Ernst Kratzmann
Die Automaten
Ernst Kratzmann

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41.

Der Winter kam ungewöhnlich früh.

Dr. Körner und Frau waren im November beim Bezirkshauptmann zur Abendtafel geladen.

Der Freiherr war außerordentlich liebenswürdig. Er ließ sogar einmal das Wort fallen, daß mit dem alten Schlendrian aufgeräumt werden müsse und daß 152 Handwerkern, die in ihrer Werkstatt vielleicht recht gut Bescheid wüßten, deswegen noch lange kein Einfluß auf die Verwaltung des Gemeinwesens zustehe.

Frau von Rodenberg erkundigte sich bei Elsbeth um ihre Gesundheit. Sie sah der jungen Frau trotz Schminke und Farbe an, wie elend sie sich fühlte.

In der Tat war Elsbeth am Rand ihrer Kräfte angelangt. Das neue Prinzip ihres Mannes, sie keine Stunde lang allein zu lassen, ihr stets Besuche ins Haus zu schicken oder sie in Gesellschaft zu beordern, und ihr die Nächte mit seinem stürmischen Liebeswerben zur Folter umzuwandeln, hatte sie völlig gebrochen. Sie wußte ganz bestimmt, daß sie den Frühling nicht mehr erleben werde. Sie hatte sich dareingefunden und freute sich fast der baldigen Erlösung.

Sie litt ärger als der Gefangene eines Tyrannen im tiefsten Kerker. Denn diesem bleibt immer noch die Hoffnung. Der Tyrann kann ihn vielleicht doch noch begnadigen. Der Tyrann kann gestürzt werden und die Kerkertüren springen auf.

Ihr aber war nicht die leiseste, schwächste Hoffnung verblieben. Die Welt war ihr ein düsteres Grab, eine Brandstätte. Alles war tot, zertreten, zerstampft. Sie hatte nur mehr zu dulden, zu leiden, zu sterben.

Als sie die Gesellschaft verließen, mußte Elsbeth, die nie den Arm ihres Mannes nahm, ihn darum ersuchen; denn sie konnte kaum mehr gehen und der kalte Novemberwind drückte sie an die Mauern.

Körner faßte entzückt ihren Arm. Endlich! Sie kam ihm entgegen! Und wie fest sie sich stützte! Er 153 flüsterte ihr während des ganzen Heimweges heiße Liebesworte zu.

Zu Hause stürzte er sich auf sie wie ein ausgehungerter Soldat auf eine Dirne.

 

42.

Am nächsten Tag erschien Fräulein Florian mit ihrem Bräutigam und ihrem Vater zu einer offiziellen Visite. Ihr Gesicht leuchtete, und beim Gehen hing sie sich an den Arm des Verlobten, als habe sie nicht mehr die Kraft, sich auf den Füßen zu halten.

Der Bräutigam war Pionieroberleutnant. Er sah ziemlich abgelebt aus und wollte sich nun nach einer reichlich genossenen Jugend in eine sicher fundierte Ehe flüchten. Das mollige Fräulein Florian war schließlich, wenn man ihre Mitgift bedachte, nicht ohne allen Reiz.

Elsbeth empfing die Gäste mit gewohnter Liebenswürdigkeit und ließ etwas Johannisbeerwein und Gebäck auftragen. Herr Florian, der diesmal keinen Steireranzug, sondern einen etwas seltsamen Gehrock trug, war in fröhlichster Laune. Er sprach Elsbeth als »Frau Bürgermeister in spe an, beglückwünschte sie ununterbrochen zu diesem ihren prächtigen, einfach unübertrefflichen Mann, bis seine Tochter, die bisher mit ihrem Bräutigam kokettiert hatte, das Lob Elsbeths zu singen begann und dem Oberleutnant nicht genug rühmen konnte, welch entzückende, himmlisch süße Frau ihre liebste Elsbeth doch sei. Und sie sprang auf und fiel der Freundin unter stürmischen Küssen um den Hals. 154

Dr. Körner kam nach Hause. Florian begrüßte ihn mit einem lauten »Servus, Herr Bürgermeister!«, worauf Dr. Körner erschrocken den Finger an die Lippen legte: »Um Gottes willen, Florian, was redest du! Da sei Gott vor! Das wäre ein Unglück für die Stadt!« Die Gesellschaft brach in fröhliches Lachen aus.

Gleich nach Tisch wollte sich Elsbeth niederlegen. Sie hatte das eigentümliche Gefühl, als seien ihre Nerven, ja alle Muskeln des Körpers gespannt zum Zerreißen, und es bedürfe nur des kleinsten Anlasses, der leisesten Berührung etwa, um den Zusammenbruch herbeizuführen. Ihr Herz ging in ganz langsamen, zögernden Schlägen, und jeder Schlag schmerzte sie unsäglich. Dann wieder jagte der Puls und sie glaubte, es sei das Ende gekommen.

Dr. Körner setzte sich zu ihr aufs Sofa und begann sie zu liebkosen. Es reizte ihn immer wieder von neuem, daß sie kalt und teilnahmslos blieb, so oft er auch schon eine Wendung zum Guten gekommen glaubte.

Sie ließ ihn gewähren. Sie war unfähig, sich überhaupt noch zu bewegen.

In diesem Augenblick schrillte die Klingel, und Frau Bachelmayer stürmte herein. Körner erhob sich und zog Elsbeth mit empor.

»Oh – die Turteltauben! Ich bitte zu verzeihen, daß ich ein Schäferstündchen störe. Aber es handelt sich um hochwichtige Dinge!«

Im Hausfrauenbund, dessen Vizepräsidentin sie war und dem auch Elsbeth angehörte, sollte in den 155 Weihnachtstagen eine kleine Feier stattfinden, deren Ertrag notleidenden Schulkindern zukommen würde. Ihr Mann habe ein reizendes kleines Festspiel geschrieben – denkt nur, ganz in Reimen! –, in dem eine arme Familie vorkomme, die bitteren Hunger leide und ihre so ungemein begabten Kinder nicht mehr zur Schule schicken könne, weil sie keine warmen Kleider und Schuhe hatten. Da erscheint der Weihnachtsengel – aber eigentlich ist er ein Symbol des helfenden Hausfrauenbundes – und bringt alles, was die armen Leute brauchen: Essen, Geld, Kleider, Schuhe. – Wer aber solle den Engel darstellen, wenn nicht Elsbeth, die schlanke, zarte, die schon im Alltagsleben wie ein Engel aussehe?

