spärlich, und durch alle klang ein unausgesprochenes Schreckenswort. Nur zu Anfang mußte in den schmeichlerischen Sonnenlüften eine kurze Besserung eingetreten sein, die nicht von Bestand war. Die Kranke sehnte sich nach Angela. Die Ärmste besaß weder Mutter noch Schwester, und von den Kunstgenossinnen an der Bühne hatte sie sich immer ferngehalten, um in keine Händel hineingezogen zu werden. Was eine Frau der andern sein kann, das hatte sie erst jetzt erfahren.

Sei, was du heißest, schrieb sie an Angela, und komm zu deinem verlorenen Schwesterlein.

179 Zuweilen unterschrieb sie sich Perdita, ein Name, mit dem sie irgendeine nicht ausgesprochene Bedeutung verknüpfte.

In La Tour de Peilz holte Ruhland uns an dem kleinen Bahnhof ab. Auf die bange Frage nach Frau Selmas Befinden hob er die Schultern hoch und schwieg bedeutsam. Man konnte sehen, wie es ihn in der Kehle würgte. Sie war ihm ja, wie ich von ihr selber wußte, einmal sehr teuer gewesen.

Dann sagte er möglichst sachlich und trocken: Der Krankheitsherd breitet sich nach Ansicht des Arztes mit großer Geschwindigkeit aus.

Als ich nach dem Gatten fragte, ein neues Achselzucken:

Er will jetzt zuviel tun, wo er vorher zuwenig tat. Aber ich zweifle, ob er der Kranken damit eine Erquickung bereitet. Es wird gut sein, wenn jetzt ein Frauenauge über ihr wacht.

Es verhielt sich so, wie der alte Hausfreund fürchtete. Der unberechenbare Mann beängstete und bedrängte die hinsterbende Frau jetzt mit einem Übermaß von zärtlicher Sorge. Die erfahrene Wärterin, unter deren Walten das Rechte geschah, war zu einer erkrankten Angehörigen abgerufen worden, und ihre Nachfolgerin zeigte sich der schweren Aufgabe nicht gewachsen.

Wir richteten uns auf dem andern Flügel des Stockwerks ein, das durch eine große gemeinsame Glasveranda mit der Borckschen Wohnung zusammenhing. Hinter dieser Glaswand, die unmittelbar auf den See ging und die ganze Sonnenseite des Hauses einnahm, lag Selma und täuschte mit rosigen Wangen und glänzenden Augen dem ersten Blick eine erneute Jugend vor. Aber beim Aufrichten verriet sich ihre erschreckende Abmagerung. Blumen, die sie unmäßig liebte und deren sie nie genug sah, umgaben 180 sie in Überfülle fast wie eine Tote, denn Gustav willfahrte jetzt blindlings allen ihren Wünschen und konnte sich mit Aufmerksamkeiten gar nicht genug tun. Angela trug gleich die starkduftenden hinaus, öffnete das Fenster und übernahm in ihrer sanften Festigkeit die Leitung der Pflege.

Du hast gelesen? fragte mich Gustav scheu, als ich ihm nach dem Auspacken seine Blätter schweigend auf den Tisch legte. Wir sprechen darüber, mein Alter, sagte ich herzlich. Jetzt müssen die ersten Gedanken Selma gelten. Es scheint nicht zum besten bei ihr zu stehen.

Weiß Gott, daß es nicht gut steht, ich gebe mich keiner Täuschung hin, antwortete er. Wüßte ich nur, was den Anstoß zu diesem plötzlichen Zusammenbruch gegeben hat. Wir hatten ihm aus guten Gründen die Begegnung mit Sommer verheimlicht, und auch das Mädchen schwieg, von Angela in Pflicht genommen. Aber sein grübelnder Geist ahnte doch den Zusammenhang mit dem dunklen Geheimnis seines eigenen Schicksals. Er litt unsäglich, suchte gutzumachen, was er in all den Jahren an ihr versäumt und verbrochen hatte, und einen neuen Liebesfrühling über sie auszuschütten, unter dem die kranke Frau nur schneller verbrannte.

