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4.

Er sah ein, daß sie hier nicht zusammen wohnen konnten, denn bei Beginn des neuen Lebens wollte er frei und unabhängig bleiben. Gleich allen eigennützigen Menschen, die bloß äußerliche Güter im Auge haben, belog er nicht nur andere, sondern auch sich selbst, und so setzte er sich über seine Handlungsweise leicht mit dem Gedanken hinweg, daß er eigentlich Anna ganz gern habe, aber nicht als Braut, nicht als ewiges Hindernis seines kühnen Fluges. Keinen Augenblick dachte er daran, sie für immer um das Geld zu betrügen. Sicher würde er bald in die Höhe kommen und ihr dann die »paar Kröten« mit einem Extrageschenk großmütig wieder zurückgeben. Er wußte, daß sie ihm auch freiwillig alles geopfert hätte und geduldig alles abgewartet haben würde, dann aber wäre er immer in ihrer Verpflichtung geblieben und sie nicht losgeworden. Darum hatte er diese Komödie gespielt, die seiner Verschlagenheit alle Ehre machte. Anna war darüber nicht gestorben, das blieb die Hauptsache, und wenn er obendrein noch bedachte, daß sie trotz alledem hierbleiben wollte, so empfand er den Gewissensdruck um so weniger.

Auf dem Bahnhof empfing er die Nachricht, daß die telegraphische Anfrage auf der betreffenden Station [ Zeile fehlt, Druckfehler. Re.]schade um das Geld, noch 'mal zurückzufahren,« sagte er zu ihr, »schließlich säßen wir hier noch ganz blank.«

Sie nickte nur, denn es war ihr gleichgültig, was geschähe.

Wie ein Feldherr niemals ohne fertigen Plan in die Schlacht geht, so war auch Gläser kenntnisreich in sein Eroberungsgebiet eingerückt. Schon monatelang vorher hatte er sich aus der Ferne mit Berliner Verhältnissen vertraut gemacht, denn er las eifrig die Zeitung der Reichshauptstadt, die sein Prinzipal hielt, und erlebte förmlich alles mit, was in der großen Stadt passierte. Das übrige tat der engere Verkehr mit einem geborenen Berliner, der in das kleine Nest verschlagen worden war und der ihm immer aufs neue Einzelheiten mitteilen mußte. So hatte er ein ganzes Notizbuch vollgeschrieben mit allen diesen Dingen, die sich nicht nur auf das tägliche Leben, auf den Erwerb und auf die Verkehrsverhältnisse bezogen, sondern auch vollgespickt waren mit allerlei Redensarten, die er anwenden müsse, um sich nicht verblüffen zu lassen. Es war wie ein großes ABC im Umgang mit Berlinern, das er bei sich trug und aus dem er bei jeder Gelegenheit schöpfen konnte.

Als Anna Schiman ihm von dem Mann erzählte, der sie angesprochen habe, rief er unwillig aus: »Aber warum hast du mich denn nicht gerufen? Das war ein Bauernfänger. Dem hätte ich bald Hoppegarten beigebracht.« Und als sie ihn fragend ansah, gab er ihr die Aufklärung, daß »Hoppegarten« der große Rennplatz außerhalb der Stadt sei und daß man so sage, wenn einer lange Beine machen sollte. Ja, ja – ihm durfte keiner kommen, er war gewappnet für Spreeathen!

Beim Frühstück im Gastzimmer, wo sie nun ganz allein saßen, da der Apotheker jetzt die Schneeluft draußen atmete, statt sie zu trinken (er nannte Korn mit Pfefferminz so), studierte Gläser eifrig das »Intelligenz-Blatt«, in dessen vielen Beilagen zur Zeit die meisten Stellen angekündigt waren, besonders für das große Volk. »Das ist etwas für dich,« sagte er und las laut vor: »Anständiges Mädchen von außerhalb, das auch in der Wirtschaft helfen kann, wird sofort bei seiner Herrschaft verlangt, Potsdamerstraße.«

Sie hatten beide ihre Sonntagskleider angelegt und machten sich auf den Weg. Der Omnibus am Bahnhof fuhr nach jener Richtung und zwar mitten durch die Stadt, so daß Gläser sich von der weiten Fahrt ein besonderes Vergnügen versprach. Trotz der Kälte kletterte er auf das Verdeck, während Anna im Wagen Platz nehmen mußte, wo sie sich in die Ecke am Eingang drückte, um in stiller Bekümmernis über die rasche Wendung des Schicksals nachzudenken. Gern hätte sie etwas im Fluge von den Sehenswürdigkeiten der großen Stadt erhascht, aber ein dichter Nebeldunst hatte sich plötzlich über die Straßen gelegt und nahm dem Blick die Aussicht.