In diesem Augenblick geschah es. Es war furchtbar peinlich.

Elsbeth begann plötzlich zu lachen, ein irres, schrilles, gellendes Gelächter, so laut, daß sich Körner entsetzt die Ohren zuhielt. Und sofort schlug das Lachen in ein röchelndes, stöhnendes Weinen um und sie lachte und weinte wie von Sinnen und rang nach Atem und wäre vom Stuhl gestürzt, wenn sie Frau Bachelmayer nicht aufgefangen hätte.

Man trug sie auf das Sofa. Körner zitterte, daß er kaum stehen konnte, und hätte sich vor Scham verkriechen wollen. Er glaubte, Elsbeth habe den Verstand verloren.

Frau Bachelmayer, die gleichfalls gewaltig erschrocken war, faßte sich zuerst. Sie lief ins Schlafzimmer und brachte nasse Handtücher, riß Elsbeths Bluse auf und 156 legte ihr ein Tuch auf die Brust und dann eines auf die Stirn.

Allmählich beruhigte sich die Kranke. Der Weinkrampf ließ nach, sie lag mit geschlossenen Augen, und der Atem ging regelmäßiger.

Frau Bachelmayer wollte sofort die Magd nach ihrem Mann schicken.

Da bekam Elsbeth einen zweiten Anfall und unter gräßlichem Röcheln, Stöhnen, Lachen, Weinen schrie sie fortwährend: »Nein, nein, nein, nein –«

Frau Bachelmayer blinzelte Körner listig zu und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Er sah sie fast betroffen an: so sollte seine Hoffnung doch endlich in Erfüllung gehen? Oh – endlich! Gott sei Dank!

Frau Bachelmayer beruhigte die junge Frau:

»Sei nur gut, mein Herzblatt, mein Liebling, er kommt nicht, hab' keine Angst, ich weiß schon! Du willst dich natürlich einem Bekannten nicht anvertrauen, freilich, sei nur gut, wir rufen den Dr. Fischer, das ist ein guter, alter Herr, der kennt dich nicht, der ist der Rechte!«

Körner schickte sofort zu Dr. Fischer. Er kam nach einer endlos langen Viertelstunde. Ein feiner alter Herr mit gemessenem Benehmen. Er trug graue Bartkoteletten und eine goldene Brille.

Frau Bachelmayer wollte der Untersuchung beiwohnen. Aber Elsbeth begann schon wieder mit diesem gräßlichen, röchelnden Lachen und Weinen! Da ersuchte sie der Arzt höflich, ihn mit der Patientin allein zu lassen, und die beiden zogen sich zurück. 157

Es war still im Zimmer. Er zählte den Puls und fragte sie dann leise, ob er sie untersuchen dürfe.

»Was wollen Sie denn! Sie können mir ja doch nicht helfen!«

»Das wäre nicht schlecht! Haben Sie Vertrauen, gnädige Frau!« Und er begann den Herzschlag zu behorchen.

Dann fragte er. Es war nicht viel aus ihr herauszubringen. Soviel stand fest: hochgradig zerrüttete Nerven, das Herz stark angegriffen. Äußerste Reizbarkeit. Körperkräfte null. Ursache vermutlich: unglückliche Ehe.

Ob sie irgendwelche Medikamente gebrauche? Nein. – Ob sie schlafen könne? – Nein. Nur mit Veronal. – Warum sie keinen Arzt zu Rat gezogen? – Das könne sie nicht sagen. Das ewige Fragen und Bohren und Nichtverstehen sei so gräßlich, so unerträglich. – Was sie jetzt tun wolle? – Ruhe wollte sie, nichts als Ruhe, Ruhe, keinen Menschen sehen müssen!

Der Arzt begriff. Er begann ihr zuzusprechen wie einem kranken Kind. Sie werde nun Ruhe haben. Ganz allein sein. Viel schlafen. Keine Besuche, keine Gesellschaften. Das werde ihr doch recht sein? – Ja!

Dann werde sie vielleicht nach dem Süden fahren. Sonne und linde Luft genießen. Und in ein paar Monaten werde sie frisch und gesund sein.

»Ja – und dann geht es wieder von neuem an!« sagte sie tonlos und so ohne alle Hoffnung, daß der Arzt betroffen schwieg. Er erkannte, daß er hier nichts helfen konnte. 158

Er ging ins Arbeitszimmer des Hausherrn, wo er auch Frau Bachelmayer antraf, die den ganz verstörten Mann tröstete. Er bat sie, ihn mit Dr. Körner allein zu lassen. Sie war beleidigt. Sie sei doch Elsbeths beste, mütterliche Freundin. Auch Körner bat sie zu bleiben. Aber der Arzt bestand auf seinem Wunsch. Sie entfernte sich gekränkt.

»Hören Sie, Herr Stadtrat, ich begreife nicht, daß Sie das Leiden Ihrer Frau nicht schon längst wahrgenommen haben? Das ist nicht von heute, das bereitet sich seit Jahren vor! Jawohl! Wissen Sie nicht, daß Ihre Frau sich rote Wangen schminkt, um ihre Blässe zu verdecken? Sie ist seit Jahren schwer krank. Sie ist herzleidend! Sie ist so nervös, wie es mir in meiner langen Praxis kaum einmal vorgekommen ist! Und Sie haben das nicht bemerkt?! – Diese Frau ist so schwach, daß sie kaum gehen kann!«

Körner starrte den Arzt sprachlos an. Er verstand kein Wort.

»Soll ich aufrichtig reden? – Ja? Sie werden mich verstehen, wenn ich sage, daß Ihre Frau Gemahlin seelisch gelitten hat! Sie war organisch ganz gesund und könnte es in vierzehn Tagen wieder sein – wenn dieser Kummer, oder was es sonst ist, von ihr genommen würde. Was das ist, kann ich als Fernstehender natürlich nicht erraten . . .«

Er sah Körner fest in die Augen. Der Advokat senkte unruhig den Blick. »Ich verstehe das alles nicht . . . Wir leben in glücklichster Ehe . . .«

»So? – ! – Also bitte meine Vorschläge zu hören. 159 Ihre Frau braucht vor allem Ruhe. Kein Besuch, keine noch so intime Freundin darf vorgelassen werden. Unter keinen Umständen. Auch Sie wollen möglichst wenig bei ihr weilen. Getrennte Schlafzimmer natürlich. Leichte Kost, viel Milch. – Jetzt möchte ich noch einiges aufschreiben.«

Er nahm Platz und verschrieb Beruhigungsmittel und leichte Schlafpulver.

