Ernst Kratzmann
Die Automaten
Ernst Kratzmann

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

19.

Es war Dr. Körner nun endgültig klar, daß er verloren habe. Das, was er sich unter »Eheglück« und einem »gemütlichen Heim« vorstellte, würde er mit seiner Frau nie gewinnen. Sie ging völlig teilnahmslos, kalt und einsilbig neben ihm her.

Der Advokat war klug genug, nach außen hin den glücklichen Ehemann zu spielen, und auch Elsbeth verbarg vor den fremden Blicken ihr Unglück. Sie wollte kein Mitleid.

Frau Stadler wußte natürlich sofort, wie es um die jungen Leute stand. Aber sie ließ kein Wort über die Sache verlauten und hielt sich zurück, weil man junge Leute allein lassen muß, und sie ja ohnehin keine Zeit zu überflüssigen Besuchen hatte. Und außerdem baute Frau Stadler darauf, daß sich die Sache mit der Zeit schon einrichten werde. Die Gewohnheit ist eine starke Macht und kettet fester aneinander als die sogenannte Liebe.

Und die kluge, scharfblickende Frau schien wirklich recht zu behalten. Mit der Zeit wurde Elsbeth gegen 61 ihren Mann etwas freundlicher. Sie hatte eingesehen, daß sie mit ihm nie ein Gespräch führen könnte über andere Dinge als etwa den Haushalt, ein wenig Stadtklatsch und seine Prozesse. Bisweilen erzählte er einen Fall aus seiner Armenfürsorge. Sie hörte all diese eintönigen Reden geduldig an, verbarg mit einiger Mühe ihre völlige Gleichgültigkeit daran, flocht ab und zu eine Bemerkung ein, sah darauf, daß jeden Tag ein gutes Essen auf den Tisch kam und empfing mit liebenswürdigem Lächeln die Besuche, die sich bald nach der Rückkehr des jungen Paares an Sonntagvormittagen einstellten.

Und was er sonst noch von ihr verlangte – das ließ sie eben geschehen – weil es nun einmal so hergebracht war und so sein mußte. Und Dr. Körner war schließlich mit dieser Wendung der Dinge gar nicht unzufrieden. Die Mitgift seiner Frau glich manche Unebenheit der jungen Ehe aus. –

Zu allem Glück war Elsbeth viel allein. Und da sie nun als verheiratete Frau ein wenig mehr Freiheit genoß, nahm sie dies Wenige dankbar hin. Sie durfte nun allein ausgehen und wanderte fast täglich ein paar Stunden am Flußufer oder über den Schloßberg gegen die Weinberge. Früher wäre dies unschicklich gewesen.

Und wenn sie daheim die paar Angelegenheiten des Haushalts erledigt hatte, die ohnehin die alte Köchin fast allein besorgte, so konnte sie sich ruhig ans Fenster setzen und lesen.

Sie hatte Vaters Bücher als kostbarsten Teil ihrer 62 Ausstattung in ihr neues Heim gebracht und in Wien manches neue dazu gekauft. Ihr Mann sah es zwar nicht gern, wenn seine Frau so viel las, begriff auch gar nicht, wie ein vernünftiger Mensch daran Gefallen finden konnte – aber schließlich – es war eben eine romantisch veranlagte junge Frau und es war vielleicht sogar besser, wenn sie sich die Zeit mit Lesen vertrieb, als daß sie müßig saß und Grillen nachhing. So machte er weiter keine Einwendungen dagegen, verlangte aber, daß Elsbeth ihre Bücher auf dem Regal im Wartezimmer aufstelle. Man sollte sehen, daß in seinem Haus die schöne Literatur gepflegt wurde. Im übrigen war es aber auch Zeit, daß die junge Frau einen passenden und standesgemäßen Umgang bekam, und Dr. Körner beeilte sich somit, sie in jene Familien einzuführen, in denen er selbst verkehrte und zu denen er sich nun durch seine Heirat als gleichgestellt rechnen durfte.

Der erste Besuch galt dem Bezirkshauptmann Dr. Günther Freiherrn von Rodenberg nebst Gemahlin. Dr. Körner legte großen Wert auf diese Bekanntschaft. – Der Bezirkshauptmann war ein magerer, kahlköpfiger Herr mit langem, gelbem Gesicht. Er trug ein Monokel und sprach mit etwas näselnder Stimme. Sein ganzes Wesen atmete Aristokratie, Noblesse, Reserviertheit. Er gab sich das Air eines Diplomaten.

Frau Stefanie von Rodenberg war schön, aber das Bestreben, immer vornehm gehalten und reserviert zu erscheinen, verlieh ihrem Gesicht etwas Starres und Hochmütiges.

Der Besuch fand an einem Sonntagvormittag um 63 elf Uhr statt. Der Empfang war vornehm gemessen und etwas kühl. Denn man konnte diesen kleinstädtischen Spießbürgern gegenüber doch unmöglich mehr tun, zumal sich Dr. Körner seine Frau aus recht eigentümlichen Kreisen geholt hatte.

