Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Mensch und Nebenmensch

Der Übermensch ist ein verfrühtes Ideal, das den Menschen voraussetzt.

Liebe deinen Nächsten wie dich selbst. Denn: jeder ist sich selbst der Nächste.

Wer andern keine Grube gräbt, fällt selbst hinein.

Kein Zweifel, der Hund ist treu. Aber sollen wir uns deshalb ein Beispiel an ihm nehmen? Er ist doch dem Menschen treu und nicht dem Hund.

Unter Dankbarkeit versteht man gemeinhin die Bereitwilligkeit, lebenslänglich Salbe aufzuschmieren, weil man einmal Läuse gehabt hat.

Ich begeistere mich für den Ehrenpunkt, seitdem ich die Beobachtung gemacht habe, daß man einer unerledigten Affäre die Befreiung von lästiger Gesellschaft verdankt.

Es gehört zum guten Ton, über eine schlechte Tat nicht zu sprechen. Wenn ein Lump dir die Absicht anvertraut, deinen Freund zu verraten, so ist Diskretion Ehrensache.

Nichts ist dem Kommis teurer als sein Ehrenwort. Aber bei Abnahme einer größeren Partie wird Rabatt gewährt.

Die Ehre ist der Wurmfortsatz im seelischen Organismus. Ihre Funktion ist unbekannt, aber sie kann Entzündungen bewirken. Man soll sie getrost den Leuten abschneiden, die dazu inklinieren, sich beleidigt zu fühlen.

Wie souverän doch ein Dummkopf die Zeit behandelt! Er vertreibt sie sich oder schlägt sie tot. Und sie läßt sich das gefallen. Denn man hat noch nie gehört, daß die Zeit einen Dummkopf vertrieben oder totgeschlagen hat.

Gesellschaft. Es war alles da, was dasein muß und was sonst nicht wüßte, wozu das Dasein ist, wenn es nicht eben dazu [da] wäre, daß man da ist.

Man beobachte einmal, wie die anständigen Herren eine Frau grüßen, von der »man spricht«. In dem Gruß ist der abweisende Stolz der Gesellschaftsstütze mit der einverständlichen Kennerschaft des Markthelfers vereinigt. Für beides möchte man ihnen an die Gurgel fahren.

Nichts ist engherziger als Chauvinismus oder Rassenhaß. Mir sind alle Menschen gleich, überall gibt's Schafsköpfe, und für alle habe ich die gleiche Verachtung. Nur keine kleinlichen Vorurteile!

Am Chauvinismus ist nicht so sehr die Abneigung gegen die fremden Nationen als die Liebe zur eigenen unsympathisch.

Religion, Moral und Patriotismus sind Gefühle, die sich erst dann bekunden, wenn sie verletzt werden. Der Sprachgebrauch, welcher sagt, daß einer, der leicht zu beleidigen ist, »gern« beleidigt ist, hat recht. Jene Gefühle lieben nichts so sehr wie ihre Kränkung, und sie leben ordentlich auf in der Beschwerde über den Gottlosen, den Sittenlosen, den Vaterlandslosen. Den Hut vor der Monstranz zu ziehen, ist bei weitem keine so große Genugtuung wie ihn jenen vom Kopf zu schlagen, die andersgläubig oder kurzsichtig sind.

Der Scharfsinn der Polizei ist die Gabe, alle Menschen eines Diebstahls für fähig zu halten, und das Glück, daß sich die Unschuld mancher nicht erweisen läßt.

Ein Polizist nimmt es meistens übel, wenn man ihn in eine Amtshandlung einmengt.

Alles Leben in Staat und Gesellschaft beruht auf der stillschweigenden Voraussetzung, daß der Mensch nicht denkt. Ein Kopf, der nicht in jeder Lage einen aufnahmsfähigen Hohlraum darstellt, hat es gar schwer in der Welt.

Bei gleicher Geistlosigkeit kommt es auf den Unterschied der Körperfülle an. Ein Dummkopf sollte nicht zuviel Raum einnehmen.

Der Mensch denkt, aber der Nebenmensch lenkt. Er denkt nicht einmal so viel, daß er sich denken könnte, daß ein anderer denken könnte.

Viele haben den Wunsch, mich zu erschlagen. Viele den Wunsch, mit mir ein Plauderstündchen zu verbringen. Gegen jene schützt mich das Gesetz.

Eine merkwürdige Art Mensch ist der Beamte eines magistratischen Bezirksamtes. Erledige ich eine Angelegenheit schriftlich, so lädt er mich vor. Gehe ich das andere Mal gleich selbst hin, so fordert er mich auf, eine Eingabe zu machen. Ich muß rein auf die Vermutung kommen, daß er das eine Mal mich kennenlernen und das andere Mal ein Autogramm von mir haben wollte.

