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An der Hudson-Bai.

»Hast Du noch einen Piaster, Napoléon?«

»Keinen verfluchten Cent mehr, Charlemagne!«

Ich drehte mich um.

Da standen sie hinter mir an der Ecke der Market- und Mainstreet in Winnipeg, zwei hohe, kraftvolle Gestalten, hager und braungebrannt, angetan mit der nationalen Capote, dem langen Rock aus hausgesponnener Wolle, um die Hüften den roten Schal, der den perlengestickten Firebag, den Beutel mit Pfeife, Tabak, Feuerstein und Stahl trägt, die mächtigen Beine in fransengeschmückten Leggins, an den Füßen feingegerbte Mokassins aus Elchhaut – franko-kanadische Voyageurs Voyageurs – wörtlich Reisende, so nennen sich die franko-kanadischen Waldläufer..

Natürlich waren sie ohne Geld, denn sie hatten jetzt im Mai, knapp vor Beginn der Fahrt nach dem hohen Norden, ihren Vorschuß, den sie während des Winters von der Hudson-Bay Co. Hudson-Bay Co. – Pelzhandelsgesellschaft, die bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts die Herrscherrechte über das ganze nordwestliche Kanada hatte. erhalten hatten, aufgezehrt.

Ich nickte den beiden Braven zu. Ich hatte lange unter ihren Volksgenossen im Osten Kanadas gelebt und manche Fahrt im Kanoe am Matawin, Abitibi und Nomining Matawin, Abitibi und Nomining – Flüsse in Ostkanada, Provinz Quebec. mit diesen prächtigen Normannen mitgemacht.

Karl der Große blinzelte mich schnuppernd an:

»Pardon, Monsieur, das ist Tabak aus Quebec, den Sie rauchen?«

»Es wird mir eine Freude sein, Ihnen eine Pfeife voll anzubieten.«

»Sie sind ein Lord – was meinst du, Kamerad?«

Napoléon spuckte in weitem Bogen über die Straße:

»Ist ein warmer Tag heute!«

Ich verstand:

»Darf ich die Herren einladen, mit mir ein Glas zu trinken?«

Napoléon wandte sich sofort nach links:

»Dort, beim Père Frigon –« und zwei Minuten später saß ich mit den beiden kaiserlichen Herren in einer kleinen Schänke.

Mit der ganzen Grazie seines Volkes hob Karl der Große sein Glas gegen mich: »A la Vôtre, Monsieur – Ihr Wohl!« Und Napoléon konstatierte: »Sie sind ein braver Mann, der zwei ehrlichen Christen auch etwas Gutes vergönnt.«

Nach der fünften Runde vertrauten sie mir an, daß sie zur Partie des berühmten Guide Guide – Führer, offizielle Bezeichnung für die Führer der Expeditionen, die die Hudson-Bay Co. zur Abholung der in ihren Stationen angesammelten Pelzvorräte und zur Verproviantierung dieser Stationen ausrüstet. Joe Sanderson gehörten, die in drei Tagen von Gimli am Winnipegsee aus hinauf an die Hudsonbai gehe; nach der achten Runde waren wir die besten Freunde, und spät abends, als die Kumpanei bereits sich in glänzender Stimmung befand, schwuren die beiden die fürchterlichsten Eide, daß sie ohne mich nicht fahren würden.

Als ich in meinem Zimmer war, wurde ich nachdenklich. Zu suchen hatte ich in Winnipeg nichts mehr. Nach Vancouver, wohin ich wollte, konnte ich im Spätherbst auch noch hin; in den hohen Norden, mitten hinein in die unberührte Wildnis wieder zu kommen, war schon lange mein sehnlichster Wunsch; eine solche Gelegenheit findet sich nicht oft – am nächsten Tage um zehn Uhr stand ich im Bureau der Hudson-Bay Co. und ließ mich beim Manager melden. Der schüttelte zuerst den Kopf:

»Ausgeschlossen, Sir – denken Sie doch – zehn Boote zu fünf Mann jedes – und die Lasten – wie stellen Sie sich das vor? Auf Passagiere sind wir auf dieser Route nicht eingerichtet – übrigens –«, er rief einen Boy – »ist Mr. Sanderson im Haus? Ja? Er soll sofort zu mir kommen – Halloh, Mr. Sanderson, dieser Gentleman möchte mit Ihnen hinauf nach Fort Churchill Fort Churchill – große Niederlassung an der Hudsonbai, wunderbares Klima, wo noch Weizen gedeiht. – das geht doch nicht, was?«

Sanderson, ein schottischer Hüne, musterte mich von Kopf bis zu den Zehen.

