Isolde Kurz
Der Despot
Isolde Kurz

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Erinnern Sie sich, liebe Freundin, wie Sie vor Zeiten einmal mit dem Schreiber dieser Blätter das kleine Friedhöfchen von La Tour de Peilz am Genfer See besuchten? – Die ersten Vogelstimmen waren in der Luft, und die Bäume zeichneten ihr zartes Geästel noch laublos, aber schon mit verdickten, drängenden Knötchen wie mit abertausend Perlen in den tiefblauen Äther. Sie sprachen nur die zwei Worte: Heiliges Leben! Dann aber blickten Sie mich fragend an, weil ich vor einem namenlosen Grabstein mit befremdender Inschrift stehen blieb. Und Ihr alter Freund versprach, Ihnen von dem Schläfer zu erzählen, dessen Ruhe diese Grabschrift hütet. Ein Menschenalter verging, bevor er dazu die Muße fand. Jetzt, da er sich selber anschickt, in den dunklen Nachen zu steigen, sendet er Ihnen diese Blätter. Verfahren Sie damit nach Ihrem Ermessen: streichen Sie, kürzen Sie nach Bedarf, lassen Sie Jahre, Jahrzehnte vergehen, lassen Sie die ganze Welt sich wandeln; jener Tote hat Zeit zu warten. Nur einmal noch soll er im Glanz der Jugendtage wieder aufstehen, ehe die einst so verheißungsvollen Züge für immer verlöschen.

Kann sein, es lebt noch da und dort einer, der ihn gekannt und geliebt und dann verurteilt hat. Kann sein, es sind noch irgendwo Spuren seines Werkes erhalten. Dann findet er vielleicht spät noch das Verstehen und die Lossprechung, die dem Lebenden versagt waren.

Sein Freund und der Ihre

Ewers.

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