Oben spreizte sich Gläser möglichst behaglich, eine Zigarre im Munde, die er tüchtig paffte, um sie in Brand zu halten. »Kalten Mut und warm angezogen«, dachte er, wieder nach Berliner Art, als der Rumpelkasten, von den kräftigen Litauern in Gang gebracht, den dicken, grauen Dunst durchschnitt. Unter dem Geklapper der schweren Hufeisen keuchten die Rosse auf den glatten Steinen, und ihr heißer Atem stieg hell empor durch die Nebelwogen, die das steinerne Meer durchzogen.

Ja, steinernes Meer! Das war die richtige Bezeichnung, wie Gläser sich bei dieser ersten Durchquerung Berlins gestand. Zwar hatte er kein Wasser unter sich, zwar saß er auf keinem Schiff, aber er thronte auf schwankem Fahrzeuge, vernahm das unaufhörliche Branden und sah die gefährlichen Riffe auf beiden Seiten. Und war es nicht dasselbe wie auf empörten Meereswogen, dieses Auf und Nieder des Daseins, das die einen zerschellen ließ, die andern reich beladen ans Ziel führte? Wie es in die Luft klang, das Großstadtgetöse, mit seinen tausend Tönen aus tausend verschiedenen Noten, die sich schließlich in dem Riesenorchester doch zu einem erhabenen Ganzen fanden, mit dem Leitmotiv: »Kämpfe, kämpfe! Lebe, lebe! Genieße, genieße!« Wie sie aneinander vorüberhasteten, die Zehntausende und aber Zehntausende, so friedlich äußerlich, und doch mit der deutlichen Gier, über die Nächsten hinwegzukommen, ganz gleich, ob es ihnen schade oder nicht. Und wie still das alles abging! Wie sie sich durchschlängelten, rechts und links, sich liebenswürdig auswichen, die vom Osten und Westen, und die vom Süden und Norden, als könnten sie sich gegenseitig kein Wässerchen trüben. Aber recht so, denn so mußte es sein nach Gläsers Geschmack: Sturm laufen ohne Blutvergießen, Sieg ohne Lärm und Aufregung, Begehen strafloser Verbrechen im Gewande harmloser Bürger, ein verbindliches Lächeln auf den Lippen. Alles mit Gemütsruhe, alles unter dem Schutze des Gesetzes.

Gläser fühlte sich gehoben bei diesen Betrachtungen, die er am liebsten der Menge da unten, die wie ein Gespenstertroß im Nebel wandelte, zugerufen hätte mit der spöttischen Schlußbemerkung: »Seid vorsichtig, ihr lieben Leute, ich bin da – ich, August Gläser!«

Ein sehr verfroren aussehender Mann, der bis jetzt mit ihm allein das Verdeck teilte, kam von der andern Bank herüber und setzte sich mit auffallender Geschäftigkeit neben ihn. Er steckte noch in einem alten Sommerüberzieher, über dessen emporgeschlagenem Kragen die spitze, rot angelaufene Nase verwegen in die Welt ragte. Nachdem er das Pärchen aus dem Gasthof hatte kommen sehen, war er gleich nach Gläser auf den Omnibus gestiegen und hatte den Fremden aufmerksam gemustert, ohne recht klug aus ihm zu werden; nun jedoch ging er zum Angriff über. Zähneklappernd vor Frost begann er mit einer gewissen gemachten Höflichkeit: »Entschuldigen Sie nur, mein Herr, wenn ich mir erlaube ... aber Sie sehen so vertrauenerweckend aus.«

Er wollte Gläser einen schweren Siegelring mit einem großen roten Stein, einem »echten«, wie er sagte, für die Hälfte des Wertes verkaufen, weil er augenblicklich in Not sei. Schon lange habe er keine Arbeit und er trenne sich nur ungern von diesem alten Erbstück, aber er möchte es in guten Händen wissen. Mit zwei Talern würde er sich zufriedengeben.

