Karl Kraus
Essays
Karl Kraus

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Glossen

Der Punkt

Ich habe den Schlußpunkt der Burgtheaterherrlichkeit entdeckt. Den toten Punkt, über den kein Burgtheaterdirektor hinauskommt. Nichts hilft, dieser Punkt trägt an allem Schuld. Man glaubt natürlich, daß ich den »Dunklen Punkt« meine, der jetzt im Burgtheater gespielt wird. Aber die schlechte Literatur hat das Burgtheater nicht heruntergebracht; das behaupten nur jene theaterfremden Kritiker, denen es nicht gelungen ist, ihre eigene schlechte Literatur dem Burgtheater anzuhängen. Was ich nun meine, wird man erst verstehen, wenn man sich vor die Front des Burgtheaters stellt und dort hinaufschaut, wo Apollo, bekanntlich einer der beliebtesten Götter Wiens, seinen Wohnsitz hat. Zu seinen Füßen wird man in mannshohen Lettern die Aufschrift finden:

K. K. HOFBURGTHEATER.

Punkt! Darüber komme ich nicht weg. Diesem Punkt gebe ich die Schuld, daß die künstlerische Entwicklung ins Stocken geraten ist. Aber, seien wir gerecht, er hat dafür auch schon manches Unheil verhütet. Denn wie leicht hätte es geschehen können, daß ein Wiener, der ja so lange auf ein Dach schaut, bis sich andere Wiener ansammeln und auch aufs Dach schauen, wie leicht hätte es also geschehen können, daß dieser Wiener und alle, die in gutem Glauben seinem Beispiele folgen, weiterlesen, nachdem sie mit der Aufschrift:

K. K. HOFBURGTHEATER

fertig geworden sind. Man male sich nur die Folgen aus. Die Wiener lesen weiter nach rechts, immer weiter, bis dorthin, wo der Volksgarten beginnt, und wenn nicht ein zufällig des Weges kommender Wachmann Halt ruft, kann es geschehen, daß sie von einem zufällig des Weges kommenden Einspänner überfahren werden. Da nun der Erbauer des Burgtheaters, der Baron Hasenauer, die Gefahren des Verkehrs erkannte und die Gelegenheiten der Warnung nicht überschätzte, so entschloß er sich, allen Eventualitäten vorzubauen und die Wiener durch einen nicht zu übersehenden Punkt vor den Folgen des unvorsichtigen Weiterlesens zu bewahren. Durch Wochen stemmten ein Dutzend Arbeiter an dem Stein und stanzten einen Punkt, so groß wie der Kopf eines erwachsenen Wieners. Man wäre nun versucht, in dieser Mühe ein Sinnbild des dekorativen Kretinismus zu erblicken, der um eines Schnörkels willen gegen alle Ökonomie wütet. Aber man würde damit den sozialhygienischen Wert dieses besonderen Punktes verkennen. Denn es ist erwiesen, daß sich in den zwanzig Jahren, die das neue

K. K. HOFBURGTHEATER.

steht, kein nennenswerter Unfall ereignet hat. Auf dem Franzensring sammeln sich die Leute, sie lesen die Aufschrift mit Interesse, aber sie wissen, wo sie aufzuhören haben, und gehen wieder ihrer Wege. Neugierige fühlen ein kräftiges »Zaruck!«, und die anderen bescheiden sich. Nur auf manche Passanten übt gerade wieder der Punkt eine besondere Anziehungskraft aus. Zum Beispiel auf die Burgtheaterdirektoren. Sie, die weiterlesen sollten, starren fasziniert auf den Punkt. Sie glauben, er sei eine Fügung des Obersthofmeisteramtes, und kommen nicht weiter. Sie laufen die Buchstabenreihe zwischen dem K. K. und dem dramatischen R auf und ab und finden keinen Ausweg. Ich glaube, es wäre ihr ewig Weh und Ach aus einem Punkte zu kurieren. Und es wird einmal eine Sage sein, daß ein Fluch auf dem Hause gelastet hat, an dem nicht die Akustik, sondern die Interpunktion schuld war. Man befreie die Kunst und sorge für die Sicherheit des Publikums durch Vermehrung der Wache!

Der Komet in Wien

Der Wiener und die Unendlichkeit – das unwahrscheinliche Schauspiel wäre glücklich überstanden. Wenn der Komet gefährlich ist, so ist er es nicht so sehr vermöge der ihm innewohnenden Blausäure als wegen der nicht auszudenkenden Möglichkeit, daß sich bei seiner Annäherung jeder Trottel kosmisch gestimmt fühlt. Es ist nicht so weit gekommen. Nur eire fürchterliche Spielart kosmischer Denkfähigkeit wurde uns beschert: jene, die vor dem Untergang die Tröstungen der Wissenschaft empfängt. Der aufgeklärte Großstädter, dem nichts passieren kann, weil die Neue Freie Presse es mit der Sternwarte hält und die Vorsehung sich hüten wird, es mit der Neuen Freien Presse zu verderben; und der stolz ist, weil der Papst Kalixtus gegen den Kometen noch eine Bulle erlassen mußte, während heutzutag der Papst Benedikt mit einem Leitartikel denselben Effekt erzielt. Ach, die knierutschende Angst, die in früheren Jahrhunderten das Ende der Welt erwartete, war schlechter informiert, aber besser beraten, als die Zuversicht, die das Morgenblatt erwartet. Dieses erdensichere Gesindel wird eines Tages fürchterlich aufsitzen, wenn es den Kometen anulkt und inzwischen die Dummheit ihr Zerstörungswerk an der Welt vollendet hat. Der Ernst des Kometen wäre so trostlos nicht wie sein Humor. Denn wenn die Welt kaput geht, bleibt der Geist bestehen, aber wenn sie nicht kaput geht, bleibt die Dummheit bestehen, und ein ungefährlicher Komet macht das Übel schlimmer, da er jeden Friseur zum Philosophen und jeden Redakteur zum Humoristen macht. Nichts ist leichter, als vor dem Kometen Humor zu haben, denn je kleiner die Menschlichkeit, in desto größerer Kontrastwirkung erscheint er am Himmel, vorausgesetzt, daß er erscheint. Aber wenn auch die Sterne nicht lügen, so müssen darum die Astronomen nicht die Wahrheit sagen, und es hat sich herausgestellt, daß sie vom Kometen lange nicht so viel verstehen wie die Praterwirte, die bei seiner Erwartung besser abgeschnitten haben als jene bei seiner Erfüllung. Denn bis sich auf allgemeines Verlangen dieser Nebelstreif am Himmel zeigte, haben sie die Existenz des Kometen mit seiner Unsichtbarkeit bewiesen und den Durchgang aus der Feststellung, daß man ihn nicht beobachtet habe. Sie sagten, daß das, was wir nicht sahen, der Komet gewesen sei, und nur ihrer ehrenwörtlichen Versicherung glauben wir jetzt, daß das, was wir sehen, der Komet sei, weil wir ja schließlich keinen Grund haben, anständigen Leuten zu mißtrauen. Der religiöse Glaube sorgt auch für die Sinne. Was aber sind die Tröstungen einer Wissenschaft wert, die einen kahlen Himmel bietet? Er bewahrte uns vor Cyanwasserstoff; doch das vergeben ihm die Wiener nicht, daß er um ein Spektakel sie betrog, Der Komet ist ungefährlich; aber daß man auch die ganze Zeit nichts Verdächtiges bemerkt hat, untergräbt den Kredit der Wissenschaft und zerstört nur jenen Kometenaberglauben, unter dem man fortan den Aberglauben versteht, daß es Kometen gibt. Nun soll ja der Astronomie, die gewiß eine riegelsame Wissenschaft ist, nicht nahegetreten werden, aber sie hat sich diesmal schwer kompromittiert, weil sie sich den Hervorrufen eines fortschrittlichen Gafferpöbels eher und bereitwilliger zeigte als der Komet. Sie hat sich täglich mit den Reportern der Aufklärung eingelassen und sich damit auf ein Niveau begeben, auf dem sonst nur die Vertreter einer anderen Wissenschaft nach dubiosen Ehren auslugen, nämlich jener, die auf Wunsch der Nachtredaktion über einen hohen Patienten Ferndiagnosen stellt. Gewiß, sie haben eine Bevölkerung beruhigt, die bisher bloß gewohnt war, auf ein Dach hinaufzuschauen, während sich jetzt die Verkehrshindernisse auch durch die Betrachtung des Firmaments ergaben. Aber sie haben diese Bevölkerung zugleich enttäuscht und die Aufgeklärtheit, zu der sie ihr täglich zweimal verhalfen, in Nihilismus verwandelt. Sie sollten aus Schamgefühl die Sternwarte zusperren, wenn sie heute den Satz im Kometenbericht lesen: »An einem Tische wird der Artikel des Hofrates Weiß, der im heutigen Abendblatt der Neuen Freien Presse erschienen ist, verlesen. Die Stelle, welche den Anblick für die nächsten Abende in sichere Aussicht stellt, findet bei dem Publikum lebhaftesten Beifall«. Halley hatte es auf diesen Beifall nicht abgesehen, und dennoch gelang es ihm, den Kometen zu einer Produktion zu gewinnen. Unsere Welttheateragenten aber dachten an das Publikum, und als es wie die Buben auf der Galerie einer italienischen Schmiere zu stampfen begann, kamen sie immer wieder heraus und beruhigten es mit Versicherungen von eingetretenen Hindernissen, Wolkenvorhang, Kostümwechsel, Unpäßlichkeit und was dergleichen Ausreden mehr sind, die aufgeregte Impresarios stets bei der Hand haben, wenn die Laune eines Stars sie blamiert hat. »Nach Sonnenuntergang war der westliche Himmel in Dunst gehüllt. Es ist dagegen zu erwarten, daß der Komet morgen Samstag abends endlich am Wiener Himmel erscheinen werde. Das Publikum möge nicht ungeduldig werden und noch einen Tag zuwarten – schließlich wird der Halleysche Komet in aller Pracht erscheinen.« Er erschien nicht; nicht Samstag, nicht »heute und die folgenden Tage«. Aber den Dunst, den man einem Publikum vorgemacht hat, auf den Himmel schieben, ist eines Astronomen unwürdig, vorausgesetzt, daß er nicht darauf spekuliert, das Geschäft jenes Impresarios zu übernehmen, der sich kürzlich in Wien aus unglücklicher Liebe zu einem Stern zweiter Größe umgebracht hat. Daß den Herren der Komet zwischen der Sonne und der Erde durchgegangen war, ist ja gewiß tragisch, aber wenn sie nicht so heftig mit der kosmischen Pünktlichkeit geprotzt hätten, hätte ihnen niemand aus der kosmischen Unordnung einen Vorwurf gemacht. Auch die Südbahn wird ja nur deshalb getadelt, weil sie so unvorsichtig ist, einen Fahrplan herauszugeben. Und so ist es gekommen, daß nicht nur die Welt im allgemeinen nicht zugrundegegangen ist, sondern insbesondere nicht das Wirtsgeschäft auf dem Kahlenberg. Wien hat ein gastronomisches Ereignis zu verzeichnen. Wäre die Welt untergegangen, dann hätten nur die Fiaker profitiert, weil sie sich für berechtigt gehalten hätten, den ihnen gebührenden Betrag mit der Begründung zurückzuweisen: »Aber Euer Gnaden, an so an Tag!« So aber bleibt alles beim Alten. Der Wiener, dem Basiliskenblick der Ewigkeit entronnen, hat zum Hausmeister zurückgefunden. Die Zehnuhrsperre dieser kleinen Welt läßt sich ertragen.

Der Deutlichkeit halber

In Berlin, unter den Linden, ist das Schaufenster eines Hofphotographen. Dort ist einer mit einem Pinsel in der Hand photographiert: aha ein Maler! Dann ist einer mit einer Zigarette in der Hand photographiert: aha ein Raucher! Dann ist einer, der gar nichts in der Hand hat, photographiert: aha ein Nordpolentdecker! Und dann ist noch Herr Harden mit einer Feder in der Hand photographiert: aha ein Schriftsteller!

Der Rückwärtige

»Die Wachleute mußten sich an den Händen nehmen, um, eingekeilt in die vorne und rückwärts andrängen Menge ...«

Wie war das also? Wenn die Menge vorne andrängt, so drängt sie ja eben rückwärts, und die Wachleute sind dann nicht eingekeilt. Schlimm ist die Situation nur dann, wenn die Menge vorne und hinten andrängt, denn die Menge, die vorne andrängt, drängt rückwärts, und die Menge, die hinten andränge, drängt vorwärts. Man müßte also, um das auszudrücken, entweder schreiben, daß die Menge vorne und hinten, oder daß sie rückwärts und vorwärts angedrängt habe. Aber das wäre nicht österreichisch. Deutsch ist, daß man vorne und hinten steht, nach vorne und nach hinten geht oder vorwärts und rückwärts. In Österreich steht man zwar vorne, aber nur rückwärts, nicht hinten, und geht »nach« vorwärts und »nach« rückwärts. Ich habe schon einmal erklärt, wieso das kommt. Der Österreicher fühlt sich beim Wort »hinten« so sehr ertappt, daß er die größten sprachlogischen Opfer bringt, um es zu vermeiden. Er setzt für das zuständliche Adverb das Richtungswort, ergänzt es dort, wo es wirklich die Richtung bezeichnen soll, durch das tautologisch »nach« und erfindet eigens das schöne Adjektiv »rückwärtig«. Alles das, weil er sich bei jeder nur möglichen Gelegenheit an den Rückwärtigen erinnert fühlt.

Die Volkszählung

hat ergeben, daß Wien 2,030.834 Einwohner hat. Nämlich 2,030.833 Seelen und mich.

»Entführung eines Autotaxi«

Wie herzig das klingt. Und nie noch ist eine notwendiger gewesen als diese:

Ein eigenartiger Diebstahl ereignete sich heute in der Hegelgasse. Der Chauffeur des Mietautomobils A II 681 wollte in dem an der Ecke der Schwarzenbergstraße und der Hegelgasse befindlichen Kaffeehaus eine Schale Tee trinken. Er stellte den Motor seines Wagens ab, ließ den Wagen ohne Aufsicht stehen und ging in das Lokal. Wenige Minuten später kurbelte ein fremder Mann den Motor an und fuhr, bevor er daran gehindert werden konnte, gegen den Ring zu in raschem Tempo davon. Der Chauffeur machte sofort die polizeiliche Anzeige.