Während Freiherr von Rodenberg mit dem Gast ein Gespräch über lokalpolitische und Verwaltungsangelegenheiten begann, richtete seine Gemahlin das Wort an Elsbeth. Und es geschah das Merkwürdige, daß die Frau Baronin sich vom Wesen und der Bildung der jungen Frau angenehm überrascht sah und, nachdem die Besucher sich verabschiedet hatten, ihrem Gatten erklärte, daß Frau Dr. Körner eine in Anbetracht ihres Herkommens wirklich ganz annehmbare Bildung besäße und überhaupt ein recht nettes Geschöpf sei. Und da auch der Freiherr von den geistigen Fähigkeiten des Advokaten einen guten Eindruck von jeher gewonnen hatte, so konnte Dr. Körner mit dem Ergebnis dieses Besuches zufrieden sein.

Sodann suchte man die Familie des Arztes Dr. Bachelmayer auf. Hier wurde das Ehepaar ungemein herzlich und geräuschvoll empfangen. Die Wohnung war mit ähnlichem Geschmack eingerichtet wie die Dr. Körners; einige ausgestopfte Hühnergeier und Falken erinnerten aber daran, daß der Hausherr dem Jagdsport huldigte. Er pflegte, wenn er nicht ordinierte oder Krankenbesuche machte, ein ziemlich wenig salonfähiges Steirerkostüm zu tragen, ohne Weste und mit weichem Umlegkragen und einer bunten Kravatte. In diesem Aufzug empfing er auch Familienbesuche, zu 64 denen der seines Freundes Körner natürlich in erster Reihe gehörte.

Er behandelte meist die bäuerliche Bevölkerung in der nächsten Umgebung der Stadt, die großes Zutrauen zu ihm hatte.

Er hielt pflichtgemäß die »Klinische Wochenschrift«, deren Hefte an auffälliger Stelle in seinem Ordinationszimmer umherlagen. Aber er kümmerte sich nicht viel um den Inhalt. –

Frau Bachelmayer zog Elsbeth nach der ersten geräuschvollen Begrüßung sofort in eine Ecke, trug ihr das Du an und küßte sie gerührt und begann sodann mit schalkhaftem Lächeln ein Verhör über verschiedene so intime Dinge, daß Elsbeth über und über errötete. Frau Bachelmayer fand dies entzückend und rief unter neuerlichen Küssen: »Ach du süße, glückliche, junge Frau!«

Die Herren hatten sich inzwischen über städtische Angelegenheiten unterhalten und den Bürgermeister ein wenig durchgehechelt, dem beide nicht grün waren.

Dann wurde Johannisbeerwein und etwas Gebäck aufgetragen und das junge Paar zu baldigstem Wiederkommen aufgefordert.

Am nächsten Sonntagvormittag kam der Gymnasialdirektor an die Reihe. Er wohnte gegenüber seiner Jugendbildungsanstalt und überwachte, auch wenn er zu Hause war, das Kommen und Gehen der Professoren, die ihn haßten wie einen Gefängniswärter.

Seine Frau war dürr und lang und trug das schon ganz ergraute Haar flach gescheitelt unter einem kleinen Spitzenhäubchen. 65

Hier drehte sich das Gespräch um die zunehmende sittliche Verwilderung der Schuljugend und um die schon äußerst nötige Kanalisierung der Stadt. Aber dieser Bäckermeister Lechner, der zum Unglück der Stadt Bürgermeister geworden, verabsäumte ja die allerprimitivsten sanitären Maßnahmen!

Dann wurde etwas Biskuit und Stachelbeerwein gereicht. –

Ähnlich verliefen die Besuche bei den paar Professoren, die mit Dr. Körner befreundet waren. Bei Florian war es etwas anders.

Florian war Witwer.

Er wohnte in einer engen Gasse im eigenen Haus, das zugleich als Weinlager diente. Er trug stets ein sogenanntes Steirerg'wand, eine grüne Weste mit Hirschhornknöpfen und an der breiten Uhrkette Eberzähne. Am Hut, den ein breites grünes Band zierte, einen Gemsbart.

Er war stets in fröhlicher Laune. Sein rötlich strahlendes Gesicht mit der kupfrigen Nase und dem kleinen grauen Spitzbart schien nur lachen zu können und die Lippen schmatzten bisweilen leise wie bei einer Weinprobe.

Florians Name war der Anlaß eines stehenden Witzes. Man nannte ihn den Hl. Florian, welcher Wasser in den feurigen Wein goß.

Florian hatte eine achtzehnjährige, ziemlich dicke und häßliche Tochter, welche »schwärmte«. Sie schwärmte für die Musik, sie schwärmte für die Natur, welche sie so poetisch fand; selbstverständlich schwärmte sie auch 66 für die Poesie – sie hatte alle Marlitt-Romane gelesen und war auf die Gartenlaube abonniert. Als sie Elsbeth kennen lernte, fiel sie ihr errötend um den Hals, bat die junge Frau um ihre Freundschaft und schwärmte fortan vor allem für Elsbeth.

Dr. Körner erklärte nachdrücklich, wie sehr es ihn freue, daß die beiden Damen sich so rasch befreundet hätten. Denn da auch seine Frau sehr romantisch veranlagt sei und sehr für die Natur und Poesie schwärme, so würden sie sich ausgezeichnet verstehen und gegenseitig die Zeit vertreiben können.

Damit war die Reihe der offiziellen Antrittsbesuche beendet.

 

20.

Im November gab der Gesangsverein »Polyhymnia« seine erste Liedertafel im Stadttheater.