Gläser spielte den Harmlosen, nahm den unechten Ring, der jedenfalls mit Blei gefüllt war, und sagte durchaus ernst: »Fünf Groschen will ich dafür geben. Haben Sie noch mehr davon?«

Sofort bekannte der andere Farbe. »Sie sind wohl nicht von hier?« rief er entrüstet und rückte von ihm fort.

»Da haben Sie recht«, erwiderte Gläser gelassen. Als er den andern, der unaufhörlich schimpfte, die eiserne Stiege hinunterklettern sah, lachte er hinter ihm her. Ihn wollte ein Ringnepper hineinlegen – ihn, der er mit Schlauheit vollgepfropft aus der Provinz gekommen war, um selbst andere hineinzulegen! Als wenn er nicht schon genug über dieses Gesindel gelesen hätte, das sich an »die von außerhalb« heranmachte, um sie gründlich zu betölpeln! Gläser war mit sich zufrieden, denn er hatte das erste offene Gefecht erfolgreich bestanden. In diesen Sieg mischte sich nur der leichte Ärger darüber, daß man ihn auch für einen der »Dummen, die nicht alle werden«, gehalten hatte, aber rasch tröstete er sich damit, daß der Mangel an Lebenskenntnis bei dem Gauner vorhanden sei, nicht bei ihm.

Und als nun plötzlich die Sonne das graue Gewölk am Himmel durchbrach und den Straßennebel kraftvoll durchleuchtete, bis er allmählich wie durch Zauberspruch verschwand, erfaßte ihn der Dünkel, das geschähe allein seinetwegen, um ihn würdig zu begrüßen. Nun lag das steinerne Meer im Glanze des hellen Tages, nun sahen die Menschenwogen freundlicher, verheißungsvoller aus, und die Häuserriffe verloren den finsteren Schrecken, denn unten zeigten sich die Läden mit ihren buntgefüllten Schaufenstern, und an den Straßenecken prahlten die Litfaßsäulen mit rot, blau und grün.

Der Omnibus durchwackelte den Mühlendamm mit seinen dunklen Gewölben voll alter Kleider, vor denen die berüchtigten »Anreißer« unruhig auf und ab schritten, um jeden, der eine neugierige Miene zeigte, fast mit Gewalt in den Laden zu schleppen. An den Türhaken hingen Uniformen mit roten Kragen und goldenen Tressen, Fräcke, Hosen und Westen friedlich nebeneinander. Öfters saß ein dickes Weib unter den Bergen von Kleidungsstücken und trank Kaffee, die Finger krampfhaft um die heiße Tasse geklammert. Die jungen Leute aber übten sich im Dauerlauf oder lehnten an den Säulen mit der stolzen Miene zukünftiger Rothschilds.

Gläser fiel der schöne Vers ein, den er irgendwo gelesen hatte:

»Auf dem Mühlendamm
Sitzt ein Mann mit Schwamm,
Der hat so schön karierte Hosen an.«

Plötzlich reckte er den Hals, denn er sah den polnischen Juden aus der Eisenbahn langsam, auf einen Stock gestützt, an den Läden vorüberschreiten und dann vor einem Glaubensgenossen haltmachen, mit dem er eifrig sprach. Zwei der Anreißer kamen hinzu und beäugten ihn neugierig von oben bis unten.

»Heda!« rief Gläser laut hinunter, erfreut darüber, ein bekanntes Gesicht zu sehen.

Der Mann im Kaftan blickte sich um und erkannte ihn, aber statt seinen Gruß zu erwidern, spie er aus, und zwar so deutlich, daß Gläser die Absicht merkte. Er verstand: das sollte die Quittung darüber sein, daß er den Kranken hilflos im Wagen hatte liegen lassen. Beschämt und wütend wandte er den Kopf und tat so, als wäre er nicht damit gemeint.