»Ich werde jeden Tag nachsehen.« Er empfahl sich und schärfte nochmals seine Anordnungen ein. Dr. Körner blieb in völliger Verwirrung zurück.

Er sah ein, daß er Elsbeth zugrunde gerichtet hatte. Und ein ohnmächtiger Zorn überkam ihn. Er hätte zu ihr stürzen und sie schlagen mögen, die sein Lebensglück zerstört hatte.

 

43.

Nun begann eine herrliche Zeit für Elsbeth. Sie war glücklich.

Im Schlafzimmer stand nur ihr Bett mehr. Körner war ins Speisezimmer übersiedelt.

Die Fenster waren mit Ölpapier überzogen, mildes Dämmerlicht erfüllte den Raum.

Den ersten Tag nach ihrem Anfall verschlief sie fast ganz. Die Mittel des Arztes taten ihre Schuldigkeit, und die völlige Erschöpfung ließ sie kaum zu Bewußtsein kommen. Sie hörte nicht einmal, daß draußen alle fünf Minuten die Klingel schrillte und die Magd mit größter Mühe irgendeine Dame am Betreten der Wohnung hinderte. 160

Dr. Körner kam früh, mittags und des Abends auf einige Minuten. Er spielte ein wenig den liebevollen, besorgten Gatten und trachtete, sobald als möglich wieder fortzukommen.

Am Nachmittag erschien der Arzt. Schon am zweiten Tag freute sie sich auf seinen Besuch. Sie wußte, daß er sie verstand. Er untersuchte nur manchmal das Herz und schien befriedigt. Im übrigen plauderte er ein wenig und sie lag ruhig in den Kissen, hatte die gefalteten Hände unter die Wange geschoben und hörte ihm zu. Manchmal, wenn er schon gehen wollte, bat sie ihn, noch ein wenig zu bleiben.

Täglich brachte man Blumensträuße, an denen kleine Briefchen hingen. Sie erkannte die Schriften und ließ die Blumen aus dem Zimmer tragen. Der Geruch verursache ihr Kopfschmerz.

Einmal kam ein Rosenstrauß, ohne jeden Brief. Der durfte bei ihr bleiben. Wer ihn wohl schickte? Ihr Stiefbruder oder vielleicht Pater Friedrich? Sie wußte es nicht, aber sie erriet, daß er von einem Freund kam.

Dann konnte sie schon aufstehen. Und in einem leichten Morgenkleid lag sie auf dem Diwan, wohlig in die Kissen gedrückt. Sie war so glücklich. So sicher fühlte sie sich nun. Alle die furchtbaren Menschen hielt der Machtspruch des Arztes entfernt von ihr. Sie durften nicht mehr quälen.

In den ersten Tagen lag sie fast gedankenlos in einem traumartigen Hindämmern und genoß mit gelösten Gliedern das unendliche Glück der Ruhe.

Dann begann sie wieder zu denken. Nun wird sie 161 noch eine Weile Schonzeit haben. Nach dem Süden wird sie nicht kommen, das weiß sie schon. Was wird dann sein? Erst vorsichtig und in Pausen, dann schließlich jeden Tag, werden die Freundinnen kommen. Körner wird wieder Tag und Nacht um sie sein. Und in ein paar Monaten war alles wieder wie früher. Kann man denn nichts dagegen tun?

O ja! Man kann da etwa zum Bahnhof gehen und einfach in die Welt fahren und nicht mehr wiederkommen. Sie lächelte unwillkürlich über den kindischen Gedanken. Da kam man mit dem Strafgesetz in Konflikt, und draußen waren ja wieder Menschen, Männer, die sich wie geile Tiere auf die durchgegangene Frau stürzen werden, auf die – Dirne!

Oder man konnte sich scheiden lassen. Man bekam die Mitgift zurück und konnte damit sorglos irgendwo in der Stille leben. – Sie lächelte wieder. Wie leicht sich das sagte! Und es war doch so unmöglich! Man hätte sie gesteinigt! Ihr Mann hätte sie erwürgt, ehe er diesen Skandal zuließ. Jetzt – wo alles im besten Zug war, ihn hinauszutragen! Wo seine Saat reifte!

Das ging also natürlich auch nicht. War da kein dritter Weg?

Sie sah keinen.

So blieb also das eine: gesund werden, sich wieder quälen lassen, wieder krank werden – so lange, bis ein Ende kam.

Der Arzt fand sie an diesem Tag niedergeschlagen und matt. Er fragte vorsichtig.

Sie wußte längst, daß er verstand, auch wenn sie in 162 halben Worten redete. So deutete sie ihm nun an, was sie traurig mache.

»Sie werden in Zukunft viel mehr Ruhe haben. Ich werde dafür sorgen. – Lesen Sie nicht gern? – Mit guten Büchern kann man schon leben!«

»O ja, das weiß ich. Aber mein Mann sieht es nicht gern, und im letzten Halbjahr bin ich ja gar nicht mehr dazugekommen, ein Buch zu berühren!«

»Das wird alles besser werden. Sie werden Ruhe haben und lesen können und Sie müssen sich allmählich Ihr Leben einrichten lernen, ein eigenes Leben, in das Ihnen niemand hineinsehen und dreinreden kann . . .«

Sie lächelte schwach. »Ja,« sagte sie leise, »das ist alles gut und schön. Aber sehen Sie, Herr Doktor, ich weiß nicht recht, wie ich das sagen soll . . . aber wenn ein Mensch gar nichts hat, wofür er lebt, und gar nichts, auf das er sich freuen kann – so muß er eben langsam zugrunde gehen, wie eine Blume ohne Sonne . . .«

Der Arzt schwieg. Er konnte unmöglich die alte Redensart vom Kind auch hier vorbringen. Diese Frau hatte ja recht; sie brauchte Glück, Liebe!

