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XIX.

Ich war fast zufrieden mit mir, daß ich mein klägliches Geschick in meinem Hause nicht mehr zu lenken brauchte. Die Zügel hatte ein größerer Meister – der Mann Gottes mit der kleinen Rache und dem großen Herzen. Vielleicht kam mir inzwischen der Zufall zu Hilfe, noch ein glücklicherer als bisher. Ich glaubte an den Zufall, mein Vater an die Bestimmung. Das war wiederum der Steg des Lebens, den wir mieden.

Fast tat Irma mir leid, als ich sie so sorglos die letzten Vorrichtungen treffen sah. Sie kam mir wie der flügellahme Schmetterling vor, der jäh aufwirbelnd den Flug über das Wasser nimmt, ohne zu wissen, daß er bald zusammenknicken wird. Etwas fiel mir auf und gab mir zu denken: die Freudigkeit, mit der sie gehen wollte, an ein ganz anderes Ziel, als ihre sündige Phantasie ihr früher ausgemalt hatte. Wo blieb die Sehnsucht nach ihrem Geliebten, wo das Verlangen nach seiner Nähe, nach seinem Kuß!

Bald sagte ich mir aber wieder, daß die Klugheit ihr Leiterin sei, daß sie mich in Sicherheit wiegen wolle, daß alles so mit ihm verabredet sei, und daß Wochen ja keine Ewigkeit waren. Ich wurde in dieser Meinung bestärkt durch die Erfolglosigkeit meines abermaligen Forschens nach dem Unbekannten. Er hatte sich bei Doktor Klungel nicht mehr sehen lassen.

Ich lief durch die Straßen, spähte wie ein Polizist, der auf einen Verbrecher fahndet – ich sah ihn niemals, der mein inneres Leben so sehr bewegte. Fast glaubte ich nun selber an eine große Täuschung meiner Sinne, an ein grausiges Spukstück erregter Nerven, an etwas Unbegreifliches, das alle Vernunft zuschanden macht.

Auch eine sehr gewagte Frage an Doktor Klungel brachte mir keine Befriedigung. Er konnte sich nicht entsinnen, ob der betreffende Herr an jenem Sonntage schwarz oder hell gekleidet war. Ich hatte meine Neugierde dadurch entschuldigt, daß ich vorgab, in einem Streit darüber mit meiner Frau zu liegen. Seine sinnende Einwendung, er glaube, daß die »Frau Gemahlin« recht habe, entsprang wohl seinem Bestreben, ungehört den Galanten gegen sie zu spielen. Dadurch wurde ich nur noch mehr irregeführt. So taumelte ich zwischen Wahn und Bewußtsein und glich der Motte, die das Licht umkreist, das sie anzieht und ihr Verderben wird.

Den Tag vor der Abreise verlebte mein Vater nicht bei uns. Er hatte im äußersten Westen von Berlin einen alten Studienkollegen wohnen, der nicht mehr amtierte, nun sein kleines Gärtchen baute, und dem er sich bemerkbar gemacht hatte. So war er eingeladen worden und schon früh von dannen gezogen. Er selbst hatte gesagt, daß man ihn erst am Abend fortlassen werde.

Ich hatte ihn bis zum Omnibus gebracht, sah ihn glücklich in der Ecke sitzen und ging nun meiner Wege. Da mein Beruf mich heute nach der oberen Friedrichstadt führte, so bestieg ich am Alexanderplatz die Stadtbahn. Um diese Zeit war der Verkehr besonders groß. Ich drängte mich in einen Abteil zweiter Klasse, der keinen Durchgang hatte, und bekam mit Mühe noch einen Platz. Die Kaufleute holten die Morgenblätter hervor, und auch ich blickte in meine Zeitung, um mir die Minuten zu verkürzen.

Im Nebenabteil sprach ein Herr sehr laut, so daß man jedes Wort durch den offenen Raum oben hören konnte. Ich achtete nicht darauf; erst als die Antwort kam, schreckte ich zusammen. Die Stimme hatte ich schon gehört, ich wußte nur nicht gleich wo. Sie nahm mich so gefangen, daß ich das Lesen vergaß. Es war gerade, als witterte ich hinter meinem Rücken einen Bekannten, der nun unaufhörlich Anziehung auf mich ausübte. Der erste Sprecher führte am meisten das Wort, und zwar über gleichgültige Dinge, die nur den Eingeweihten interessieren konnten. Dann aber kam eine seltsame Wendung, die mir den Atem nahm.