Der Dieb, ein Freund des Fortschritts, auf der Stelle bereit, diesen gegen die Ansprüche der seßhaften Wiener Chauffeure zu verteidigen, hat etwas getan, was ihm in diesen langsamen Zeiten hoch angerechnet werden muß. Er fand den typischen Anblick der Automobildroschke mit der vorgesteckten Bestelltafel unerträglich. Er erkannte blitzartig, daß ein Automobil nicht so sehr dazu diene, den Chauffeur ins Beisel, als den Passagier ans Ziel zu bringen. Er für seine Person hätte vielleicht warten können, bis das Schalerl geleert war. Aber er entschied die Angelegenheit rein prinzipiell. Er wartete nicht einmal ab, bis der Wasserer, der Türlaufmacher, der Grüßer und die andern Funktionäre herbeigeeilt waren, die der Wiener Fortschritt aus dem tierischen Betrieb so komplett herübergerettet hat, daß stündlich die Rückbildung des Chauffeurs in den Fiaker zu erwarten ist. Er wollte von nichts wissen, sah nichts, hörte nichts, überlegte nicht, ob es ein billiger oder teurer Wagen sei, einer, dem ein oder zwei Pferde fehlen, besann keines der Wiener Probleme: ob man sich schon an der Grundtaxe ruinieren solle oder erst später, von welcher Gesellschaft der Wagen sei, ob Zick kostspieliger als Watt, rote Fahne gefährlicher als gelbes Rad, und ob der Taxameter deshalb eine ungerade Ziffer zeige, weil man fünf Heller sich weder zurückgeben lassen noch geben kann und somit gezwungen ist, mehr zu geben. Vielleicht zog all dies an seinem Geiste vorüber, er gedachte der Vielen, die da im Leben standen, rasch an ihr Tagwerk gelangen wollten und an dem Widerstand der Chauffeure, die Zeit haben, verbluten mußten, und er beschloß, der Qual ein Ende zu machen, ehe sie begonnen war. Vielleicht auch fiel ihm ein: Der Kerl wird doch einmal herauskommen, aber dann, wenns losgeht, überfährt er mir den Wachmann an der Ecke, der den Straßenverkehr zu regeln hat. Und waren es auch nicht Gedanken, wars nur die Vision von Hindernissen und Gefahren, die ihm das Stilleben dieses verlassenen Autotaxi bot, es riß ihn hin, er kurbelte an, schwang sich empor und ward nicht mehr gesehn. Ein Fahrzeug dient zum Fortkommen, sagte er zu seiner Rechtfertigung. Und weil es ein Automobil ist, kann es sich auch ohne Chauffeur weiter bewegen. Und schneller. Eine Sonderauffassung, die meinen Beifall hat. Nur möchte ich finden, daß dem Verkehr noch besser durch die Entführung der Chauffeure gedient wäre. Denn wenn sie ohne Automobil zurückbleiben und auf dem Trottoir herumstehen, haben wir erst recht nichts vom Fortschritt. Das einzige, was sie »sofort« machen können, ist die polizeiliche Anzeige, und selbst die bringt uns nicht weiter. Wie dem immer sei, nie ist ein Diebstahl organischer aus den bestehenden sozialen Verhältnissen hervorgegangen. Hier ist ein Langfinger auf eine offene Wunde gelegt worden. Mit moralischem Nasenrümpfen wird man dem Mutigen nicht beikommen. Alle Werke des Fortschritts wären ungetan geblieben, wenn die Welt gewartet hätte, bis die Chauffeure ausgetrunken haben.

Der Hosenrock

ist mir nicht angenehm. Er markiert das Recht der Frauen auf einen Vollbart. Er bedeutet eine Ungerechtigkeit gegen Herrn Sudermann, den sich niemand gern in einer Rockhose vorstellt, dem man sie aber unbedingt im Laufe der Zeit wird konzedieren müssen. Oder wer von uns hat nicht schon unter einem der blondbärtigen Untiere gelitten, die Sommers, auf irgendeiner Esplanade, mit der Manneszier exhibitionierten und sie extra durch kurze Höschen zu einer peinlichen Kontrastwirkung brachten? Von da ist nur ein Schritt zu der selbstmörderischen Vorstellung, daß Herr Professor Minor in Jupons Seminar hält. Nein, darum mag ich die Frauen in Beinkleidern nicht sehen. Höchstens jene, die den Mädchenhandel bekämpfen. Nimmer jene, die die natürlichen Anlagen haben, ihm zum Opfer zu fallen. Die uns in das Mysterium ihres Geschlechtes einführen, brauchen keine Tracht, als obs in ein Salzbergwerk ginge. Bis zur kurzen Hose gehe ich noch mit!

Zweiunddreißig Minuten

und sechzehn Stationen hat neulich abends die Elektrische vorn Schwarzenbergplatz bis zur Oper gebraucht, weil vorn einer aufgestellt war, der eine beschwörende Pantomime machte, weil ein Automobil vorüber wollte, vor dem ein Passant erschrak, der links ausgewichen war, weil ein Einspänner kam, dem ein Fiaker rechts vorfahren wollte, indem er Hoah rief, um einen Leiterwagen zu überraschen, der nicht weiter konnte, weil vor ihm ein Radfahrer war, der hinter einem Handwagen fuhr, dem ein Lastwagen nicht Platz machen wollte, dessen Kutscher Hüah rief, weil eine Bewegung entstand, indem der vorübergehende Truchseß Dobner von Dobenau sich anschickte, einen vorüberfahrenden Hofwagen zu grüßen, in welchem Herr Salten saß.

Wiener Totschlag

Im Kot erstickt. Der 23jährige Hilfsarbeiter Stephan W. hatte sich gestern wegen eines folgenschweren Roheitsaktes zu verantworten. Er hatte sich am 19. Februar in einen Streit, den der Taglöhner Ludwig R. mit mehreren Burschen hatte und der ihn gar nichts anging, eingemengt, dem R. einen Stoß versetzt und dem Fliehenden einen Stein nachgeworfen, der den R. so unglücklich am Hinterhaupt traf, daß er niederfiel und im Straßenkot erstickte. W. stand nun gestern wegen Totschlages vor den Geschwornen ... Die Geschwornen erkannten den Angeklagten schuldig, worauf der Gerichtshof ihn zu zwei Jahren schweren Kerkers verurteilte.

Der Zustand der Wiener Straßen ist ein nicht nur das Leben, sondern auch das Delikt der Körperverletzung erschwerender Umstand. Er führt unbedingt den Tod herbei und würde deshalb selbst die Tat eines Hilfsarbeiters, der einen Taglöhner bloß um die Erd haut, als Totschlag qualifizieren. Auch ohne Steinwurf muß die Sache letal enden. Maßgebend ist allein, daß der Betroffene auf der Straße lag, daß also eine Situation gegeben war, die den Erstickungstod herbeiführen mußte. In anderen Städten wäre es ein schlechter, vielleicht ein roher Spaß, einen hinzulegen. In Wien ist es die Tat eines Unholds. In anderen Städten ist die Behauptung, daß man im Straßenkot ersticke, eine Metapher. In Wien bezeichnet sie einen Tatbestand.

Gefährlich

sind hierzulande auch die Osternummern der Tagespresse. Während in anderen Städten ein Zeitungsblatt bloß eine Bedrohung der geistigen Gesundheit bedeutet, wächst es sich in Wien immer mehr auch zu einer Gefahr für die körperliche Sicherheit heraus. Bei einem Streit, den der Taglöhner Vinzenz Ühlein mit dem vazierenden Hilfsarbeiter Jaroslaw Wlk hatte, zog er die »Zeit« aus der Tasche und verletzte den Gegner nur unerheblich, während und dieser, wie der Wachrnann Krziz behauptet, im Besitze der Osternummer des »Neuen Wiener Tagblatts« war. Ühlein erlitt mehrere Rißquetschwunden sowie eine Luxation des rechten Schultergelenkes. Wlk wurde deshalb wegen schwerer Körperverletzung und wegen Übertretung des Waffenpatents zu sechs Monaten verurteilt. Die Sachverständigen hatten ausgesagt, daß die Nummer, deren Umfang 216 Seiten betrug, unter Umständen den Tod herbeiführen konnte. Das Gericht erkannte auf Saisierung des Kleinen Anzeigers. Dagegen wurde der Staatsanwalt mit dem Antrag auf Strafverschärfung durch Lektüre des Textteiles abgewiesen, was das Gericht mit dem Hinweis auf den Grundsatz »minima non curat prätor« begründete.

Edison

war doch in Wien? Warum hat man nicht die Gelegenheit benützt, ihn zu fragen, ob es nicht schon etwas gebe oder ob er, wenn es nichts gibt, etwas erfinden möchte, was dem Wiener Beiwagenkondukteur ermöglicht, sich dem Motorführer ohne Trompete verständlich zu machen? Oder hat man ihn gefragt und uns die Antwort nur verschwiegen? Nichts ist mir unerfindlich, müßte Edison geantwortet haben : ich werde es dahin bringen, daß Sie in Wien diese Frage an mich stellen können, wenn ich in meinem New-Yorker Laboratorium sitze. Ich werde es dahin bringen, daß ich Ihren Straßenverkehr in New-York photographiere, weil wir Amerikaner zu wenig Phantasie haben, uns eine Vorstellung davon zu machen. Wir werden uns die Ansichtskarten von Ihren verfallenen Schlössern und Basalten selber anfertigen. Nichts ist mir unmöglich. Aber so weit, daß die Trompete des Wiener Beiwagenkondukteurs, durch die er sich nicht nur dem Motorführer, sondern auch dem Passagier und vor allem sich selbst verständlich macht, durch eine elektrische Klingel ersetzt werden kann – so weit werde ich es nicht bringen! Meine Erfindung kann eurer Phantasie nicht nachkommen. Unsre Technik reicht nicht an die Grenzen eurer Persönlichkeit. Eure Romantik spottet unserer Bequemlichkeit. Wollt ihr die Farbe aus eurem Leben entfernt wissen? Ist das Leben nicht monoton genug: wollt ihr auch noch die Trompete eures Beiwagenkondukteurs entbehren? Betrachtet die freudige Spannung, mit der der Wiener ihm auf den Mund sieht, wenn er ansetzt, um dem Wiener ins Ohr zu tuten, betrachtet die Würde, mit der er tuten tut, als wollte er der Welt sagen: »Höchstes Glück der Erdenkinder ist doch die Persönlichkeit. A so a Motorführer, der glaubt rein, daß er allani auf der Welt is – aber mir, mir san a wer! ...«

Riedau und Lido

In Riedau war ein Typhusfall, da hetzten sie den Arzt, der ihn anzeigte, in den Tod, die Rückständigen. Und da schrieben sie Leitartikel dagegen, die Aufgeklärten. Und ich meinte damals daß wenn an der Riviera viele Blatternfälle seien, die Hoteliers sich mit Annoncen helfen. Und man sagte, das wäre eine Übertreibung. Und es ward Sommer und in Venedig gab es viele, viele Cholerafälle. Da nahmen sie einen großen Haufen Geldes, die Hoteliers und verteilten ihn unter die Aufgeklärten. Und es erschienen ganzseitige Annoncen, in denen erzählt ward, daß Venedig die Königin der Adria, die von Poeten, von Musikern und von Malern begeistert gepriesene Schönheitskönigin der Adria, Venedig, dieser zahllose Kunstschätze bergende Schatz der Natur, Venedig, der historische Liebling der Kulturwelt, Venedig, der Wallfahrtsort der schönheitsdurstigen Menschheit hat zu seinen vielen lockenden Reizen in den letzten Jahren einen neuen gewonnen, den Lido, vornehmsten, schönsten, beliebtesten, schwoll der Strom der Fremden an, Gestade der blauen Adria, Licht, Sonne und Wasser, paradiesisch, Allheilmittel der gütigen Natur, Hermann Bahr, Lügengewebe, Mildenburg, eingehendste Erhebungen, berückend, blühend, erlogene Alarmgerüchte, verleumderische Tatarennachrichten, Gesundheitszustand der glänzendste, Stelldichein pester Gesellschaft, zahlreiche fürstliche Persönlichkeiten, Festprogramm, in ähnlicher Reichhaltigkeit, feenhaft, auf nach Venedig, auf zum Lido! – Und oben war ein Bild mit einem Gondolier. Und die Annoncen erschienen in denselben Blättern, welche die verleumderischen Tatarennachrichten und deren Bestätigung durch die venezianische Ärztekammer gebracht hatten, und es waren Wiener Blätter, die den Satz druckten, daß solche verdächtige Erkrankungen »auch in Wien« vorkommen. Und Gott ließ nicht Pech und Schwefel regnen über eine Stadt, die es erträgt, ohne den Aufgeklärten in die Diebsfratze zu speien.

Angesichts

des folgenden Memorandums, das die Delegierten der außerordentlichen öffentlichen Professoren aller österreichischen Hochschulen dem Parlamente überreicht haben und das von den Worten:

Angesichts des Umstandes, daß die außerordentlichen öffentlichen Professoren an allen Hochschulen bisher – in Widerspruch zu den Besoldungsgrundsätzen, wie sie allgemein für den Staatsbeamtenorganismus gesetzlich festgelegt sind – insofern zurückgesetzt erscheinen, als sie nicht den Gehalt ihrer Rangsklasse (gegenwärtig der siebenten) beziehen, ein Zustand, der gleichermaßen dem Rechte wie der Billigkeit widerspricht; angesichts der weiteren Tatsache, daß auch für die außerordentlichen öffentlichen Professoren beim geltenden Rechtszustande der Kollegiengelderbezug wegfällt, der früher bis zu einem gewissen Grade eine Ausgleichung zwischen dem ihnen gesetzlich zuerkannten und dem ihnen nach ihrer Rangsklasse gebührenden Gehalt bewirkte; angesichts ferner der Entwicklung, die es dazu gebracht hat, daß das Extraordinariat aufgehört hat, durchweg ein Provisorium auszumachen, und sich für allzuviele auch dann zu einem Definitiv gewandelt hat, als für das von ihnen vertretene Fach Ordinariate systemisiert sind, um so mehr aber, wo dies nicht der Fall ist; angesichts des unleugbaren Umstandes, daß eine materiell mehr als bisher gesicherte Stellung die unerläßliche Voraussetzung für wissenschaftliche Arbeit, für die Lehre gleichermaßen wie für die Forschung bildet; angesichts schließlich der herrschenden Teuerungsverhältnisse, die in allen Staatsbeamtenkategorien das Streben nach Besserung ihrer materiellen Lage ausgelöst haben und natürlich um so mehr das Streben der außerordentlichen öffentlichen Professoren nach Zuerkennung der Bezüge gerechtfertigt erscheinen lassen, die ihnen nach ihrer Rangsklasse gebühren, fordern die Delegierten der außerordentlichen öffentlichen Professoren aller österreichischen Hochschulen eine Änderung des gegenwärtigen Rechtszustandes im folgenden Sinne: Die außerordentlichen öffentlichen Professoren aller Hochschulen stehen in der der Rangsklasse der Ordinarien nächstfolgenden Rangsklasse und beziehen nebst der systemmäßigen Aktivitätszulage den Stammgehalt ihrer Rangsklasse (beim gegenwärtigen Rechtszustande also 48oo K) und drei annähernd gleiche Quinquennalzulagen, die für sämtliche außerordentlichen öffentlichen Professoren, mag nun ihre Besoldung gleich von ihrer Ernennung an oder erst in einem späteren Zeitpunkt eingetreten sein, vom Ernennungstage an –

bis zum Ende dieses Satzes zu lesen bis jetzt nicht möglich war, so daß die weiter unten stehende Bitte um Einleitung der nötigen Schritte zur Verwirklichung obenstehender Wünsche möglicherweise unerfüllt geblieben ist, sowie angesichts des Umstandes, der ein Zustand ist, der gleichermaßen der Grammatik wie der Lebensfreude widerspricht; angesichts des Umstandes, daß beim geltenden Zustande alles wegfällt, was früher bis zu einem gewissen Grade eine Ausgleichung zwischen dem ihnen offiziell zuerkannten und dem ihnen nach ihrer Rangsklasse gebührenden Bildungsgrade bewirkte; angesichts ferner der Entwicklung, die es dazu gebracht hat, daß das schlechte Deutsch längst aufgehört hat, ein Provisorium auszumachen, und sich für allzuviele auch dann zu einem Definitivum gewandelt hat, als sie Hochschulprofessoren geworden sind, umso mehr aber, wo dies nicht der Fall ist; angesichts des unleugbaren Umstandes, daß eine grammatikalisch mehr als bisher gesicherte Stellung die unerläßliche Voraussetzung für wissenschaftliche Arbeit, für die Lehre gleichermaßen wie für die Forschung bildet; angesichts schließlich der herrschenden Teuerungsverhältnisse, die in allen Staatsbeamtenkategorien die Anschaffung einer deutschen Grammatik vor der Abfassung eines deutschen Memorandums unerschwinglich gemacht und natürlich umso mehr das Streben der außerordentlichen öffentlichen Professoren nach Zuerkennung eines Bildungsgrades, der ihnen nach ihrer Rangsklasse gebührt, erschwert haben, fordere ich für die Delegierten der außerordentlichen öffentlichen Professoren aller österreichischen Hochschulen eine Änderung des gegenwärtigen Zustandes im folgenden Sinne: Die außerordentlichen öffentlichen Professoren aller Hochschulen stehen auf der der außerordentlichen Bildungsstufe der öffentlichen Volksschulen aller Volksschulen nächstfolgenden Bildungsstufe und beziehen, mag nun ihre stilistische Unfähigkeit gleich von ihrer Ernennung an oder erst in einem späteren Zeitpunkt eingetreten sein, eine Quinquennalzulage zum Bezuge eines ordentlichen geheimen Unterrichts. Damit nämlich nicht angesichts dieser Umstände Zustände einreißen, die angehörs eines solchen Memorandums möglicherweise nicht zu der Einleitung der nötigen Schritte zur Verwirklichung obenstehender, aber sonst berechtigter Wünsche führen könnten, umso mehr aber, wo dies nicht der Fall ist!