Das Seltsame war, daß Selma den Zurückgekehrten zwar mit Leidenschaft an sich zog, ihn aber nicht mehr deutlich kannte. Sie stand schon unter dem Einfluß des vielen gegen den Husten gereichten Morphiums. Ihr Bewußtsein, das die schreckliche, durch Sommer über sie gebrachte Enthüllung nicht lange ertrug, hatte die dunkle Last fallen lassen und ihr die Gestalt ihres Mannes in zwei Personen gespalten. Vor dem Namen Gustav zitterte sie 181 wie vor dem eines strengen Gebieters, gegen den sie sich irgendwie vergangen hätte, dagegen verspann sie sich in ein Liebesidyll mit einer Phantasiegeburt, worin die Gestalten verschiedener Bühnenhelden mit dem Jugendbild Gustavs, wie er ihr in Stuttgart zuerst begegnet war, verschmolzen. Diesen Traumgeliebten nannte sie mit dem im Fieberwahn gefundenen Namen Gulbert und umschlang ihn in der Gestalt ihres Gatten mit Inbrunst. Sobald sie aber sein gramgezeichnetes Gesicht erkannte, erschrak sie, entschuldigte sich wegen ihres Hustens und bat, sie in ein anderes Gelaß zu bringen, wo sie ihn nicht störe, sie brauche nicht den besten Raum im Hause; und ihre verängstete Demut traf ihn härter als jeder Vorwurf.

Angelas Erscheinen machte dieser beiderseitigen Verzehrung ein Ende, denn nun klammerte sich die Sterbende mit ihrer letzten Lebenshoffnung an sie. Dadurch gewann ich die Möglichkeit, den unglücklichen Mann zu langen Gängen wegzuholen, die ihm wohl taten, denn er hatte bis dahin den ganzen Tag in der Nähe der Kranken oder, wenn sie schlief, am Schreibtisch verbracht und sah jammernswürdig aus. Das aber war das einzige, was ich für ihn tun konnte. Das Wort, worauf er hoffte, das er mir so oft forschend aus den Augen zu lesen suchte, das Wort: Gelungen! Dein Werk ist gelungen! konnte ich nicht sprechen. Täglich nahm ich mir vor, mit ihm zu reden, und täglich verschob ich es angesichts der zunehmenden Verschlechterung im Befinden der Kranken und des Schweren, was ihm da bevorstand. Zuweilen schloß sich Ruhland als Dritter an, und ich war ihm dankbar, wenn er durch seine Dazwischenkunft den Verschub der Aussprache rechtfertigte. Öfter aber blieb dieser bei der Kranken 182 zurück, die ihn gleichfalls Gulbert nannte und ihm in Angelas Gegenwart zärtliche Dinge sagte; vielleicht war er ihr seinerzeit doch nicht so gleichgültig gewesen, wie sie sich damals den Anschein gab. Ja, der Name Gulbert mußte ihr unbewußt aus Gustav und Albert, wie jener mit dem Vornamen hieß, zusammengeronnen sein. Sie machte jetzt aus keiner Regung mehr ein Hehl und nannte alle Du, als würde vor der Nähe des Todes die ganze menschliche Komödie zunichte.

Als es dem Ende zuging, kam eine Unruhe und Wanderlust über sie, daß ihr Freund Ruhland ihr die schönsten Reisepläne entwerfen mußte. Sie lag unter ihrem Glasdach und sah unersättlich dem Spiel der Möwen zu, die zu Hunderten über dem blauen Spiegel auf und nieder schwebten, oder hing mit den Augen sehnsüchtig an den wunderbaren Linien der Savoyer Alpen drüben überm Wasser, deren herbstliche Hänge mit rot und golddurchwirkten Wäldern wie mit kostbaren Perserteppichen glühten und sich rötlich im Wasser spiegelten.

»Ach,« seufzte sie, »wer da oben stünde und den Fuß mit Götterschritten von Gipfel zu Gipfel setzen könnte. Wer genießt nur all die Herrlichkeit, wenn dem Menschen keine Flügelschuhe gegeben sind?«

So kam der letzte Sonnenuntergang, den wir mit ihr erlebten. Über dem niederen blauschwarzen Höhenzug des Jura lag eine Schicht von roten Feuerwolken, die nach oben in glühendes Rotgelb übergingen und allmählich, immer leichter und zarter werdend, mit dem abendlichen Himmel verschwammen. Das Wasser brannte weithin im Widerschein der Glorie, und als seltsame Lichterscheinung standen darüber drei hohe Feuersäulen im Westen, während der südliche Teil des Sees mit den Savoyer und Walliser Bergen 183 schon wie erstarrt unter einer blassen Mondsichel ruhte, die eine zitternde Brücke über den Spiegel schwang.