»Nur nicht die Hoffnung verlieren«, sagte er. »Sie sind ja so jung noch!«

Als er wegging, küßte er ihr die Hand.

 

44.

Weihnachten und Neujahr ging traurig und trübselig im Körnerschen Hause vorüber. Elsbeth war zwar längst wieder soweit hergestellt, daß sie hätte ausgehen 163 und Gäste empfangen dürfen; aber der Arzt wollte ihr noch eine Weile Schonzeit lassen und sie der vermehrten Unruhe der Feiertage nicht aussetzen. Sie war ihm dankbar dafür.

Sie las nun wieder viel. Aber sie konnte sich nicht mehr so hineinversenken in jene Welt, wie sie es gerne gewollt hätte und einst gekonnt hatte. Denn sie wußte: draußen, vor den versperrten Türen, lauern sie wie die Furien vor dem Tempel und warten nur darauf, daß du dich zeigst. Dann bist du verloren.

Und doch kam ihr jetzt manchmal der Gedanke, daß sie vielleicht all jenen Menschen unrecht getan hatte. Sie waren die große Mehrzahl, die Tüchtigen, Gesunden, die lebten, sich ins Leben zu schicken wußten. Und sie, die Schwache, Kranke, Empfindliche? War das nicht schon der Urteilsspruch? War nicht schon dies der Beweis, daß sie unrecht hatte, daß sie nur ein kranker Zweig am Baum war, der langsam verdorrte und nun den gesunden, grünen Baum schalt? Es war ja eigentlich doch auch klar: womit sollte der Mensch denn seine Tage erfüllen, wenn nicht mit den Angelegenheiten seines täglichen Berufes, der ihn freute? Wenn man, wie sie, kein Verhältnis zu den Dingen des Alltags hatte, so war das wohl eine Krankheitserscheinung, und die Dinge des Alltags richteten einen eben zugrunde. Sie hatte den andern wohl nichts vorzuwerfen – sie selbst war Schuld und Ursache ihres Leidens. Sie litt wohl an überspannten Ideen, die sie in der einsamen, unberatenen Mädchenzeit in sich großgezogen hatte – und die ihr dann den Dünkel eingaben, daß sie 164 besser sei und höher stünde als die Menschen um sie. Und es waren doch Menschen, die all ihre Launen heiter und geduldig hinnahmen und ihr immer nur mit Liebe vergalten!

Je länger sie einsam war, desto mehr wurde sie geneigt, sich selbst unrecht zu geben und die Menschen, unter denen sie gelitten, in einem milden, versöhnlichen Licht zu sehen. Und es fiel ihr einmal bei solchen Gedanken plötzlich das Wort ein: »Vergib uns unsere Schulden, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern . . .« Vielleicht verstand sie jetzt erst seinen tiefen Sinn, nachdem sie durch viel Leiden hindurchgegangen . . . Und ob da nicht vielleicht ein Trost lag, den sie bisher verschmäht? Der Trost, alle Leiden einem Höheren darzubringen wie ein Opfer und von ihm Stärkung und Linderung zu empfangen? –

An einem sonnenklaren Tag, bald nach Dreikönig, ging sie mit dem Arzt aus. Die frische Luft war noch fast zu kräftig für sie. Aber die blassen Wangen röteten sich zum erstenmal wieder und die Augen blickten lebendig und frisch.

Im Stadtpark, auf der Uferpromenade, begegneten sie Frau Professor Hofer, die das Korbwägelchen mit ihrem Kind vor sich herschob. Sie war wieder gesegneten Leibes und sah spitz und gelb aus.

Beim Anblick Elsbeths geriet sie in Entzücken. Sie umarmte die junge Frau, bedauerte ihr angegriffenes Aussehen – früher habe sie doch so gesunde, rote Wangen gehabt! – machte ihr liebevolle Vorwürfe, daß sie ihren ersten Ausgang nicht zu ihr gemacht habe und 165 begann endlich zu fragen: wie denn das nur gekommen sei und wie so etwas möglich sei und was ihr denn eigentlich gefehlt habe und ob sie doch wohl schon gehört hätte, daß ihr Mann beim letzten Besuch des Landesschulinspektors von ihm sehr gerühmt worden sei als einer der gewissenhaftesten, tüchtigsten Lehrer und ob . . .

Der Arzt unterbrach sie: seine Patientin dürfe heute noch nicht zu lange im Freien bleiben, ihr aber empfehle er mit Rücksicht auf ihren Zustand noch ein wenig Bewegung in frischer Luft. Und er ging mit Elsbeth weiter. Unwillkürlich blickten sich die beiden an und lächelten.

Am Rande des Stadtparkes kam ihnen Frau Stadler in ihrem alten Wagen entgegengerollt. Sie trug wie immer ihren alten Plüschmantel und den schwarzen Hut und um den Hals die Fuchspelzboa. Sie ließ den Wagen halten, und Elsbeth trat herzu und stellte den Arzt vor. Unwillkürlich sagte auch sie »Frau Stadler« und nicht »Frau Lungnitzer«.

Die Mutter musterte Elsbeths Aussehen mit etwas unzufriedenen und mißtrauischen Mienen. Schließlich meinte sie ärgerlich: »Ich versteh' dich nicht, was dir fehlt! Hast das schönste Leben, wirst verwöhnt und verhätschelt, nichts zu tun – und krank! Und ausgerechnet so eine neumodische Krankheit, die nichts ist als Launen und Einbildung.« Dann reichte sie ihr die Hand: »Ich bin sechsundfünfzig Jahre alt, Herr Doktor – schauens mich an!« Sie nickte kurz und fuhr davon. 166

Diesmal lächelte der Arzt nicht. Schweigend begleitete er sie bis zu ihrer Wohnung und verabschiedete sich. –

Am Nachmittag kam Frau Bachelmayer mit ihrem ältesten Buben. Die Begrüßung war stürmisch. Sie erdrückte die junge Frau fast mit ihrer Körpermasse und begann dann zu fragen. Sie habe damals zuerst an etwas anderes gedacht, sie könnte es sich schon denken, nicht wahr! Aber sie möge sich nicht grämen, das werde schon noch kommen! Bei so verliebten jungen Leuten kann das ja gar nicht ausbleiben. – Und ob sie sich denn noch genau erinnern könne an die Einzelheiten jenes schrecklichen Anfalls damals? Und sie berichtete Elsbeth haarklein, und das alles vor dem Quartaner, der mit erstaunt aufgerissenen Augen neugierig die junge Frau anstarrte.