Man durchfuhr die Leipziger Straße, die glänzendste Verkehrsader Berlins, die aus dem Herzen der Stadt hinein in den vornehmen Westen führte. Gläser blickte eifrig nach rechts und links; er trank förmlich mit den Augen, um sich heimlich zu berauschen an diesem großen Getriebe, das ihn aufnehmen sollte in seine Mitte. In zehn Jahren wollte er hier anders lang fahren, als auf einem Omnibus. Im Fond seiner Equipage würde er dann sitzen, Gleichgültigkeit im Gesicht und nicht die Spannung des heutigen Tages. Er las jedes Schild, prägte sich fast die Namen ein, lächelte befriedigt bei solchen, die ihm aus den Zeitungsankündigungen im Gedächtnis lagen, und begrüßte sie in Gedanken wie gute Bekannte, denen er baldigst seinen Besuch machen müsse.

Die Wunden der Gründerzeit begannen bereits zu heilen, die unzähligen Krachs waren verhallt, Berlin reckte sich aufs neue zur Weltstadthöhe, aber diesmal mit gesunder Kraft. In den Fabriken und Kaufmannshäusern regte sich wieder das Leben, Palast an Palast war entstanden, ganze Straßenzüge hatten sich verwandelt, die riesigen Mietskasernen mit ihrem modernen Stuck zerdrückten allmählich die kleinen, schmucklosen Gebäude, und der Steinkoloß, der innerlich immer mehr wuchs, dehnte seine Fülle nach allen Seiten und streckte, gleich einer ungeheuren Spinne, seine Fänge weit nach den Vororten hin aus. Noch stand die berühmte alte Apotheke am Potsdamer Platz, wie eine kümmerliche Baracke, trotzend dem neuen Ansturm, der sie auf Nimmerwiedersehen wegfegen würde; und als Gläser sich bei seinem Nebenmann auf dem nun vollbesetzten Verdeck nach dem Zweck dieses verwitterten Mauerwerks erkundigte, mußte er unwillkürlich an den wunderlichen Mann draußen im Gasthof denken, der so sonderbare Ansichten vom Leben hatte. Er sollte ihm gewiß nicht durch die Finger gehen, denn auf ihn setzte er seine Hoffnung, wie jemand, der eine unbeachtete Quelle entdeckt hat, die Heilung für die Menschheit verspricht. Aufmerksam hatte er die Straßen mit ihren Hausnummern verfolgt. Schon vor der Fahrt, noch im Wirtszimmer, hatte er den Plan von Berlin emsig studiert, weil er es vermeiden wollte, durch Fragen allzusehr als Fremder zu gelten. Und als sie nun hinter der Potsdamerbrücke ausgestiegen waren, nahm er gleich den richtigen Weg.

Es war ein altes, zweistöckiges Gebäude mit großen Fenstern und einem riesigen Torweg, das sie betraten, eins jener Häuser, die noch aus früherer Zeit stammten und sich in ihrem Innern durch eine auffallende Raumverschwendung auszeichneten. Eine breite Treppe mit flachen Stufen, deren Geländer schmiedeeiserne Füllungen zeigte, wand sich in freier Schwingung zu den Stockwerken hinauf, so daß man in die Tiefe blicken konnte. Bronzefiguren standen in den Nischen, und die Wände trugen Malereien in pompejanischer Manier, stark verblaßt durch die Jahre.

Gläser wollte keck hinauf über den ausgetretenen Läufer, der Portier jedoch, ein kleiner Mann mit Arbeitsschürze, der sofort aus dem Keller herausgekommen war und nach seinem Begehr gefragt hatte, bedeutete ihm, daß er den Weg hübsch die Hintertreppe hinauf nehmen müsse. Dabei wies er auf die zweite Flurtür, durch deren Scheiben man einen großen Garten erblicken konnte, in dem alles verpuppt im Winterschlafe lag.