Er war vor einigen Jahren von Herrn Florian ins Leben gerufen worden. Dr. Körner und Dr. Bachelmayer, einige Gymnasialprofessoren, die Brüder Einhart, der dicke Schneider Magerle aus der Herrengasse, gehörten zu seinen Mitgliedern. Pater Friedrich, der Kooperator der Stadtkirche, war Ehrenmitglied, obwohl er eine Stimme besaß wie ein heiserer Kettenhund. Aber angesichts seines virtuosen Orgel- und Cellospieles war seine Wahl einstimmig erfolgt.

Bei der Gründungssitzung wurde zuerst über den Namen des Vereins beraten. Jemand beantragte, den Gesangsverein nach dem Namen der Stadt zu benennen, nach dem Beispiel des Wiener Männergesangsvereines. 67 Dieser Antrag wurde als viel zu prosaisch einstimmig abgelehnt.

Florian schlug »Lyra« vor.

Dr. Körner erklärte diesen Namen für etwas zu abgebraucht. Auch sei er gar so kurz.

Darauf beantragte Florian den Namen »Konkordia«.

Der erinnerte Dr. Körner an eine Wiener Leichenbestattungsgesellschaft.

Der Advokat hatte den rechten Ellbogen auf den Oberschenkel und das Kinn in die Hand gestützt und fixierte Florian durch seine großen, runden Augengläser. Sein Gesicht war tiefernst und drückte deutlich die ungeheure Wichtigkeit aus, die er dieser Beratung beimaß.

Man forderte ihn nun auf, auch seinerseits einen Vorschlag zu tun. Er schwieg, blickte rasch im Kreise umher, als ob er sich überzeugen wollte, daß kein Unberufener zuhörte, und sprach dann mit geheimnisvoll gedämpfter Stimme nur ein Wort: »Polyhymnia«.

»Ah!« – »Großartig!« – »Sehr klangvoll.«

Florian erkundigte sich nach der Bedeutung des Namens.

»Polyhymnia hieß bei den alten Griechen die Muse des Gesanges.«

»Ah!« – »Ja, ja, die klassische Bildung!« – »Ausgezeichnet!«

Der Name wurde einstimmig angenommen.

Dr. Körner war wieder einmal froh, daß er das Konversationslexikon besaß. –

Wenige Tage später machte ein höchst ärgerlicher 68 Scherz die Runde durch die Stadt, den offenbar übelwollende und ungebildete Leute in Lauf gesetzt: es hieß, der neue Verein werde sich »Gesangsverein Keuchhusten« nennen. Man erfuhr niemals, wer der Urheber dieses verwerflichen Unfuges gewesen. Dr. Körner hatte zwar den Pater Friedrich in Verdacht, dessen rücksichtslosem Sarkasmus so etwas zuzutrauen war; aber da der Kooperator ja selbst eine entsetzliche Stimme besaß und außerdem Ehrenmitglied des Vereines war, konnte man eine solche Frivolität doch nicht gut für möglich halten. –

Das Stadttheater war ausverkauft. In einer Loge saß behäbig der Bürgermeister Lechner mit seiner Frau und den beiden Töchtern. Sein Schwiegersohn war unter den Sängern.

Gegenüber der bürgermeisterlichen Loge hatte Dr. Körner für Elsbeth und Frau Bachelmayer und Herrn Florians Tochter eine Loge genommen.

Der Bezirkshauptmann war nicht anwesend.

Der Vorhang hob sich langsam und enthüllte eine Schar schwarzer Herrenschuhe. Er stieg höher, und es zeigten sich eine gleiche Anzahl schwarzer Hosenbeine und endlich präsentierte sich, von lebhaftem Applaus begrüßt, die gesamte »Polyhymnia« in einem blühenden Feengarten, den Fräulein Florian außerordentlich poetisch fand. In der Mitte stand, durch seine bunte Tracht und den wallenden Federhut von den schwarzgekleideten Sängern schön abgehoben, der Bannerträger, der mit seinen weißbehandschuhten Fäusten die Standarte der Polyhymnia hochhielt, auf deren 69 rotsamtenem Fahnenblatt eine goldene Lyra gestickt war.

Ein Flüstern und halblautes Rufen erhob sich im Zuschauerraum: jede Familie suchte unter den Sängern ihre Angehörigen und wies sich die glücklich Gefundenen unter freudigen Rufen mit ausgestreckten Zeigefingern.

Der Bannerträger trat vor, stieß die Fahnenstange wuchtig auf den Boden, und auf dieses Zeichen hin sang Polyhymnia den Wahlspruch:

Glück auf, Glück auf mit frohem Klang –
Heil deutschem Wort und Sang!

Dröhnender Beifallsturm durchraste das Haus.

Dann bestieg der Gesangslehrer des Gymnasiums das kleine Podium, verbeugte sich vor der Loge des Direktors und vor dem Publikum und erhob den Stab. Ein paar Akkorde auf dem Klavier und mit vollem Klang setzte der Chor ein: »Das Wandern ist des Müllers Lust . . .«

Es war ein außerordentlich genußreicher Abend. Sänger und Zuhörer waren unermüdlich, das Solistenquartett brachte, stürmisch bejubelt, einige stimmungsvolle Lieder zum Vortrag, der Schneider Magerle blies, vom Klavier begleitet, mit krebsrotem, schweißtriefendem Gesicht »Behüt dich Gott, es wär zu schön gewesen« auf dem Flügelhorn. –

Elsbeth lehnte blaß in ihrer Loge. Sie hatte Kopfschmerzen.