Ein weitverbreitetes Mißverständnis

ist der Glaube an meine Feindseligkeit. »Sie zu überzeugen, versuche ich nicht. Aber ich darf trotzdem sagen, daß Sie mir in meinen Motiven und Absichten Unrecht tun.« Oder: »Ich gestehe, daß es mich kränkt, daß Sie mir mit solchem Übelwollen, ja mit solcher Feindseligkeit gegenüberstehen.« Welches Vorurteil! Ich stehe niemand in der Welt gegenüber und bin das Wohlwollen selbst. Ohne Ansehen der Person reagiere ich auf Geräusche, und interessiere mich nicht für die Richtung, aus der sie kommen. Wäre der Inhalt meiner Glossen Polemik, so müßte mich der Glaube, die Menge der Kleinen dezimieren zu können, ins Irrenhaus bringen. »Sie haben mich kürzlich zum Objekt Ihrer Satire genommen«, schreibt einer, streicht »genommen« und setzt dafür »gewählt«. Ich aber kann mit ruhigem Gewissen sagen, daß ich mir noch nie einen zum Objekt meiner Satire genommen oder gar gewählt habe. Hätte ich da etwas dreinzureden, so wäre ich nicht Satiriker und würde eine bessere Wahl treffen. Denn die Satire wählt, nimmt und kennt keine Objekte. Sie entsteht so, daß sie vor ihnen flieht und sie sich ihr aufdrängen. Die Würdigkeit der Objekte mag den Wert der Polemik bestimmen; aber Name oder Andeutung eines Kleinen, oder was irgend von ihm in einer Satire steht, ist Kunstelement. Wie ein Schneuzen, wie die Trompete eines Beiwagenkondukteurs oder wie sonst etwas, das ich mir nicht wähle; wie sonst ein Stoffliches, von dem ich den Stoff nicht wähle, sondern abziehe. Kann ich dafür, daß die Halluzinationen und Visionen leben und Namen haben und zuständig sind? Kann ich dafür, daß es den Münz wirklich gibt? Habe ich ihn nicht trotzdem erfunden? Wäre er Objekt, ich wählte anders. Erhebt er Anspruch, von der Satire beleidigt zu sein, beleidigt er die Satire. Außerhalb dieser mag er ein Dasein haben, aber keine Berechtigung . Der Leumund mag in Ordnung sein, kommt aber für die Satire nicht in Betracht. Motive und Absichten prüfe ich nicht. Die sind unbesehen gut oder schlecht. Nichts ist der Satire egaler. Die Polemik kann es als Einmischung in ihr Amt empfinden, wenn das Objekt sie zu überzeugen versucht, oder sie mag mit sich reden lassen wie ein Amt. Der Satire Vorstellungen machen, heißt die Verdienste des Holzes gegen die Rücksichtslosigkeit des Feuers ins Treffen führen. Nun muß ja freilich der Brennstoff kein Verständnis für die Wärme haben und der Anlaß mag sich so weit überschätzen, daß er sich durch die Kunst beleidigt fühle. Aber das Verhältnis der Satire zur Gerechtigkeit ist so: Von wem man sagen kann, daß er einem Einfall eine Einsicht geopfert habe, dessen Gesinnung war so schlecht wie der Witz. Der Publizist Ist ein Lump, wenn er über den Sachverhalt hinaus witzig ist. Er steht einem Objekt gegenüber, und wenn dieses der polemischen Behandlung noch so unwürdig war, er ist des Objektes unwürdiger. Der Satiriker kann nie etwas Höheres einem Witz opfern; denn sein Witz ist immer höher als das was er opfert. Auf die Meinung reduziert, kann sein Witz Unrecht tun; der Gedanke hat immer Recht. Er stellt schon die Dinge und Menschen so ein, daß keinem ein Unrecht geschieht. Er richtet die Welt ein, wie der Bittere den verdorbenen Magen: er hat nichts gegen das Organ. So ist die Satire fern aller Feindseligkeit und bedeutet ein Wohlwollen für eine ideale Gesamtheit, zu der sie nicht gegen, aber durch die realen Einzelnen durchdringt. Das Lamentieren ist unnütz und ungerecht. Die sich beleidigt fühlen, unterschätzen mich; sie halten sich für meine Objekte, und da fühle ich mich beleidigt.

Wahrung berechtigter Interessen

Aus Leitmeritz, 27. d., wird uns berichtet: Heute stand vor dem hiesigen Geschworenengerichte der Fabriksarbeiter Wenzel Proksch in Tetschen unter der Anklage, am 29. Oktober in Tetschen im öffentlichen Haus des Markus Bloch die Prostituierte Marie Ungermann in mörderischer Absicht gerötet zu haben. Am 29. Oktober abends kam in das Haus des Markus Bloch in Tetschen ein junger Mann, der mit der Prostituierten Ungermann auf deren Zimmer ging. Kurz darauf ertönte aus dem Zimmer die elektrische Klingel. Die Wirtschafterin Wendel eilte zur Zimmertür und hörte ein Stöhnen. Gleich darauf stürzte ein junger Mann aus dem Zimmer, dessen Tür offen stand. Sie drehte das elektrische Licht auf und sah nun vor dem Sofa die Ungermann in einer Blutlache liegen. Die herbeigerufenen Ärzte konnten nur den bereits eingetretenen Tod des Mädchens konstatieren. Trotz eifriger Recherchen gelang es in den ersten Tagen nach der Tat nicht, des Täters habhaft-zu werden. Am 1. November stellte er sich jedoch selbst dein Gerichte. Der Täter Wenzel Proksch gab vor dem Untersuchungsrichter an, er sei am 28. Oktober abends bei der Ungermann gewesen und habe ihr zwei Kronen gegeben. Am nächsten Morgen hätten ihm seine Eltern das leere Portemonnaie gezeigt, wodurch er zur Überzeugung gelangt sei, daß ihm die Ungermann vier Kronen genommen habe. Im Arger über den Verlust des Geldes faßte er den Entschluß, sich an der Prostituierten zu rächen. Er nahm ein Küchenmesser, steckte es in die Rocktasche und ging in das Haus und wartete auf das Mädchen. Als sie herauskam, habe sie ihn aufgefordert, mit in ihr Zimmer zu gehen. Er sei sofort mit ihr gegangen, um sie zu töten. Die Prostituierte habe die Tür des Zimmers verriegelt, Licht gemacht und wollte sich entkleiden, wobei sie ihm mit dem Rücken zugekehrt war. In diesem Augenblick habe er ihr einen Stich in den Rücken versetzt und dann noch mehrere Stiche gegen sie geführt, bis sie zusammengestürzt sei. Während er sie mit dem Messer bearbeitete, sei jemand zur Tür gekommen, weshalb er auf Flucht und Rettung bedacht gewesen sei. Er habe das Messer weggeworfen, das Licht verlöscht, die Tür aufgerissen und sei geflohen. Er sei nach Hause gelaufen, habe sich in der Waschküche die blutigen Hände gewaschen, den blutigen Rock habe er in den Schrank gehängt und Tags darauf, als er allein daheim war, gewaschen und gebügelt. Da ihm sein Gewissen keine Ruhe gelassen, habe er am 30. Oktober mittags seinen Eltern alles mitgeteilt, einen Revolver gekauft, sei auf den Friedhof gegangen, habe aber nicht den Mut gefunden, sich zu erschießen. Über Anraten seiner Eltern habe er sich dem Gerichte gestellt. – Die Sachverständigen erklärten in einer zweistündigen Darlegung Proksch für geistig gesund. Den Geschworenen wurden zwei Hauptfragen vorgelegt. Die erste auf gemeinen Mord wurde mit neun Stimmen verneint, die zweite wegen Übertretung des unbefugten Waffentragens wurde mit zehn Stimmen verneint. Auf Grund dieses Verdiktes wurde Proksch freigesprochen.

Urteilsbegründung: A Hur war's

Und nie, solange diese Welt lebt, wird die Urteilsbegründung anders lauten ... Mit Messern in den Rücken – no ja, bei dem Lebenswandel Herr Obmann, sagen S' is des a Wunder? San mer froh, daß mer keine Menscher nicht sein, wos? Hehe! Aber was unsereiner riskiert! Wenn im Börsel nacher vier Kranln fehlen, wann man von so einer kommt Herr Nachbar, das spürt man am eignen Leib, das kann jedem von uns passieren. Wär net schlecht. Daß das überhaupt geduldet wird, wo es doch im Gesetzbuchö oosdrücklich steht, wer Schanddirnen beherberget. Neen, da verneene ich die Schuldfragee ... Und wegen Betrugs war die Ungermann nicht mehr zu fassen. Das Urteil ist ein ethisches Bekenntnis. Der Mord wird nicht bestraft, sondern belobt, denn ausdrücklich wird anerkannt, daß auch die Übertretung des Waffenpatents gegen eine Prostituierte erlaubt ist. Ein Fall der Notwehr. Hätte der Bursch einen Stein gegen einen Wachmann geworfen, unter einem Jahr wär's nicht abgegangen. Unter sieben nicht, wenn er einen Justizminister verfehlt hätte. Der hungrige Altersgenosse, der einer Frau die Handtasche zu entreißen versucht hat, bekam lebenslänglichen Kerker. Die höhere Instanz machte zwölf Jahre draus; die Tuberkulose vier. Der Delinquent ist tot und sein Richter hat einen schlechten Schlaf. Das Tier, das eine Frau, nicht zur Lust, aber so oft in den Rücken stach, als ihm Kronen in der Tasche fehlten, wird frei herum gehen. A Hur war's, Leitmeritz ist eine deutsche Stadt, die Sprachenfrage ist wichtig, die Justiz ist eine Institution, das Schwurgericht ist ein Korrektiv, und die Lage der Deutschen in Österreich ist kein Messer in den Rücken wert.

Endlich

»... jene Fußgeher, die von der Wache zeitunglesend auf der Fahrbahn betreten werden, sind von der neuen Verkehrsordnung mit Strafen bedroht.«

Ich habe nie ein Hehl daraus gemacht

daß Präservativ-Annoncen der einzige anständige, vernünftige und geschmackvolle Beitrag sind, den die Tagespresse jahraus jahrein aufzuweisen hat. Aber da sie selbst nicht dieser Ansicht ist und vorn gratis verleugnet, was sie hinten für Geld vertritt, so ist die, wie die Moral sagt, »gewisse« Annonce ein Bild der Widerwärtigkeit, verschärft in dem Falle, wo es als Schutzmarke einen Offizier aufweist, der sich, um die Sache schmackhafter zu machen, den Schnurrbart streicht. Dieses ist »Olla«. Ein Problem der sozialen Nützlichkeit vertieft sich in die maßlos häßliche Vorstellung, daß die Abonnenten der Neuen Freien Presse von der Empfehlung Gebrauch machen. Und tatsächlich steht in fetten Lettern zu lesen:

10.000 Stück »Olla«! Gratis! Um »Olla« allen intelligenten Schichten des P. T. Publikums zugänglich zu machen und die Konsumenten zu überzeugen ... von keiner einzigen anderen Marke auch nur annähernd erreicht ... haben wir uns entschlossen, an jeden Interessenten, der seine volle Adresse (Name und Beruf) angibt, ein Stück gratis und franko abzugeben ...

Die Plastik dieser Vorstellung ist atemberaubend. Alle sehen sie jetzt so aus, als ob sie bezogen hätten, die Herren auf dem Korso, im Parkett und überall wo Lebensfreude ist. Dazu tritt die Gewißheit, daß die Firma, wenn sie noch etwas mehr Geld springen läßt, die namentliche Anführung jedes der zehntausend entzückten Empfänger an jener Stelle, wo sie sonst kondolieren durften, durchsetzen kann. Denn vorne macht sich ja nur darum die Sittlichkeit breit, weil die Pachtung dieser Rubriken den Gummifirmen zu teuer käme. Aber es mag ihnen genügen, sich auch hinten den intelligenten Schichten des Publikums verständlich machen zu können und sie für den Verlust der Mona Lisa auf die passendste Art zu entschädigen ... Wenn sie so ihre Andacht verrichten – die einzige, deren sie noch fähig sind – in diesem einzigen Augenblick, wo ihre Intelligenz ausgeschaltet ist – in ihres Betts blutschänderischen Freuden, da, wo der Gummikönig sich zum Gebete kniet – ich wäre der Hamlet, kurzen Prozeß zu machen!

Der kleine Brockhaus

Wo wird die Mutter sein, die uns Erwachsenen die Stirn hält, wenn wir einmal die ganze Bildung von uns geben! Was mir dort im Leben widersteht, nehme ich in meinen Traum herüber, und da hatte ich kürzlich etwas Fieber und dachte, jetzt, ach, jetzt müßte ich den kleinen Brockhaus brechen. Ich befreie mich in diesen Übergängen vom Wissen zum Vergessen, wo Gottes Finger mir im Halse steckt, und sein Auge ist in jedem dieser Gesichter, die nachsehen kommen, ob wir schon schlafen: sie erstrahlen, wenn wir zu wissen aufhören, und erlöschen, wenn wir zu träumen beginnen. Eine Drucksorte war meiner Hand entsunken, auf der stand, daß der kleine Brockhaus 1911, Preis jedes Bandes 12 M., soeben erschienen sei. Wie nun noch aufhören, zu wissen? Die Bildung besteht aus 2.100 Textseiten, 80.000 Stichwörtern, 168 Beilagen, 4.500 Abbildungen, 128 Tafeln, 431 Land- und Situationskarten, der Preis ist niedrig für das unermeßliche Kapital an Aufklärung, das der Erwerben gewinnt, elegant in Halbleder, Unterzeichneter bestellt hiermit, in monatlichen Raten, das Nichtgewünschte bitte zu durchstreichen. Wie groß ist doch die Welt, wenn sie nur bietet, was auf dieser Musterkarte Platz hat. Siehe, da war die Behrsche Einschienenbahn zwischen Listowel und Ballybunnion und die Statue des Augustus, die Reibungs-Elektrisiermaschine und Raphaels Papst Julius II., der Lastenzug für die deutschen Kolonien mit 40-50pferd. Spiritusmotor und das Kapitol in Washington, und alles andere. Mit einem Wort: der kleine Brockhaus ist »der Phönix unter allen Nachschlagewerken«. Und wer ihn auswendig gelernt hat, dem könnte kein besserer Satz gelingen, um ihn zu bezeichnen. Und alle brauchen ihn. »Der Beamte in seinem Büro oder am Schalter, der Gelehrte zwischen seinen Büchern, der Kaufmann an seinem Pult und im Verkehr mit der Kundschaft, der strebsame Angestellte hinter dem Ladentisch und das Fräulein an der Schreibmaschine, der Lehrer unter den fragenden Schülern, der Landwirt, der die Zeitung liest, und der Reisende, der sich nicht verblüffen lassen will, jedermann braucht den kleinen Brockhaus ...« Wie durch die hohle Gasse ziehen sie alle ihres Weges fort an ihr Geschäft und meines ist der Mord. Aber sind sie nicht alle ein- und derselbe? Verschmelzen sie nicht zwischen Büro und Zeitung zu dem einzigen Typus, der nachschlägt, weil er sich nicht verblüffen lassen will, und der verblüfft, weil er nachschlagen kann? Oh, wie schlecht ist mir von all dem. Ein Phönix! Ich lasse mich nicht verblüffen, ich schlage nach, das ist der Sonnenvogel, ein fabelhafter ägyptischer Wundervogel, der 500 Jahre leben, dann auf einem von ihm selbst bereiteten Lager sich verbrennen und aus seiner Asche verjüngt wieder ... »Daher ist sein Platz an der Seite jedes arbeitsamen Menschen, der den Anforderungen seines Berufes gerecht werden will und kein beschämenderes Wort kennt als das Eingeständnis: Das weiß ich nicht.« – – Ich schäme mich zu schlafen, seitdem ich diesen Satz gelesen habe. Denn sie fangen jetzt an, schon zu wissen, wie man zu träumen hat. Und es gibt nicht Nacht mehr und Nebel, nicht Schleier noch Schatten. Und ich schäme mich zu sterben, seitdem ich diesen Satz gelesen habe. Denn ein Reisender, der sich nicht verblüffen lassen will, wird sich über mich neigen und mir die Augen schließen

Jene elegant gekleidete Dame

die in der Sylvesternacht »an der Ecke der Kärntnerpassage ein lebendes Glücksschweinchen, das seinen Neujahrsgruß durch Quieken ausdrückte, aus dem Fenster gehalten und grüßend geschwenkt hat«, die möchte ich, so abgeschlossen ich lebe, doch noch kennen lernen!