Selma konnte sich trotz ihrer Schwäche an dem seenhaften Anblick nicht sättigen. Zuletzt ging die Beleuchtung in ein tiefes Violett von unsagbarer Erhabenheit über, als stiege ein stummes Requiem aus dem Wasser auf. Et lux aerterna luceat eis, sang es aus der schwärzlichen Tiefe. Aber die scheidende Seele gehörte noch der Erde an. Denn jetzt kam durch die Flut, die einer dunklen gediegenen Metallplatte glich, das Dampfschiff mit seinen roten, weißen und grünen Lichtern wie ein schwimmendes Zauberschloß heran, vom Wasser zurückgespiegelt, und die Kranke fuhr in ihren Polstern empor.

Das Glücksschiff! rief sie. Endlich kommt es! Endlich bringt es Ihn!

Gleich darauf ging die Klingel, Ruhland erschien, und als er sich niederbeugte, um ihre Hand zu küssen, warf sie mit einer Plötzlichkeit, die an ihre größten Augenblicke auf der Bühne erinnerte, beide Arme um seinen Hals und jubelte mit fliegendem Atem: Gulbert! Gulbert!

Der Ankömmling wollte sich mit einem bestürzten Blick auf Gustav der Umklammerung entziehen, aber dieser winkte ihm, der Kranken zu willfahren, und entglitt leise in die Dämmerung. Wer kann ermessen, was es den stolzen Mann kostete, die Seele zu sehen, die demütig nur für ihn gelebt hatte und die sich jetzt im Sterben seiner reuigen Liebe entzog! Der Freund ihrer Traumwahl kniete neben dem Ruhebett mit ihren Armen um seinen Nacken und ihrem Mund auf dem seinigen, bis ein gewaltsamer Hustenanfall dem quälenden Auftritt ein Ende machte.

184 In dieser Nacht entschlummerte Selma unter der Wirkung des Schlaftrunks, um nicht mehr zu erwachen. Aber sie atmete noch weiter bis zum Abend und lächelte immerzu wie im Bann des schönsten Traums. Einer ihrer letzten Wünsche war gewesen, an »Gulberts« Arm im Wald spazierenzugehen. Da hatte Angela ihr frisches Moos unter die Füße geschoben und ein Fläschchen mit Tannennadelduft über ihr Kissen ausgegossen. Daraus mochten ihr beglückende Bilder einer seligen Wanderung zu zweien durch die Lande der Jugend aufgestiegen sein.

Ihr Begräbnis enthüllte erst ganz, in wie weiten Kreisen die Tote geliebt und gefeiert war. Alle Bühnen, wo man sie in Gastrollen gekannt hatte, sandten Blumen und Kränze mit prunkvollen Schleifen und Ruhmesworten. Lange Zeitungsspalten rühmten die unvergleichliche Selma Hanusch. Von der letzten Stätte ihrer Wirksamkeit war ein eigener Vertreter erschienen und feierte die hinreißende Künstlerin, die edle, immer wohlwollende und hilfsbereite Kunstgenossin über ihrem mit Lorbeer zugeschütteten Sarg. Daneben stand der große, der schöpferische Künstler, den nicht ein Blättchen Lorbeer hatte krönen wollen; denn für einen solchen hielt und halte ich ihn noch, wenn auch Schicksal und eigene Führung ihn den Weg zur Vollendung nicht finden ließen. Unaussprechliches mochte bei der Feier in ihm vorgehen. Er redete kein Wort, und die Trauergäste verabschiedeten sich von ihm mit kurzem, stummem Händedruck.

Wir gingen alle drei früh zur Ruhe. Angela war erschöpft von der langen Pflege und den Erregungen, ich hatte alle Gänge und Besorgungen, die mit einem solchen Ereignis und gar auf fremdem Boden, zusammenhängen, übernommen und war gleichfalls 185 todmüde. Gustav sah wie zerschlagen aus und sagte, er wolle lange und fest schlafen. So trennten wir uns.

In der Nacht im Halbschlaf hörte ich einmal die Verandatür, die in mein Zimmer führte, knarren, und es schien mir im matten Sternenschein, als beugte sich Gustavs Gesicht über mein Lager, aber ich war nicht imstande den Schlaf abzuschütteln und glaubte im Erwachen mich getäuscht zu haben. Da jeder der beiden Wohnungsflügel seinen eigenen Ausgang besaß und das Mädchen aus Scheu vor der Nähe des Sterbezimmers jetzt auf unserer Seite schlief, hatte niemand bemerkt, daß Gustav bei Tagesanbruch leise weggegangen war.