»Was macht dein Frauchen?«

»In Schmerz aufgelöst. Trauer über vorübergegangene Witwenschaft. Er wollte ihr absolut nicht den Gefallen tun, sie jetzt schon glücklich zu machen. Wenn man Pech hat.«

Diese Stimme, diese Stimme! Derselbe Zynismus, wie an meinem Schmerzenslager. Unbeweglich lauschte ich weiter.

»Gratuliere dir doch lieber,« sagte der andere wieder. »Der Mann ist immer der Blitzableiter. So hättest du sie auf dem Halse gehabt. Gerade doch kein Vergnügen für dich, wie ich Fredchen kenne. Frau – ja, Witwe – nee. So ganz ohne Gefahr, wär' nicht meine Passion.«

»Vielleicht drückst du dich etwas zarter aus, ja? Noch ist die Trennung nicht vollzogen. Aber erfahren muß sie es doch. Alles etwas plötzlich gekommen. Und sie ahnt es nicht, das süße Dummchen das! Es waren doch schöne Stunden. Nun aber wird die Sache akut. Der Bär hat gerochen und brummt.«

Ein Lachen des andern schnitt ihm das Wort ab. In mir schallte es aber wieder: »Die Stimme, die Stimme!« Kalter Schauer überlief mich, ich glaubte meine eigene Schande zu hören, wie der richtige Horcher an der Wand.

»Es wär' so schön gewesen, es hat nicht sollen sein.«

»Dein Trost.«

Ich erhob mich und spähte unverfänglich durch das Netz, wie es Neugierige alltäglich tun. Die gegenüberliegende Wand war unbesetzt. Beide mußten also Rücken an Rücken mit mir sitzen. Die nächste Station war erreicht, und der Zug hielt. Ich wollte rasch hinaus, aber vor mir drängten sich die übrigen Fahrgäste, besonders ein dicker Herr, der die ganze Breite einnahm. Nebenan klappte schon die Tür. Dasselbe Lachen von vorhin erschallte, und als ich endlich draußen war, sah ich nur fremde Gesichter und eilende Gestalten, die sich die Treppen hinunter drängten. Ich lief hinter ihnen her, ich sah jedem ins Gesicht; ich stürzte weiter, ging zurück, musterte aufs neue und stürzte abermals vorwärts – ich sah nicht den, den ich suchte, hörte auch nicht mehr die Stimme, die nun die schaurige Sehnsucht in mir erweckte, sie nur noch einmal von Angesicht zu Angesicht zu hören.

Wie verloren stand ich unter den Menschen, wie ein Geistesabwesender, der nach einer Erscheinung sucht. Ich verstand mich selbst nicht mehr, ich hätte weinen mögen und fand doch keine Tränen. Und als ich wieder die Treppe hinaufschritt, um einen anderen Zug abzupassen, kam ich mir wie überflüssig auf dieser Welt vor, wie ein im Nebel Suchender und niemals Findender.

Als ich rechtzeitig zu Mittagessen nach Hause zurückkehrte, brachte ich eine heitere Laune mit, die meine Frau in Erstaunen versetzte. Unterwegs hatte ich mir alles in Gedanken zurechtgelegt. Wenn ich jetzt einmal den völlig Verwandelten spielte, erreichte ich vielleicht mehr, als vorher. Sie konnte dann denken, ich hätte mich in alles gefunden und sehnte den alten Frieden herbei.

»Ich freue mich wirklich, Irma, daß ihr nun endlich fortkommt,« sagte ich beim Löffeln der Suppe. »Wenn irgend möglich, komme ich bald nach. Darauf wollen wir einmal anstoßen.« Wir tranken stets einfaches Bier bei Tisch, und so schenkte ich das Glas voll und schenkte auch dem Jungen einige Tropfen ein, damit er einmal den Großen mit uns spielen könne.

Sophie, die wieder mit uns aß, ließ den Löffel sinken. Sie schien noch sprachloser als sonst zu sein. »Prost, Prost!« schrie der Junge, strampelte unter dem Tisch vergnügt mit den Beinen und schlug gegen mein Glas, als wollte er Scherben sehen. Meine Frau zeigte ihr schönstes Lächeln, nickte mir zu und erwiderte: »Das ist hübsch von dir, Franz.« Ihre Augen leuchteten, und sie war plötzlich rot geworden, ich wußte nicht, ob aus Freude oder aus Angst über diesen unerwarteten Überfall in anderer Beleuchtung. Ich zerbrach mir auch nicht den Kopf darüber, ich wollte mir nur jetzt meine gute Stimmung erhalten. Und ich zog Irma mit hinein. Die Scherze des Jungen, der plötzlich lange Reden hielt, brachten sie sogar zum Lachen. Nur wenn ich plötzlich unerwartet aufsah, begegnete ich einem langen Blick auf mich.

