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18.

»Na, wo bleiben Sie denn?« rief Gläser seinem Vertrauten ärgerlich zu, als der Wagen vor dem Baubureau hielt. Und sofort nahm er den Jungen wie ein loses Bündel in seine Arme, küßte ihn und trug ihn so ein Stück Weges den Arbeitsplätzen zu, wo die Tiefbauingenieure standen. Frau Dolinsky sah ihm an, daß etwas Besonderes mit ihm vorgegangen sein mußte, denn kaum hatte er Viktor zur Erde gelassen, als er sie beiseite nahm und fragte: »Wo hat er denn solange gesteckt? Warst du dabei, als er meine Frau sprach?« Seine kleinen Augen suchten die ihrigen, sie hielt aber tapfer seinen Blick aus.

»Du wirst doch nicht etwa eifersüchtig sein, wie?« gab sie lachend zurück, während der Junge sich an ihrem Arm schleifte.

»Ich? Auf wen denn? Auf diesen jämmerlichen Windhund? Du bist wohl –! Ich ärgere mich nur, daß es solange gedauert hat.« Plötzlich rot geworden, mied er ihr Gesicht, ohne jedoch seine Erregung unterdrücken zu können.

Als sie ihn so sprechen hörte, machte es ihr innerlich Spaß, um ein Geheimnis zu wissen, dessen Entschleierung ihn zum Wilden gemacht hätte. Und leise regte sich etwas in ihr, was sich wie Schadenfreude in ihre seltsame Treue mischte. Wenn er auch nichts wußte, so konnte er doch einmal fühlen, was Zweifelsucht im Herzen eines Menschen war. Sie wollte ihn jedoch beruhigen, und so gebrauchte sie die Ausrede, daß sie seine Frau und Herbst nur vor dem Hause gesehen und daß sich der Aufbruch etwas verzögert habe. »Weshalb schimpfst du denn auf einmal so?« fuhr sie dann fort. »Er ist doch kein jämmerlicher Windhund?«

»Ja, das sind sie alle, die sich das Leben mit den Weibern leicht machen«, polterte er weiter. »Schon meine Schwiegermutter nannte ihn so. Ich hielt ihn immer für einen soliden Menschen, und nun erfuhr ich vorhin, daß er ein splendides Verhältnis hat mit einem Frauenzimmer vom Theater. Einer der Architekten sagte es mir, wir kamen ganz zufällig darauf zu sprechen. Das wär' ja nichts Schlimmes, aber er soll ein kostspieliges Leben mit ihr führen. Und eine elegante Wohnung hat er auch. Noch niemals war ich dort ... Das kann er nicht von seinem Einkommen bestreiten. Ich sage das auch dir nur, weil ich weiß, daß du verschwiegen bist, selbst deinem Manne gegenüber ... Du, ehe ich's vergesse«, unterbrach er sich in seiner Art, die verschiedensten Dinge auf einmal zu behandeln. »Dolinsky steigt bedeutend. Wir müssen einen Kirchhof anlegen, denn jedenfalls werden die Menschen hier draußen auch sterben. Wie überall. Und was meinst du, was er mir da vorhin gezeigt hat? Einen Entwurf zu einem prächtigen Mausoleum, das ich mir auf alle Fälle hier draußen bauen lassen müsse. Ich hätte ihm den Bau versprochen. Weißt du 'was davon? Ein komischer Kauz, dein kleiner Mann! Manchmal kommt er mir wie ein seltener Vogel im Bauer vor. Er möchte gerne 'raus und er kann nicht.«

Trotzdem er noch ganz genau wußte, was er in jener Winternacht mit Dolinsky im Wagen vierter Klasse gesprochen hatte, spielte er wieder den Vergeßlichen, der die Scheu vor alten Dingen hat.

»So, so«, warf Anna zerstreut ein, denn ihre Gedanken waren bei Herbst. »Ei, der treibt es ja gut«, dachte sie. »Laß ihn doch machen, was er will«, fuhr sie dann laut fort. »Manche Menschen haben Glück bei den Frauen und kriegen obendrein noch etwas zu. Ich meine deinen Herrn Sekretär. Hast du nicht auch zweie gehabt?«

Sie lachte harmlos, aber ihm war anders zumute. Als er vergeblich auf Herbst wartete, hatte etwas in ihm gebohrt, was er bis jetzt nicht losgeworden war. Die Bemerkung der alten Exzellenz ging ihm im Kopf herum, wie ein häßlicher Eindruck, der immer wiederkehrt. Er sträubte sich dagegen, aber das Mißtrauen war erwacht und suchte nach neuer Nahrung.