Gut und Blut fürs Vaterland! Aber die Nerven?

Ich schlafe nie nachmittags. Außer, wenn ich vormittags in einem österreichischen Amt zu tun hatte.

Gerne käme ich um die Konzession zum Handbetrieb einer Guillotine ein. Aber die Erwerbsteuer!

Es gibt keinen Ort, der eine größere Öffentlichkeit bedeutet, als ein Lift, in dem man angesprochen wird.

Wo beginnt denn eigentlich die Unappetitlichkeit und wo hört sie auf? Warum gibt es keine Eßklosetts? Öffentlich essen und heimlich verdauen, das paßt so den Herrschaften! Und doch geht nichts über die Schamlosigkeit einer Table d'hôte.

Friseurgespräche sind der unwiderlegliche Beweis dafür, daß die Köpfe der Haare wegen da sind.

Das Malerische und das Musikalische sind Argumente, die mit allen Einwänden fertig werden. Und es gibt Wirkungen auf die Nerven, denen sich der oppositionellste Geist nicht entziehen kann. Wenn alle Glocken läuten, umarme ich einen Gemeinderat.

Die stärkste Kraft reicht nicht an die Energie heran, mit der manch einer seine Schwäche verteidigt.

Am unverständlichsten reden die Leute daher, denen die Sprache zu nichts andern dient, als sich verständlich zu machen.

Die verkommenste Existenz ist die eines Menschen, der nicht die Berechtigung hat, ein Schandfleck seiner Familie und ein Auswurf der Gesellschaft zu sein.

Familiengefühle zieht man nur bei besonderen Gelegenheiten an.

Das Wort »Familienbande« hat einen Beigeschmack von Wahrheit.

Auch ein anständiger Mensch kann, vorausgesetzt, daß es nie herauskommt, sich heutzutage einen geachteten Namen schaffen.

Ein ganzer Kerl ist einer, der die Lumpereien nie begehen wird, die man ihm zutraut. Ein halber, dem man die Lumpereien nie zugetraut hat, die er begeht.

Nichts ist trauriger als eine Niedrigkeit, die ihren Lohn nicht erzielt hat. Sie bilde sich nicht nachträglich ein, daß sie Gemeinheit l‘art pour l'art sei.

Wenn man nicht weiß, wovon einer lebt, so ist das noch der günstigere Fall. Auch die Volkswirtschaft soll der Phantasie etwas Spielraum lassen.

Die Einsamkeit wäre ein idealer Zustand, wenn man sich die Menschen aussuchen könnte, die man meidet.

Wenn ich sicher wüßte, daß ich mit gewissen Leuten die Unsterblichkeit zu teilen haben werde, so möchte ich eine separierte Vergessenheit vorziehen.

Die Hand über die Augen – das ist die einzige Tarnkappe dieser entzauberten Welt. Man sieht zwischen den Fingern alle, die sich nähern wollen, und ist geschützt. Denn sie glauben einem das Nachdenken, wenn man die Hand vorhält. Sonst nicht.

Welche Plage, dieses Leben in Gesellschaft! Oft ist einer so entgegenkommend, mir ein Feuer anzubieten, und ich muß, um ihm entgegenzukommen, mir eine Zigarette aus der Tasche holen.

Ich teile die Leute, die ich nicht grüße, in vier Gruppen ein. Es gibt solche, die ich nicht grüße, um mich nicht zu kompromittieren. Das ist der einfachste Fall. Daneben gibt es solche, die ich nicht grüße, um sie nicht zu kompromittieren. Das erfordert schon eine gewisse Aufmerksamkeit. Dann aber gibt es solche, die ich nicht grüße, um mir bei ihnen nicht zu schaden. Die sind noch schwieriger zu behandeln. Und schließlich gibt es solche, die ich nicht grüße, um mir bei mir nicht zu schaden. Da heißt es besonders auf passen. Ich habe aber schon eine ziemliche Routine, und in der Art, wie ich nicht grüße, weiß ich jede dieser Nuancen so zum Ausdruck zu bringen, daß keinem ein Unrecht geschieht.

Nicht grüßen genügt nicht. Man grüßt auch Leute nicht, die man nicht kennt.

Es berührt wehmütig zu sehen, wie die individuelle Arbeit überall von der maschinellen verdrängt wird. Nur die Defloratoren gehen noch herum, das Haupt erhoben, von ihrer Unersetzlichkeit überzeugt. Genauso haben vor zwanzig zig Jahren die Fiaker gesprochen.

Ein Kellner ist ein Mensch, der einen Frack anhat, ohne daß man es merkt. Hinwieder gibt es Menschen, die man für Kellner hält, sobald sie einen Frack anhaben. Der Frack hat also in keinem Fall einen Wert.