»Sie sind der, Sir, der gestern Abend mit Napoleon Simard und Charlemagne Goulet gekneipt hat?«

Ich bejahte.

»Canayen?« Er meinte, ob ich Kanadier französischer Abstammung sei.

»Nein – Europäer.«

Er ging um mich herum und taxierte mich, wie ein Vaquero einen Mustang. Dann blieb er überlegend stehen.

Der Direktor wurde ungeduldig.

»Habe ich nicht Recht? Pullmancars verkehren ja doch noch nicht da hinauf.«

Sanderson sah mir gerade in die Augen:

»Ihre Verpflegung bringen Sie mit – Zelt – kurz alles, was nötig ist.«

Ich bejahte.

Sanderson wandte sich ruhig an seinen Chef:

»Denke, er ist all right, Mr. Mc Millan – er wird es aushalten.«

Der Direktor stand auf:

»Wenn Sie meinen – ich möchte Ihnen gerne gefällig sein, Sir – also fahren Sie in Gottes Namen – aber Sie geben mir einen Revers, daß Sie keine Ansprüche an die Gesellschaft stellen, wenn Ihnen etwas geschieht.«

Sanderson saß an einem kleinen Tisch und schrieb. Dann gab er mir einen eng beschriebenen Bogen:

»Besorgen Sie das, was hier steht. Auf Wiedersehen in Gimli. Mich finden Sie im Posten der Company. Good bye, gentlemen!« –

Ich habe mir bei meinen Fahrten über die ganze Welt ein ganz nettes Repertoire guter, gangbarer Flüche angeeignet – ich muß aber gestehen, daß mir meine Kenntnisse direkt stümperhaft vorkamen, als ich das wirkungsvolle Konzert beim Start der Expedition hörte. Es war aber auch eine Arbeit, die zu leisten war! Die Pakete, zu hundert Pfund jedes, Lebensmittel, Konserven, Stoffe, Tücher, Messer, Glasperlen – alles Gegenstände, die dem Tauschhandel der nördlichsten Posten der Hudson-Bay Co. dienen sollten – dazu noch die Ausrüstung der Mitfahrer, Tepees, die landesüblichen Indianerzelte, ungeheure Mengen von Pamekan (Dörrfleisch), Tee, Säcke mit Maismehl für die Tortillas, den Brotersatz, und ein Fäßchen Rum für etwaige Leichterkrankte – das alles wurde unter ungeheurem Lärm in die Boote kunstvoll verstaut, um das Gleichgewicht der leichten Kanoes nicht zu stören – und so an die sechzig Männer in allen Lebensaltern, erfahrene Waldläufer und junge Burschen, die ihre erste große Reise machten – alle diese Pierre, Louis, Baptiste und Antoine, die Avila, Caesar, Polycarpe und Eustache – sie alle schrien, brüllten und wetterten und fluchten, Milliarden von Donnerwettern wurden vom blauen Himmel heruntergewünscht, es war ein Hexensabbat in durchaus männlicher Aufmachung. – Meine beiden kaiserlichen Freunde, Napoléon und Charlemagne, erwarteten mich und führten mich im Triumph zum Posten, wo ich verabredetermaßen Sanderson traf. Sie erbaten sich das Vergnügen, mich in ihrem Boot unterbringen zu dürfen – und bald war mein Gepäck verstaut.

Die ganze Bevölkerung war am Strande versammelt, wo die leichten Boote bepackt auf den weißen Sand hinaufgezogen lagen.

Endlich erschien Sanderson und gab das Zeichen zur Abfahrt. Aber bevor die Boote ins Wasser gestoßen wurden, entblößte alles das Haupt und ein alter Waldläufer, dessen schneeweißes Haar in zwei Zöpfen lang über seine Schulter hing, fing an: Vater unser, der Du bist im Himmel –

Dann ein unbeschreiblicher Wirbel – ein Ruck – und wir waren flott.