Frau Bachelmayer streichelte mit ihren fleischigen Händen Elsbeths Arme, Fräulein Florian lehnte bei besonders gefühlvollen Stellen ihren Kopf an Elsbeths 70 Schulter und umschlang die schwärmerisch geliebte Freundin mit ihrem derben Arm. Und beide flüsterten ohne Unterbrechung auf die junge, entzückende Frau ein, die das Lampenfieber für ihren Mann hatte und aus lauter Erregung so bleich war.

In den Pausen berichtete Frau Bachelmayer genau, wieviel Gläser Dunstobst sie heuer eingesotten habe und teilte der Freundin das beste Rezept zur Herstellung ihres vortrefflichen Johannisbeerweines mit, und Fräulein Florian erzählte gleichzeitig den Inhalt des eben in der Gartenlaube erscheinenden Romans.

Und Elsbeth hätte so unendlich gern Ruhe gehabt und die Augen geschlossen. Es war seltsam: obwohl sie sich doch nie anstrengte und fast nichts zutun hatte, so war sie doch immer müde. Sie schlief nachts allerdings nur wenig, denn sie hatte sich noch immer nicht recht daran gewöhnen können, daß Dr. Körner neben ihr lag, und seine Gegenwart beunruhigte sie. Sie empfand einen leisen körperlichen Ekel. Erst nach Tisch, wenn ihr Mann längst wieder in Geschäften das Haus verlassen hatte, holte sie den versäumten Schlaf ein. Aber es war doch nicht das Rechte.

Am meisten strengten sie die gemeinsamen Mahlzeiten an. Krampfhaft suchte sie nach geeigneten Gesprächstoffen, zwang sich, den Erzählungen ihres Mannes von einem interessanten Prozeß oder einem vergeblich gesuchten Aktenstück mit Aufmerksamkeit zuzuhören, und wenn er dann endlich wieder das Haus verließ, sank sie todmüde auf ihr Sofa und schlief ein.

Am Abend war es am ärgsten. Denn da ließ sich 71 Dr. Körner mehr Zeit, genoß die Behaglichkeit seines Heims und erwartete von seiner Frau, daß sie ihn unterhalte. Wenn er sich dann auch noch meist für eine Stunde in sein Arbeitszimmer zurückzog, um noch »ein wenig zu studieren«, wie er sagte, so bedeutete dieses abendliche Beisammensein für Elsbeth doch eine Qual, die ihr täglich drückender erschien. Auch wenn sie Gäste bei sich sahen oder irgendwo geladen waren, änderte sich nicht viel. Die Reden dieser Leute ermüdeten sie so sehr und die Zudringlichkeit der Frauen, die von Küche und Speisekammer und Schlafzimmer die genauesten Einzelheiten zu wissen begehrten, widerten sie so an, daß sie oft im Gefühl ihrer trostlosen Vereinsamung und Ohnmacht dem Weinen nahe war.

Es schien ihr manchmal, als ob all diese Leute eigentlich immer dasselbe sagten. Sie hatten ein paar »Ansichten«: über die Gesundheit, das Wetter, die Stadt, die Kinder, die »Natur«; und diese Ansichten drehten und wendeten sie in jedem Gespräch nach allen Richtungen, wiederholten sie – mit immer denselben landläufigen Redensarten – stets von neuem und wurden nicht müde davon. Das nannten sie »Unterhaltung«. Man konnte im voraus genau erraten, was jeder sagen würde und mit welchen Worten. Sie waren alle stolz auf ihre »geistigen Interessen«.

Dann wieder machte sie sich Vorwürfe: alle diese Leute, und auch ihr Mann, waren doch eigentlich im Grunde genommen gute Menschen, die ihren Platz im Leben ausfüllten und redlich ihren Pflichten nachkamen. Sie hätte sich an ihnen allen ein Beispiel nehmen sollen. 72 Woher kam es, daß sie ihr so gleichgültig, ja sogar widerwärtig waren? Daß ihr ganzes Wesen dem ihren so entgegengesetzt war? Weil man mit ihnen kein vernünftiges Gespräch führen konnte? – Ja – worüber sollte man denn auch reden?! Man sprach eben über die kleinen Ereignisse und Angelegenheiten des Tages, wie sie das Leben in einer Kleinstadt mit sich brachte. Und – sei ehrlich Elsbeth! – worüber hätte sie wohl selbst sprechen wollen, wenn sie ein Thema hätte angeben sollen?!

Aber sie konnte keine rechte Zerknirschung über ihre Lieblosigkeit aufbringen. Sie fühlte dunkel, daß mit diesen Menschen irgend etwas nicht in Ordnung war, daß ihnen etwas fehlte, was sie selbst reich besaß.

Aber was dieses Etwas war, das wußte sie nicht..

Und jetzt? Alle freuten sich wie Kinder über die Darbietungen der Polyhymnia. Sie allein fand den ganzen Gesangsverein komisch, die Wahl der Lieder kindisch und über den Schneider Magerle mit seinem Flügelhorn hätte sie hellauf lachen können, wenn sie nicht so verzweifelt müde und elend gewesen wäre.

Sie begriff sich selbst nicht mehr und war ohne Rat; sie verlor allen Maßstab und wußte nicht, ob sie unter lauter lächerlichen Figuren der einzige Mensch war oder das einzige überspannte Geschöpf unter lauter tüchtigen, vernünftigen Menschen . . .

