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Dezember 1908

Jubel und Jammer.

Herr, erlöse uns von unserer Not und mach unserm Jubel ein Ende!, rief der Österreicher am Ausgang des Jahres 1908 und sank ermattet in das Faulbett der Geschichte. Arm am Beutel, krank am Herzen, schleppt' er seine langen Tage; aber anders als dem Schatzgräber Goethes ward ihm ein Zauberwort: Frohe Feste – Saure Wochen! …

Nun stehen wir da, die wir keinen Orden bekommen haben, und finden, es sei nicht der Mühe wert gewesen. Haben wir dazu einen Festzug veranstalten müssen? Es hat eine Zeit gegeben, wir alle haben sie erlebt, in der die Auszeichnung, keinen Orden zu bekommen, müheloser erreicht wurde als heute, wo sich einer schon durch ein besonderes Verdienst hervortun muß, um ihrer teilhaft zu werden. Es ist hart. Und wer vermöchte sich in die Lage eines Kaiserjubiläumshuldigungsfestzugsexekutivkomiteepräsidenten zu versetzen, der mit diesem Titel vorlieb nehmen muß und der am 2. Dezember das Nachsehn hat, wiewohl er im Amtsblatt der kaiserlichen Wiener Zeitung nachgesehen hat? O Jahr der Träume, o Tag des Erwachens! Zu spät erkennt der Mensch, daß er geirrt hat, solang er strebte. Denn am Ende seines Weges steht die Weisheit, daß viel eher noch als ein Festzug dessen Unterlassung zu jenen Verdiensten gehört, die einen Orden nach sich ziehen könnten. Weil aber die Probe auf das Gegenteil nicht gemacht wurde, wird er ewig im Dunkeln tappen, nämlich aus jenen Regionen der Gunst, in die er vergebens hineingekrochen ist, nicht mehr herausfinden. Aber er hat dieses Los seiner eigenen Unvorsichtigkeit zuzuschreiben. Denn ein Festzug und ein Orden, das ist zweierlei. Einen Festzug kann man im äußersten Fall gegen den Willen eines Kaisers durchsetzen, nie und nimmer aber einen Orden. Das ist ein Unterschied, den jedes Kind begreift, und vor allem jene Kinder, welchen der Kaiser die Wohltätigkeit des Jubiläumsjahres zugewendet wissen wollte. Darum keine übertriebene Humanität für die Ärmsten der Armen, deren in diesem Jahre niemand gedacht hat, für die Mitglieder des Festzugskomitees. Die Gerechtigkeit nimmt ihren Lauf, für unbezahlte Rechnungen gibt es keine Amnestie, und warum mußten sie auch noch die Blumen vom Kaiserzelt schuldig bleiben?

Es ist hart. Könnte man die Mengen von Schweiß, Loyalität und sonstigen Ausscheidungen, die dieses Jahr zwischen Preßburg und Passau ergeben hat, in einem einzigen Bückling aufwenden, der Himmel selbst müßte ein Einsehn haben und alle Dekorationen der Milchstraße verleihen! Aber so ward ein großer Aufwand unnütz vertan, und gerade die am meisten gerobotet hatten, kamen zu kurz. »Ist das Vatertreue? Ist das Liebe für Liebe?« Nun gehen sie vielleicht doch in die böhmischen Wälder! »Vertrauen, unüberwindliche Zuversicht,« ruft der Präsident der Bande, »und kein Erbarmen! … So eine rührende Bitte – Steine hätten Thränen vergossen, und doch, doch – o, daß ich durch die ganze Natur das Horn des Aufruhrs blasen könnte!« Karl Moor, der Hauptmann eines Exekutivkomitees, hat das österreichische Wort gerufen: »Diesen Demant zog ich einem Finanzrat ab, der Ehrenstellen und Ämter an die Meistbietenden verkaufte und den trauernden Patrioten von seiner Türe stieß« … Was sind denn das für Zustände? Wer keinen Orden verdient hat, bekommt ihn nicht? Das ist die alte österreichische Schlamperei. Aber es ist ein neuer Ton in diesem Jahrmarkt der Menschenwürde.