Endlich versuchte er sich Heiterkeit abzuringen. »Ja, ja, ich bin auch ein toller Kerl, wie?« sagte er ebenfalls lachend, wie aufgestöbert aus einem Brüten. »Wer hätte geglaubt, daß wir beide uns so noch finden würden. Na, laß nur, es findet jeder sein Paradies. Du kriegst noch die schönste Villa hier am Ort. Andere stellen ihre alten Freundinnen kalt, ich habe dir ein warmes Nest gebaut. Beneiden brauchst du mich nicht, denn Geld macht nicht immer glücklich. Das siehst du ja an dem Armen da.«

So sprach er oft zu ihr, ohne daß er etwas anderes zu hören bekam, als daß sie nicht darauf ausginge, sich noch ein besseres Wohlleben durch ihn zu schaffen. Sie habe ihr reichliches Auskommen und wünsche zu Gott, daß es so bleibe.

Plötzlich blieb er stehen und fragte scharf: »Weshalb betonst du es so, daß auch ich gerade zwei hatte? Weißt du denn, daß er noch eine andere hat.«

Großer Schreck durchzuckte sie, denn sie glaubte, er könnte etwas ahnen. Dann aber faßte sie sich und lachte wieder. »Aber wie soll ich das wissen? Was geht mich der Mensch an! Mag er ein ganzes Dutzend haben. Wenn er nur seine Arbeit bei dir tut. Und die tut er doch. Und Viktor hat er auch gerne. Vorhin habe ich es wieder gesehen. Immer streichelt und eit er ihn, na, und das ist doch ein hübscher Zug von ihm. Deine Frau könnte von ihm lernen. Du mußt nicht immer das Schlechteste von den Menschen denken. Aber so warst du früher schon, Art läßt nicht von Art, und selbst in Schlössern wird ausgespuckt.«

»So so, tut er das?« warf er umgestimmt ein. »Das habe ich noch nie gesehen.«

»Ja, du! Du siehst manches nicht«, erwiderte sie zweideutig, ohne daß er es begriff.

Herbst, der mit einigen Herren hinter ihnen geblieben war, stellte sich wieder ein, und sogleich war Gläsers Groll gegen ihn verrauscht. Wer sein Kind gern hatte, der sollte es auch gut bei ihm haben, und wenn Anna es sagte, so mußte es sein. Überdies hatte sie recht: was gingen ihn diese privaten Dinge an! Wenn er ihn einmal danach fragte, würde sicher alles auf die Hälfte zusammenschrumpfen. Es wurde so viel in dieser Welt gelogen, das wußte er am besten!

Herbst atmete auf, als Gläser ihn mit der alten Freundlichkeit behandelte. Fortwährend hatte er gezittert bei dem Gedanken, die beiden vor ihm könnten ihn beim Wickel gehabt haben. Nun strahlte er wieder, als wüßte er den Grund zu dieser Aufgelegtheit seines Chefs, beschäftigte er sich sofort mit Viktor, nahm ihn von Annas Seite und schritt mit ihm dahin, als wäre er sein Erzieher.

»Er kann schon hübsch laufen, wie?« rief Gläser ihm lachend zu. Immer bildete er sich ein, es ginge von Tag zu Tag besser damit, aber es war die große Selbsttäuschung aller unglücklichen Eltern, die durch die Gewohnheit abgestumpft werden. Man hatte in der letzten Zeit alles versucht: Massage, Elektrizität, Bäder aller Art – nichts hatte dem Zustande ein Ende machen können. Manchmal schien es, als würden die Knochen fester, als sollte sich doch noch ein normales Wesen entpuppen, aber die Liebe des Vaters sah mit blinden Augen. Und schließlich war Gläser schon froh, daß nicht gänzliche Verblödung eintrat, wie man als möglich in Aussicht gestellt hatte. Der Geist war diesem Krüppelchen vorausgeeilt, und das war das Fürchterlichste für Gläser. Dieser Zustand war nicht immer gleich; er wechselte, sozusagen wie die Launen der Natur, deren tiefste Geheimnisse die Wissenschaft nicht enträtseln kann. Er litt an der Fallsucht, die aber nur höchst selten eintrat und rasch wieder vorüberging. Schon stundenlang vorher verriet sein Wesen die trübe Erscheinung. Dann bekamen seine Augen einen fremden Ausdruck, der Mensch wich, und der verkörperte Stumpfsinn regte sich, der gefühllos in die Welt glotzt.