Gegen zehn Uhr war das Konzert beendet. Der Vorhang senkte sich über den blühenden Feengarten, und die Zuhörer verließen das Theater.

Auf dem kleinen Platz, beim Orpheusstein, erwartete 73 man die Sänger, die sich zu ihren Familien fanden und lebhaft begrüßt wurden. Dann suchte man noch das Kaffeehaus am Ratsplatz auf und blieb bis Mitternacht fröhlich im Freundeskreis beisammen.

Und alle trugen das erhebende Bewußtsein in sich, daß auch in ihrer kleinen Stadt die Kunst Pflege und schönstes Verständnis fand.

Es war ein überaus schöner, wohlgelungener Abend.

 

21.

Herr Sebastian Lungnitzer lebte seit dreißig Jahren in der Stadt.

Seine Frau war vor zwei Jahren gestorben und hatte ihn mit einem achtjährigen Sohn zurückgelassen.

Er war Vieh- und Getreidehändler, daneben Grundspekulant, und vermittelte überhaupt jede Art von Handel und Geschäft.

Er zählte nun fünfundfünfzig Jahre. Er war ein rüstiger, nicht eben unfein aussehender Mann und galt als sehr wohlhabend. Seine Geschäftstüchtigkeit war allgemein anerkannt.

Es konnte nicht fehlen, daß dieser Mann früher oder später mit Frau Stadler in Berührung kam. Sie kannten sich in der Tat schon seit langen Jahren, noch ehe Lungnitzers Sohn geboren war. Sie waren eigentlich Konkurrenten. Aber das Arbeitsfeld war groß, und es gab für beide genug zu verdienen.

Ein Jahr nach dem Tode seiner Frau erschien Lungnitzer bei Frau Stadler: er sei Witwer und könne 74 seinen achtjährigen Knaben nicht erziehen. Frau Stadler sei Witwe und ihre Tochter könne dem Knaben eine ältere Schwester sein; beide trieben das gleiche Geschäft – ob sie nicht heiraten wollten?

Frau Stadler hörte seinen Antrag ruhig an und sagte dann ebenso ruhig nein.

Das zweitemal trafen sie gelegentlich eines Waldkaufes zusammen. Lungnitzer bot mehr, als Frau Stadler an das Geschäft wagen wollte. Er zog einen ansehnlichen Gewinn aus dem gefällten Holz.

Auch später geschah es noch oft, daß er der Witwe irgend einen Vorteil abgewann. Er konnte ihr naturgemäß keinen direkten Schaden zufügen: aber er entriß ihr Gewinn und das war auch ein Schaden.

Nach Elsbeths Heirat rückte Lungnitzer aber wirklich bedrohlich in ihre Nähe; denn nun arbeitete auch sein Sohn bereits im Geschäft mit und entwickelte bedeutende Fähigkeiten.

Bis dahin hatte man den Jungen stets mit dem Vater umherfahren sehen, der ihn mit allen Bauern, Händlern, Grundbesitzern und Förstern der Gegend bekannt machte und ihn in alle Geheimnisse einweihte. Auf allen Viehmärkten erschienen sie zusammen.

Jetzt aber trennten sie sich und der junge Lungnitzer fuhr allein mit einem hübschen Kutschierwagen im Land umher, kaufte und vermittelte wie sein Vater. Und es war, als ob sie es auf Frau Stadler abgesehen hätten. In dem Jahr, das auf Elsbeths Hochzeit folgte, machte sie bedeutend schlechtere Geschäfte als im magersten aller früheren Jahre. Und überall war 75 der entschlüpfte Gewinn Herrn Lungnitzer und seinem Sohn anheimgefallen.

Wollte er sich für ihre damalige Weigerung an ihr rächen? Sie war nicht eitel genug, um den Reizen ihrer Person solche Macht zuzuschreiben. Oder hatte er es auf ihr Vermögen abgesehen, das er seinem Sohn zubringen wollte?

Frau Stadler hatte in diesem Jahr das erstemal im Leben wirkliche, ernste Sorgen.

 

22.

Elsbeth hatte wie gewöhnlich schlecht geschlafen und war, nachdem ihr Mann das Schlafzimmer verlassen, noch ein wenig eingenickt. Gleich fuhr sie aber wieder aus den Kissen und horchte erschreckt auf die Stimmen, die sich im Vorzimmer vernehmen ließen: sie erkannte das laute Organ der Frau Bachelmayer, und ehe sie noch aufstehen und den Schlafrock überwerfen konnte, kam die Dame schon zur Tür hereingestürzt und begrüßte sie mit einem Wortschwall, der Elsbeth alle Gegenreden einfach abschnitt.

»Du Langschläferin, jetzt noch in den Federn zu liegen! Weißt du denn, daß es bereits acht ist?! Ach, na ja – ach, werd' nur nicht gleich wieder rot, du süße junge Frau, ich weiß schon, na ja, bei jungen Eheleuten muß man Nachsicht haben! – Aber diesmal hilft dir nichts, du mußt unbedingt mit – Geflügel gibt es am Markt – Geflügel sag' ich dir! – Also gleich aufstehen, schnell, schnell, wir haben keine Minute zu verlieren! Du wirst nachkommen? Gibt es 76 nicht, kenne ich schon, ich gehe nicht ohne dich von hier weg!«

Und es half nichts. Sie war nicht aus dem Zimmer zu bringen, und Elsbeth mußte sich vor ihr ankleiden. Frau Bachelmayer bewunderte ihre Arme, ihren Busen, ihre Füße. Elsbeth, die so ungemein schamhaft und verschlossen war, errötete immer wieder bei den zudringlichen und geschmacklosen Reden dieser Frau und litt Qualen, die ihr Zornestränen in die Augen jagten. Aber die Freundin merkte nichts, sondern half bloß Elsbeth beim Ankleiden.