Dann kam sie auf die Weihnachtsfeier des Hausfrauenbundes zu sprechen. Es sei jammerschade, daß Elsbeth damals nicht mitwirken oder wenigstens zusehen konnte. Ihr Mann habe einen großen Erfolg gehabt und sei stürmisch vor die Kulissen gerufen worden. Und am Schluß habe eines von den armen Schulkindern in neuen Kleidern den Dank gesprochen, gleichfalls in Versen; es war wunderschön und die Zuschauer zu Tränen gerührt.

Als sie ungefähr zwei Stunden bei Elsbeth geweilt, erschien nun auch Dr. Bachelmayer und beglückwünschte sie zur Genesung. Elsbeth sagte ihm Schmeicheleien zu seinem Bühnenerfolg, die er bescheiden abwehrte. Er sei Arzt und müsse seine ganze Kraft in den Dienst 167 seiner Wissenschaft stellen; aber trotz alledem bleibe einem immer noch das Streben nach etwas Höherem und es tue wohl, dies anerkannt zu wissen.

Fräulein Florian kam mit einem Blumenstrauß. Es gab auch hier eine stürmische Begrüßung, und Elsbeth mußte dieselben Fragen nun zum drittenmal beantworten.

In dieser Nacht fand sie wieder keinen Schlaf.

Dann mußte sie mit ihrem Mann die Besuche erwidern, und überall wurde ihre Krankheit und die mutmaßlichen Ursachen ausführlich besprochen.

Der Arzt riet Dr. Körner dringend, sie nach dem Süden zu schicken. Das ging nicht an, denn der Stadtrat hatte jetzt mehr Geschäfte als je. Die Kanalisierung mußte vor dem Sommer unbedingt beendet werden. Außerdem gab es fortwährend Beratungen wegen des Brückenbaues, der im Frühjahr in Angriff genommen werden sollte. Er könne seine Frau also nicht begleiten.

Das sei auch nicht nötig. Sie könne in einem Sanatorium auch ohne Begleitung verweilen.

»Sanatorium? Wozu denn das? – Ist sie denn lungenkrank?«

»Nein. Aber sie braucht Sonne, Luft und Ruhe.«

»Das hat sie hier auch. Wenn meine Frau so empfindlich und zerbrechlich ist, daß man sie nicht berühren darf und daß es ihr schadet, wenn gute, wohlmeinende Menschen, Freunde des Hauses, sie besuchen und ihr die Langeweile vertreiben, so tut mir das leid. Sie muß sich daran gewöhnen. Ich kann sie nicht unter 168 einen Glassturz setzen. Ich weiß nicht, woher sie das hat. Ihr Vater soll ein kräftiger, starker Mann gewesen sein und ihre Mutter – kennen Sie ihre Mutter? – ja? nun, dann wissen Sie, was das für eine famose Frau ist. Heute sechsundfünfzig Jahre alt! Und bei jedem Wetter unterwegs! Immer tätig, entschlossen, rührig, nie krank! Und meine Frau! Ich weiß nicht, warum sie solch eine Zimperliese ist! – Herr Doktor, ich bin Ihnen unendlich für Ihre Mühe und Sorgfalt verbunden, Sie haben uns einen außerordentlichen Dienst geleistet, den wir Ihnen nie vergessen werden! Wenn meiner Frau das Geringste fehlen sollte, werden wir uns unbedingt an Sie wenden!«

Der Arzt ging. Er war hier überflüssig.

Das alte Leben begann wieder für Elsbeth.

Gegen Ende Januar konnte sie bereits wieder einer Liedertafel der Polyhymnia anwohnen, und bei der darauffolgenden kleinen Nachsitzung im Kaffeehaus wurde Elsbeths Genesung mit einigen Flaschen Sekt fröhlich gefeiert.

 

45.

Bald nach Maria Lichtmeß ereignete sich ein großes Unglück.

Am Rand der Stadt lag das sogenannte Armenviertel. Kleine, schlechtgebaute, holzgedeckte Hütten. Dort brach nachts Feuer aus, während ein starker Sturm herrschte. Und fast alle Häuser brannten nieder. Auch einige Todesopfer waren zu beklagen.

Das Elend war groß. Über zweihundert Menschen 169 standen obdachlos, aller Habe beraubt. Aus städtischen Mitteln konnte nur ein kleiner Betrag gespendet werden, der nicht im entferntesten hinreichte, auch nur die dringendste Not einigermaßen zu lindern. Hier konnte nur eine großzügige Wohltätigkeitsaktion helfen, und Dr. Körner erbot sich, sie in die Wege zu leiten.

Er besprach sich mit Florian und beide eilten sofort zu Pater Friedrich.

Der Priester empfing sie etwas übellaunig. Dr. Körner und er maßen sich mit schlecht verhehlter Feindseligkeit. Denn Körner ahnte, daß der Kooperator um den Zustand seiner Frau wisse.

Er trug sein Anliegen vor. Und Pater Friedrich wußte Rat. Er war vor kurzer Zeit in Graz gewesen, wo man seinen Kammermusikzyklus aufgeführt hatte. Er hatte einen Violinvirtuosen kennengelernt, keinen gar so berühmten natürlich, aber immerhin, er hatte schöne Erfolge gehabt. Dem sollte man gleich depeschieren. Er selbst könne auch mitwirken, da es sich um wohltätige Zwecke handle. Man werde schon etwas zusammenstellen.

Die Herren waren begeistert. Gerade das habe ihnen vorgeschwebt. Ein solches Konzert müsse unbedingt den besten Erfolg haben. Man werde enorme Eintrittspreise verlangen, teures Büfett usw. und den armen Abbrändlern ist geholfen. Sie empfahlen sich unter tausend Dankesworten.

Pater Friedrich dachte weniger an die armen Abbrändler, als vor allem an eine, auch eine arme Abbrändlerin, der er einen Musikabend bereiten wollte . . . 170

Herr Manfred Wolff, der Geiger, hatte gerade mehr freie Abende, als ihm lieb war, und nahm eilig an. Schon nach zwei Tagen traf er in Begleitung eines Pianisten in der Stadt ein und wurde bewundernd angestarrt, wenn er seinen Künstlerkopf zeigte.