Und als die Paddel ins Wasser getaucht wurden, ertönte es mächtig aus sechzig rauhen Kehlen – das alte Trutzlied der Väter: O Canada, terre de nos ayeux! O Kanada, du Land unserer Ahnen! –

Vorwärts ging es, rasch vorwärts, gesprochen wurde wenig, den ganzen Tag über flogen wir über die blinkende Wasserfläche, bis wir am Abend an einer kleinen Insel haltmachten.

Die Boote wurden auf den Sand gezogen, die Zelte aufgerichtet, Feuer gemacht, Dörrfleisch und Tee gekocht, Tortillas geröstet, dann die Pfeife gestopft, geraucht, geplauscht, gesungen und gestritten. Bald aber forderte die Müdigkeit der Leute, die den Tag über hart gearbeitet hatten, ihr Recht; alles kroch in die Zelte und schlief ein.

Ohne weitere Zwischenfälle ging die Fahrt vorwärts. Wir hatten Jagdglück, Hirsche gab es genug, der See lieferte prächtige Fische, wir lebten gut, waren lustig und guter Dinge – und ich entdeckte wieder einmal meinen wahren Beruf – Abenteuern.

Eines Tages war unser Boot das letzte geblieben. Karl der Große setzte oft aus, murmelte etwas, stand auf und war unruhig. Zwei- oder dreimal fluchte er. Mittag versagte er das Futter, trotzdem das Menü, Lachs und Hirschkeule, fürstlich war, nur bettelte er bei Sanderson um einen Becher Rum.

Nachmittag mußte er schon um vier Uhr an Land.

Sanderson schimpfte, weil die ganze Flotille aufgehalten war, aber Karl der Große ließ sich nicht bereden.

»Zum Teufel,« schrie er, »Ihr seht doch, daß mich das verdammte Fieber tanzen läßt wie einen Zauberer der Sioux!«

Abends verschlimmerte sich sein Zustand. Sanderson war besorgt.

»Wenn er die vierzig Meilen bis zum Behrens-River aushalten könnte – dort ist ein Posten, wo wir ein paar Tage bleiben, dort könnte ich auch einen Ersatzmann bekommen.«

Ich stand auf und holte aus meinem Packen meine kleine Hausapotheke, ohne die ich nie reise. Karl der Große mußte eine Handvoll Aspirintabletten schlucken.

Am nächsten Morgen kam er lachend und strahlend daher:

»Ich habe die Nacht über gut geschlafen – nur verteufelt geschwitzt – Sie sind ja ein richtiger Doktor – ja, ja, Ihr Europäer!«

Als ich aus meinem Zelt kam, grüßten die Männer beinahe ehrfurchtsvoll.

An einem Abend, als ich vor meinem Zelte lag, kam langsam und bedächtig der alte Pierre Beauharnois und setzte sich mir gegenüber.

»Gute Reise, Monsieur, seit vierzig Jahren gehe ich jeden Sommer da oben hinauf, so feines Wetter habe ich selten mitgemacht.«

Ich nickte und bot ihm Tabak an.

»Und so eine feine Gesellschaft – noch keine ernste Rauferei – und das Vergnügen, Sie bei uns zu haben!«

Ich horchte auf.

»Ich bin jetzt sechzig Jahre alt,« fuhr er fort, »und war nie krank – aber ich glaube, ich werde langsam alt.«

Ich erkundigte mich, was ihm fehle.

»Starke Kopfschmerzen habe ich heute – wollte Sie fragen, was ihr drüben im alten Lande darüber denkt.«

Ich gab ihm zwei Pillen Pyramidon.

»Schluckt das, Vater Beauharnois, mit einem Becher Wasser und legt Euch schlafen.«

Am nächsten Morgen drückte mir der Alte wortlos die Hand. Und wenn ich durch den Camp ging, standen sie auf, wenn ich vorbeikam.

Zwischen dem West-River und dem Cross-Lake hatte ich zwei Verstauchungen zu kurieren, auch einen bösen Schnitt zu verbinden. Es war allgemein Sitte geworden, zur abendlichen Ordination zu mir zu kommen. Da ich das harmlose Völkchen liebgewonnen hatte, machte es mir ehrliche Freude ihnen helfen zu können. Bei diesen Besprechungen konnte ich auch manchen tieferen Blick in das innere Leben dieser Waldläufer machen.