Sie gingen auf den Markt, und Elsbeth mußte Geflügel und Obst und Butter kaufen.

Als sie heimkam, ging sie ins Schlafzimmer, warf sich aufs Sofa und begann zu weinen. Aber es war ein Weinen, fast ohne Tränen, ein würgendes Schluchzen mehr.

Gleich nach Tisch, eben als Dr. Körner ins Kaffeehaus gegangen war und Elsbeth auf eine ruhige Stunde hoffte, klingelte es und Frau Professor Hofer eilte herein. Sie kam atemlos: »Wissen Sie schon, liebste Frau Doktor, daß mein Mann avanciert ist? Achte Rangsklasse, jawohl! Ach, ich bin so glücklich, ich mußte gleich zu Ihnen laufen, denn ich weiß ja, daß Sie den wärmsten Anteil an uns nehmen!«

Sie gab vor, gleich weitereilen zu müssen, zu ihrer Mutter. Aber sie blieb doch bis vier Uhr, rechnete Elsbeth vor, wie lange sie nun auf »die Siebente« zu warten hätten und wie lange sie in der »Neunten« gewesen und daß nun Hofers Stellung unter den Kollegen 77 gleich ganz anders sein werde, denn leider ist es einmal so, daß ein junger Mann, wie Hofer es ja gottlob noch sei, nie ganz voll genommen werde von den älteren Kollegen, die noch dazu um eine ganze Rangsklasse voraus seien! Trotz aller Tüchtigkeit! Ja, da habe sie es halt gut als Advokatensfrau, das sei ein freier Beruf, der keine Rangsklassen kenne – na, und besonders, wenn ein Mann so tüchtig sei wie der Dr. Körner, das sei doch eine Freude und ein Glück für die Frau . . .

Elsbeth ging gleich nach ihr aus. Es war Frühling geworden nach einem langen, regnerischen, trüben Nebelwinter, der sie zur Verzweiflung gebracht hatte. Nun mußte sie ins Freie, sonst wurde sie krank.

Sie eilte nach dem Volksgarten, der sich bergan, allmählich in den Wald verliert.

Wie gejagt lief sie über die ansteigenden Wege, nur um endlich wegzukommen aus der Stadt und von diesen furchtbaren Menschen, die nicht begreifen konnten, daß sie allein sein wollte und daß jedes Wort ihr weh tat.

Als sie um eine Wegwende bog, sah sie sich Fräulein Florian gegenüber, die lesend auf einer Bank saß. Schon war sie gesehen und das Mädchen stürzte freudig auf sie los und hing sich an den Arm der Freundin.

»Sie erlauben doch, daß ich Sie begleite, liebste Frau Doktor, nicht wahr? – Wissen Sie, was ich eben las?« – sie drückte sich mit Vorliebe sehr gewählt aus – »nein, Sie erraten es nicht!« Sie wies ihr errötend das Buch der Lieder . . .

Elsbeth wurde plötzlich müde und setzte sich auf eine Bank. Sie konnte nicht mehr weiter. 78

»Ach wie entzückend, nun sitzen wir hier in der herrlichen Natur und genießen den Frühling . . . Ach, würden Sie wohl erlauben, daß ich Ihnen ein wenig vorlese? Es gibt doch nichts Herrlicheres als die Poesie und die Natur!«

Und sie begann mit pathetischer Stimme, wie ein deklamierendes Schulkind: ein Jüngling liebt' ein Mädchen . . .

Elsbeth saß still und blickte hinaus zwischen den grünenden Büschen auf den Schloßberg und weiter in die Ferne, wo die tiefblauen Berge hinzogen.

Auf der Brust lag es ihr steinschwer. Die Augen starrten groß und leer und trocken. In der Kehle saß etwas wie eine Bleikugel. Sie war wie erstarrt und leblos.

Es wassen twe Künigeskinner
De hadden enanner so lef,
De konnen to nanner nich kummen,
Dat Water was vil to bred . . .

Weiß Gott, wie ihr gerade jetzt die Worte des uralten Liedes einfielen, das sie einmal in einem Buch gefunden und dessen ungeheure Tragik ihr ans Herz gegriffen hatte wie selten ein Lied.

Weiß Gott, wie es kam – sie hatte kein Liebchen überm Wasser, nach dem sie sehnend die Arme strecken konnte! Nicht einmal das Glück der Sehnsucht war ihr beschieden – ihr Sehnen mühte sich gestaltlos ohne Ziel ins Weite . . .

Und neben ihr zerleierte diese gräßliche Stimme die Lieder, die ihr so lieb waren, und machte ihr das ganze Buch verhaßt. 79

Sie erhob sich: »Ich muß nach Hause!«

»Ach, wie schade, ich begleite Sie natürlich, Sie haben doch nichts dagegen, nicht wahr?«

Zu Hause wusch sie sich die schmerzende Stirn mit Kölnischem Wasser und legte sich aufs Sofa.