Es war gerade, als witterte dieses Kerlchen das Unheil, das ihn mit seinen Blitzkrallen fassen würde. Das ganze Haus war dann in Aufruhr. Fräulein Leseur schrie, die Dienerschaft lief zusammen, Klothilde hielt sich die Augen zu und rief nach dem Arzt, der nicht da war, und wünschte im Innern, daß es endlich ganz vorbei mit ihm sein möchte. Nur Frau Teichert behielt die Besinnung, denn sie wußte, daß man sich unnötig Angst und Sorge mache. In diesem zarten Knaben steckte Kraft zum Widerstande, eine Zähigkeit, das Leben zu ertragen, obgleich er nichts davon hatte. War Frau Dolinsky zufällig anwesend, so war man überhaupt aller Mühe enthoben, denn ihre Nerven waren unerschütterlich. Mit der Ruhe einer Krankenschwester, die das Leid gefestigt hat, übte sie das Werk der Barmherzigkeit.

Nach einem solchen Anfall, der sich in jedem Jahre einmal wiederholte, zeigte sich dann die übernatürliche Geistesfrische des Jungen, die sich nicht in Taten äußerte, sondern in seinem Verhalten, mehr im Anschauen als im Wiedergeben. Er kannte alles, was er sah und was man ihm erklärte. Augen und Ohren waren doppelt geschärft, gleichsam verfeinert durch den Mangel an Sprache. Er konnte nicht schreiben lernen, aber in diesem Sommer hatte man ihn bei dem Versuche, zu zeichnen, überrascht. Seine kraftlosen Finger vermochten den Bleistift nicht sicher zu führen, aber man merkte doch, wie er in groben Umrissen die Dinge festzuhalten wußte: bald einen Vogel, ein Haus, bald einen Baum, oder einen Menschen. Als sein Vater das sah, ließ er ihm einen bequemen Sitz anfertigen, der vorn ein Pult trug, das man verstellen konnte. Fräulein Leseur, die einiges Zeichentalent besaß, führte ihm manchmal die Hand, und so war es am Tage des Stubenhockens sein stilles Vergnügen, stundenlang zu sitzen und alle nur möglichen Figuren zu kritzeln.

Gläser freute sich riesig. »Das ist doch etwas!« rief er vergnügt aus. »Vielleicht wird noch ein Raffael aus ihm. Es gibt ja Menschen, die ohne Arme geboren sind und doch malen können.«

Heute wurde seine Freude über ihn bald gestört. Er war mit Steinbrink, einem bedeutsamen Ingenieur für Entwässerungsverfahren, über eine Holzbrücke gegangen, die rechts und links tiefe Ausschachtungen zeigte, als von einer Seite her die Worte erschallten: »Da ist ja Zappel-Philipp wieder.« Deutlich hatte er es gehört, denn der Wind trug ihm die Laute zu. Es war hier still; nur einige hundert Schritte abwärts gingen die Dampframmen, die Schlag für Schlag auf die Pfähle fielen. An der Böschung karrten die Leute wie die Lasttiere die feuchte Erde den Brettersteg hinauf. Eine ganze Kolonne schippte, so daß die Spaten im Sonnenlicht blitzten. Weiterhin ging lautlos die Pumpe, gedrückt von einem halben Dutzend kräftiger Arme. Gläser ließ den Ingenieur stehen und wandte sich zu Anna, die langsam nachgekommen war. »Hast du gehört, was da jemand rief?« fragte er leise, aber erregt.

»Ach, laß sie doch, mach' dir nichts daraus, sie nennen ihn alle so«, erwiderte sie mit ihrem Gleichmut. »Dolinsky sagte es mir. Das haben sie aus dem Struwelpeter. Irgendeiner wird es aufgebracht haben, dann blöken es die andern nach. Denken tut sich keiner etwas dabei. So etwas beachtet man am besten nicht.«

Gläser aber war anderer Meinung. Er winkte Herbst heran und beauftragte ihn, den Spötter festzustellen. Dann aber, als er sah, wie der Abgesandte zwecklos auf die Leute einredete, ging er selbst hinüber und sprach mit dem Kolonnenführer. Alle könnten sofort die Arbeit niederlegen, wenn sich der Betreffende nicht melde. Ein Dutzend Stimmen wurden laut, die »Kürassier-Wilhelm« riefen. Es war ein Spandauer, ein hochgewachsener, breitschultriger Mann mit struppigem Feuerbart, der sich die Hände an seiner Hose abwischte, dann langsam mit eingedrückten Knien herankam und schwerfällig den alten Soldatendeckel zog.

»Haben Sie gerufen?« fragte Gläser und sah ihn drohend an.

»Ich war's wohl, Herr Bankdirektor.«

»Was haben Sie sich dabei gedacht?«

»Gedacht? Ja, das weiß ich nicht. Wir freuen uns immer, wenn wir ihn sehen, den jungen Herrn.« Wie ein verstockter Sünder, der keine Ausrede kennt, hob er die Schulter, während die rotumränderten Augen scheu zur Seite gingen.