Pater Friedrich stellte das Programm mit ihm zusammen. Ein Beethoventrio für Geige, Cello, Klavier. Vielleicht das in B-Dur, op. 97, nicht? – Dann die Kreutzersonate; etwas Brahms und noch ein paar Kleinigkeiten. Pater Friedrich übernahm das Cello und bei der Sonate den Klavierpart.

Man hielt zwei Proben, und die Sache klappte.

Gleichzeitig flogen den reichen Bürgern Einladungen ins Haus zum Konzert des berühmten Manfred Wolff. In beweglichen Worten war die Notlage der armen Abbrändler geschildert. Jedermann sei verpflichtet, hier sein Scherflein beizutragen, um so mehr, als ihm dafür ein erlesener Kunstgenuß geboten werde. – Und allenthalben schrien grellrote Plakate von den Mauern und verkündeten das Konzert des berühmten Manfred Wolff.

Das Theater war ausverkauft. Wer etwas in der Stadt galt oder gelten wollte, hatte seinen Platz.

Der Bezirkshauptmann war erschienen. Der Bürgermeister. Der Direktor und alle Professoren des Gymnasiums. Die höheren Beamten der Bezirkshauptmannschaft und des Gerichts. Alle Stadträte. Alle wohlhabenden Bürger. – Außer den hohen Eintrittspreisen waren freiwillige Spenden eingelaufen. Ein namhafter Reinertrag war erzielt. 171

Die Bühne stellte einen altdeutschen Rittersaal dar. Von den wenigen Dekorationen, die aus früheren Zeiten noch übrig waren, war dies die einzige, die man halbwegs verwenden konnte. Das Klavier sah etwas seltsam darin aus. Herr Manfred Wolff fand das Ganze königlich.

In der Loge Elsbeths saßen im Hintergrund Fräulein Florian mit ihrem Bräutigam. Beide waren viel zu sehr mit sich beschäftigt, als daß sie etwas von der Musik gehört hätten. Frau Bachelmayer langweilte sich. Dr. Körner befand sich hinter den Kulissen.

Elsbeth war fieberhaft erregt vor Freude. Sie würde, zum erstenmal im Leben, Beethoven spielen hören, von Künstlern!

Dr. Körner erschien im Frack auf der Bühne und verneigte sich. Man applaudierte stark. Er verneigte sich abermals. Dann begann er zu sprechen.

Er dankte dem Publikum für sein zahlreiches Erscheinen und für den einmütig bekundeten Opfersinn. Denn leider sei man derzeit nicht in der Lage, den Opfern der Brandkatastrophe aus öffentlichen Mitteln Unterstützung zu gewähren, wie dies in solchen Fällen eigentlich Pflicht der Gemeindeverwaltung sei. – Er machte eine kleine Pause und blickte scharf zur Loge des Bürgermeisters hinüber. Ein Flüstern erhob sich im Publikum. Das war unerhört! Großartig! Er gab öffentlich dem Bürgermeister die Schuld für die schlechte Verwendung der Gemeindemittel!

Alles blickte nach der Loge Lechners. Seine Frau und Töchter wurden blutrot. Der Bürgermeister saß 172 behäbig und ruhig, als verstünde er die Andeutung nicht.

Dr. Körner fuhr fort zu sprechen. So habe er denn im Verein mit seinen Freunden im Vertrauen darauf, daß die holde Muse der Musik jederzeit offene Herzen finde, diesen Abend veranstaltet, und seine kühnsten Erwartungen seien durch die edle Opferwilligkeit der Bürger noch übertroffen worden. Er schloß mit den Worten: »Polyhymnia hat das Wort!« und deutete mit einer weiten Geste nach den Kulissen, aus denen auf dieses Zeichen hin die Mitglieder des Vereins traten und sich hinter dem Klavier aufstellten.

Aber es stand zu befürchten, daß Körners Schlußwort nicht allgemein richtig verstanden wurde. Denn diese ungemein feine Wendung bezog sich allerdings auch auf den Gesangsverein, der mit einigen Liedern den Abend einleiten sollte – aber vor allem war damit die Muse selbst gemeint, die Kunst überhaupt, deren Szepter diesen Abend regieren sollte.

Polyhymnia sang drei Lieder.

Dann trat der Verein ab und große Erwartung bemächtigte sich des Publikums.

Endlich erschien der Geiger, hinter ihm Pater Friedrich und der Pianist.

Stürmischer Beifall begrüßte sie.

Man stimmte die Instrumente –; Frau Bachelmayer fand es eigentlich komisch, wenn ein Geistlicher auf der Bühne spiele, und noch dazu die Baßgeige. Damit meinte sie das Cello.

Der Geiger war ein schlanker, großer Mann mit 173 einem schmalen, blassen Gesicht. Das schwarze, etwas lockige Haar – er gebrauchte das Brenneisen – fiel auf die Stirn herab. Er warf es manchmal mit einer energischen Kopfbewegung zurück. Seine Augen blickten düster. Die vollen, sinnlichen Lippen waren trotzig aufgeworfen, das Kinn emporgezogen. Er posierte auf Ondřićek.

Das Klavier begann, das Cello fiel ein. Der Geiger stand reglos und starrte düster vor sich hin. In der Loge dort war eine blasse, seine Frau. Die reizte ihn.

Er hob langsam die Geige ans Kinn und neigte das Gesicht über sie. Der rechte Arm hing schlaff herab. Und plötzlich sauste er empor, als wollte er mit dem Bogen einem Riesenorchester zum Einsatz winken – stand eine Sekunde so in dieser prachtvollen Pose – dann zischte der Bogen nieder und eine Flut goldener, edelster Töne quoll auf, klang und perlte und sang, tauchte nieder in purpurne Tiefen und hob sich klar und rein zur Höhe.

Elsbeth saß starr. Ihr Herz pochte zum Zerspringen. Dann aber kam eine tiefe Ruhe über sie und ihre ganze Umwelt war verschwunden und vergessen. Sie tauchte unter in der Flut.