Dr. Körner kam heim, bedauerte ihr Unwohlsein und teilte mit, daß er heute zum »Judennatzl« müsse. Professor Hofer sei avanciert und dies müsse am Stammtisch gefeiert werden – leider! Er bliebe ja auch viel lieber bei seinem kranken Weiberl, aber sie verstehe doch, er müsse Rücksichten nehmen, die Leute seien so empfindlich . . .

Sie lag eine Stunde lang mit geschlossenen Augen im dunkeln Zimmer. Allmählich wurde es still und ruhig in ihr. Da erhob sie sich und holte sich vom Büchergestell im Wartezimmer die »Iphigenie«.

Sie legte sich zu Bett und las stundenlang. Dann verbarg sie das Buch und löschte das Licht. Sie faltete die müden Hände und starrte ins Dunkel. »Wenn ich beten könnte, so möchte ich zu dir beten, du Heiliger, Großer, du Wissender . . .«

Als ihr Mann heimkam, erwachte sie aus dem ersten Schlummer, aber sie stellte sich schlafend. Er verbreitete einen durchdringenden Tabaks- und Biergeruch um sich, entkleidete sich geräuschvoll, rauchte noch eine Zigarette – er tat das oft auch des Nachts, wenn er einmal fünf Minuten lang nicht schlafen konnte – und legte sich zu Bett. Er lag links von ihr. Wenige Augenblicke später hörte sie ihn schnarchen.

Ihr linker Arm begann zu zittern. Die Nerven rissen 80 und zuckten. Ein Prickeln jagte über ihre linke Körperseite. Es drängte sie wie mit tausend Nadeln nach rechts.

Sie schob sich leise immer weiter von ihm weg bis an die Bettkante und kehrte ihm den Rücken.

Sie zog die Decke bis zu den Augen und drückte sich die Ohren zu.

Sie lag schlaflos bis in den dämmernden Tag.

 

23.

Jeden Tag nach Tisch ging Dr. Körner ins Kaffeehaus am Ratsplatz.

Die Tische waren schon mit grünem Tuch überdeckt, und die Herren ließen sich zum Tarock nieder.

Das Tagwerk war für die meisten in der Hauptsache getan – die restlichen freien Stunden mußte man mit Kartenspiel und Zeitung füllen.

All diese Männer: Gerichtsbeamte und Professoren, Advokaten und Kaufleute, Ärzte und Grundbesitzer und Händler gingen in ihrem Beruf auf, der ihre gesamten Geisteskräfte in Anspruch nahm. War der erledigt, so kam Kaffeehaus, Tarock und Zeitung. Was hätte man auch anderes tun sollen? Neues gab es nicht zum alten hinzuzulernen, man hatte es auch gar nicht nötig. Überdies war das Kaffeehaus eine Art von Börse; Herr Florian und manche andere Händler seiner Art schlossen hier zwischen zwei Spielen oder beim »Schwarzen« gerne ihre Geschäfte ab.

Es war still im Kaffeehaus. Leise klatschten die Karten aufs Tuch, auf dem Billard klingerten die 81 Kugeln sachte aneinander; ab und zu ein Ausruf der Spieler.

Dr. Körner blieb stets bis vier Uhr. Er tarockierte etwa eine Stunde, dann begannen politische Diskussionen oder man zog gegen den Bürgermeister zu Feld, der in den Kreisen der Intelligenz viele Feinde hatte. Dr. Körner galt stillschweigend als der Mittelpunkt der liberalen Partei, während Lechner das Haupt der Deutschnationalen und Konservativen war.

Er saß in seiner gewohnten Haltung auf einem Wanddiwan, fixierte seinen Partner durch die großen runden Augengläser und hörte mit tiefernster Miene und gespanntester Aufmerksamkeit den Ausführungen des andern zu. Dann warf er einen vorsichtigen Blick nach der Seite, ob kein Unberufener zuhöre, und gab mit geheimnisvoll gedämpfter Stimme seine Ansicht kund. Eine leichte Handbewegung vollendete seine Rede: ja – wir verstehen uns schon! Wenn wir laut reden dürften . . .

Er erteilte auch juristische Ratschläge an seine Freunde. Ganz privat natürlich, aus reiner Freundschaft! Er wird doch einen Florian oder Hofer nicht in sein Arbeitszimmer bemühen und ihm eine Expensnote senden! Nur nicht kleinlich sein! Bitte, nichts zu danken, nur ein Vergnügen gewesen!

Um vier Uhr verabschiedete er sich, ergriff die schwarze Aktentasche und eilte mit geschäftigen Schritten aus dem Kaffeehaus in seine Wohnung zur Sprechstunde. Die Zurückbleibenden schmunzelten geheimnisvoll, blickten ihm rasch nach und nickten sich dann zu: nun ja – kommt Zeit, kommt Rat – und Tat! 82

Dann erhob man sich, trat zu den Billards und begann ein Spielchen. So wurde es langsam sechs Uhr.

Um diese Zeit begaben sich die Professoren nach Haufe und verbesserten die Schulhefte, die Freien nahmen beim »Judennatzl« einen kleinen Dämmerschoppen und verfügten sich dann zum Abendessen im häuslichen Kreise, um zwei Stunden später an ihren Stammtischen noch ein wenig zu einem kleinen Meinungsaustausch zusammenzukommen.