»Wie? Was? Wofür halten Sie uns denn?« schrie Gläser ihn an, getreu seinem Grundsatze, sich nicht verblüffen zu lassen. »Man wird Ihnen nachher schön den Marsch blasen.« Schlau, wie er war, hatte er ihn ausgeforscht und dabei erfahren, daß die Dame im zweiten Stock die Witwe eines Versicherungsdirektors sei und mit ihrer einzigen Tochter zusammenlebe. Es war also kein Mann vorhanden, und so brauchte man nicht zu fürchten, schlecht empfangen zu werden. Der Portier, der nun erst Verständnis für die Feiertagskleidung des Pärchens zu haben schien und etwas anderes dahinter witterte, zog sich eingeschüchtert zurück. Gläser lachte und ging großspurig die Treppe hinauf, Anna mit sich ziehend, die vor Angst bebte.

»Siehst du, so muß man's machen«, sagte er gemütlich. »Laß mich nur reden und sage so wenig als möglich. Sonst verdirbst du uns alles; denn manche Herrschaften wollen genommen sein.« Und er brachte ihr bei, daß es besser für sie wäre, nicht als Braut zu gelten, denn man könnte Anstoß daran nehmen. Wenn er etwa zu viel sage, solle sie sich nichts daraus machen, es geschehe nur zu ihrem Besten. Erst als sie das Haus betreten hatten, war ihm das alles durch den Kopf geschossen, und so erlag er wie immer dem augenblicklichen Einfall; denn sobald etwas Böses in ihm auftauchte, stand er unter dem unbezwinglichen Drange, ihm zu folgen. Anna, die darin keinen Hintergedanken sah, widersprach nicht, sondern hatte nur den lebhaften Wunsch, es möchte in diesem feinen Hause alles gut für sie ablaufen.

Oben wurden sie von einer alten, aber noch sehr beweglichen Dame empfangen, die ein goldenes Pincenez auf der Nasenspitze trug und sofort lebhaft in ein Nebenzimmer rief: »Klothilde, sei doch so gut!«

Gleich darauf ließ sich die Tochter sehen, ein großes, stattliches Mädchen mit nicht unschönen, aber vergrämten Zügen, wie sie die späten Mädchen manchmal haben, deren heißeste Wünsche niemals in Erfüllung gegangen sind. Sie steckte in einem sehr eleganten Morgenkleid und hatte sich so stark parfümiert, daß der ganze geräumige Korridor, der sich fast wie ein Zimmer ausnahm, davon erfüllt war. Mit vollen Nüstern sog Gläser diesen Duft ein, wie das Geschenk einer ihm bisher fremden Welt, durch das er sich beglückt fühlte.

»So mach' doch das allein ab, Mama«, sagte sie mit einer gewissen Müdigkeit in ihrer Stimme, nachdem sie beide rasch gemustert hatte. Sie hielt Gläser, der sie mit seinen Augen fast verschlang, für einen Vermittler ohne Manieren, der diesmal die Mietsfrau ersetzen sollte. Schon wollte sie wieder verschwinden, als sie durch den beginnenden Höflichkeitsschwall des zudringlichen Menschen zurückgehalten wurde.

»Die gnädigen Damen wollen entschuldigen, wenn wir so früh schon stören, aber als ein Verwandter des jungen Mädchens fühle ich mich verpflichtet –« Und es folgte ein ganzer Blütenstrauß schöner Redensarten, die rasch alles erschöpften, was er für nötig hielt, vorzubringen. »Moralische Verpflichtung ... Gefahren der Weltstadt ... Sorge des alten Vaters daheim ... Erfüllung des Versprechens, ein junges Mädchen in guten Händen zu wissen«, und noch anderes mehr. Leben war in sein Vogelgesicht gekommen, das mit verbindlichem Lächeln bald zur Mutter, bald zur Tochter ging; und während er sorgsam jeden Satz abwog, dienerte er unaufhörlich, als stünde er noch hinter dem Ladentisch seines Heimatsnestes und fertigte die Kunden ab. Trotzdem er sich geschniegelt und gebügelt hatte und den Gebildeten herausbiß, wurden die Damen nicht ganz klug aus ihm; aber seine übertrieben richtige Aussprache und die offenbarte Gesinnung erweckten ein gewisses Interesse und den Wunsch, ihn näher kennenzulernen. Frau Teichert hatte zwar bereits erklärt, betreffs der Stelle keine bindende Zusage machen zu können, aber teilnahmsvoll bat sie das Pärchen in das Wohnzimmer hinein. Als alle sich gegenübersaßen, nickte Anna nur oder sagte kurz ja oder nein. Gläser jedoch, der schwarze Glacés anhatte und den neuen steifen Hut kokett auf das Knie gestemmt hielt, sprach unaufhörlich und musterte dabei hin und wieder die teure Einrichtung des Zimmers, die ihn mit Wohlbehagen erfüllte. Dann wieder ließ er dreist seinen Blick auf Klothilde ruhen, an der er immer nur die majestätische Figur sah, die seinen Respekt herausforderte. Es war, als wollte er ihr fortwährend zurufen: »Du gefällst mir! Weshalb bist du eigentlich unverheiratet geblieben?« Und sie, die anfing, diese Unverfrorenheit komisch zu finden, erwog inzwischen bei sich, in welchem tieferen Zusammenhang diese beiden Menschen wohl stehen könnten und ob das Schweigen des Mädchens nur Verstellung sei.