Das Cello sang unter Pater Friedrichs Händen wie mit Engelsstimmen. Elsbeth überrieselte es in wonnigen Schauern des Entzückens, der reinsten Freude. Und über den dunklen, warmlautigen Klängen baute sich in silbernen Tönen das Geigenspiel auf, klagte in ergreifendstem Adagio und hüpfte in einem kecken Scherzo dahin wie die klaren Wellen eines übermütigen Baches 174 über glatte Kiesel des Grundes und brauste endlich in einem furiosen molto allegro stürmisch zum Sieg.

Elsbeth hatte Tränen des Glückes in den Augen. Wie glücklich doch diese Menschen waren, die so der Kunst zu dienen vermochten, die jenes goldene Märchenreich kannten als ihr ureigenstes Land, die den Schlüssel seiner Pforten besaßen und aufschlossen, wem sie öffnen wollten. Sie waren die Könige, die andern alle die Bettler, die um Einlaß flehen mußten.

Und mit einer Gewißheit, die ihr ganzes Wesen erfüllte und anspannte, wußte sie nun, daß dieses Reich war, daß es keine Erdichtung müßiger Nerven sei und daß sie, sie allein von all diesen Menschen hier würdig war, einzutreten durch die Gnadenpforte.

Sie durchlebte ihr ganzes Leben. War Kind wieder und sah den Vater sterben und war im Wald bei der Mühle und war einsam lange Jahre und litt an den Menschen. Aber sie schwebte doch auch gleichzeitig über den Dingen und sah mit andern, nichtirdischen Augen, sah nur mehr Wesenheiten, nicht mehr die äußeren Bilder. Es war, als ob diese Musik ein durchdringendes Licht über die Welt ausgieße, vor dem nichts verborgen bleibe, das aber alles Edle und Echte hinaushob in die Glorie.

Und wieder fühlte sie mit beglückender Gewißheit, daß sie zu den Auserwählten gehöre, deren das Reich war. Und der dort, der Geiger, schloß es auf mit seinen Klängen . . .

Sie schreckte auf, als lautschallendes Klatschen das Haus durchtobte. Sie starrte auf die Bühne, als sei 175 sie plötzlich aus Wolken auf die harte Erde niedergestürzt. Frau Bachelmayer klatschte lebhaft und lachte ihr zu: »Mir scheint, du hast geschlafen, Herzblatt? Na ja, weißt du, offengestanden, mich hat's auch gelangweilt!«

Der Geiger verbeugte sich nach allen Seiten und deutete auf Pater Friedrich, der mit einer unbeschreiblichen Gebärde abwinkte. Dann verließen die Künstler die Bühne und eine Pause trat ein, die man benützte, um allerlei Erfrischungen zu unerhörten Preisen anzubieten.

Es summte im Haus wie in einem Bienenstock. Man bewunderte die edle Haltung des Geigers, jenes weite Ausholen mit dem Bogen, als ob ein Feldherr das Zeichen zur Schlacht gebe, seinen echten Künstlerkopf, sein blasses Gesicht, seine Locken. Fräulein Florian fand, er sehe Beethoven zum Verwechseln ähnlich.

Manfred Wolff und Pater Friedrich betraten wieder die Bühne, begrüßt von stürmischem Beifall. Nun spielten sie die Kreutzersonate.

Der Geiger war ihr vielleicht nicht ganz gewachsen, seine Seele viel zu klein und eng, um sie in sich zu erleben und neu zu gestalten; aber was wußten diese Menschen von Musik! Und Elsbeth ward durchschüttert bis in den tiefsten Grund der Seele.

Beim Adagio blickte der Geiger zu ihr her. Ihre Augen tauchten ineinander. Ihr Herzschlag stockte.

Die ewige Stimme sprach: Es beginnt ein neues Leben!

Es war um sie geschehen. 176

Ihre Seele sang.

Sie bat Gott, nun sterben zu dürfen.


Der Beifall weckte sie aus ihren Träumen. Sie sah wieder die beiden Menschen im Rittersaal stehen, sah den Geiger sich verneigen und sah Pater Friedrich in den Noten blättern. Da blickte er zu ihr her und lächelte leise. Auch ihre Lippen lächelten und sie nickte ihm zu.

Dann gab es noch allerlei zu hören, kunstvolle, schwierige Stücke, bei denen Wolff seine Fingerfertigkeit zeigen konnte. Dafür erntete er den größten Beifall.

Endlich war das Programm abgetan und er verschwand. Aber man klatschte ihn hervor, nochmals und nochmals, ein weißgekleidetes Mädchen lief zwischen den Kulissen hervor und überreichte ihm knixend einen Lorbeerkranz und schließlich mußte er zugeben.

Er erschien mit dem Pianisten auf der Bühne und spielte Schuberts »Ave Maria«. Und dabei suchte sein Auge die blasse, schlanke Frau, ihre Blicke tauchten ineinander, dann senkte sie die Lider. Niemand bemerkte die geschmacklose Zudringlichkeit.

Der dicke Selchermeister Wagrandl beugte sich zu seiner Gattin und flüsterte: »Was spielt er denn jetzt?« Sie wußte es nicht. Der dienstgefällige Herr Alois Huber, der im Galanteriegeschäft in der Herrengasse Kommis war und lyrische Gedichte und Feuilletons für das Kreisblatt schrieb, beugte sich beflissen vor und gab Auskunft: »Eine Serenade.« »Ah!« –

Dann betrat die Polyhymnia den Rittersaal und 177 sang drei fröhliche Lieder. Und zum Schluß jubelte man Dr. Körner, den unübertrefflichen Maître de plaisir, den Volkswohltäter, nochmals hervor.

 

46.

Im Kaffee am Ratsplatz trafen sie sich alle. Dr. Körner, Wolff und Pater Friedrich, den man gewaltsam mitschleppte, bildeten den Mittelpunkt. Sekt wurde gebracht und man begann ein fröhliches Pokulieren.

Dr. Körner musterte manchmal mit einem flüchtigen Blick seine Frau, die neben dem Virtuosen saß. Wie verwandelt sie war! Sie lächelte, ihre Wangen glühten, sie schien glücklich. Wahrscheinlich sagte er ihr jetzt zudringliche Schmeicheleien.

Er sprach:

»Es waren heute abend dreihundert Menschen im Haus. Sie gähnten, glotzten, hielten Maulaffen feil. Wenn sie sahen, daß ich fertig war, applaudierten sie und schrien Bravo. Sie waren die einzige, die – Musik vernahm. Die einzige, von allen, die eine Seele hat. Ich habe nur für Sie gespielt. Ohne Sie hätte ich nicht geigen können.«

Sie zuckte zusammen.