Ich habe gelesen

daß es ein Couplet vom »Drahdiwaberl« gibt. Verhindert hat es keiner von den Freunden, die angeblich für mich durchs Feuer gehen – nur verschwiegen. Feigheit, nicht Rücksicht, die mir das Äußerste ersparen will, nenne ich das Vorgehen, es erst zum Äußersten kommen zu lassen und dann mir die Kenntnis vorzuenthalten. Das Leben ist schwer, aber wenn ich leben soll, um geschont zu werden, hätte ich mirs früher überlegt. Jetzt, wo sich herausstellt, daß es wirklich ein Ding wie ein Drahdiwaberl gibt, bestehe ich unbedingt darauf, es kennen zu lernen. Ich erinnere mich noch, wie es mich gepackt hat bei dem Parlamentsbericht, der den Zwischenruf enthielt: »Rrrtsch – abidraht!« Ich bekam sofort 4o Grad und mußte nach dem Süden geschickt werden. Das jetzt ist ärger. Die Freunde sind zartfühlend, aber die Feinde verstehe ich vollends nicht. Es gibt Worte in Wien, die man mir nur bei gegebener Zeit eingeben muß, um vor mir Ruhe zu haben. Nun aber die Vorstellung, daß ein Radibua ein Drahdiwaberl abidraht – damit kann man mich noch aus der Hölle treiben.

Blutiger Ausgang einer Faschingsunterhaltung

Seit vielen Jahren gehört nebst dem Narrenabend des Männergesangvereins, dem Gschnasfest der Künstlergenossenschaft und dem Narrenabend des Schubertbunds die Verteilung des Bauernfeldpreises zu den Faschingsunterhaltungen, in denen der Humor der Wiener Bevölkerung sich an tollen Kapriolen und ausgelassenen Einfällen nicht genug tun kann. Namentlich die Verteilung des Bauernfeldpreises, bei der sich die Jugend das Tanzrecht erobert und das fröhliche Maskentreiben seinen Höhepunkt erreicht, übt als die traditionelle Gelegenheit zur Entfaltung des Frohsinns und der heiteren Laune eine durch die Jahre unverminderte Anziehungskraft aus. Veranstaltet wird der Ulk von den Herren Minor, Professor der Literaturgeschichte, Ritter von Stadler, Sektionschef im Unterrichtsministerium, Intendant Gregori, Redakteur Kalbeck und Advokat Weissel. Die Preise werden so verteilt, daß immer von jenen, die es nicht nötig haben, und von jenen, die nichts dafür können, die allerbesten ausgesucht und zum allgemeinen Gaudium, sei es als die bedürftigsten oder als die bedeutendsten Dichter des Jahres vorgeführt werden. Armut und Talent werden in einem Sinne geehrt, der den Karnevalsverpflichtungen durchaus gerecht wird, indem die Preisrichter der Vereinfachung halber jene aus der Masse der Teilnehmer herausnehmen, die durch Talentarmut prädestiniert sind. Unter unbeschreiblichem Halloh vollzieht sich jedesmal das Bauernfeldtreiben, und der Rädelsführer Minor muß es sich gefallen lassen, daß die ganze Dorfjugend ihn neckend, unter scherzhaften Verwünschungen und indem sie ihn am Barte zupft, in das Seminar zurücktreibt. Diesmal wäre aus dem Scherze beinahe blutiger Ernst geworden. Ich habe nämlich gegen meine sonstige Gepflogenheit, die mich davon abhält, etwas mitzumachen, dem Jux beigewohnt und geriet in eine derart besinnungslose Wut, daß es erst begütigender Zurufe bedurfte, um mich vom Äußersten abzubringen. Ich kam eben dazu, als die Preisrichter in ihrer Vermummung – Herr Kalbeck trug einen Schlapphut, Herr Minor seinen natürlichen Vollbart – auf die Estrade traten und verkündeten, ein Vertreter der Manufakturbranche namens Salten und ein reicher Seidenfabrikant namens Trebitsch seien die preiswürdigsten Dichter des Jahres. Man sah mir sofort an, daß ich einem Blutsturz oder einer Gewalttat nahe war, und um beides zu verhindern, rief man mir zu, es sei nur zum Spaß. Aber noch ein solcher Spaß und ich kann für nichts gut stehen. Mit solchen Dingen spaßt man nicht. Träume sind auch nur ein Spaß. Aber wenn ich einmal davon träumen sollte, daß Herr Salten, der sich leicht tausend Kronen verschaffen kann, indem er ein Akzept auf eine Renaissancenovelle oder einen Wechsel auf ein Altwiener Libretto gibt, gekrönt wurde, ich wäre bös auf den Tag, der solchen Traum ablöst, und ich verwünschte die Weltordnung, die auch nur als Halluzination die Krönung des Dichters Trebitsch zuließe. Viele leiden Hunger und manche sind begabt. Was ist das für ein satanischer Betrug, auch nur den Gedanken herbeizuführen, geschickte oder reiche Leute könnten als Dichter belohnt werden? Da aber setzte sich der Spaß fort. Trebitsch erkannte, daß er genug habe, und verteilte das Geld unter die armen Leute. Das war sehr anständig von ihm, und die Preisrichter – zum Spaß – machten verdutzte Gesichter. Denn sie hatten nicht gewußt, daß Trebitsch reich sei, sie hatten nur geglaubt, daß er ein Talent sei. Ich ärgerte mich aber sehr, daß er nicht – zum Spaß – auch die Ehre zurückwies, welcher er sich bei einigem Nachdenken nicht für würdig erachten konnte. Ich dachte an Peter Altenberg, der, ein Dreiundfünfzigjähriger, am Vorabend des Festes eine lyrische Skizze veröffentlicht hat, deren letzter Beistrich – im Ernst – alles erledigt, was seit zehn Jahren in Österreich – zum Spaß – den Bauernfeldpreis bekommen hat. Warum, fragte ich mich im Ernst, machen sich die Veranstalter nicht einmal den Spaß, Peter Altenberg, der kein Spaßverderber ist, den Bauernfeldpreis, den ganzen, in der Höhe von fünftausend Kronen, zu verleihen? Sie fürchten, man würde sie ernst nehmen, und das Fest wäre gestört? Dann gibt es aber noch eine Möglichkeit, um in Ehren weiterleben zu können und sich im Alter nicht nachsagen lassen zu müssen, daß man sein Leben mit Gschnasfesten verbracht habe. Man erschieße sich. Ich fordere die Herren Minor, Ritter von Stadlcr, Gregori, Kalbeck und Weissel, die sich einen Jux machen wollten, hiermit auf, dies zunächst öffentlich und ausdrücklich zu erklären. Als Herr Leo Feld gekrönt wurde, hat man Tränen gelacht. Die Sache ist diesmal vielfach ernst genommen worden. Sie sollen sagen, daß es nicht so gemeint war. Sie sollen mit Bedauern die Bauernfeldpreise zurückziehen und erklären, daß sie nicht in der Lage sind, den Wahrheitsbeweis anzutreten. Oder sie sollen, wenn sie das nicht über sich bringen, zu fünft ein Hotelzimmer mieten und den Selbstmord, den sie durch Verteilung des Bauernfeldpreises markiert haben, vollziehen.

Ich glaube an den Druckfehlerteufel

»Ein bis jetzt unbekanntes Trauerspiel von Shakespeare wurde jüngst im Inseratenteil einer in St. Gallen erscheinenden Zeitung angekündigt. Es hieß nämlich dort, daß im Stadttheater von St. Gallen zur Aufführung gelange: ›König Lehar‹, Trauerspiel in fünf Aufzügen von W. Shakespeare.«

Da gibts gar nichts zu lachen. Es ist grauenhaft. Der Setzer hat keinen Witz machen wollen. Das Wort, das er nicht zu setzen hat, die Assoziation, die ihm in die Arbeit gerät, ist der Maßstab der Zeit. An ihren Druckfehlern werdet ihr sie erkennen. Was hier zu lesen war, ist ein Shakespearesches Trauerspiel.

Stilblüten sammeln

sollte nur, wer ein Liebhaber ist. Sie auszujäten zeugt von einem schlechten Geschmack, von einem, der da wünscht, daß in der Zeitung nur korrekte Phrasen wachsen. Stilblüten sind die glücklichen Ausnahmen, deren wir in der Wüste der Erkenntnis begegnen. Und ist es nicht von einer ergreifenden Symbolik, wenn einer Zeitung der Satz gelingt:

»Sterbend wurde sie ins Spital gebracht, wo sie einem toten Kinde das Leben gab.«

Geschieht das nicht unser aller gemeinsamen Liebsten, der Kultur? Sterbend wurde sie in die Redaktion gebracht und gebar die Phrase. Ach, wer doch dem toten Kind das Leben gäbe! Er würde die Mutter retten.

In der Werkstatt

den Dichter zu zeigen, ist ein Problem der modernen Photographie. Die meisten widersetzen sich, weil sie sich schämen, in Anwesenheit des Photographen schöpferisch tätig zu sein, oder weil sie es dann einfach nicht könnten. Der Dichter hat am Schreibtisch nichts zu suchen, wenn der Photograph kommt, aber dieser will gerade, daß der Dichter am Schreibtisch sitzt. Über die Schwierigkeit, die sich hiedurch ergibt, ist vorläufig nicht hinwegzukommen, und die illustrierten Zeitschriften, denen es wohl gelingen mag, die Minister beim Regieren zu erwischen, verzweifeln an der Aufgabe, ihrem Publikum zu zeigen, wie sich die Dichter beim Schreiben benehmen. Nur in Ausnahmsfällen hat der Photograph Glück und kriegt den Moment zu fassen, wo die Produktion sich ungestört von der Aufnahme vollzieht. Eine Berliner Zeitschrift hat Herrn Hugo v. Hofmannsthal in seinem Heim vorgeführt. Der Dichter sitzt am Schreibtisch und liest ein Buch.

Eine besondere Überraschung zu Ostern

Gedichte von Ludwig Fulda, Hugo Salus, Siegfried Trebitsch, Paul Wertheimer, Paul Wilhelm – aber das sind alles Namen, die man kennt und schätzt und die schon die Suggestion der Gediegenheit mit sich bringen. Und von wem noch? Nun, und – und –

zwei Gedichte eines noch Unbekannten

Das muß ein Gefühl sein, wenn man so entdeckt ist! Man sitzt im Café, sieht, wie alles mit Fingern irgendwohin zeigt, und muß sich nicht zu erkennen geben. Wer es ist? Ja, das möchten sie jetzt alle wissen. Auf der Straße haben sich Gruppen gebildet. Noch so unbekannt und schon so talentlos! Wer kann das nur sein? Nun, ich weiß etwas. Man versuche in Gegenwart von Leuten, die einem noch unbekannt sind, das Wort »Schmarren« vor sich hinzumurmeln. Wird er rot, so hat man ihn.

Interview mit einem sterbenden Kind

Ich habe dieses hier zu Gesicht bekommen:

Die Tragödie einer kranken Mutter.
Springt mit zwei Kindern aus dem vierten Stock.
Mutter und Kinder tot.

Das furchtbare Familiendrama, das sich gestern morgens im Hause Stefaniestraße 2 im Il. Bezirk abgespielt hat, erregte allgemein die größte Teilnahme. Die 3ojährige Reisendensgattin Paula Deixner ist in Abwesenheit ihres Gatten, der sich auf Reisen befindet, mit ihrem dreijährigen Sohne Egon aus einem Fenster ihrer im vierten Stock gelegenen Wohnung auf die Straße gesprungen und ihr älterer Sohn, der neunjährige Paul, ist der Mutter unmittelbar darauf gefolgt, Mutter und Kinder haben den Tod gefunden.

Was sich in der Wohnung der Familie abgespielt hat, weiß man nur aus einer Darstellung des armen Paul, der seine Mutter und seinen Bruder nur um wenige Stunden überlebt hat. Es war einige Minuten nach 1/2 7 Uhr morgens, als der Sicherheitswachmann Karl Aiginger ... fand Frau Deixner mit ihren Kindern im Blute liegend ... Während Frau Deixner und der kleine Egon bewußtlos waren, befand sich Paul, der ältere der Knaben, trotz mehrfacher schwerer Verletzungen bei vollem Bewußtsein und gab die folgende Darstellung der Schreckenstat.

Was der kleine Paul erzählte

Die Mutter, die seit einiger Zeit krank war und seit gestern abends eine Pflegerin hatte, erwachte heute früher als sonst. Sie klagte über Schmerzen und bat die Pflegerin, ihr einen Tee zu kochen. Während die Krankenpflegerin in der Küche den Tee bereitete, sagte die Mutter:

»Paulchen, ich werde mit Egon aus dem Fenster springen. Spring Du mit!«

Ich fragte : »Warum denn, Mutter?«

Darauf sagte sie: »Wir wollen nicht länger leben!«

Der Knabe erzählte dann, von fortw ährendem Schluchzen unterbrochen, daß er um Hilfe rufen wollte. Da habe die Mutter ihm gedroht, sofort mit Egon aus dem Fenster zu springen. Dann habe sie ihm wieder zugeredet und habe unter anderem gesagt:

»Paulchen, was wirst Du mit Papa allein machen, wenn Egon und ich nicht mehr da sind?«

Bevor der Knabe noch eine Antwort gab, riß die Mutter das Fenster auf, stieß den kleinen Egon vom Fensterbrett und stürzte sich gleichzeitig selbst in die Tiefe. Ohne zu wissen, was er tat, schwang sich nun auch Paul auf das Fensterbrett und stürzte sich mit dem Rufe »Mutter!« ebenfalls aus dem Fenster.

Fast gleichzeitig sausten Mutter und Kinder zur Erde nieder und als im nächsten Augenblicke Passanten und Nachbarn sich um sie bemühten, gaben Frau Deixner und das jüngere der Kinder keine Lebenszeichen mehr von sich.

In der Wohnung hatte man nichts gemerkt

Als eine Minute später der Wachmann Aiginger in der Wohnung der Familie Deixner anläutete und das Dienstmädchen öffnete, hatte weder dieses, noch die Krankenschwester eine Ahnung davon, was sich soeben abgespielt hatte ... Bald darauf erschien die Freiwillige Rettungsgesellschalt mit Inspektionsarzt Dr. Silber und die Verletzten wurden auf die zweite Unfallstation überführt. Kurze Zeit nach der Aufnahme starb Frau Deixner, eine halbe Stunde später der kleine Egon und um 12 Uhr mittags folgte ihnen Paul in den Tod ...