»So so, ihr freut euch, aber eure ganze Freude liegt im Schimpfen«, sagte Gläser wieder. »Ich will euch lehren, anständig zu denken. Wer meinen Sohn beleidigt, beleidigt auch mich.«

Ein ganzer Schweif von Architekten und Baugewerksmeistern war hinter ihm hergezogen und umgab ihn nun im Halbkreis, wartend, was das Haupt unternehmen würde. Auch Dolinsky hatte sich angeschlossen und stand bei seiner Frau. Die Herren begriffen Gläser nicht, wie er sich so weit hinreißen lassen konnte. In ihm aber wühlte der Mensch niederer Abstammung, der niemals Erziehung gehabt hat und leicht den Ton aus der Vergangenheit findet. »Geh' und bitte meinen Jungen um Verzeihung, sofort! Küss' ihm die Hand!« schrie er fast, nun rücksichtslos wie ein Sklavenhalter, der unbedingten Gehorsam fordert.

»Er ist verrückt geworden«, raunte Dolinsky Anna zu. Sie aber zwang ihn zum Stillschweigen und erwiderte: »Du verstehst ihn nicht. Ich glaube, er könnte ihn totschlagen.«

Die Erdarbeiter, die auf ihre Schaufeln gestützt dastanden, grinsten freudig, als sie die Verlegenheit des Rotbärtigen sahen, der die schäbige Kürassiermütze auf das linke Ohr schob und sich mit dummer Miene in seinem Haar kraute. Anscheinend wußte er nicht, was er tun solle. Sein schieler Blick ging zu Viktor, dann zu Gläser und rückwärts zu den Genossen, deren schadenfrohe Gesichter er bemerkte. Man sah, wie er in sich hineinbiß, wie er Scham und Wut hinunterwürgte.

»A, i, o?« klang es hell in die Stille hinein, die in gleichmäßigen Zwischenräumen nur der dumpfe Schall der fernen Ramme durchdrang. Er erhob seinen Stock und deutete auf den Spandauer, trotzdem er nicht alles begriffen hatte.

»Ruhig, ruhig, mein Kleiner«, beschwichtigte ihn Anna.

»Nun, wird's?« rief Gläser aufs neue, dem die Laute seines Kindes in den Ohren lagen. »Vorwärts, ich habe nicht viel Zeit. Sie sollen sich alle ein Beispiel an dir nehmen, die jetzt dastehen und Maulaffen feilhalten.«

»Na, dann will ich schon«, preßte Kürassier-Wilhelm hervor. »Es ist ja nur, weil ich sonst nichts zu fressen hätte. Am Typhus krepiert man ja hier doch 'mal. Drei sind heute wieder ausgeblieben.«

»Wie? Was?« sagte Gläser überrascht und sah sich im Kreise um.

»Ja, so ist es«, fuhr der Feuerbart fort und stappte durch den modrigen Sand langsam die Böschung hinauf. »Zwei haben sich vorhin gelegt, und der schles'sche Karl ist heut früh neben mir verreckt. Hier atmet man ja Jauche.«

Gläser war verblüfft, denn er wußte von allem nichts. Hinten, wo noch die Weiden standen, hatte man Baracken erbaut, in denen ein Teil der Erdarbeiter hauste, die im Frühjahr zugezogen kamen und zum Winter wieder nach ihrer Heimat abschoben. Die meisten von ihnen, namentlich die Polen, lebten nur von Schmalz und Kartoffeln, tranken ihren Kornbranntwein dazu und schliefen zusammengepfercht wie die Tiere. Sie buken sich selbst das Brot, kochten und schmirgelten im Freien und sangen des Abends ihre eintönigen Lieder nach dem Gekreisch der Ziehharmonika. Noch niemals hatte sich Gläser dorthin verirrt, denn er haßte dieses Elend, das nur der Schnapsteufel großzog, wie er sagte.

»He, was ist das für eine Wirtschaft?« rief er laut und winkte den Kolonnenführer heran. »Was ist denn wahr daran? Die Polizei wird uns auf den Hals kommen.«

Man hatte ihm diesen Zustand verschwiegen, aus Furcht, alle könnten gezwungen werden, die Arbeit niederzulegen. »Ach, er übertreibt ja«, erwiderte der Aufseher. »Es ist ja heute einer gestorben, aber nur am Fieber. Wer weiß, wo er's her hatte. Er litt schon lange am Delirium.«

»Nein, nein, es war Typhus«, rief der Spandauer wieder, der sich nun plötzlich wie der Held des Tages vorkam. »Ich hörte deutlich, wie der Landdoktor es sagte. Schon gestern holten wir ihn, weil der Kranke so bat. Und heute wollte der Doktor wiederkommen, er kann ihm nun die Grabrede halten.« Damit war er langsam weitergeschritten, schon war er oben und ging mit festen Tritten die Bohle entlang, die auf die Gruppe zuführte.