»So so, Sie sind also heute erst angekommen«, sagte Frau Teichert. »Dann ist es hübsch von Ihnen, daß Sie sich Ihres Schützlings gleich so wacker annehmen.« Und sie fügte hinzu, daß sie die Sache in Erwägung ziehen wolle. Jedenfalls mache das junge Mädchen einen netten Eindruck auf sie und würde es gut bei ihr haben. »Was meinst du, Klothilde?« fragte sie wieder.

»Ich füge mich ganz deinen Wünschen«, gab die Tochter nachlässig zurück. »Vielleicht könnte man sie für meine Dienste anlernen, sie sieht danach aus.«

»Oh, sie ist nicht dumm«, warf Gläser ein, der nichts Besonderes darin fand, seine Braut wie eine Sache behandelt zu sehen.

Anna lachte leicht auf, weil sie diese Bemerkung von ihm wie einen seiner Späße empfand. Dann sah sie ein, daß sie endlich etwas sagen müsse, und so gab sie die Aufklärung, daß sie bei der Frau Fabrikdirektor daheim, wo sie drei Jahre gewesen sei, schon Zofendienste verrichtet habe, im übrigen aber halb zur Familie gerechnet worden sei. Sie werde bestrebt sein, sich die Zufriedenheit der gnädigen Frau und des gnädigen Fräuleins zu erringen.

»Und Sie, was sind Sie denn eigentlich?« wandte sich die alte Dame wohlmeinend an Gläser. »Wollen Sie auch hier bleiben?«

»Aber gewiß doch, Berlin hat ja schon auf mich gewartet«, erwiderte er mit pomadiger Ruhe. »Ich bringe eine große Neuheit mit, die mir schweres Geld verspricht. Sie müssen nämlich wissen, daß ich Kaufmann bin, aber keiner von der gewöhnlichen Sorte ... Na, und dann möchte ich mir meinen eigenen Hausstand gründen, wenn ich so weit bin. Aber erst muß ich meine Christenpflicht gegen das arme Mädel hier erfüllen, ich sagte es ja schon. Solche armen Verwandten hängen allen guten Familien an ... Sie hat kräftige Arme, also ersparen Sie ihr nichts. Immer tüchtig arbeiten, so heißt's im Leben. Und dann soll sie besonders streng gehalten werden, das ist die Hauptsache.«

Anna war sprachlos über diese Kühnheit, die sie in Gedanken als etwas viel Schlimmeres bezeichnete, aber aus seiner Aufschneiderei hörte sie doch wieder die Worte heraus, die ihr am besten gefielen.

»Sie nehmen sie doch, nicht wahr?« fuhr Gläser fort in einer Art, als verstünde sich das von selbst. »Und wenn Sie erlauben, erkundige ich mich öfters nach ihrem Wohlergehen. Ich muß dem Vater schreiben, was sie treibt.«