Er hatte, wie der Telegraphist der Titanic bis zum letzten Augenblick seinen Dienst versehen. Aber sein Fall ist grauenhafter. Er war schon im Ertrinken und mußte noch die Fragen der Menschenhaie beantworten, die Gelegenheit hatten. Er lag im Blute und mußte den Polizeireportern und dem Vertreter des Illustrierten Wiener Extrablatts Auskunft -eben, über den Hergang der Tat, über seine Eindrücke. Der Bericht ist authentisch, sie haben ihn aus erster Hand, sie rühmen sich dessen. Es geht über die Fassungskraft. Ein Kind erzählt dem Interviewer, wie es aus dem Fenster sprang. Hanneles Fiebervisionen mitstenographiert. »Sie sagte: Spring' Du mit!« »Ich fragte: Warum denn, Mutter?« »Ich stürzte mich mit dem Rufe: Mutter! ebenfalls aus dem Fenster.« Die Presse ringt mit dem Tode, um früher als er am Sterbebett eines blutenden Kindes zur Information zu kommen. Vor diesem Schauspiel verstummt aller Haß und alle Verachtung der Presse. Nichts läßt es übrig als Trauer: ich vermisse diese Menschen in der Totenliste der Titanic.

Ich

muß es mit tiefem Bedauern eingestehen: Was mich gegen mich einnimmt, ist die Fähigkeit, in der papiernen Schande nicht zu ersticken, die über die Schöpfung gebreitet ist: so daß es mir gelingt sie bloßzulegen. In diesem Inferno des Tages alle eure Sünden, jede einzeln, abzubüßen, weil die Kraft größer ist als die Qual. Aber diese Qualität ist ein Wortspiel, und so werde auch ich erlöst.

Worte, nichts als Worte

... Die Wortzahl der in diesen drei Tagen vom Ischler Postamt verarbeiteten Telegramme betrug 119 800 Worte.

Das Ausschnittbureau

irrt sich oft. In Frankfurt gibt es bekanntlich ein Tratschblatt, das sich Fackel nennt. Darunter habe ich viel zu leiden. Dagegen konnte das Ausschnittbureau mit Recht glauben, daß eine Kritik mich angehe, an deren Spitze es heißt:

Karl Krauß: Lebensbilder aus der Verbrecherwelt.

Ein sonderbares Selbstmordmotiv

»Ihr Ideal war nämlich, Schauspielerin zu werden, und zwar strebte sie gleich darnach, an das Burgtheater zu kommen. Da ihr Wunsch unerfüllbar schien, hatte für sie das Leben keinen Reiz und sie beschloß, in den Tod zu gehen.«

Daß der Wunsch unerfüllbar war, muß ihr ein Laie eingeredet haben. Der Fall ist unglaublich. Wie die Dinge heute liegen, mußte die Meldung lauten: Ihr Ideal war, Schauspielerin zu werden. Da sie aber ans Burgtheater engagiert wurde, hatte das Leben für sie keinen Reiz mehr und sie beschloß in den Tod zu gehen.

Du mußt es dreimal sagen

[Dreimaliges Blühen eines Apfelbaumes.] In dem großen Garten des »Hotel Marienhof« in Pfaffstätten an der Südbahn befindet sich ein Apfelbaum, welcher heuer schon das drittemal in Blüte steht. Von der ersten Blüte sind jetzt noch reife Äpfel zu sehen; von der zweiten sehr reichen Blüte viele kleine Äpfel und jetzt blüht der Baum zum drittenmal.

Und es nützt ihm nichts und es nützt ihm nichts. Ringsherum finden ganz andere Ereignisse Beachtung. Solche Apfelbäume sollten lieber totgeschwiegen. Ich wünsche so etwas in der Neuen Freien Presse nicht mehr zu lesen: auch wenn sie nur die Wunder eines Hoteliers preisen wollte und nicht Gottes Komfort. Aber sie tue es nicht. Nichts von Blüte in solchem Mund! Nichts von Blüte, wo nur Blätter sind! Dem Baum nützt es nicht, und wenn er viermal sagte, was man nicht hören will, und ihr glaubt man's nicht. Es ist, als ob ein Menschenfresser Tränen hätte, weil eine Schiffbrüchige in gesegneten Umständen ans Land kommt. Nein, toller: es ist, als ob die Neue Freie Presse gerührt wäre, weil ein Apfelbaum blüht!

Erklärung

Absichtlichkeit und Zudringlichkeit von Mißverständnissen, die sich um das Eindringen der Fackel in Berliner literarische Interessen gebildet haben, legen mir die Pflicht auf, das Folgende zu erklären: Das Eindringen der Fackel in Berliner literarische Interessen ist mir peinlich. Jeder Anhänger, den ich in Berlin verliere, ein Gewinn. Ich habe nie von irgend jemand Förderung, Verbreitung, Eintreten, Wohlwollen oder Begeisterung erwartet, verlangt oder auch nur – wie nachgewiesen werden kann – stillschweigend geduldet. Wer in Kneipen oder Kneipzeitungen das Gegenteil behauptet, ist ein Schmierfink, auch wenn er nicht zufällig die »fünf Frankfurter« verfaßt hat. Ich habe mit Berliner literaturpolitischen Bestrebungen, mit Futuristen, Neopathetikern, Neoklassizisten und sonstigen Inhabern von Titeln ebensowenig zu schaffen wie mit Wiener Kommerzial- und Sangräten. Ich hasse das Publikum; und ich zähle die Schmarotzer an seinen Mißverständnissen zum Publikum. Ich stehe nicht auf dem Standpunkt, daß jeder Gymnasiast, dem die in unserer Zeit vorhandenen Süchte und Dränge und sonstigen ekelhaften Plurale zu einem »Niveau« verholfen haben, mehr taugt als Mörike und Eichendorff. Ich bin nicht der Meinung, daß die Meinung in der Kunst genügt, glaube, daß das bloße Rechthaben gegen den Journalismus mit ihm identisch ist, und sage, daß jeder, der ernsthaft behauptet, daß Rudolph Lothar ein Übel sei, sich einer Verdoppelung des Rudolph Lothar schuldig macht. Ich sage, daß Polemik vor jeder anderen Art von schriftlicher Äußerung durch Humor legitimiert sein muß, damit nicht die Null zum Übel werde, sondern das Übel nullifiziert sei. Polemik ist eine unbefugte Handlung, die ausnahmsweise durch Persönlichkeit zum Gebot wird. Lyrik ohne Berechtigung greift nur den Täter an; der schlechte Angriff auch alle Unbeteiligten. Ich halte Polemik, die nicht Kunst ist, für eine Angelegenheit des schlechten gesellschaftlichen Tons, die dem schlechten Objekt Sympathien wirbt. Ich halte das Manifest der Futuristen für den Protest einer rabiaten Geistesarmut, die tief unter dem Philister steht, der die Kunst mit dem Verstand beschmutzt. Ich halte das Manifest der futuristischen Frau, der ich jede perfekte Köchin vorziehe, für eine Handlung, der ein paar lustlose Rutenhiebe zu gönnen wären. Ich halte Else Lasker-Schüler für eine große Dichterin. Ich halte alles, was um sie herum neugetönt wird, für eine Frechheit. Ich achte und beklage einen Fanatismus, der nicht sieht, daß unter den Opfern, die er der Kunst bringt, diese selbst ist. Ich verfluche eine Zeit, die den Künstler nicht hört; aber sie zwingt ihn nicht, ihr das zuzuschreien, was er ihr nicht zu sagen hat. Ich weiß, daß die schonungsloseste Wahrheit über diesen Punkt noch immer so viel Ehre übrig läßt, daß das Gesindel ringsherum keinen Anlaß zur Freude haben kann. Überhaupt möchte ich jedem einzelnen in dieser Hunnenhorde, aus der kein Attila ersteht, jedem einzelnen dieser Literaturhamster, die kein Fell geben, den Rat erteilen, nichts von meiner Mißbilligung polemischer Minderwertigkeit oder lyrischen Dilettantismus auf den andern zu beziehen, sondern alles auf alle. Auch möchte ich bitten, den Verkehr mit mir in jeder Form abzubrechen und im Pendel zwischen Verehrung und Büberei es definitiv bei dieser zu belassen, aber so, daß kein Aufsehen entsteht. Man soll mir keine Drucksorten und keine Briefe schicken. Ich weiß Bescheid. Es wäre mir peinlich, wenn ich genötigt wäre, Berlins kulturelle Mission als einer straßenreinen Stadt gegen den Schönheitsdreck zu verteidigen und nachzuweisen, daß der übelste Abhub der Wiener Geistigkeit sich jetzt dort vor den Betrieb stellt. Ich bin für Asphalt und gegen Gallert. Ich bin für Berlin: nämlich für die Chauffeure und gegen die Neutöner, für das Reviersystem und gegen die Weltanschauung, für die Kellner und gegen die Gäste.

Conrad von Hötzendorf

– wie Trateratata klingt das, haben uns die Feuilletonisten oft und oft erzählt, wenn sie so um das Lagerfeuer saßen und von gewonnenen Schlachten träumten. Das mag alles sehr berechtigt sein, denn kein Name ist unverdient. Nur muß man sich ihn verdienen. Einer, der etwa Kotschitschka von Lilienfeld hieße, hätte es schwerer, aber der erste Sieg gäbe dem Namen Pathos. Hinwieder kann oft eine Trompete zu früh losgehen. Mit Recht hat der sogenannte Conrad von Hötzendorf einem Interviewer gesagt, daß man einen Feldherrn eigentlich erst nach seinen Taten beurteilen könne. Nur hatte er nicht Recht, es einem Interviewer zu sagen. Er ist wahrscheinlich der bedeutendste Feldherr aller Zeiten und niemand würde ihm persönlich einen Vorwurf aus dem Frieden machen, der ihn verhindert, es zu beweisen, wenn er nicht gerade vor dem Vertreter des Neuen Wiener Tagblatts bescheiden wäre. Sonst kennt man ja von ihm wirklich nicht viel mehr als dieses Interview. Richtig: noch eine Zuschrift an die Neue Freie Presse. Zwar nur achtungsvoll, aber doch eigenhändig. Und kann man sich denn sonst gar kein Bild von ihm machen? Oh doch, im »Interessanten Blatt«, in der »Woche«, in den »Wiener Bildern« ist es bereits zu sehen. Nun, werden die Beschützer eines großen Feldherrn sagen, berühmte Männer kommen da eben hinein, ob sie wollen oder nicht. Denn wenn es auch ein Recht am eigenen Bilde gibt, so können berühmte Männer doch nicht verhindern, daß sie zwischen Wer weiß etwas?, einer Probiermamsell, Herrn Treumann und dem deutschen Kaiser auf der Sauhatz ihren Platz finden. Freilich könnte man antworten, es komme darauf an, wie sich die berühmten Männer photographieren lassen und ob sie schon bei der Aufnahme gewußt haben, für welchen Zweck sie bestimmt sei. Wenn Wilhelm II: dem Tier den Genickfang gibt, so steht ein Photograph auf dem Anstand und jener – sagen wir – kann nichts dafür. ist unschuldig wie der Hirsch. Es war ein Moment. Dichter lassen sich – mit Ausnahme des Herrn von Hofmannsthal, der ein Buch liest – nicht bei der Arbeit photographieren. Wie nimmt man Generalstabschefs auf? Ich schlage vor: Brustbild, ganz ungezwungen, ein freundliches Gesicht, auch wenn es draußen wettert. Aber um Gotteswillen nicht so.- »Der österreichisch-ungarische Generalstabschef Conrad von Hötzendorf beim Studium der Balkankarte«! Das ist doch beinahe Verrat militärischer Geheimnisse! Auch nicht so: »Der Chef des Generalstabs G. d. L. Conrad von Hötzendorf studiert mit seinem Flügeladjudanten Major Rudolf Kundmann die Balkankarte.« Ja, wie macht man das? Nun, der Chef des Generalstabs sitzt auf einem Tisch, neben ihm steht der Major und beide starren auf die Balkankarte. So sieht das also aus, wovon der Ruhm kommt? Wer hat den Photographen ins Zimmer gelassen? Warum haben sich die Herren nicht im Studium der Balkankarte unterbrochen, als der Photograph kam? Ist es denn möglich, daß sie, als der Photograph kam und etwas Apartes machen wollte, das Studium der Balkankarte erst begonnen haben? Nun, trotzdem kann ja noch immer eine Schlacht unter Conrad von Hötzendorf mit einem glänzenden Sieg enden, kein Zweifel. Aber die Feinde hätten doch noch mehr Angst, sie lebten jedenfalls mehr in der Ungewißheit, wenn sie nicht Gelegenheit hätten, den österreichisch-ungarischen Generalstabschef Conrad von Hötzendorf beim Studium der Balkankarte zu sehen. Man soll das nicht so herzeigen, man soll nicht. Hat man einen Kopf, so genügt Brustbild. Hat man keinen, so nützt die Balkankarte auch nichts, im Gegenteil. Und darunter steht.- »Zum Wechsel in der Leitung des österreichisch-ungarischen Generalstabes«. Ja, wie war das also früher? Hat der frühere Generalstabschef nie die Balkankarte studiert? Oder anders? Wird's jetzt ernst? Gewiß, die Herren Schemua und Auffenberg haben sich durch ihren Verkehr mit Humoristen, Fakiren und Journalisten nicht vertrauenswürdig gemacht; es ist nicht gut, wenn von hohen Militärs zu viele Leute behaupten können, daß sie sie persönlich kennen. Von Conrad von Hötzendorf hatte man nur den Schall, kein Gerücht. Es war nicht angenehm, daß sein Name öfter von dienstuntauglichen Leuten mit einer Trompete verglichen wurde. Aber sei's drum, und wenn die Trompete statt der Kanone losging, er konnte noch immer der tüchtigste Feldherr sein. Er ist es wahrscheinlich. Aber vom bulgarischen Generalstabschef haben uns die Plauderer erzählt, wie er bei der Nachtlampe arbeite. Sie haben es nicht gesehn, sie haben es gehört. Kein Photograph wurde ins Zimmer gelassen, und trotzdem gab es bulgarische Siege. In Österreich wurde es ernst. Da wurde Conrad von Hötzendorf Generalstabschef. Da studierte er die Balkankarte. Da siegte am Hofe die Friedenspartei und da trat der Hofphotograph Scolik ein. »Eine kleine Spezialaufnahme wenn ich bitten darf –!« »Für die Weltgeschichte?« »Nein, für das interessante Blatt.« »Aha, zur Erinnerung an die Epoche!« »Ja, für die Woche.« »Ich bin aber grad beim Studium der Balkankarte –« »Das trifft sich gut –« »Wirds lang dauern?« »Nur einen historischen Moment wenn ich bitten darf –« »Soll ich also das Studium der Balkankarte fortsetzen?« »Gewiß Exzellenz, setzen ganz ungezwungen das Studium der Balkankarte fort – so – ganz leger – nein, das wär' unnatürlich – der Herr Major wenn ich bitten darf etwas weiter zurück – nein, nur ganz ungeniert – kühn, bitte mehr kühn – es soll eine bleibende Erinnerung an die ernsten Zeiten sein – so ists gut, nur noch – bisserl bitte – so – machen Exzellenz ein feindliches Gesicht! – jetzt – Ich danke.«

Wenn Herr Harden glaubt

daß ich seine Frage »Was wünscht sich Michel unter die Weihtanne?« nicht über setzen kann, so irrt er. Michel wünscht sich unter die Weihtanne, daß Herr Harden einmal, einmal nur die Courage habe, »Deutschland« und »Weihnachten« zu schreiben. Das wäre eine Überraschung! So aber gibts alleweil nur Ärgernis. In Deutschland und soweit der Dreibund reicht. Uns nennt Herr Harden wohl die Austriaken. Gut, schlucken wir's hinunter. Aber die Italiener – wie glaubt man, traktiert er die Italiener? Schlechtweg als Italiäner, Italier, Italer, Italersprossen, Italiens Einwohner, Italioten? Nein. Nennt er sie verächtlich Welsche? Nein. Welschlandbewohner, Welschländer? Nein. Ich habs: Rinderlandbewohner, Rinderländer? Nein (aber auf eine gute Idee hat er mich gebracht, sagt jetzt Herr Harden). Wie also? Wie nennt er sie? Wie? Nicht erschrecken, gefaßt sein – wir haben ja alles Mögliche schon erlebt, es trifft uns nicht unvorbereitet – Brüder, Mut – er nennt sie: Stiefelinsassen!