Plötzlich jedoch brüllte Gläser förmlich los: »Bleib' da, rühr' ihn nicht an, hörst du? Es ist dir alles geschenkt! Niemand von euch kommt über die Brücke!« Und als wäre ihm die Seuche bereits auf den Fersen, wehrte er ihn mit den Armen ab und wandte sich im vertraulichen Ton an Frau Dolinsky, ohne an seine Umgebung zu denken: »Bringe Viktor sofort nach Hause, Anna, hörst du! Der Wagen wartet. Niemals mehr soll er bis hierher spazierengehen ... Geh', geh'! Sage nichts meiner Frau davon. Es soll hier gründlich aufgeräumt werden.« Und er nahm seinen Jungen wieder in die Arme, küßte und herzte ihn und befühlte ihn förmlich, als wollte er sich überzeugen, daß er noch vorhanden wäre. Dann sagte er zu den Übrigen: »Kommen Sie, meine Herren.« Und er schritt ihnen voran, der andern Seite des Landstriches zu, wo man festen Grund geschaffen hatte.

Niemand sprach ein Wort, alle dachten an das eigentümliche Verhältnis, in dem er zu dieser Frau stehen mußte und über das er ihnen plötzlich durch das vertrauliche »du« ein Licht aufgesteckt hatte.

»Was fällt ihm denn ein, dich wieder ›du‹ zu nennen«, sprach Dolinsky zornig auf Anna ein, bevor er den Übrigen folgte. »Ich werde ihm auf den Kopf steigen. Mich hier so bloßzustellen vor allen Leuten.« Schon oftmals, wenn er gesehen hatte, wie Gläser über seine Frau herrschte, als hätte er ein bestimmtes Recht dazu, war der Groll in ihm aufgestiegen, der jetzt zum Durchbruch kam.

Wie immer lachte sie ihn aus, ohne es böse zu meinen. »Du wirst doch nicht etwa eifersüchtig sein, wie?« wandte sie ein, selbst ärgerlich über diesen Vorgang. »Er hat sich 'mal vergessen, das ist das Ganze. Du siehst ja, wie aufgeregt er ist.«

»Ach, aufgeregt!« gab er zurück. »Dann soll er sich beherrschen. Verschnappt hat er sich ... Du liebst ihn wohl immer noch, wie? Weil du ihm so recht gibst.«

»Ich bemitleide ihn, und heute mehr als je ... Mach' dir doch nicht solche dummen Gedanken, ich bin dir treu, das weißt du am besten. Nein, so ein Unsinn von dir, so ein Unsinn! Wenn er das hören würde, täte er sich darüber amüsieren.«

»Geh' lieber zu unsern Kindern, ehe du hier Magddienste tust«, fuhr er aufgebracht fort. »Man muß das Schlimmste denken, wenn man so 'was sieht.«

»Und geh' du an deine Arbeit, verstehst du?« erwiderte sie nun in derselben Tonart. »Ich bin dir nicht nachgelaufen, das weißt du ... Wir haben gesunde Kinder, dieser hier aber ist gottverlassen. Und alle treten sie auf ihm herum wie auf einem wehrlosen Wurm.«

Ihr Widerspruch reizte ihn, denn noch nie hatte es so in ihm gegärt. Immer den Reichtum des andern vor Augen, hatte ihn manchmal häßliches Mißtrauen gepackt, weil er sich dieses Freundschaftsbündnis nicht erklären konnte. »Was geht uns schließlich ein fremder Junge an!« brauste er auf, ohne Rücksicht darauf, daß Viktor alles hörte.

»Geniere dich doch vor ihm, er kann nicht sprechen«, wandte sie wieder ein. »Aber sieh, wie er dich anblickt, er versteht alles, was du sagst.«