Endlich liefen wir York-Factory, das Ziel der Bootfahrt an. Hoch oben auf steilem Ufer lagen die Blockhäuser des Postens der Company und das kleine Fort der berittenen Polizeitruppe des kanadischen Nordwestens. Am hohen Maste flatterte der Union Jack Union Jack – die englische Nationalflagge mit den drei Kreuzen., und als ich über Einladung der Offiziere auf die Höhe des Forts kam, lag vor mir in blendendem Sonnenschein, unwahrscheinlich blau – die nordische See.

Napoléon und Charlemagne hatten für meinen Ruf gesorgt. Von allen Seiten, oft meilenweit her, kamen rothäutige Patienten, um den großen weißen Medizinmann zu konsultieren.

Eine brave Squaw hatte mir ihr Papoose gebracht. Was ihm fehlte und was ich dokterte, weiß ich nicht mehr – aber am nächsten Tage erschien ein junger Krieger der Cree-Indianer Cree-Indianer – großes Volk, das den ganzen Norden bewohnt. und brachte mir ein prachtvolles Wampum, einen muschel- und perlengestickten Medizinbeutel, wie ihn die jungen Männer nach der Mutprobe, der indianischen Konfirmation, als Amulet erhalten.

Als ich eines schönen Morgens aus der Hütte trat, die mir zum Aufenthalt diente, saß auf der Schwelle, unbeweglich wie aus Bronze, ein schöner alter Indianer. Sein Jagdhemd aus Hirschhaut wäre ein Prunkstück für jedes Museum gewesen. In seinem langen weißen Schopf steckten die Federn des Seeadlers, über den Knien lag eine schwere Büchse.

Sein Auge blitzte mich an, daß ich unwillkürlich den Schritt verhielt.

In den tiefen gutturalen Tönen seines Volkes redete mich der Alte in ziemlich fließendem Englisch an:

»Nichi-kun hat den Weg von den Zelten seines Volkes zum weißen Medizinmann genommen, um ihm eine Botschaft zu sagen.«

Ich beugte mich interessiert vor.

»Eine Botschaft? Wer hat mir etwas sagen zu lassen?«

Die Rothaut lehnte sich an den Türpfosten, schloß die Augen – und dann sang der Alte, wie die roten Männer immer singen, wenn sie Wichtiges zu sagen haben.

»Im Zelte Nichi-kuns, des Häuptlings aller Stämme um das kalte Wasser des Nordens, lebte Ata-wa-paska, die Freude seiner Augen. Siebzehn Sommer wandelt ihr Fuß über die Tundra, und ihr Antlitz ist wie die Sonne des Aufgangs, und ihre Augen glänzen wie die Sterne des mitternächtigen Himmels. Manitou, der große Geist, liebt sie und zeigt ihr Dinge, die anderen verborgen bleiben. Sie hat gehört vom weißen Medizinmann, der vom Süden kam und ein Freund des roten Mannes ist. Denn Ariwa, die Freundin ihrer Jugend, hat ihr Kind zu ihm gebracht und er hat diesem geholfen. Vor zwei Sonnen stand Ata-wa-paska vor dem Lager Nichi-kuns und sagte: Mein Vater möge sein bestes Kanoe nehmen und zwei starke junge Männer aussuchen, damit er pfeilschnell den Ort erreiche, den die Weißen York nennen. Der weiße Medizinmann ist krank und kann sich selbst nicht helfen. Mein Vater bringe ihn her, Ata-wa-paska wird ihn gesund machen. Ich habe gesprochen.«

Mit schlecht verhehltem Lächeln hörte ich diese Botschaft. Nichi-kun sah mich durchdringend an:

»Mein weißer Bruder lacht in seinem Herzen. Ata-wa-paska hat den Tod hinter ihm stehen gesehen – und ihre Rede ist immer wahr.«

Ich bückte mich und hob einen großen, schweren Stein vom Boden. Den schwang ich über die Schulter und warf ihn in weitem Bogen in die See.