Fern sei es von mir,den »Professor Bernhardi« zu lesen

denn läse ich ihn, ich fühlte mich hingerissen, ihn zu zitieren, und zitierte ich ihn, man läse ihn richtig. Denn ihr alle wisset doch schon, daß die Dinge, die ihr anderorts mit Wohlgefallen betrachtet, hier plötzlich ein anderes Gesicht annehmen, indem sie das werden, was sie sind. Denn mir ist ein Engel erschienen, der mir sagte: Gehe hin und zitiere sie. So ging ich hin und zitierte sie. Und kann Existenzen dem Hungertode preisgeben, bloß dadurch, daß ich sie hier noch einmal und wörtlich das sagen lasse, wodurch sie Reichtümer erwerben. Und wahrlich ich sage euch, ich besitze eine Skizze von Salus, welche in der Sonntags-,Zeit' erschienen ist. Und wenn ich sie abdrucke, wird sich Europas Sorgenantlitz glätten und es wird wieder sein wie vor dem Kriege. Ich aber tue es nicht, weil ich ein anständiger Mensch bin. Diese geheime Kraft, die mich befähigt, die deutsch-österreichischen Autoren vor Gott und Menschen mißliebig zu machen, übe ich mit Bedacht. Schnitzlers Zeit ist noch nicht vollendet. In zehn Jahren wird man wissen. Und aber in zehn Jahren wird man nicht mehr wissen. Fern sei es von mir, seine besten Sätze abzudrucken. Denn er ist allen sympathisch und alle würden von mir sagen, ich sei ungerecht gegen ihn. Was ich aber schon heute verraten kann, ist, was ich nur vom Hörensagen weiß. Es soll ein ernstes Stück sein, ein soziales Stück, und Priester und Arzt reichen sich die Hand über dem Abgrund. Das habe ich gehört und mache mir Gedanken. Ich weiß, daß es nicht das Lustspiel ist, das sie von ihm erwartet haben. Denn jegliche Saison, wenn das Fest der Laubhütten kam, gingen die zehn Ältesten hinaus zu ihm und sahen nach, ob er ihnen schon das Lustspiel geschenkt hatte. Aber immer kehrten sie um und sagten: Noch nicht, aber fast. Er sei berufen, seinem Volk dereinst im Volkstheater das Lustspiel zu geben. Aber er gab es nicht, und die zehn Ältesten kehrten um und sagten: Noch nicht, aber fast. Und sie sahen, daß er sich mit unreinen Dingen abgab, mit der sogenannten Erotik. Das verdroß sie im Herzen und sie fragten: Siehe, warum gibt dieser hier, wenn er schon nicht das Lustspiel gibt, nicht wenigstens das ernste Schauspiel, das seriöse mit den sozialen Problemen, wo man hineinführen kann die Tochter? Und er gab nicht das Lustspiel, aber er gab das ernste Schauspiel, das seriöse mit den sozialen Problemen und sie wollten hineinführen die Tochter, aber die Zensur erlaubte es nicht. Dieses war Professor Bernhardi. Und sie sagten: Seine erotischen Probleme haben bei aller Feinheit der Psychologie nicht immer Wohlgefallen ausgelöst, jetzt aber, wo er ernst ist und gediegen, wird er verboten? Sitzt Glossy nicht im Beirat und gibt er nicht preis die Kunst dem Rotstift des Schergen, der päpstlicher ist als der Papst? Soll es nicht erlaubt sein einen Spiegel vorzuhalten, so lasset verschwinden Nathan und den Pfarrer von Kirchfeld und die Perlen von unseren Bühnen. Wieso erblickt man im Hauptproblem den Stein des Anstoßes, wo es doch einen Kardinalpunkt der kirchlichen Lehre bildet? Die Kirche scheut doch selbst nicht die »öffentliche Darbietung des Konflikts zwischen Dies- und Jenseits«, warum erlaubt man ihn nicht als Premiere im Volkstheater? Ist es gerecht, wenn man auf der Bühne nur erlaubt die Probleme des Ehebruchs, »als ob unser Liebes- und Eheleben aus lauter solchen Späßen bestünde«? Der so fragte, war ein hervorragender Rechtslehrer und er nannte sich so und verschwieg seinen Namen. Denn die Stimme des Herrn gebot ihm, zu schreiben gegen die geheime Fehme, wenn auch anonym, und den Satz zu schreiben von den »Gönnern, die zwar ihre schönen Namen gerne in den Dienst einer humanen Sache stellen, die aber in dem Augenblicke sich verkriechen, wo sie Männer sein sollen«. Dieser hier aber verkroch sich in dem Augenblick, wo er seinen schönen Namen in den Dienst der humanen Sache stellen sollte, und tat es anonym, was den Zweifel ausschloß, daß es ein Universitätsprofessor sei. Ich aber sage euch, es gibt deren viele. Und keiner von ihnen ist, der nicht bereit wäre, für die Überzeugung einzutreten, daß Gott die Welt unmöglich in sechs Tagen erschaffen haben kann. Und keiner von ihnen ist, der nicht bei der Vorstellung des »Professor Bernhardi« erschüttert wäre, aber unbewegt bei der Vorstellung, daß vor dem Premierenpublikum des Deutschen Volkstheaters vom Sakrament gesprochen wird. Und keiner von ihnen ist, der nicht bereit wäre, anonym die Behörde anzugreifen, weil sie die Frage, ob der Priester im Sterbezimmer zu erscheinen habe, kurzerhand durch die Verfügung erledigt hat, daß er nicht vor dem Auswurf der Menschheit zu erscheinen habe. Ich sage euch, es gibt einen Typus, der verderblicher ist als Hunger, Pest und Meer. Er nennt sich einen hervorragenden Rechtslehrer oder eine besondere Seite, er kann ein Historiker sein oder ein Nervenspezialist oder er muß auch nichts von Frauenleiden verstehen. Er ist in jedem Falle ein Freidenker und hat einen warmen Vollbart. Ist man sensibel, so kann man gegen den Typus nichts unternehmen, weil man als Kindheitseindruck irgendeine schäbige Maxime aus solchem Mund durchs Leben trägt und sich noch in reiferem Alter von einem Bart, der sich einst über ein Gitterbett beugte, gekitzelt fühlt. Ist man brutal, so sieht man in solchen Attrappen den Feind, bereit, sie überall anzuspringen, wo sie sich vor Kunst und Leben stellen. Diese Akkoucheure jeglicher Banalität stehen noch immer mit ihren Umgangsformen dem Geist im Weg. Viel mag von dieser Vollbärtigkeit im Professor Bernhardi, im Helden, im Werk und im Dichter stecken, nur daß hier als ornamentaler Hintergrund noch ein weites Land dazugehören mag. Der Gedanke aber, der in die starrste Konsequenz kirchlicher Formen verläuft, kommt von noch weiterem her. Das Sterbesakrament beginnt noch nicht einmal dort, wo das Sterbefeuilleton aufhört. Anonyme, aber hervorragende Rechtslehrer sehen in diesen Dingen eine Gelegenheit, sich in die Mannesbrust zu werfen, mit dem Voll- und Ganzbart zu protestieren, und sie loben einen Causeur erst dort, wo er sich endlich auch thematisch in ihren Horizont begeben hat und zum Leitartikel emporwächst. Denn Gott ist ihnen etwas, was sich überlebt hat, die Weltanschauung des Vereins katholisch Geschiedener ist ihnen etwas, was einen Dichter begehrenswert macht, und das Geschlechtsleben, um das sie so sicher Bescheid wissen wie um die Religion, ist etwas, was man nach der Arbeit betreibt, aber kein eines ernsten Menschen (der im Leben steht) würdiges Studium. Schnitzlers erotische Probleme haben nicht ihr Wohlgefallen ausgelöst. Aber was denn auf der Welt sollte Wohlgefallen auslösen, wenn nicht Schnitzlers erotische Probleme? Beunruhigt haben sie noch keinen hervorragenden Rechtslehrer, selbst wenn sein Eheleben aus lauter solchen Späßen wie Ehebruch bestünde. Es ist alles beim Alten geblieben, kein Mißverständnis zwischen den Geschlechtern wurde beseitigt und um Schnitzlers willen werden noch in hundert Jahren die Freidenker ruhig schlafen können und die Freidenkerinnen unruhig schlafen müssen, und die Welt wird nicht mit Schnitzlerischen Gedankenkeimen zur Welt kommen, und wenn es geschähe, würde es ihrer Verdauung auch nichts schaden. Gegen das Liebesleben der Leute hat er nichts unternommen. Darum war es höchste Zeit, daß er auch etwas für ihre Gesinnung getan hat. Um sie erotisch zu unterhalten, muß man mindestens ein Mikosch sein. Ein Gedanke würde ihnen die Nacht verderben. Psychologie verpatzt ihnen nur den Abend. Schnitzler hat sich rehabilitiert, als wäre er früher Strindberg gewesen. Der Professor Bernhardi ist »eines der besten seit lange geschriebenen Dramen«. Zu wissen, wer so urteilt, und zu wissen, was darin vorkommt, möge dem Wissenden genügen. Ich stehe ganz auf dem Standpunkt des humanen Arztes und bin dagegen, daß man dort, wo die Kunst stirbt, es ihr auch noch sage. Und als Priester würde ich ihr nicht einmal Trost spenden und keine Absolution gewähren. Wie die Schnitzlersche Patientin hinter der Szene ist sie verloren, »aber glaubt sich genesen«. Überlassen wir alles Weitere den Freidenkern und bleiben wir im Vorraum.

Die Polizei und die Zeitungen selber

»... Der Oberstadthauptmann erwiderte, es müsse als ausgeschlossen betrachtet werden, daß die Polizei über Ort und Zeit des Zweikampfes Kenntnis gehabt hätte. Denn wäre dies der Fall gewesen, so hätte sie auf jeden Fall das Duell verhindert. Daß die Polizei von dem Duell keine vorherige Kenntnis haben konnte, beweist auch der Umstand, daß die Zeitungen selber über den Zeitpunkt des Zweikampfes nicht im klaren waren ...«

Wiener Faschingsleben 1913

Unter dieser Devise, an leitender Stelle eines Wiener Abendblattes, dessen erste Seite die heitere Seite des Lebens vorstellt, während der Ernst der Politik mehr hinten kommt, habe ich, der am Schreibtisch verbrachten Nächte überdrüssig, gefunden, was ich gesucht habe. Ich stürz mich in den Strudel, Strudel hinein:

Ein kurzer Fasching, wie der heurige hat seinen eigenen Reiz. Man hat nicht Zeit, tanzmüde und blasiert zu werden, Vergleiche anzustellen und lange zu wählen. Im flottesten Dreivierteltakt eilt man von Genuß zu Genuß, man läßt mehr das Herz sprechen, das rascher entscheidet als die kühl berechnende Vernunft. Man amüsiert sich rasch und denkt nicht an morgen, denn es gilt, den kurzen Karnevalstraum rasch zu genießen, ehe der Aschermittwoch-Morgen dämmert und an den Ernst des Lebens mahnt. So kommt ein flotteres Tempo in diese ohnehin raschlebige Zeit, in der Nächte zu frohen Stunden werden und Wochen zu einem kurzen Taumel der Lust. – – – Man merkt dem Wiener Nachtleben schon die Kürze des Faschings an. Alles hat die Tendenz, sich gleichsam von vornherein für den späteren Ausfall zu entschädigen, rasch noch eine frohe Stunde und noch eine dem Leben abzuringen. – – – Die Wiener Hausgeister, die Gemütlichkeit und der Frohsinn, schwingen siegreich ihr Zepter, und nur, wenn hie und da noch eine Musikkapelle ein patriotisches Lied intoniert, denkt man der ernsten Tage, in welchen wir leben. Aber das ist nur ein Augenblick, dann läßt man wieder froh die Gläser klingen: »Ein Prosit der Gemütlichkeit!« Wer's nicht glaubt, der sehe einmal mit eigenen Augen nach, der begleite uns auf einer kleinen Rundfahrt durch das fidele Wien bei Nacht von heute oder er wähle selbst und empfinde die Qual der Wahl unter diesen gleich empfehlenswerten Adressen, die unter dem Titel »Wiener Faschingsleben« im Inseratenteil unseres heutigen Blattes zusammengefaßt sind.

... Wer vom Sophiensaal oder aus der Stadt auf den Ring kommt, wird nicht widerstehen können, Dobners musterhaft vornehm geleitetem Café Stadtpark einen Besuch abzustatten. Wer seinen Weg über den Franzensring nimmt und insbesondere, wer vom Burgtheater kommt, wird nicht versäumen, in's Künstlercafe einen Abstecher zu machen. Besucher der Hofoper können am einladenden Café Fenstergucker (Scheidl) nicht vorbeikommen, ohne hier eine Erfrischung zu nehmen. Wer den Alsergrund zu durchqueren hat, dem seien das eben renovierte gemütliche Café Maria Theresia und das gegenüber der Volksoper gelegene renommierte Café Hofstötter bestens als Ruhe- und Erfrischungsstationen empfohlen. Freunde eines guten Tropfens und kreuzfideler Stimmung werden die Residenz-Weinstube in der Annagasse zu finden wissen sowie Gourmands in Mariahilf und in der Stadt sicherlich in das Restaurant Leber (Deierl) gehen werden. Aus dem Lustspieltheater, Zirkus Busch-Varieté, Carl-Theater, Intimen Theater geht man selbstverständlich in das Admiral-Café (Rosner) im Lloydhof (Praterstraße). Besucher des Strauß-Theaters finden von selbst das renommierte bürgerliche Restaurant »zum roten Rößl« in der Favoritenstraße. Reich genug ist die Auswahl fürwahr, und wer es versucht, diese Rundfahrt zu machen, wird überall auf seine Rechnung kommen. Denn es ist ein kurzer aber eben darum doppelt lustiger Fasching, der von 1913!

Ich bin dabei, ich mache mit, ich will mehr das Herz sprechen lassen. Rasch den kurzen Karnevalstraum genossen und hinein zum Dobner. Ich wollte widerstehen, aber es ging nicht. Ich kann nur sagen, es war toll. Vornehm geleitet, aber toll. Nun war ich nicht mehr zu halten. Man denke: durch fünfzehn Jahre ausgehungert! Nun eilte ich im flottesten Dreivierteltakt von Genuß zu Genuß. Was sage ich, eilte: ich taumelte. Die kühl berechnende Vernunft sagte mir: Geh nach Hause, Alterchen. Ich aber ließ mehr das Herz sprechen und versäumte deshalb nicht, ins Künstlercafe einen Abstecher zu machen. Dort waren lauter Künstler. Ein augustisches Zeitalter schien angebrochen. Schon aber dämmerte auch der Aschermittwoch-Morgen und mahnte an den Ernst des Lebens. Ja, Schnecken! Eheu fugaces, Postume, Postume! Drahma um! Wer wird an morgen denken? Ich zog weiter. Nur die Qual der Wahl trübte mir das bacchantische Glück, weshalb ich einen Wachmann fragte, wo hier die Wiener Hausgeister siegreich ihr Zepter schwingen. Er sagte: Gleich rechts um die Ecke, dann links, im Café Hofstötter. Nachdem ich den Alsergrund durchquert hatte, was an und für sich schon eine Hetz ist, wußte ich in kreuzfideler Stimmung die Residenz-Weinstube zu finden. Hierauf wollte ich am Café Scheidl vorbeikommen, ohne eine Erfrischung zu nehmen. Das war aber leichter gedacht als ausgeführt. Ich konnte einfach nicht vorbei, ich mußte hinein. Dort ging es drunter und drüber, das fröhliche Treiben erreichte seinen Höhepunkt, und auch ich nahm eine Melange und hierauf eine Erfrischung. Gourmands in Mariahilf, sagte ich mir, gehn jetzt natürlich zum Deierl. Ich sage nichts als: Evoe! Mein Gang war beschwingt, als ich wieder auf die Straße kam, und nun wollte ich in das renommierte bürgerliche Restaurant zum roten Rößl. Ich fragte einen Wachmann, wo es sei, der aber antwortete: Das finden S' von selbst! Tatsächlich fand ich es von selbst. Ich verbrachte dort eine tolle Stunde. Ein Passant, der später des Weges kam, fragte mich, ob ich noch ins Admiralcafe gehe. Selbstverständlich, sagte ich und ging ins Admiralcafe (Rosner). Es war das im Lloydhof (Praterstraße) und hier war des Jubels kein Ende. Alle Besucher aus dem Lustspieltheater, Zirkus Busch-Varieté, Carltheater und Intimen Theater hatten sich eingefunden. Die Leute standen Kopf an Kopf und nur mit Mühe konnte ich mir ein Plätzchen erobern. Was hier geboten wurde, überstieg alles. Man hatte nicht Zeit, blasiert zu werden. Ich beschloß, hier zu bleiben, in der Hoffnung, daß nunmehr auch ein flotteres Tempo in diese ohnehin raschlebige Zeit kommen werde, um Nächte zu Stunden und Wochen zu einem kurzen Taumel der Lust zu wandeln. Als ich wieder auf die Straße trat, traf ich einen Wachmann, fragte ihn, wo man hier noch eine frohe Stunde und noch eine dem Leben abringen könne. Denn der Fasching sei kurz. Und man wolle sich eben für den späteren Ausfall entschädigen. Der Wachmann sah mich an und sagte: »Waren S' schon im Admiralcafe?« Ich sagte: »Selbstverständlich«. »Gehn's zum Dobner!« »War ich schon.« »Gehn's zum Deierl!« »War ich auch schon.« »Gehn's zum roten Rößl, dös finden S' von selbst!« »War ich schon.« »Laßn S' das Herz sprechen und gehn's zum Scheidl!« »Kenn ich auch schon.« »Ja, was wollen's denn nacher haben? Wenn einer eh schon alls mitg'macht hat und is noch nicht zufrieden –! Mirkwirdik san die Menschen!« Ich torkelte nach Hause. Am nächsten Tag stand ich mit einem fürchterlichen Katzenjammer auf. Ein Freund suchte mich zu überreden, mit ihm ins Cafe Stadtpark zu gehen. Ich widerstand. Er sagte, ich sei blasiert.