Nun legte Dolinsky auf polnisch los, was er stets tat, wenn er sich einmal mit ihr gründlich aussprechen wollte. Seitdem er hier einen Troß Arbeiter unter sich hatte, mit dem schwer auszukommen war, hatte er sich das Schimpfen angewöhnt, und so hörte Anna gelegentlich Flüche von ihm, die ihr frommes Gemüt verletzten, so daß sie oftmals bei sich dachte, er sei eigentlich auch nicht viel zarter, als Gläser zu ihr gewesen war. Und nun gab er ihr wieder davon zu kosten. Es sei ihm schon alles egal, die Sache werde ihm zu bunt. Da müsse der Blitz einmal gehörig dazwischen fahren, damit dieser Geldprotz, der früher auch nichts gehabt habe, nicht zu üppig werde. Was der sich alles herausnehme, das habe man jetzt wieder gesehen! Die ganze Welt mit »du« anzureden, das sei ein Skandal. Und noch Handküsse zu verlangen! Eines Scherzwortes wegen! Das hätte ihm, Dolinsky, passieren müssen! ... Und als Anna wieder dazu lachte, steigerte sich seine Wut, die etwas Drolliges hatte. Der Teufel sei ein anständiger Kerl gegen Gläser. Und habe man nicht gesehen, wie feige er sei? Erst habe er das große Maul gehabt, und dann blamiere er sich. Ein hübscher Held, das müsse er sagen! Jetzt belustigen sich die Leute da unten über ihn; von Respekt vor ihm könne keine Rede mehr sein.

Dolinsky wies auf die Ausschachter, die den Rotbärtigen umstanden, der sich wie ein gefeierter Sieger vorkam. Sie kümmerten sich nicht viel darum, ob ein Gefährlich-Kranker unter ihnen gelegen hatte, das sah man aus ihren lachenden Mienen. Schmutz hielt warm, und wer sterben sollte, dem war das Schicksal eben beschieden. »Sieh' doch, wie er sich reckt, und hör', wie sie spotten. Sie können es noch immer nicht begreifen.«

Einige witzelten auf polnisch, und so konnten beide alles verstehen. Als die Leute dann Dolinsky erblickten, schwiegen sie und gaben sich Zeichen, denn es war ihnen bekannt, daß er ihre Sprache verstand. Man fürchtete ihn, weil man glaubte, er könnte ihre Bemerkungen weitergeben.

»Wie kannst du nur sagen, daß er feige ist«, hielt Anna ihm entgegen. »Er hat nur Angst um sein Kind, denn kein zweites blühte ihm, wenn er es verlöre.«

»Und darin liegt eben sein Egoismus«, sagte Dolinsky wieder. »Ich glaube, wir könnten hier alle sterben, es würde ihn nicht weiter rühren. Wenn nur sein Junge am Leben bliebe.«

»So denkt ein jeder von uns«, gab sie zurück. »Das liebste liegt uns immer am nächsten.«

»Dann gib den Hampelmann drüben ab und scher' dich endlich zu deinen Kindern, vernachlässige sie nicht«, schnauzte er sie zum Schluß abermals auf polnisch an, mit einer Heftigkeit, die sie fast starr machte.

Er hatte schon erwartet, daß diese starke Frau, die ihn manchmal wie ihr größtes Kind behandelte, mit ihrer ganzen Überlegenheit über ihn herfallen würde, als er etwas Überraschendes erlebte. Nicht wie sonst brüstete sie sich, sondern blieb still. Leise kam es dann über ihre Lippen: »Wie kannst du sagen, daß ich unsere Kinder vernachlässige! Sind sie nicht immer blitzblank und sauber? Pfui, schäme dich. Und was geht's dich an, wenn ich noch Zeit für anderes Unglück finde! Das ist nur Menschenpflicht. Du bist ebenso selbstsüchtig wie Gläser, dem du doch Dank schuldest, denn er gibt dir Brot. Ihr Männer könnt noch so klug sein – ein Weib, das viel erduldet hat, werdet ihr doch nicht verstehen.«

Und nun war es ihm, als wenn ein Wunder geschähe. Denn er sah sie leise weinen, sie, die sonst niemals schwach gegen ihn wurde und sich etwas darauf einbildete, die stete Siegerin in der Ehe zu bleiben. Und das machte ihn so verblüfft, daß er nicht wagte, den Angriff fortzusetzen. Gewohnt daran, stets zu unterliegen, stimmten ihn diese Tränen fast glücklich, denn er glaubte, darin ihr Geständnis zu sehen, daß sie sich endlich vor ihm beuge. »Aber Anna, was ist dir?« rief er aus. »So weine doch nicht, du törichte Frau! Es war ja Dummheit von mir, so etwas zu sagen. Sei doch wieder gut und bleib nur so, wie du bist. Nie will ich mich wieder beklagen.« Und dabei ahnte er nicht, daß er dadurch ihr freiwillig wieder die Macht gab, die er schon errungen zu haben glaubte.

»Ach, laß mich!« wehrte sie ihn kurz ab und ließ ihn stehen.

»Du bist mir ein Rätsel«, rief er aufs neue aus, abermals verblüfft über ihre plötzliche Härte.