»Sieh her, Häuptling, mein Arm ist stark, mein Schlaf ist tief und fest und mein Auge sieht das weiße Segel ganz draußen an der Kimmung – fahr heim und sag Ata-wa-paska, der Blume deines Zeltes, daß der weiße Mann gesund ist und stark wie der Bär der Wälder.«

Nichi-kun lehnte sich zurück, zog die Beine ans Kinn und sagte: »Nichi-kun wird warten.« –

An diesem Tage war es lebhaft in der Ansiedlung. Von allen Seiten kamen die Pelzjäger, brachten ihre Bündel Felle und entnahmen dem Warenhaus der Company Lebensmittel, Kleider und Munition für den kommenden Winter.

Ich war überall. Beim Auszählen und Sortieren der Felle, beim Schnüren und Packen, im Magazin und auf der Höhe.

Mittags beim Lunch in der Offiziersbaracke war alles heiter und guter Dinge, es war der elfte Juli, mein Geburtstag, und Leutnant Williamson, der Postenkommandant, hatte eine Flasche Claret Claret – englische Bezeichnung für alle roten Weine, besonders für Bordeaux. Weiße Weine werden »Hock« genannt, korrumpiert aus Hochheimer (Rheinweinsorte). geopfert.

Als die Gläser zusammenklangen und das Hipp, hipp, hurrah auf den jolly good fellow Jolly good fellow – ein lustiger, guter Junge, He is a j. g. f. – wird wie im Deutschen: Hoch soll er leben – gebraucht. stieg, lief mir plötzlich ein eiskalter Schauer über den Rücken und ich mußte mein Glas niedersetzen. Das dauerte nur einen Augenblick – und in der nächsten Minute war es vergessen. Als wir uns nach Stunden erhoben, war ich frisch, wie immer. Und unter Lachen und Scherzen begleiteten mich die Freunde nach Hause. Auf der Schwelle saß unbeweglich der alte Indianer.

Der Nachmittag und Abend verging, das Dinner schmeckte mir vorzüglich, jetzt feierten mich die Beamten der Company – und es war sehr spät, als ich heimkam.

Auf der Schwelle hockte unbeweglich der alte Indianer.

In dieser Nacht lernte ich das Gefühl des Sterbens kennen. Eine eisige Kälte stieg langsam von den Zehen aufwärts. Mein Gehirn arbeitete wie rasend, daß ich förmlich die Gehirnwindungen spürte. Alles Erlebte, früheste Jugend bis zum Gestern sah ich in erschreckender Lebendigkeit. Ich stieß einen Schrei aus – und der alte Indianer stand an meinem Bett:

»Mein weißer Bruder möge kommen, das Kanoe ist bereit.«

»Doktor –,« gurgelte ich mühsam – und der Alte verschwand.

»Halloh, my boy, was ist Ihnen? Ein alter Injun hat mich aus dem Bett getrommelt –,« und Doktor Howard, der Distriktarzt, beugte sich über mich.

Und dann weiß ich nichts mehr. Als ich wieder erwachte, sah ich in entsetzte Gesichter. Neben dem Bett meine beiden kaiserlichen Freunde, Napoléon und Charlemagne, denen die Tränen über die hageren Backen liefen – und Leutnant Williamson, über mich gebeugt, hält meine Hand und sagt mit heiserer Stimme:

»Well, my boy, haben Sie einen Wunsch?«

Ich kann nur leise hauchen – ich verstehe trotz meiner Schwäche – ich flüstere ans Ohr des Leutnants:

»Der Alte – draußen – herein –«

Nichi-kun steht vor meinem Bett. Ich gebe ihm mit meiner fast gelähmten eiskalten Hand ein leises Zeichen – der Alte beugt sich über mich, wickelt mich fest in meine Decken und nimmt mich wie ein Kind in den Arm. Ich höre wie aus weiter Ferne erregte Stimmen – und dann nichts mehr.

Eine Ahnung von leisem Schaukeln – kühlem Wind – Nacht und Tag – ein Niedergleiten auf ein weiches Lager – ich vergehe wie der Rauch, den ich halb im Traum mich umgeben sehe.

Aus diesem Rauch taucht ein Frauenantlitz, wie ich es nie gesehen habe. Das Gesicht einer Prinzessin vom Nil – dunkle große Augen – bronzener Teint – lange schwarze Zöpfe, die das feine Oval umrahmen.