Der Schutzmann

Der Wiener Hofoperndirektor Gregor aus Berlin hat einem Berliner Interviewer aus Wien gesagt, daß er bis 1921 bleiben werde. Aber nicht genug daran:

Ich bin sogar fest überzeugt davon, daß ich noch länger bleibe. Unter meinen Vorgängern hat sich Jahn am längsten gehalten – so etwa fünfzehn oder sechzehn Jahre. Ich gedenke diesen Rekord zu schlagen.

Rekordsucht pflegt Titanic-Katastrophen herbeizuführen. Aber wenn sich die Wiener Hofbehörde solche Zuversicht gefallen läßt, dann ist diese gewiß berechtigt. Herr Gregor findet, daß die Wiener Oper das erste Institut der Welt sei. Und warum?

Ein Orchestermitglied kann zwei Jahre, ein Solosänger sechs Monate krank sein, ohne sich der Gefahr einer Kündigung auszusetzen.

Außerdem versichert Herr Gregor, daß er »nicht rechts und nicht links sehe«. Das ist gewiß vorsichtig von einem Theaterdirektor, weil er sonst leicht bemerken könnte, daß rechts und links kein Publikum sitzt. Herr Gregor versichert auch, daß er – nicht ohne last not least – in kein Kaffeehaus gehe. Das ist sein gutes Recht und es ist sehr anständig, daß er hinzusetzt »ohne den Wienern den Besuch des Kaffeehauses zu verleiden oder ihn den Wienern abgewöhnen zu wollen«. Von verleiden kann keine Rede sein, da Herr Gregor eben in kein Kaffeehaus kommt, und abgewöhnen könnte er es den Wienern doch auch nur vielleicht dann, wenn er ins Kaffeehaus ginge. So aber könnte es ihm keineswegs gelingen. Es ist eine eingewurzelte Wiener Sitte, die Leute, die in den Wiener Kaffeehäusern sitzen, sind wohl zumeist recht unangenehm, aber die Kellner verstehen immerhin etwas vom Theater und es ist gerade kein Gewinn, daß Herr Gregor ihren Verkehr meidet. Herr Gregor betont nachdrücklich, daß er »auf Ordnung halten« wolle. Das ist bekannt. Mit den Wienern, soweit sie sich das Kaffeehausleben nicht abgewöhnen lassen oder die Passion haben, auf der Straße herumzutorkeln, wird er keine besonderen Resultate erzielen. Aber er hat es sich ja auch nicht zur Aufgabe gemacht, das Chaos vor der Oper zu regeln, sondern er will, daß gerade jene Leute in Wien, von denen man eher Stimme als Ordnung verlangt, links, bitte links gehen. Er erklärt, daß Kopfweh kein Grund zur Absage sei. Es ist ja gewiß richtig, daß ein Sänger nur den Kehlkopf für seine Arbeit braucht, aber immerhin ist der Vergleich, zu dem sich Herr Gregor gereizt fühlt, hart genug:

Sie sind Journalist. Haben Sie noch nie Ihren schweren, verantwortungsvollen Beruf mit Kopfschmerzen, mit körperlichem Unbehagen erfüllt?

Gewiß geht es bei der Zeitung auch mit Kopfschmerzen, aber wenn der Journalist auch keine hat, das körperliche Unbehagen hat doch der Leser, besonders wenn er ein Interview mit Herrn Gregor liest. Der Hörer ist anspruchsvoller. Sonst findet Gregor noch die geographische Lage von Wien ungünstig, will aber dafür nicht verantwortlich sein. Hier Ordnung zu schaffen ist er nicht imstande. Es ist aber zu befürchten, daß er bis 1921 und darüber hinaus auch nicht imstande sein wird, Tenoristen und Balleteusen an Mannszucht zu gewöhnen. Es ist eben ein verzweifelter Ehrgeiz, die Ordnung in jenem einzigen Winkel des Wiener Lebens herstellen zu wollen, wo man sie nicht vermißt. Die Sänger und Tänzer hierzulande sind nicht laxer als die von Berlin. Herr Gregor vergeudet seine Kraft. Man braucht ihn vor der Oper. Er wird, selbst wenn ihm der angesagte Rekord gelingt, nichts erreichen. Dagegen erfordert es das Prinzip der Nibelungentreue, daß man endlich einen Wiener Schutzmann nach Berlin sendet. Auf die dortigen Opernverhältnisse würde er nicht Einfluß nehmen, aber binnen einer Woche muß es ihm gelingen, die Unordnung unter den Linden herzustellen.

Ein Vorurteil

Das Neue Wiener Tagblatt meldet:

Bei der vorgestrigen Wohltätigkeitsvorstellung auf der Residenzbühne bot Fräulein Käte Pasqu‘e, die als Lotte in Massenets »Werther« auftrat, durch treffliche Darstellung eine sehr gute Leistung. Die junge Künstlerin fiel durch ihre angenehmen Stimmittel auf.

Die Meldung ist richtig, nur daß es statt »vorgestrigen« »übermorgigen« heißen soll. Denn damals glaubte man noch, die Wohltätigkeitsvorstellung werde stattfinden. Aber sie wurde inhibiert, sie fand nicht statt, es wurde kein »Werter« gegeben, niemand bot eine Leistung und niemand fiel durch Stimmittel auf. Das macht aber nichts, wenn nur die Hauptsache richtig ist.

Erstens und zweitens

Amtlich wurde mitgeteilt:

»In der Nacht vom Samstag den 24. auf Sonntag den 25. d. hat der gewesene Oberst Redl durch Selbstmord geendet. Redl hat diese Tat vollführt, als man im Begriff war, ihn folgender schweren und außer Zweifel gestellten Verfehlungen zu überweisen:
1. Homosexueller Verkehr, der ihn in finanzielle Schwierigkeiten brachte.
2. Verkauf reservater dienstlicher Behelfe an Agenten einer fremden Macht.«

Wenn 1. schwerer wiegt als 2., dann ist nichts zu retten. Wenn aber 1. nur vorangeht, weil 2. folgen muß, dann verhindere man 2., indem man 1. straflos macht. Daß die von 1. Erpressung ist, rührt den Staat nicht. Wenn aber die Folge von Erpressung 2. ist und wenn man den Anschein erweckt, als wolle man Landesverrat mit unwiderstehlichem Zwang entschuldigen, dann bleibt zur Verhinderung des Landesverrats nichts übrig als die Homosexualität freizugeben. Falls man nicht etwa glaubt, daß ein homosexueller Offizier, der in Erpresserhänden ist, Selbstmord vor dem Landesverrat begehen müßte – was aber schon gar normwidrig wäre.

Heiteres aus ernster Zeit

»Er hat mit seinen Kameraden gegessen und getrunken, Salz und Brot mit ihnen geteilt ...«

Das wäre das Geringste!

*

»Das unselige Geschlecht der Ephialtes stirbt nicht aus, Herostratische und gewinnsüchtige Motive fördern immer wieder das Kainsdenkmal der Verräterrasse zutage.«

Ein schönes Krätzel ist da beisammen. Aber der Theaterplauderer, dem der Fall Redl zugewiesen wurde, hat jedenfalls das Kainsmal mit dem Kainzdenkmal, das ja auch bös genug ist, verwechselt.

*

»Oberst Redl lebte als junger Offizier behufs Erlernung der russischen Sprache längere Zeit im Kaukasus, wo er naturgemäß mit russischen Offizieren verkehrte.«

*

»Bestätigt sich dies, dann zeige es wohl die ganze Skrupellosigkeit dieses gefährlichen Spions, der neben seinen positiven Verbrechen auch ein Reihe schwerer Verfehlungen durch Passivität, durch laxes Verhalten auf dem Gewissen hat

Dieser Auffassung widerspricht am nächsten Tag Herr Salten:

»Der Arzt, der den tödlichen Keim empfängt, ist ein willenloses, ein ahnungsloses Opfer und ein wehrloses dazu. Der Oberst Redl jedoch war nicht willenlos, nicht ahnungslos, und er war kein Opfer. Ihm ist nichts geschehen, was er in unschuldiger Passivität hätte erleiden müssen. Er hat Handlungen begangen, zu denen sehr viel aktive Entschlossenheit gehört. Gegen Ansteckung hätte er sich wehren können. ... Er ist auch gar nicht von außen her infiziert worden.«

*

Sexualdemokratisches:

»... Man sieht daran, die Homosexualität, die Erpressungen und die dadurch entstandene Zwangslage zum Staatsverrat sind dumme Ausflüchte, die kein Mensch glauben kann, selbst wenn sie Redl vor seinem Tode gebraucht hat, um seine Missetat zu beschönigen. Es ist gewiß, daß Redl auch gleichgeschlechtlichen Verkehr suchte; aber das war seine kostspielige Leidenschaft. – – Die Blätter, die sich so stellten, als glaubten sie an die Homosexualität und daran, daß auch dieser unglücklichen Veranlagung das ganze Unglück entsprungen sei, strafen sich aber selbst Lügen, indem sie erzählen, daß Redl Beziehungen zu Frauen gehabt habe ...«

*

Vorher wurde nicht einmal die Spionage bemerkt, aber nachher:

»Wenn man die Wohnung betritt, bietet sich dem Beschauer sofort ein Moment, das auf die Charaktereigentümlichkeiten Redls ein grelles Licht wirft. Die ganze Wohnung ist Rot in Rot gehalten, wohin man kommt, grelles Rot. ... Aber die Wohnungseinrichtung Redls gibt auch sonst Gelegenheit, seinen Charakter kennen zu lernen. Die vielen Kästen, die in der Wohnung standen, waren direkt vollgestopft mit Uniformen und der reichsten Zivilgarderobe, alles in feinster Qualität hergestellt, gestickte Servietten und Tischtücher wurden in großen Quantitäten vorgefunden. Daß Redl für diese seine Vorliebe große Summen auslegte oder schuldig blieb, beweist auch der Umstand, daß beim Bezirksgericht auf der Kleinseite die Klage einer Wäschefirma auf Zahlung eines Restbetrages von 278 K überreicht worden ist. ... Noch in der letzten Zeit hat sich Redl, wie bekannt geworden ist, bei einem in einem Prager Vorort wohnenden Regimentsarzt, der sich auch mit der Zahnpflege beschäftigt, acht goldene Brücken machen lassen ...«

An anderer Stelle soll gar gemeldet worden sein, daß er nicht weniger als zwei Dutzend Taschentücher besessen habe. Und alles entdeckt man erst jetzt!

»Was Redl verraten hat, bleibt ein Geheimnis

In Ehrerbietung

hat Frank Wedekind der Wiener Presse gedankt. Das macht nichts, ihm schadt's nicht und ihr nutzt's nicht. Sollte aber doch etwas Ehre haften geblieben sein, weil semper aliquid haeret – so bin ich ja doch auch da, und ich werd's schon wieder wegbringen.

Allgemeine Erwartung

... mit dieser ironischen Perspektive schließt die Komödie, in der sich trotz mancher Geschmacksentgleisung eine feine Lustspielbegabung verheißungsvoll offenbart. Sternheim geht auf die Wurzeln des Lustspiels zurück, die in früheren Jahrhunderten ruhen. ... Die Komödie enthält in allen ihren Windungen sehr viel Geist; hätte sie außerdem Herz, was sie leider nicht hat, so wäre sie ein reizendes Lustspiel. Aber auch so wie sie ist, liegt sie auf dem Wege zum guten Lustspiel, das Sternheim vielleicht noch eines Tages schreiben wird.

Und Schnitzler, der uns bekanntlich vielleicht noch einmal das Lustspiel schenkt und von dem man es erwartet, ist gar nichts? Und Auernheimer, der es von ihm erwartet, und von dem man es auch erwartet, erwartet es von Sternheim? Von wem erwartet es Sternheim? Nun, es ist jedenfalls viel enttäuschungsloser und sicherer, wenn die Herren, anstatt uns das Lustspiel zu schenken, es erwarten.

Was so das bessere Publikum spricht, wenn der sogenannte Fackelkraus vorbeigeht

[Mutwillige Alarmierung der Feuerwehr.] Erst am Montag wurde vom Bezirksgerichte Landstraße ein Bursche, der in unverantwortlicher Weise die städtische Feuerwehr alarmiert und ihr telephonisch einen fiktiven Brand gemeldet hatte, zu 24 Stunden Arrests verurteilt. Seine »Lorbeeren« ließen einen anderen »Helden« nicht schlafen, und er machte sich gestern abend den traurigen Spaß, unsere ohnehin so geplagte Feuerwehr, die namentlich vorgestern fast die ganze Nacht hindurch gearbeitet hatte, zu alarmieren. Vom Hause Markgraf Rüdigergasse 27 aus hat der Spaßvogel die Feuerwehr in Kenntnis daß im Hause Kaiserstraße Nr. 2, im Zentralpalast, ein Brand ausgebrochen sei. Der Meldung entsprechend rückte die Feuerwehr mit einem starken Aufgebot aus, um sich zu überzeugen, daß ein Lump den traurigen Mut aufgebracht hat, die Feuerwehr zu düpieren. Die Auffahrt der Löschkorps erregte großes Aufsehen. Die Nachforschungen nach dem Täter werden eifrig betrieben.

»Wissen Sie schon, wer –?« »Ob ich weiß!« »Sie wissen?« »Selbstredend weiß ich.« »Wieso wissen Sie?« »Weil man das weiß, weil er immer ernste Männer in der Erfüllung schwerer Berufspflicht stört. Erst die Presse, dann die Börse, jetzt die Feuerwehr. Kann da ein Zweifel sein? Also!« »Er hat bekanntlich zur Presse kommen wollen, hinausgeschmissen haben sie ihn.« »Dann hat er auf die Börse kommen wollen, das hätt ihm so gepaßt.« »Wahrscheinlich hat er zur Feuerwehr kommen wollen.« »Alles aus Rache.« »Nachdem er sieht, daß alles nichts nützt, wird er Ruh geben.« »Man kann sagen, was man will, eine Feder hat er –!« »Lassen Sie mich aus, Harden greift den deutschen Kaiser an, er kümmert sich um jeden Mist, uns greift er an!« »Kann er uns schaden? Den kauf ich mir für einen Fünfer! Eigentlich komisch, daß das noch keiner versucht hat?« »Warum? Ich wer' Ihnen sagen, weil ers nicht nötig hat leider. Er verdient hübsch und wird sich heißt es bald zur Ruh setzen.« »Gott sei Dank. Haben Sie das Bild in der Muskete gesehn? Glänzend! Der hats ihm gegeben!« »Dorten geht er –« »Pscht, er hört!« »Soll er! Auch wer!« »A bese Goschen!« »Ich kenn doch seinen Schwager!« (Ab.)