In seinem Zimmer stand das Lager unberührt und die Lampe niedergebrannt: ein geschlossener Brief ohne Aufschrift, der an niemand als an mich gerichtet sein konnte, lag auf dem Schreibtisch. Ich las:

Harry, du schläfst, nach all den Mühen, die du noch für mich hattest. Morgen früh, wenn du erwachst, ist dein Freund hinweggegangen.

Dein Schweigen hat mir den Stab gebrochen, lieber Harry, aber quäle dich um dessentwillen nicht. Du konntest keine fromme Lüge sagen, es wäre deiner und meiner unwürdig gewesen, und eben darum habe ich dich zum Richter gewählt. Mein Innerstes hatte selber schon das Urteil gesprochen, und nur wie auf ein Wunder hoffte ich noch, ich Tor, auf das Wort des Heils: Du hast gesiegt. – Nein, ich habe nicht gesiegt, und das Feuer hat schon vor Tagen die Mißgeburt verzehrt. Selma hatte mir's offen gesagt, daß das Gedicht in seiner früheren Fassung besser war. Ich grollte ihr darob, unterschätzte ihre Urteilskraft und fühlte 186 doch, daß sie recht hatte. Aber noch wollte ich mich nicht ergeben, ich wollte weiterringen nach neuen Zielen, da streckte der Gott mir seinen Speer entgegen.

Vielleicht ist Frauenliebe das Schönste auf der Erde. Aber sie müßte der Preis des Siegers sein. Was nützt die Krone dem, der sie sich selber absprechen muß? Wenn doch die Frauen das verstehen wollten: dem, der Großes will und es nicht erreichen kann, ist die Liebe nichts nütze. Sie wird ihm nur zur Qual und er rächt sich dafür. Die inneren Hemmungen, woran er krankt, machen einen bösen Geist aus ihm. Dann kommen die Frauen und wollen mit Balsam heilen, was nur das Eisen heilt.

Der starre alte Mann in seinem Soldatengrab ist Sieger geblieben. Ich bin der Überwundene und werde das stumme Wort nicht brechen, das ich ihm im Jahre Siebzig gab. Dann werden mir wohl auch meine ehemaligen Kameraden glauben, daß es damals nicht das Stückchen Blei war, was ich fürchtete.

Der Morgen bricht an und im Kamin kräuselt sich und verglimmt das letzte beschriebene Blatt. Das Häufchen Ruß, was du dort findest, war der Alexander. Der Brahmane mit seiner Handvoll Asche ist auch bei mir gewesen und hat mich letzte Weisheit gelehrt.

Legt mich nicht zu Selma, ich könnte sie im Grab noch drücken. Ihr ist wohler ohne mich. Nicht weit von ihr ist noch ein Platz frei, wo ich bei der Feier stand. Dort laßt mich allein sein, wie ich es im Leben war, aber in ihrer Nähe. Das schmale Plätzchen hat Raum, um alles Wollen und Streben des Erdballs darin unterzubringen. Daß die Welt mich vergesse, ist das einzige, was ich von ihr erhoffe. Aber in dir und noch einem werde ich ein 187 Weilchen weiterleben, bis auch eure Stunde schlägt. Lebe wohl! Lebt wohl!

– – Als ich aus dem Hause stürzte, um den Verschwundenen zu suchen, prallte ich gegen einen Mann im Überrock mit umgehängter Reisetasche, der eben hastig die Klingel zog – Kuno!

Seine ersten Worte waren: Wo ist Gustav?

Zu spät! Ich wußte es, ich komme zu spät, stieß er hervor, als er mehr aus meinen Gebärden als aus meinen Worten verstand, was vorging. Er warf seine Reisetasche in den Flur und folgte mir in Eile nach. Seltsamerweise kam er nicht wegen Selmas Tod, von dem er noch nichts wußte: eine plötzliche wilde Angst um Gustav hatte ihn aufgejagt und gezwungen, Tag und Nacht zu reisen.

Unterwegs begegneten wir Ruhland, den gleichfalls ein Vorgefühl hertrieb. Dieser übernahm es, auf dem Friedhof zu suchen. Ich wußte schon, dort war er nicht, das letzte Wort auf Erden konnte der Dichter nur tief allein mit seinem Genius gesprochen haben.