Die einzige, die eine Seele hat. Wieder stand vor ihr, was sie einmal vor langer Zeit erkannt: daß sie etwas besaß, was allen andern fehlte, die hier lachten und lärmten.

Er sagte:

»Ich weiß, für Sie allein war dieser Abend ein Erlebnis. Ich spreche nicht so aus Eitelkeit. Ich bin 178 ein armer Musikant, kaum einer der kleinsten. Aber die Göttin, der ich diene, rührt durch meine Hand die Seelen und segnet sie. Und als mein Auge das Ihre traf, wußte ich, daß Sie zu den Gesegneten gehören, zu den Auserwählten.«

Er sprach ruhig, ohne sie sonderlich anzusehen, als ob sein Blick irgendwo in weiter Ferne weile.

»Ich bin ein armer Musikant, der dem Philister gilt wie ein fahrender Komödiant oder ein Taschenspieler und ein Seiltänzer. Und wenn es nicht wäre, daß ich da und dort eine Seele anträfe, der mein Spiel ins Herz klingt und Glück in die freudlosen, leeren Tage trägt, so hätte ich schon längst die Fiedel zerschlagen am nächsten Meilenstein und hätte mich an den nächsten Ast gehängt. Aber das ist mein Glück, das mich hält und lockt und leitet – einsamen Seelen ein Tröster und Freudenbringer zu sein . . .«

Er wurde unterbrochen. Man brachte ein Hoch auf ihn aus.

Den ganzen Abend konnte er nicht mehr zu Elsbeth sprechen.

Sie selber aber saß in tiefem Traum. Und es klang in ihr: Es beginnt ein neues Leben!

Was sie an diesem Abend sprach und antwortete, war sehr verwirrt, und man lachte herzlich über die kleine Frau Else, die sich einen Champagnerschwips angetrunken hatte.

In einer Ecke zankte Manfred Wolff ein wenig mit Dr. Körner, der ihm die Reisekosten nicht bezahlen wollte. Er lachte und sagte: »Gut, zahlen Sie nicht. 179 Dann stehe ich auf und halte eine Rede und schreie es laut in den Saal, wie Sie die Kunst . . .« »Gut, ich zahle!« Und er zischte: »Komödiant!!«

 

47.

Elsbeth schlief tief und fest in dieser Nacht. Tat es der Sekt?

Spät am Vormittag erhob sie sich und kleidete sich zu einem Spaziergang an.

Sie ging in den Stadtpark. Es lag wenig Schnee, der Erdgeruch zog schwer durch die Luft. Die warme Sonne ließ ein paar Schneereste von den Ästen der Bäume tropfen. Es klang ahnungsvoll und verheißend, als locke schon der Frühling. Die kleinen Meisen ziepten. Es war still und leer im Park.

Auf der Uferpromenade begegnete sie Herrn Manfred Wolff. Er hatte noch zwei Stunden Zeit bis zur Abfahrt des Zuges und machte noch etwas Bewegung.

Sie erschrak und wollte umkehren. Aber er hatte sie schon erblickt und kam grüßend auf sie zu.

Sie gingen zusammen auf den Wegen zwischen kahlen Sträuchern und leeren Bänken, durch Alleen und Lauben.

Er sprach davon, daß ihm der gestrige Abend eine liebe Erinnerung bleiben werde. Das winzige Theater sei ihm erschienen wie ein intimes Musikzimmer, in dem – sie saß und ihm zuhörte. Und er werde ihr Bild durch sein Leben tragen wie ein Heiligtum. Sein Leben sei arm und leer an Liebe. Der Bürger scheue sich vor dem fahrenden Musikanten, die Frauen 180 fürchten ihn. Er ist ein Ausgestoßener, der keinen Teil hat an den Freuden und dem Glück, das doch allen werde, allen.

Denn ein Künstler liebe anders als der Philister. Für ihn ist Liebe Seelengemeinschaft, gemeinsamer Flug nach dem Höchsten, nach den Sternen. Und wo sei das Weib, das einem einsamen, ringenden Künstler auf diesem Fluge Genossin sein wolle und – könne?!

Aber seit gestern wisse er ein solches Weib. Und wenn es ihm auch nie angehören könne – allein das Bewußtsein, daß sie sei, daß sie lebe, ist beglückend über die Maßen. Und so werde er denn einsam weiterziehen: »An die Türen will ich schleichen, still und sittsam will ich stehn, fromme Hand wird Nahrung reichen und ich werde weitergehn. Jeder wird beglückt erscheinen, wenn mein Bild vor ihm erscheint – eine Träne wird er weinen . . . und ich weiß nicht . . . was er . . . weint . . .«

Sie hörte nicht das falsche Pathos seiner Rede. Seine Worte klangen Saiten in ihr an, die mitklangen. Sie konnte kaum atmen. Das Herz pochte wild. Aber als er das Harfnerlied sprach, das sie immer so unsagbar ewig anrührte, als schwinde für Augenblicke alle Zeit, als wehe ein Ungeheures, weit Offenes, ins Unendliche Hinausweisendes über sie hin – da konnte sie nicht mehr weiter.

Sie blieb stehen und rang nach Atem.

Da riß er sie in seine Arme und bedeckte ihr Gesicht und die stöhnenden Lippen mit wilden Küssen.

Sie rang sich aus seinen Armen. Seine dunklen 181 Augen brannten in ihre. Seine Küsse durchschauerten sie wie schwerer Wein. Sie fühlte sich begehrt, geliebt von einem Künstler, von einem Mann, der – anders war als sie alle.

Für einen Augenblick sah sie ein rotes Dunkel um sich, brausendes Klingen war um sie wie von tausend fernen Glocken. Ein Schwindel erfaßte sie, drehte, wirbelte sie, und sie sank neuerdings in seine Arme und ihre Lippen erwiderten durstig seine Küsse.

Dann aber riß sie sich los und lief wie gehetzt, strauchelnd und stolpernd mit zitternden Füßen davon und nach Hause und jagte die Treppen hinauf und ins Schlafzimmer und warf sich auf den Diwan, lachend und weinend und selig und trunken vor Glück.

 


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