Von den Schwätzern

... Es ist nämlich ein Gesetz in Kraft getreten, das dem Klatsch ein Ende machen soll. Seltsamerweise hat es zunächst nicht etwa eine Angehörige des zarten Geschlechts, sondern einen Mann ereilt ... der sich in einem Wirtshausgespräch mit einer jungen Dame seiner Bekanntschaft beschäftigt hatte. Er wird in der juristischen Terminologie des »eitlen unnützen Schwatzens und Klatsches« beschuldigt ...

Aber zum Glück in Wisconsin, nicht bei uns in Wien! Der Verhaftete ist ein gewisser Peter Kesoki in Niagara und nicht etwa der Herr, der noch immer vom Donaukarpfenklub der Obergigerl ist. Die ‚Frankfurter Zeitung‘ nennt es »eine wahre Hiobspost für Kaffeekränzchen und verwandte Veranstaltungen«. Aber die reine Geistigkeit und Zweckunterhaltung der Kaffeekränzchen sollte man doch nicht mehr in Verruf bringen in einer Zeit, wo die ganze Welt ein Wiener Café ist. Gar so seltsam ist es nicht, daß sogar am Niagara kein Weib, sondern ein Mann des unnützen Schwätzens überwiesen wurde. Die Weiber reden über das Wahlrecht und das hört sich, wenns auch auf dasselbe hinausläuft, beiweitem ernsthafter an als die Gespräche über den Koitus, die die Männer führen. Aber in Wisconsin kann man die Männer, die schwätzen, vielleicht noch genau so zählen wie die Männer, die stehlen. In Österreich fängt man die Diebe nicht, sonst wäre Raummangel in den Gefängnissen. Wo aber sollte man mit den Schwätzern hin? Man hat sie zur Not in den Kaffeehäusern untergebracht. Ich habe seit Jahr und Tag aus der Wiener Außenwelt nichts anderes vernommen, als daß der Mann, der eben sprach, die Frau, die eben vorbeigegangen war, schon gehabt hat, demnächst haben werde, haben könnte, wenn er wollte, daß er aber nicht will, weil sie schon ein anderer Stammgast gehabt hat, dem er aber dafür eine andere wegnehmen wolle, die es nicht länger erwarten könne und schon auf ihn spitze und die er nur anzurufen brauche und nur, weil das Telephon immer besetzt sei, noch nicht gehabt habe. Das erzählen die am Stammtisch nicht nur einander, sondern so laut, daß es die am Nebentisch hören, die auch ihrerseits aus ihrem Herzen keine Mördergrube, wohl aber ein Bordell machen. Es ist die einzige Wissenschaft, deren der Mensch von heute fähig ist, und ein Gesetz, das den Klatsch verbietet, schützt nicht nur das Rechtsgut der Ehre, sondern das Lebensgut der reinen Luft. Nicht die Beleidigung werde gestraft, sondern das Wissen und Sagen. Daneben gibt es aber auch Leute, die sich weit und breit, mit einer Stimme, die jedes Geheimnis zersägt, dadurch vernehmlich machen, daß sie auch das, was sie nicht wissen, nicht bei sich behalten können. Dieses Geheimnis, das letzte, das der keusche Mensch hat, sollte er bewahren, aber er tut es nicht. Nein, er tut es nicht; denn er weiß alles. So einer zieht sein Erlebnis aus den vielen Menschen, die er nicht gelesen, und aus den vielen Büchern, mit denen er nicht gesprochen hat. Er wurde aus Bibliotheksstaub geschaffen und Gott unterließ es, ihm den Odem einzublasen. Lebt aber ein Mensch in seiner Nähe, der Schöpferkraft hat, so zerfällt jener und wird wieder zum Staube. Aber selbst so einer findet in der Stadt, die von Gerüchten satt wird, noch Lauscher, denn erzählt er nicht von Jakob Böhme, so erzählt er doch von seinem Schuster, der die einzig echten Siebenmeilenstiefel erzeuge, mit denen man zugleich dem Papst und dem Dalai-Lama einen Besuch abstatten, der Eröffnung von Bayreuth und dem Tod Nietzsches beiwohnen könne und von der Wüste Gobi in einer schwachen Stunde beim Hayek in Mödling sei. Und wenn er diese Betrachtung liest, so wird er unfehlbar sagen, zu seiner Zeit, als er sich noch in Wisconsin aufhielt, sei das Schwätzen noch erlaubt gewesen, den Peter Kesoki, oh, den habe er sehr gut gekannt, er sei mit ihm durch den Niagara geschwommen, er sei aber besser geschwommen als der Peter Kesoki, weil er so vorsichtig gewesen sei, seine dreihundert Bibliotheksgurten umzuhängen, es sei kein Wunder, daß der Kraus jetzt den Peter Kesoki angreife, denn dieser habe einmal gesagt, daß der Kraus eitel sei, und infolge dieser ungünstigen Auskunft ist der Kraus nicht in die Neue Freie gekommen.

Das hätte ich nicht erfinden können

[Ein vierfacher Wagenzusammenstoß.] Durch die Unvorsichtigkeit eines Kutschers wurde gestern nachmittag auf dem Franz Josefskai der Zusammenstoß von vier Wagen verursacht. Gegen 3/4 6 Uhr abends stand ein Fiaker, den der Kutscher Oskar Schner lenkte, vor dem Café Residenz auf dem Franz Josefskai 31. Der bei der Internationalen Transportgesellschaft bedienstete Kutscher Franz Ertel kam mit seinem zweispännigen, mit Kisten beladenen Wagen vom Morzinplatz auf den Kai und wollte ordnungswidrig die Kurve schneiden. Er fuhr an den Fiaker derart heftig an, daß der Türschlag beschädigt wurde. Als nun die beiden Wagen aneinandergefahren waren, war die Straße verlegt, und der Kutscher Georg Erschinger wollte, als er von der Marienbrücke mit seinem zweispännigen Paketwagen der Poststation Simmering, Am Kanal Nr. 527, gegen den Morzinplatz fuhr, den beiden Wagen ausweichen. Er fuhr aber bei dem Versuch an einen entgegenkommenden Straßenbahnwagen der Linie »EK« an. Durch den Zusammenstoß wurde Erschinger vom Bocke geschleudert. Er blieb zum Glücke unverletzt. An dem Motorwagen wurde die Vorderwand eingedrückt. Ertel ist an dem doppelten Unfalle schuldtragend. Die Strafamtshandlung ist eingeleitet.

Das hätte ich nicht erfinden können. Es ist ein Stück Wiener Natur, gesehen durch das Temperament eines Weltblattes. Es ist die endgiltige Plastik des hiesigen Daseins, das vor seiner Unabänderlichkeit zum dasigen Hiersein zwingt. Nicht, daß sie zusammenstoßen müssen, wenn hier vier Wagen fahren, und nicht, daß was hier geschieht, auch in seiner Unmittelbarkeit gesehen wird, sondern die Identität des Geschehens und Sehens schafft das Bild dieser Welt. Es ist so: auf der Straße des Wiener Lebens hat jeweils nur eine Individualität Platz: der Kutscher Oskar Schner oder der Kutscher Franz Ertel oder der Kutscher Franz Erschinger oder der Straßenbahnwagen, der auch eine Individualität ist, denn wenn man auch nicht weiß, wie der Motorführer heißt, so heißt jener doch »EK«. Nur eine Individualität hat Raum, Will sich ausleben, gesehen werden. Nun geschieht es aber, daß der Kutscher Oskar Schner um 3/4 6 Uhr abends auf dem Franz-Josefs-Kai steht. Aber wo? Bei Nr. 31. Was befindet sich dort? Das Café Residenz, das unter der bewährten Leitung steht. Wir würden uns gern dabei aufhalten, aber es handelt sich jetzt nicht um den Cafetier, sondern um den Kutscher. Er steht da. Vor dem Café Residenz, welches sich auf dem Franz-Josefs-Kai 31 befindet. Das ist klargestellt. Da kommt nun der Kutscher Franz Ertel, der bei der Internationalen Transportgesellschaft bedienstet ist – für Details ist keine Zeit – mit seinem zweispännigen, mit Kisten beladenen Wagen. Von wo? Vom Morzinplatz. Wohin? Auf den Kai. Und fährt den Fiaker, eines der gediegensten Zeugeln, heftig an, so daß. Nachdem nun einmal der Türschlag beschädigt ist, bleibt die Straße verlegt. Der Ausblick war schon durch die riesenhafte Erscheinung des Kutschers Oskar Schner gesperrt, jetzt ist es auch der Verkehr, der sich bis dahin doch mühsam durchquetschen konnte. Wenn man nur wüßte, wie der Wachmann heißt, der nicht da ist! Dafür ist plötzlich der Kutscher Georg Erschinger da. Sehen wir uns einstweilen den Kutscher Georg Erschinger an, von wannen er kam und wohin er fahren wollte. Er kam von der Marienbrücke mit seinem zweispännigen Paketwagen der Poststation Simmering, Am Kanal Nr. 527, und fuhr gegen den Morzinplatz. Ja, was will denn der da? Das ist ja ein dritter! Wir möchten uns vor Zerstreuung bewahren, aber er ist nun einmal hier und zieht uns in seinen Bannkreis. Er wollte ausweichen, wollte sich unserer Beachtung entziehen, aber wenn eine Individualität ausweichen will, stößt sie bei dem Versuch unfehlbar an einen entgegenkommenden Straßenbahnwagen der Linie »EK« an. Das verwirrt vollends. Das hat uns noch gefehlt! Durch den Zusammenstoß wurde Erschinger vom Bocke geschleudert. Das ist bedauerlich, er blieb aber gewiß in der Luft hängen, wie auf einem Bild von Schönpflug, von dem ja dieser ganze Zusammenstoß und dieses ganze Wiener Leben überhaupt ist. Er blieb zum Glücke unverletzt. Zum Glücke: da klingt das goldene Wiener Herz! Aber es kann ja auch nicht anders sein; was vom Schönpflug kommt, fällt nicht auf die Erde. Was geht, steht; was steht, fällt. Das sind Gefahren. Aber – zum Glücke – was fällt, hängt; was hängt, steht; was steht, bleibt; was bleibt, ist ein Dreck. Also eine Individualität. Drei waren zuviel. Man soll das Schicksal nicht versuchen. Es kann einmal schief gehen. Seien wir froh, wenn nur das geschieht, was ich nicht hätte erfinden können.

Falsch verbunden

»Eine interessante Statistik über die Verteilung der Telephonanschlüsse in der ganzen Welt wird von der Zeitschrift La Lumiere electrique veröffentlicht. ... Unter den europäischen Ländern steht an erster Stelle Dänemark mit 107.153 Apparaten bei 2,589.000 Einwohnern: es besitzt demnach jeder 24. Däne einen Telephonanschluß. Den zweiten und dritten Platz nehmen Schweden und Norwegen ein. Es kommt dann die Schweiz mit einem Telephonanschluß auf 41 Personen. Weiter folgt Deutschland mit 1,154.518 Telephonanschlüssen, so daß auf 56 Personen ein Apparat kommt. Hinter Deutschland kommen England, Luxemburg, Island und Holland. Den zehnten Platz erst behauptet Frankreich, wo man nur 260.998 Telephonanschlüsse zählt, so daß auf je 150 Franzosen ein Apparat kommt. An den letzten Stellen stehen Bulgarien, Griechenland und Bosnien, wo je 1500-2000 Einwohner nur über einen einzigen telephonischen Apparat verfügen können... .«

Es wird ja nicht schöner in der Welt sein, wenn auf jeden Menschen ein Apparat kommen wird. Aber da es der Weg ist, muß er gegangen werden. Österreich dürfte in der Statistik garnicht vorkommen. Mit Recht, weil es hier überhaupt keine Telephonanschlüsse gibt. Das österreichische Telephon spielt nur in der älteren satirischen Literatur eine Rolle; selbst die Witze, die man darüber machen kann, sind veraltet. Nichts liegt mir ferner als Polemik. Ich lebe still und harmlos, hin und wieder ruft mich die brasilianische Gesandtschaft an, weil sie mit der portugiesischen sprechen will. Ach, die einzigen Verbindungen, die ich noch mit der Außenwelt habe, sind die falschen!

Wie ich einen Hotelportier dazu brachte, über die Unzulänglichkeit des menschlichen Wissens nachzudenken

»Hat der Zug der Tauernbahn, der hier in Salzburg nachts ankommt, Schlafwagen?« »Nein.« »Sie, Ich erinnere mich gelesen zu haben, daß er Schlafwagen hat.« »Woher denn!« »Bitte sehen Sie doch vorsichtshalber im Fahrplan nach.« »Herr, wenn ich sage, er hat keinen Schlafwagen –« »So hat er vielleicht doch einen!« »Herr, er hat keinen! Dazu bin ich da! Wenn unsereins das nicht wissen sollt‘!« – – – – – – – – – – – – – – – – – – –
»Sie Portier, denken Sie sich, gestern nacht ist jemand mit der Tauernbahn im Schlafwagen hier angekommen!« »Im Schlafwagen? Der Zug hat sein Lebtag kein‘ Schlafwagen!« »Woher wissen Sie das eigentlich?« »Weil i ihn selbst gseh‘n hab‘.« »Wen? Den Schlafwagen?« »Na! Den Zug!« »Aber ich hab den Schlafwagen gesehn!« »Was S‘ net sagen! Is möglich?« »Ja!« »Mirkwirdig, sehn S‘, auf die Fahrplän‘ is kein Verlaß!« »Es ist aber doch so.« »Das ist mir neu!« »Hat Schlafwagen!« »Nicht möglich!« »Doch doch, und Sie haben gestern fest und steif behauptet –« »Weil i's g'wußt hab‘.« »Und was sagen Sie jetzt?« »I sag', daß auf die Fahrplän' kein Verlaß is.« »Auf die Fahrpläne? Sie haben doch selbst den Zug gesehn und keinen Schlafwagen bemerkt?« »Ja, bei der Nacht kann so etwas leicht passieren!« »Schlafwagen verkehren doch nur bei der Nacht?« »Aber grad da is finster, an Speisewagen erkenn i!« »Was steht im Fahrplan?« »Im Fahrplan steht nix.« »Woher wissen Sie das?« »Weil i's selbst net hab' glauben wollen und nachg'schaut hab‘.« »Bei Tag?« »Bitte, hier ist der Fahrplan – -dös wer' mer glei hab'n –!« »- – – Nun?« »Vielleicht überzeugt sich der Herr selbst?« »Gut, ich werd's Ihnen aufschlagen – Nun, was steht da?« »Nix steht da von an Schlafwagen, sehn S'?« »Ja natürlich seh ich, hier steht: Schlafwagen TriestStuttgart.« »Wo.«' »Do!« »Wirkli wahr, i hab nur unten g'schaut, unten steht nix bei Salzburg.« »Aber oben steht es, sehn Sie?« »Unbegreiflich! Jetzt hab glaubt, im Fahrplan steht nix von an Schlafwagen, daweil stehts do! I sag's ja, auf die Fahrplän' is kein Verlaß! – –« »Worüber denken Sie denn nach?« »Jetzt waß i selber net, hot er an Schlafwagen oder hot er kan?« »Er hot an!« »Ja, wenn S' glauben –«

(Kopfschüttelnd ab in die Loge.)

 


 


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