Auf einer hochgelegenen Stelle, abseits vom Wege, wo ein paar mächtige Platanen zu einem Hain zusammentraten, stand eine Parkbank mit dem Blick auf den See. Dort pflegte der Dichter, wenn der Geist ihn trieb, zu sitzen und in sein Taschenbuch zu schreiben. Auch heute saß er dort – in sich zusammengesunken und mit einem Arm über der Seitenlehne hängend, die ihn am Niedergleiten hinderte. Die alte Familienpistole lag neben ihm am Boden. Sie hatte gute Arbeit gemacht: Stellung und Gesichtsausdruck des Toten zeigten, daß das Ende leicht und rasch gewesen war.

188 Trotz der frühen Stunde waren wir nicht die Ersten, die ihn fanden. Eine Wache war schon bei ihm aufgestellt, um zu verhindern, daß jemand ihn berühre, ehe das Gericht zur Stelle sei, und eine Anzahl Menschen stand gaffend in der Nähe.

Die Wache wollte uns das Herantreten verwehren, aber mit einem Sprung war Kuno bei dem Toten und rief außer sich:

Gustav! Gustav! Was hast du getan! Ich kann dir nicht mehr helfen, ich kam zu spät, um zu retten. Du hast dein Gewand weggeworfen, bevor drüben das neue für dich gewebt war. Was soll nun aus dir werden?

Verzweifelt sah er sich nach allen Seiten wie nach einem unsichtbaren Retter um:

Ihr guten Geister, die ihr zum Schutz für die Unglücklichen da seid, laßt ihn nicht nackt und frierend umherirren. Deckt ihn mit euren Fittichen, haltet ihn an eurem Brustflaum warm, bis er wieder hat, worein er sich hülle.

Achtlos auf die Umherstehenden, sprach er bald auf den Entseelten ein, als ob dieser ihn noch verstehen könne, bald zu den Überirdischen, deren Beistand er ihn empfahl.

Die Gaffer, soweit sie die deutsche Sprache verstanden, wurden von Scheu und Schauder erfaßt und bekannten später, daß sie sich gefürchtet hätten.

Die ganzen Tage, die der Tote noch über der Erde verbrachte, war Kuno wie von Sinnen. Er klagte sich aufs bitterste an, daß er zu langsam gewesen sei, die Seele, der er sich zugeschworen hatte, vor ihrem schwersten Mißgriff zu bewahren. Die Not des Freundes, die für uns andere beschlossen war, für ihn begann sie mit seinem Ende.

189 Bevor der Sarg zugenagelt wurde, kniete er noch einmal bei dem Toten nieder und blickte lange in das entseelte Angesicht, das einen Ausdruck leidvoller Erhabenheit trug. Dann beugte er sich zu seinem Ohr herab, und man hörte ihn dumpf und eindringlich sagen:

Wiederkehren! Besser machen!

Die Blumen auf Selmas Hügel waren noch nicht verwelkt, als wir den ungleichen Schicksalsgefährten neben ihr zur Ruhe brachten. Nur wenige schlechte Freundeskränze schmückten den Dichtersarg. Zuletzt kam ein Knabe und legte einen vollen schweren Lorbeerkranz nieder, dessen weiße Schleife die überraschende Aufschrift zeigte: Von Olaf Hansen. Kuno sah mich durchdringend an, aber das Rätsel löste sich auf natürliche Weise. Angela hatte das Goldstück, das ich noch immer mit einem von Olafs Hand beschriebenen Blättchen bei mir trug, aus meiner Brieftasche genommen und es gemäß dem Wunsch des Längstverblichenen in die ernste Huldigung für den Größten unseres Jugendkreises verwandelt.

Bevor wir abreisten, schüttete ich die verkohlten Papierreste, die wir in Gustavs Kamin zusammenkehrten, in den See, damit nicht die Asche seiner Kinder im Straßenkehricht ende. Die Urschrift des »Befreiers« ist, soviel Kuno Schütte danach fahndete, niemals wieder zum Vorschein gekommen.

Als ich nach Jahren allein und von dem Engel meines Lebens durch das Grab geschieden, zum erstenmal die Stelle wieder betrat, da fand ich sie durch den einfachen liegenden Stein bezeichnet, den unterdessen dichtes Efeugeschling umwuchert hat.

190 Kein Name stand darauf. Nur die seltsam ergreifende Inschrift:

Lasset die Toten ruh'n!
Vergebung sei ihr schützendes Bahrtuch,
Und drüber schweige die große Stille.

Wer den Stein gesetzt und den Spruch verfaßt hat, konnte ich nicht erfahren.

 


 


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