Als er von der Gründung des Hausstandes sprach, glaubte Klothilde sich von ihm besonders beobachtet zu sehen; und diesmal färbte sich ihr Gesicht, denn ein anderer hatte plötzlich gesprochen, ein Mann, der zwar keine tadellosen Manieren und kein besonders einnehmendes Äußere besaß, aber unzweifelhaft zu der gebildeten Klasse gehörte und einen würdigen Beruf vertrat. Und daß er so unaufgefordert seine Pläne enthüllte, konnte eigentlich nur für seinen Ehrgeiz sprechen. Frau Teichert, die wie jede Mutter einer unversorgten Tochter sich sofort ihre Gedanken machte, betrachtete diesen merkwürdigen Besuch wie einen kleinen Fingerzeig, den man nicht so ganz ohne weiteres außer acht lassen dürfe. Auf alle Fälle kostete es nichts, wenn man sich für diesen Mann näher interessierte. Es lag etwas Bestimmtes in ihm, ein gewisses Selbstbewußtsein, eine Begabung, andere zu fesseln, und das entsprach um so mehr ihrer Auffassung vom Leben, als sie gerade in diesen Minuten an den Unternehmungsgeist ihres Seligen erinnert wurde.

Mutter und Tochter erhoben sich und flüsterten etwas zusammen; dann erklärte man sich bereit, vorläufig einen Versuch mit dem Mädchen zu machen. Anna ließ ihr Buch da und bedankte sich; Gläser aber ergriff ungeniert die Hand der alten Dame und drückte einen Kuß darauf, so daß sie ersichtlich in Verlegenheit geriet. Dieser Schlangenkünstler mit der zurückgebliebenen Provinzmode und der einfältigen Zuversicht kam ihr sonderbar vor, aber seine Liebenswürdigkeit beim Abschied war doch so bezwingend, daß sie sich vergaß und das Pärchen bis zur Tür begleitete.

»Nun, was sagst du zu den beiden?« fragte sie ihre Tochter, als sie wieder allein waren.

Klothilde stand mitten im Zimmer und lachte wie ein überreifes Mädchen, das gerne noch etwas Kindliches markieren möchte. »Hast du nicht bemerkt, wie mich dieser Mensch fortwährend ansah?« sagte sie. »Ich habe mich diebisch amüsiert, ich hätte platzen mögen.«

»Da siehst du wieder, was du noch für 'n Eindruck machst«, gab Frau Teichert zurück.

»Gerade keine Schmeichelei für mich, Mama. Du wirst doch nicht etwa glauben –? Mama, es wäre eine Beleidigung für mich! Solche findet man noch alle Tage. Hände hat er wie kleine Handkoffer.«

»Aber ein gutes Herz scheint er zu haben. Doch hübsch von ihm, sich so des Mädchens anzunehmen. Denk' doch an die trüben Erfahrungen! Röderlich machte einen so feinen Eindruck, und doch hat er uns gehörig angepumpt und sich nachher ohne jeden Grund zurückgezogen. Und wir mußten obendrein noch ruhig sein, damit wir mit dem Schaden nicht noch den Spott hätten.«

Klothilde war das Lachen vergangen. Sie seufzte nur leicht, trat an das Fenster und blickte nachdenklich auf die Straße, wo die Schneeflocken wieder ihren Wirbeltanz begannen. Und sie dachte noch weiter zurück, an alle die, die ihr den Hof gemacht hatten, die sie aber nicht wollte, bis dann allmählich der umgekehrte Fall eintrat und man sie zu den Sitzengebliebenen rechnete, die sich innerlich verzehrten und die äußerlich verblühten, wenn auch das Fleisch dicker und fetter wurde.

Draußen auf der Treppe fühlte sich Gläser noch immer von dem Parfümduft verfolgt, der etwas Berauschendes für ihn hatte. Im ersten Stockwerk angelangt, blieb er stehen. »Siehst du, so kriegt man die Leute 'rum«, sagte er in vortrefflicher Laune. »Hätte ich ihnen die Wahrheit gesagt, so wären wir bald wieder unten gewesen, so aber haben wir Glück gehabt. Wenn wir nur alles über uns wissen, andere brauchen's nicht. Nun heißt's für dich, mich nicht bloßzustellen, dann kommen wir beide vorwärts.« Und noch im Weitergehen paukte er ihr alles ein: was sie bei ihrer neuen Herrschaft verschweigen müsse. Innerlich beglückt, wollte sie sich an seinen Arm haken, er aber duldete es nicht mit dem Hinweis auf den Portier, der sie so sehen und darüber plaudern könnte.


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