»Weshalb soll sie auch nicht,« dachte ich, »an Wunder muß man sich gewöhnen.« Nach Aufhebung der Tafel blieb ich noch sitzen, wie ich es vor unserem Zerwürfnis zu tun pflegte. Und als Sophie abzudecken begann und hinaus war, sagte ich im Höhepunkt meiner versöhnenden Stimmung: »Gib mir die Hand, Irma, du weißt, was das heißen soll.« Und weil mir nichts weiter einfiel, fügte ich hinzu: »Ach, ich bin froh, daß Vater wieder 'mal hier ist.«

Zögernd hatte sie den Arm über den Tisch gestreckt, mißtrauisch, als erwartete sie hinter meinen Worten eine schlimme Tat. Nun rief sie lebhaft: »Weshalb bist du so glücklich?«

»Na, eben deswegen, weil er euch gleich mitnehmen will.«

Sie mußte eine andere Deutung erwartet haben, denn Enttäuschung malte sich in ihren Zügen. »Ach so,« sagte sie gedehnt.

Ich nahm aber ihre innersten Gedanken auf und verbesserte mich schnell: »Na, und dann kommt noch etwas anderes hinzu. Das will ich dir aber jetzt nicht verraten. Erst wenn ich bei euch sein werde. Wenn mir nicht schon der Großvater zuvorgekommen sein sollte.« Es war eigentlich gedankenloses Zeug, was ich redete – sie konnte sich aber darunter denken, was sie wollte. Vielleicht das allerbeste: daß auch unter seiner Einwirkung mein Wahn endlich geschwunden sei und ich ganz zu Kreuze kriechen wollte, wie es sich für einen galanten Ehemann gehörte.

Unruhe kam über sie. Sie klapperte mit ihrem Serviettenring und nagte an ihrer Lippe. »Großvater zuvorkommen?« wiederholte sie mechanisch. »Hat er dir was gesagt?«

Ihre Worte kamen mir seltsam vor, noch mehr ihre ganze Verfassung. »Was soll er mir denn gesagt haben?«

»Ach, eigentlich nichts.« Sie strich sich eine unwillige Haarsträhne aus der Stirn. »Ich könnte doch auch etwas für dich bereit haben. Großvater ist nun 'mal unser Vertrauensmann.« Es sollte schmollend klingen, aber sie fand nicht den richtigen Ton. Sie sah mich an, aber anders wie sonst, nicht mehr so mutig und herausfordernd, vielmehr scheu und ängstlich-abwartend. Ich begriff sie nicht. Sah sie in mir wirklich den Schauspieler, fürchtete sie eine abermalige Entpuppung, oder steckte etwas anderes dahinter, was ich noch gar nicht ahnte? Dann kam mir der Gedanke, sie könne auch in diesem Augenblicke die größere Komödiantin sein, die auf alles einging, um aufs neue aus mir herauszuholen, was sie nur konnte.

Diesmal aber wollte ich mir die Waffen nicht entwinden lassen. »Na, dann behaltet nur euer Geheimnis für euch,« fiel ich ihr gemütlich ins Wort. »Vor Großvater brauchst du dich nicht zu fürchten, der ist verschwiegen wie das Grab in solchen Dingen.«

Ihre Lebhaftigkeit kehrte zurück. »Meinst du?« Und als ich nickte, schien sie beruhigt zu sein. Wir sahen uns wieder in die Augen, und ich ergriff über den Tisch hinweg ihre beiden Hände. Sie zitterte, und ich zitterte. Es war wie eine Übertragung unserer verschiedenen Gefühle. In jedem von uns mußte etwas Verhaltenes lauern, das sich nur leise bemerkbar machen konnte. Ich preßte ihre Hände, weil ich mich bezwingen mußte. Der andere in mir drängte nach Entäußerlichung. So wie sie mir plötzlich ihr zweites Gesicht gezeigt hatte, so sollte ihr aus meinem jetzigen Lächeln das Furchtbare entstehen. Und während ich so verharrte, dachte ich: »Warte nur noch ein Weilchen, und du sitzt auch so vor mir, aber anders, willenlos, völlig in meine Macht gegeben. Dann ist dein krauser Sinn mir untertan, und du bist mein willenloses Werkzeug.«

Unterwegs, als ich die wiedererkannte Stimme mit mir herumtrug wie etwas Lästiges, was man abschütteln möchte und doch nicht kann – da war mir der Gedanke gekommen, der mir so gute Laune gegeben hatte. Ich wollte sie hypnotisieren, in einen künstlichen Schlaf versetzen, um ihr das Geheimnis zu entlocken. Sie sollte mir den Namen ihres Geliebten nennen, was er sei, wo sie ihn kennen gelernt habe und wie lange sie schon mit ihm verkehre.