Das Gesicht kommt nah und näher – es beugt sich über mich – durch die geschlossenen Lider sehe ich in die brennenden Augen – dann legt sich eine Hand auf meine Brust – und ich fühle mein Herz wieder schlagen. Ich will die Augen öffnen – ich will mich aufsetzen – ich will schreien – ich kann es nicht. Aber ich höre wieder – ich höre einen einzigen Ton in leisem, regelmäßigem Rhythmus – und ich weiß nicht, ob es nicht nur das Rauschen meines Blutes ist. Und dann überwältigt mich eine Duftwelle – beißend und scharf aromatisch – eine Erinnerung an hohe Kirchenfeste meiner Heimat – aber doch anders.

Die Welle schlägt über mich zusammen, sperrt mir den Atem – eine übermenschliche Anstrengung – ich schreie auf – öffne die Augen. – Ich liege auf einem Fellager, rings um mich ein Ring von Feuern, von denen der scharfe Duft aufsteigt. Zwischen den Feuern und mir wandelt eine Frau in leichtem Tanzschritt, wie ihn vielleicht die ägyptischen Prinzessinnen in den verborgenen Tiefen der Isistempel getanzt haben. Und ich kann das Gesicht meines Traumes erkennen.

Um den Feuerkreis ein Ring roter Krieger in vollem Schmuck der Waffen, die Gesichter grell bemalt.

In entgegengesetzter Richtung geht ihr Tanz. Sie schwingen die Lanzen und schütteln die Pfeile, ihre Körper drehen und winden sich in den Posen des Kampfes. Hoch auf springt einer und der andere duckt sich. Dieser schwingt den scharfen Tomahawk, jener zückt ein breites Messer. Aber kein Laut fällt von ihren Lippen – unheimlich still wogt der erbitterte Kampf gegen den unsichtbaren Feind – aber streng im Takt stampfen die Füße auf, immer im gleichen Ton, dem Donnern der Sohlen auf dem Boden. Und ich weiß jetzt, was das unerklärliche Pochen war.

In der Mitte, wo ich liege, umschreitet mich feierlich das königliche Mädchen, die großen Augen starr ins Weite gerichtet. Ihre edlen Züge sind angespannt wie in heißem Streite. Ich starre und schaue auf die bizarren Erscheinungen und weiß nicht, ob sie nicht Bilder meines Fiebertraumes sind.

Da beginnt die seltsame Frau ein seltsames Lied, das die Männer im Baß leise brummend begleiten. Und unter diesem Singsang schließen sich wieder meine Augen – und ich versinke ins Bodenlose – – –

Ich erwache in einem Tepee. Ich fühle mich frisch und hell wach – neben mir kauert das schöne Mädchen.

Ich mache eine Bewegung, um mich aufzusetzen, doch sie hält mich zurück:

»Mein weißer Bruder lag in den Armen des Todes und sein Fuß hat bereits die ewigen Jagdgründe betreten. Aber Ata-wa-paska hat um ihn gerungen mit Manitou und er hat ihr das Leben ihres weißen Bruders geschenkt. Nur noch Ruhe braucht mein Bruder Dick.«

Sie schob den Vorhang, der den Zelteingang bedeckte, zurück und rief etwas, was ich nicht verstand.

Herein traten meine beiden Freunde, Napoléon und Charlemagne, und unter Lachen und Weinen erzählten sie mir, daß sie mit Zustimmung Sandersons und des alten Häuptlings mir gefolgt und gerade heute angekommen wären. Noch ein paar Tage und sie würden mich nach York-Factory zurückbringen können. – –

Ata-wa-paska pflegte mich. Keiner durfte mir eine Handreichung machen, sie glättete mein Lager, sie gab mir zu essen und zu trinken, sie bewachte meinen Schlaf. Wie ein leiser Blütenhauch wehte es um meine Stirne, wenn sie ihre Hand auf meinen Kopf legte. Und als ich einmal ihre Hand in der meinen hielt, in ihre Augen sah, und sich leise ihre Stirne gegen die meine neigte – da wußte ich, daß wir uns liebten. – –

An einem Morgen erhob ich mich zum erstenmal von meinem Lager. Meine schöne Freundin half mir beim Anziehen und führte mich sorgsam aus dem Zelt. Durstig atmete ich die Sonne und die reine Luft. Hoch oben über der blauen See waren wir und setzten uns auf einen Felsen.