Wenn einer sich wie ein Vieh benommen hat, sagt er: Man ist doch auch nur ein Mensch! Wenn er aber wie ein Vieh behandelt wird, sagt er: Man ist doch auch ein Mensch!

Ich fand irgendwo die Aufschrift: »Man bittet den Ort so zu verlassen, wie man ihn anzutreffen wünscht.« Wenn doch die Erzieher des Lebens nur halb so eindrucksvoll zu den Menschen sprächen wie die Hotelbesitzer!

Die bürgerliche Gesellschaft teilt sich in solche, denen der Blinddarm schon herausgenommen wurde, und solche, die nicht einmal soviel haben, um den Franz-Josefs-Orden bestreiten zu können.

Eine Zigarre, sagte der Altruist, eine Zigarre, mein Lieber, kann ich Ihnen nicht geben. Aber wenn Sie einmal ein Feuer brauchen, kommen Sie nur zu mir; die meine brennt immer.

Vornehme Leute demonstrieren nicht gern. Sobald sie sehen, daß einer eine Gemeinheit begeht, fühlen sie sich wohl mit ihm solidarisch, aber nicht alle haben den Mut, es ihn auch wissen zu lassen.

Es gibt Heuchler, die mit einer unehrlichen Gesinnung prahlen, um unter solchem Schein sie zu besitzen.

Eher verzeiht dir einer die Gemeinheit, die er an dir begangen, als die Wohltat, die er von dir empfangen hat.

Ich habe es so oft erlebt, daß einer, der meine Meinung teilte, die größere Hälfte für sich behielt, daß ich jetzt gewitzt bin und den Leuten nur noch Gedanken anbiete.

In Berlin gehen so viele Leute, daß man keinen trifft. In Wien trifft man so viele Leute, daß keiner geht.

Ich würde nicht klagen, wenn man mir das Trinkgeld »abknöpfte«. Peinlich ist nur, daß ich es aus der Tasche holen muß, wenn's regnet, wenn ich nachdenke oder wenn sonst etwas geschieht, was den Werken der Nächstenliebe nicht förderlich ist.

Mir träumte, daß ich fürs Vaterland gestorben war. Und schon war ein Sargtürlaufmacher da, der die Hand hinhielt.

Es gibt nur eine Möglichkeit, sich vor der Maschine zu retten. Das ist, sie zu benützen. Nur mit dem Auto kommt man zu sich.

Der Übel größtes ist der Zwang, an die äußern Dinge des Lebens, die der inneren Kraft dienen sollen, eben diese zu verplempern.

Manchmal spüre auch ich etwas wie eine Ahnung von Menschenliebe. Die Sonne lacht, die Welt ist wieder jung, und wenn mich heut einer um Feuer bitten tät, ich bin imstand, ich weiß nicht, ich ließet mich nicht lang bitten, und geberts ihm!

»Gehns, seins net fad!« sagt der Wiener zu jedem, der sich in seiner Gesellschaft langweilt.

Restaurants sind Gelegenheiten, wo Wirte grüßen, Gäste bestellen und Kellner essen.

Die Welt der Beziehungen, in der ein Gruß stärker ist als ein Glaube und in der man sich des Feindes versichert, wenn man seine Hand erwischt, hält die Abkehr von ihrem System für Berechnung, und wenn sie den Herkules nicht geradezu verachtet, weil er sich und dreitausend Rindern das Leben schwer macht, so forscht sie nach seinen Motiven und fragt: Was haben Sie gegen den Augias?

Das ist doch der, der geglaubt hat, daß ich vergessen habe, daß ich ihn nicht kenne!

Ich kann mir denken, daß eine häßliche Frau, die in den Spiegel schaut, der Überzeugung ist, das Spiegelbild sei häßlich, nicht sie selbst. So sieht die Gesellschaft ihre Gemeinheit in einem Spiegel und glaubt aus Dummheit, daß ich der gemeine Kerl bin.

Es liegt nahe, für ein Vaterland zu sterben, in welchem man nicht leben kann. Aber da würde ich als Patriot den Selbstmord einer Niederlage vorziehen.

Alle Geräusche der Zeitlichkeit seien in meinem Stil gefangen. Das mache ihn den Zeitgenossen zum Verdruß. Aber Spätere mögen ihn wie eine Muschel ans Ohr halten, in der ein Ozean von Schlamm musiziert.

Ich verlange von einer Stadt, in der ich leben soll: Asphalt, Straßenspülung, Haustorschlüssel, Luftheizung, Warmwasserleitung. Gemütlich bin ich selbst.


 << zurück weiter >>