Ich hatte in dieser Beziehung früher die schönsten Experimente angestellt und die merkwürdigsten Erfolge erzielt, weniger zu Heilzwecken als um Beweisstücke für mein Buch »Der Mißbrauch der Hypnose« zu erlangen. Allerdings geschah das fast immer nur bei Personen, die dazu veranlagt waren und meinen Beeinflussungen zugänglich erschienen. Gewöhnlich waren es Blutarme, zur Hysterie Neigende – überhaupt Patienten, die sogenannte gute Objekte waren: schwachnervige Menschen, denen es schon im Bewußtseinszustande nicht schwer wurde, sich dem Willen des Arztes unterzuordnen.

Vielfach hatte ich den Wert der Hypnose erkannt, meistens aber gefunden, daß namentlich bei hysterischen Frauen die seelische und körperliche Beruhigung nur eine vorübergehende war. Wenn sie an Schlaflosigkeit litten, so suggerierte man ihnen den Schlaf, indem man ihnen sagte, sie würden nun mehrere Stunden schlummern. Fragte man sie dann, ob sie ausgeschlafen hätten, so bestätigten sie es und fühlten sich gestärkt und gekräftigt, trotzdem der hypnotische Zustand nur ein kurzer war. Der Rückschlag trat bald ein. Sie empfanden Schwindel, andauernd Kopfschmerzen und behaupteten, beides nur verlieren zu können, wenn man sie wieder hypnotisierte. Es war eine Art von Morphiumsucht, in der man immer nach neuen Dosen verlangt.

Schmerzen wurden künstlich fortgebracht, selten organische, größtenteils solche eingebildeter Art, wie sie Nervenleidende fast immer haben. Bei jüngeren Leuten hatte ich fast immer Erfolg, bei älteren selten. Schließlich kam ich zu der Überzeugung, daß die ganze Hypnose nur ein ewiger Kampf mit der Natur der Menschen war, deren freier Einfluß auf ihn durch wissenschaftliche Künstelei gehemmt wurde. Ein großer Betäubungsrausch mit süßen Mitteln.

Und so entstand mein Buch.

Bei meiner Frau hatte ich vor Jahren einmal den Versuch der Suggestion machen wollen, aber sie hatte sich gegen die Zumutung gesträubt. Es war auch eigentlich mehr Scherz von mir gewesen, mehr Laune als Absicht. Sie war gesund, hatte Blut und Nerven, und so fand ich es selbst nicht recht einleuchtend, weshalb gerade sie mir dienstbar sein sollte. Niemals hätte ich daran gedacht, daß ich einst auf Umwegen zu einer Wiederholung kommen wollte. Und obendrein aus Hinterlist und Berechnung. Als ich mir den ganzen Plan aufgebaut hatte, wurde ich wieder schwankend. Ich, der so wacker mit offenem Visier gegen die Charlanterie in meinem Beruf zu Felde gezogen war, sollte nun selbst zu einem Charlatan werden.

Dann aber empfand ich kein Gewissen mehr. Sie war es, die mich auf diesen Ausweg getrieben hatte, sie mit ihrer verschwiegenen Sünde, mit ihren tausend Nadelstichen, die auf die Dauer langsamer töteten als ein einziger Gewaltstreich. Und ich vergalt nur Gleiches mit Gleichem, wenn ich sie im Schlafe ihre Seele offenbaren ließ, wie man meinen Todesschlaf dazu benutzt hatte, meine Seele zu martern. Grausame Wollust verschönte diesen Gedanken, wenn ich daran dachte, daß es in meiner Macht läge, ihre Glieder künstlich starr zu machen, sie in denselben kataleptischen Zustand zu bringen, in dem ich das Nahen des Todes verspürt hatte. Und trotzdem würde sie lange nicht so empfinden, wie ich empfunden hatte, denn ich nahm ihr das Bewußtsein. Und so übte ich noch große Milde.


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