Nur der Satiriker ist für ihn dankbar. Denn er war längst einer Realität überdrüssig, in der just die abgebrauchteste Charge, der Titeljäger, den Spott am längsten überlebt hat. Die Lächerlichkeit eines Strebens, das sich sein Ziel nicht verdient, sondern verleihen läßt, die Gemeinheit einer Ehre, die ins Himmelreich kommt, wenn sie durch ein Knopfloch geht, die Leere einer Eitelkeit, die nicht vom Wert, sondern vom Ansehen lebt: sie finden noch immer ihre Kunden, und wenns einen Orden mit Nachsicht der Menschenrechte zu erlangen gälte, unsere Zeitgenossen liefen sich die Füße wund. Was sie zur Gesellschaft zusammenschließt, sind Bänder, und ihre Ausgeschlossenen sind Märtyrer, die kein Kreuz bekommen haben. Es ist das alte Lied von der Dummheit, die sich noch sehen lassen möchte, wenn ihr in Anerkennung ihrer Verdienste um den Weltuntergang ein Stern auf den Kopf fiele. Darum dankt der Humor für den neuen Ton. Uns, die das Getriebe in einem Jubiläumsjahr nicht mehr zu Vergleichen anregen und die nicht einmal das Gedränge um einen Futtertrog zu patriotischen Erinnerungen stimmen könnte, uns hat diese Zeit eine neue Spielart beschert: den gefoppten Streber, jenen, der die Taxe der Menschenwürde im voraus erlegt und dennoch den Orden nicht bekommen hat; der sich für das Vaterland auf den Kopf spucken ließ und schließlich als Idealist aus der Affäre hervorging. Einer, der sich auf dem Altar der Vaterlandsliebe geopfert hat, dem es aber nichts nützte, weil der Altar nicht bezahlt war.

Gut und Blut! erscholl es ein Jahr lang in Österreich. Das Gut mußte vor dem Handelsgericht eingeklagt werden, und das Blut wurde auf der Ringstraße vergossen, als sie auf den Einfall kamen, die Nacht eines Landes durch Lampions zu erhellen. Das Schauspiel wird allen Betrachtern unvergeßlich bleiben. Denn um zu sehen, wie am Abend des 1. Dezember Wien seit zehn Jahren wieder einmal anständig beleuchtet war, rückten anderthalb Millionen Menschen aus. Bei ungenügender Straßenbeleuchtung bleiben ebensoviele in den Häusern, und infolgedessen geschieht auf der Straße kein Unglück. Aber die beste Beleuchtung kann ein Unglück nicht verhindern, wenn alle auf einmal neugierig sind, sie zu sehen. Das Schicksal zeigte sich der wohltätigen Devise »Fürs Kind!« eingedenk; es wurden viel weniger Kindsköpfe zerquetscht, als man erwartet hatte, und die meisten, vom Säugling abwärts bis zum Gemeinderat, kamen mit dem Leben davon. Nur wenige starben. Die es taten, sagt die Polizei, haben es sich selbst zuzuschreiben. Sie waren, wie die Obduktion ergab, von schwächlicher Gesundheit, und im Besitz einer solchen soll man sich nicht den Gefahren der patriotischen Begeisterung aussetzen. Verletzungen haben bloß hundertundfünf Leute davongetragen, und vermutlich solche, denen eine Inklination zu Rippenbrüchen polizeiärztlich nachgewiesen werden könnte. Daß sonst nichts geschah, beweist tatsächlich die Gesundheit einer Bevölkerung, die in vollster körperlicher Frische ein Regierungsjubiläum beging. Und nichts geht über das Bild eines geordneten Familienlebens, das selbst noch im Chaos der drängenden Massen einen rührenden Zug heimischer Gemütsart offenbarte: Vater – tot, Mutter – Nervenchok, Sohn – Quetschung des Kniegelenks, Tochter – Hautabschürfung. »Pfüat enk Gott, Kinder,« sagte ein lebensmüder Wiener zu den Seinen, »i geh jubilieren!« Das Motiv ist unbekannt. Der Polizeibericht aber gedachte nur der Bresthaften und verschwieg, daß unter den Toten dieses Jubeltags auch Selbstmörder waren … Und nachdem das Unglück geschehen war, »fanden sich zahlreiche Neugierige ein, um die Unglücksstätte zu besichtigen«, und da war das Unglück gegen die Provokationen der Neugierde schon so abgestumpft, daß es sich mit der stillen Verachtung begnügte.

Ob in Wien oder in Prag gejubelt wird, immer gibts Tote. Hier durch einen Freudengruß, dort durch eine Salve. Die Nationen raufen um den Vorrang bei einer Huldigung. Hier sind Pylonen aufgerichtet, dort ein Galgen. Die Zeitungen halten es mit der doppelten Buchführung: neben einer Liste der illuminierenden Firmen ein Verzeichnis der Verwundeten, neben einem Verzeichnis der bei der Festvorstellung Anwesenden eine Liste der Toten. Die Politik sieht im Henker den kommenden Mann, und den Reigen der Feste schließt ein Ballabile der Inseratenagenten … Der Humor aber ist im Gedränge ohnmächtig geworden. Dann wehrt er mit zitternden Fäusten die Schmach ab, die den Frieden eines Alters umbrüllt. Er wirft einen Rückblick in Österreichs Zukunft und fleht: Herr, mach unserm Jubel ein Ende!


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