»Dann löse es doch«, sprach sie zurück und schritt rascher vorwärts, ohne sich noch einmal umzublicken.

Das war leicht von ihr gesagt, er sah es ein. Noch eine ganze Welle verharrte er auf demselben Fleck, bevor er den Weg der andern nahm, nun wieder mit erwachtem Ingrimm, denn mehr als je fühlte er, daß er niemals die erste Geige im Hause werde spielen können.

Dolinsky hatte Gläser richtig bewertet, denn schon nach acht Tagen wurde es ihm klar, daß der ausgebrochene Typhus vertuscht werden sollte. Man hatte alle Minen springen lassen, um den Fall nicht in die Öffentlichkeit zu bringen; denn erfuhr man erst, daß jetzt schon das Sumpfland seine Opfer forderte, dann war der Nimbus von »Berlinend« für immer verschwunden. »Das wäre ja noch schöner, daß uns das passierte«, hatte Gläser gesagt und sofort eine gründliche Scheidung unter den Leuten vorgenommen. Der Rotbärtige bekam den Laufpaß und mit ihm ein Dutzend anderer Genossen, die in derselben Baracke lagen. Mochten sie gehen, wohin sie wollten, wenn nur das Ansehen der Gründung gewahrt blieb. Neuer Hunger gab neue Menschen, und wenn man winkte, kamen sie heran, gelockt von der Aussicht auf tägliches Brot.

Als dann doch die Nachricht durchsickerte, daß es mit dem Gesundheitszustand hier draußen nicht besonders bestellt sei, feierte Gläsers Schlauheit wieder Triumphe. Er hatte in dem Stallgebäude des einsamen Krugs der »Neid-Gemeinde« einen Trupp Wasserpolaken einquartieren lassen, und als dort einer am Typhus erlag, ward rasch das Übel auf die Nachbarn abgewälzt, und er durfte innerlich lachen. Mochten sie schimpfen und sich nach Kräften wehren – die Tatsache blieb doch an ihnen hängen! Das übrige tat die »Lösung«, die mit schallenden Posaunentönen von »Mißgunst und Verleumdung« sprach und weiter das Lied von dem steten Gedeihen »Berlinends« in frischer Luft auf trockenem Boden sang. Und um möglichst rasch die Blöße zu verdecken, wurde die Verkleidung der Landschaftsschönen nicht mehr so sorgsam vorgenommen, was schadete es auch, wenn das Gewand etwas durchlöchert war – die Hauptsache blieb doch, heraus aus diesem Sumpf zu kommen, bevor die Angst die Menge packte. Man brauchte nicht immer das Fundament aus Quadern zu bauen, es genügten auch schon gewöhnliche Steine. So schlug man ein anderes Verfahren ein, versenkte die Kasten nicht mehr so tief und sparte Zeit und Geld. Dann kam man auf den Einfall, die Häuser an den Wiesenstraßen überhaupt nicht zu unterkellern, ihnen nur ein niedriges Stockwerk zu geben und sie hinzusetzen, so gut es ging.

Trotzdem der erste Schreck vorüber war, lebte Gläser in beständiger Furcht, die Ansteckungsgefahr könnte sich wiederholen. Acht Opfer hatte der Krankheitsherd gefordert, bevor er glücklich erloschen war, mit jener stillen Glut, die langsam verblaßt, ehe der Schein allzuweit bemerkbar wird. Allen Beamten lag daran, die Verschwiegenheit mit sich herumzutragen, denn fiel der Ruhm ihrer Hände, so fielen sie auch mit. »Station Jauche« wurde von Gläser gemieden wie ein verhaßter Ort, an dem ein Mensch zum ersten Male seine verderbliche Schwäche fühlte. Der ganze Landstrich stand für ihn sozusagen dauernd unter Quarantäne, die von ihm und seiner Familie beachtet werden müsse. Und er hatte sich gelobt, nicht eher seine Besichtigung bis dort auszudehnen, bevor nicht die Grundarbeiten beendet wären; und sorgsam achtete er darauf, daß weder Anna noch Viktor jemals ihre Schritte über die Grenze lenkten. Dieser Mann mit den starken Nerven, der rücksichtslos den Weg über Leichen begann, hatte Angst vor einem jähen Tode, denn er dachte mit Schrecken daran, was aus dem Unglückskinde werden sollte, wenn er selbst vor der Zeit hinüber ins Jenseits ginge.