Ich sah das Kommen und Gehen der Wellen und die jungen Männer des Stammes, die im Kanoe beim Fischfang waren. Ich sah die Ebene und den dunklen Saum des Waldes – und ich wußte, daß ich all dies nicht mehr gesehen hätte ohne die süße Frau neben mir. –

Und es kam der letzte Abend – morgen früh würden mich Napoléon und Charlemagne abholen.

Wir saßen auf unserem Platz, meine Freundin und ich, und sahen über die See, die in silbernem Mondlicht dalag.

Ata-wa-paska nahm meine Hand in ihre beiden Hände, legte sie auf ihr Herz und sang:

»Als die Sonne heute in die Salzflut tauchte, ist sie für Ata-wa-paska für immer geschwunden. Mein weißer Bruder geht morgen zu den Männern seines Volkes und bald wird seine kleine rote Schwester nur ein Bild sein, das er einmal in einem Traum gesehen. Aber Ata-wa-paska wird das Bild ihres weißen Bruders immer in sich tragen – kein Sommer wird mehr Wärme in ihr Blut gießen – sie wird immer frieren, weil ihr das Feuer des Herzens ihres weißen Freundes fehlt.«

Da vergaß ich die blumenreiche Sprache, die man im Verkehr mit den freien Kindern der Wälder spricht, ich riß sie an mich und flüsterte ihr heiße Worte der Liebe zu. Daß ich sie nicht hier allein lassen wolle, daß ich sie mit mir nehmen werde – von einer Hütte im Walde redete ich, an einem Seeufer – vom freien Leben in der Natur, das ich mir ja immer ersehne – mit ihr, an ihrer Seite – und daß unsere Liebe blühen werde wie die Blumen der Steppe, grünen werde wie die uralten Riesen der Wälder.

Aber sie schüttelte nur leise und traurig ihr Haupt.

»Die Wälder sind die Heimat Ata-wa-paskas, aber nicht die ihres Freundes Dick. Weiß ist sein Antlitz, blond ist sein Haar, aber seine kleine Schwester ist das Kind roter Männer. Mein Freund muß frei sein wie der Seeadler; er muß zur Sonne fliegen – die rote Frau würde ihn zur Erde ziehen. Manitou hat Ata-wa-paska das Leben des weißen Mannes geschenkt – ich aber schenke es dir. Mein weißer Bruder soll aber auch seiner kleinen roten Freundin ein Geschenk machen, das sie teuer halten wird und mit ihrem Leben verteidigen. An silberner Kette trägt mein Bruder um den Hals eine gute Medizin. Eine weiße, schöne Frau hält einen kleinen Knaben im Arm. Blau ist ihr Mantel, wie der Sommerhimmel und ihre Augen sind die gütigen Augen einer Mutter. Das Bild soll mein Bruder seiner roten Schwester schenken, damit sie es einstmals ihrem Sohne um den Hals hängen kann. Und wenn dann Ata-wa-paska ihr Kind herzen wird, wird sie das Bild sehen und ihr Lied wird ihrem Sohne erzählen von dem weißen Manne, der seine rote Schwester lieb gehabt hat und von ihr gehen mußte.«

*

Am nächsten Morgen war das Boot aus York-Factory da. Kräftig tauchten die Ruder meiner beiden Freunde, Napoléon und Charlemagne, in die See, langsam versank die Küste.

Hoch oben auf unserem Felsen stand Ata-wa-paska, bis ich auch sie nicht mehr sah.

In York-Factory wurde ich als ein vom Tode Auferstandener empfangen. Dr. Howard war fassungslos. Er sagte, die Agonie wäre schon eingetreten gewesen, als mich der alte Indianer forttrug – und die beiden Voyageurs hätte man nur um meine Leiche in das Indianerlager geschickt.

Acht Tage später kam der Dampfer, der einmal jährlich die Häfen der Hudsonbai anläuft. Ich begrüßte ihn als einen Boten aus der Welt. – –

Als er wieder die Anker lichtete, um über Labrador nach Halifax zu fahren, war ich an Bord.


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