Er war wieder mit sich zufrieden, als Bohnenstiel ihm einen Strich durch die Rechnung machte, indem er laut seinen Austritt aus dem Wohlfahrts-Ausschuß der Landhausstadt verkündete, und zwar mit Gründen, die zu denken gaben, in jener zart angedeuteten Weise, die alles zwischen den Zeilen verrät, ohne daß man dem Urheber beizukommen vermag. Für jedermann war es sicher, daß die alte Exzellenz mit dem klangvollen Namen ein Haar in dieser Gründungssuppe, die von Jahr zu Jahr verdünnt wurde, gefunden haben mußte. Und der Widerhall blieb nicht aus. Pressestimmen erhoben sich, so daß Gläser mit Fragen bestürmt wurde. Das Wort »verjauchte Gründung« war geschaffen, erweckte die Börsenwitze und machte die Runde durch das Lager der Freunde und Feinde.

Gläser schäumte vor Wut, die um so heißer ihre Wellen schlug, als diesem »Äh, äh«, wie er ihn nannte, nicht beizukommen war; denn bekämpfte er ihn mit seiner eigenen Waffe und enthüllte er den Reinfall mit dem Gutskauf, so schlug er sich selbst und bestätigte das, was er verschleiern wollte.

»Und diesen Krauter habe ich redlich bestochen und war so dumm, mir keine Quittung geben zu lassen«, ging er eines Vormittags unvorsichtig aus sich heraus, »wer glaubt mir jetzt, wenn ich behaupte, daß seine ganze sogenannte ideale Teilnahme nur purer Schwindel sei. Niemand! Sie sehen, man kann selbst so einer abgewirtschafteten Exzellenz nicht mehr trauen, die mit ihrem Ähähäh-Handschlag noblesse oblige heuchelt. Ich habe ja immer gesagt, es fehlt mir die Nische mit dem Vorhang!« Und er vergaß sich weiter im Schimpfen, bis er endlich mit der Wendung kam: »Ich gäbe jetzt wer weiß was, wenn ich dem Kerl eins auswischen könnte.«

Herbst zögerte nicht lange. »Darf ich Sie beim Wort nehmen, Herr Direktor?« fragte er mit jenem bezaubernden Lächeln, das ihm stets zu Gebote stand, sobald er seinen Chef für sich einnehmen wollte. »Aber nein, nein, nein, es ist ja nur Scherz«, fügte er rasch hinzu, um ihn in Spannung zu bringen. Und als Gläser in ihn drang, kam er mit der Mitteilung hervor, daß er damals »zufällig« die ganze Unterredung deutlich gehört habe. Man habe so laut gesprochen, daß es durch die Türe gedrungen sei. Und fast Wort für Wort wiederholte er das Gespräch. Zum Überfluß langte er sein Stenogrammbuch hervor, in das er noch an demselben Tage die Eintragungen gemacht habe, denn er sei sogleich davon überzeugt gewesen, daß er ihm damit später noch einen wesentlichen Dienst werde leisten können.

Gläser war zwar baff, aber im Augenblick doch so von der Freude übermannt, daß er das »zufällig« gar nicht näher erwog. Sofort ersuchte er ihn, das Stenogramm noch heute zu übertragen, und ganz im Taumel des Glücks, wollte er sich auf der Stelle erkenntlich zeigen. »Sagten Sie nicht neulich, Sie hätten notwendige Verbindlichkeiten für Ihre Familie zu erfüllen? War's nicht so, he?« fuhr er in derselben Laune fort. »Sie haben in diesem Sommer draußen viel gearbeitet, ich sehe es ein. Wie wär' es, wenn ich Ihnen eine Extragratifikation bewilligte, he?«

In der Tat hatte ihn Herbst, der seit einem Jahre in Schulden steckte, mit dieser Ausrede belästigt, ohne daß er aber sofort Berücksichtigung gefunden hätte. Nun klappte er wieder die Hacken zusammen und machte unter Redensarten die übliche Verbeugung, die zum Danke noch tiefer als sonst ausfiel. Gläser wollte gar nicht die näheren Gründe hören. Er gab ihm eine Anweisung an die Kasse über zweitausend Mark und rechnete dabei sofort aus, daß ihm dieser unerwartet geleistete Dienst das Zehnfache wert sei. Dann, als Herbst unter erneuten Bücklingen in sein Zimmer gegangen war, blickte er ihm eine Weile nach und sein Gedanke dabei war: »Ein Windhund ist er doch, aber einer, mit dem man sich sehen lassen kann!«

Ja, er war ein flottes, talentvolles Kerlchen, das mußte er sagen. Fast so gewitzt und mit weitem Blicke ausgerüstet wie er, Richard A. Gläser, nur mehr ins Geschniegelte übertragen, ohne das starke Rückgrat der zähen Naturen, die sich schwer zur Erde neigen können.

Und er freute sich nochmals, die Treue des Vertrauten belohnt zu haben.


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