 

24.

Der Sommer lag mit unerbittlichem Sonnenbrand über der kleinen Stadt. Die Mauern der Häuser, die runden Steine des Katzenkopfpflasters glühten und blendeten das Auge mit dem zurückgestrahlten Licht. Über der weiten Ebene wölbte sich weißdunstig und lichtblau der wolkenlose Himmel. Kein Windhauch regte sich.

Elsbeth litt schwer unter der Hitze. Früher, in den Mädchenjahren, hatte die Sommerglut sie nicht beschwert. In ihrer Mutter grauem Haus wurde es nie recht warm, es blieb immer schön kühl dort. Das war zuzeiten auch ganz angenehm. Und sie war nie müde, und die Glieder schmerzten nie. Jetzt war das alles anders geworden. Sie mußte krank sein.

In diesen Tagen befiel sie eine krankhafte Sehnsucht nach dem Wald. Er stand vor ihr in all seiner Herrlichkeit. Es war kühl und duftig unter dem grünen, sonndurchleuchteten Blätterdach, der Bach rauschte und plätscherte, und die Säge sang und keuchte. Und die Luft roch nach frischem Harz. 83

Aber dieser Sehnsucht gab es keine Erfüllung. Sie konnte allerdings mit der Mutter zur Säge hinausfahren; aber sie wußte gut, wie in Gegenwart Frau Stadlers sich der Wald in einen grauen, düstern Ort wandelte, der keine Freude und kein sommerliches Wohlgefühl aufkommen ließ. – Oder sollte sie ihren Mann bitten, mit ihr zu fahren? Oder sollte man mit Frau Bachelmayer und Fräulein Florian etwa einen gemeinsamen Ausflug unternehmen und draußen ein mitgebrachtes Mahl einnehmen? –

Dagegen gab es im Sommer andere Freuden für die Städter: wenn die Hitze ihren Höhepunkt erreicht hatte, konnte man das Strombad besuchen. Dann hatte sich das eisige Wasser des reißenden Bergflusses so weit erwärmt, daß man es ohne Zähneklappern darin aushalten konnte.

Das Bad ist an einer seichten Uferstelle neben der Lederfabrik angelegt. Wenn Ostwind herrscht, weht er von dort einen grauenhaften, erstickenden Fäulnis- und Ammoniakgeruch herüber.

Vom Ufer führen zahlreiche langgedehnte Steinstufen ins Wasser hinab. Dort lagerten in den verschiedensten, absonderlichsten Posen die Badenden, ließen sich von der Sonne braun rösten oder trieben Bewegungsspiele. Aber man mußte auch hierfür abgehärtet sein, sonst verbrannte man sich die Haut ganz empfindlich auf den glühenden Steinfließen.

Elsbeth mußte unbedingt ins Bad kommen. Sie weigerte sich zwar, erklärte, nur sehr schlecht schwimmen zu können, das grelle Sonnenlicht nicht zu 84 vertragen und vom kalten Wasser Gliederschmerzen zu bekommen – aber das half nichts. Dr. Körner fand es für äußerst angezeigt, und dankte Frau Bachelmayer lebhaft für ihre rührende Sorge um Elsbeth.

Die junge Frau mußte sich unter ihrem Beistand ein rotweißes Badekleid anschaffen, und an einem unmenschlich heißen Julitag wanderten sie zum Fluß.

Fast alle Bekannten Elsbeths lagen auf den Steintreppen oder trieben sich kreischend und plätschernd im Wasser herum. Magere halbwüchsige Mädchen jagten einander auf den Stufen und suchten sich gegenseitig ins Wasser zu stoßen. Es herrschte unbändige Fröhlichkeit. Niemand schien die tropische Sonnenglut zu empfinden, welche die meisten schon braun gebrannt hatte, niemand schien unter dem unerträglich grellen Sonnenlicht zu leiden außer der einzigen Elsbeth, die scheu und unsicher die Stufen hinabschritt zum Wasser.

Ihre weiße zarte Haut erregte allenthalben Aufsehen. Plötzlich kam eine grellrote, unförmige Kugel auf Elsbeth zugestürzt und Fräulein Florian hing sich schon entzückt an den Arm der Freundin und zog sie ins Wasser. Elsbeths Zähne schlugen klappernd aufeinander, die Glieder erstarrten schmerzend im eisigen Strom. Und das nannte man: angenehm warmes Wasser!

Sie versuchte zu schwimmen. Aber mit ihren kraftlosen, halbgelähmten Gliedern vermochte sie nichts gegen die reißende Strömung auszurichten, die sie wie ein Zündholz hinabwirbelte, und sie hätte sich unfehlbar am Grenzbalken des Bades den Kopf 85 angeschlagen, wenn sie nicht Fräulein Florian, die wie ein Fetttropfen auf dem Wasser schwamm, im letzten Augenblick zurückgerissen und ihr auf die Stufen geholfen hätte.

Da saß sie nun durchfroren am Ufer. Das Herz arbeitete krampfhaft, um den erstarrten Gliedern neues Blut zuzuführen, die Atemmuskeln schienen wie gelähmt von der Kälte, so daß Elsbeth zu ersticken fürchtete.

Und Fräulein Florian saß bewundernd neben ihr. Das nasse Badekleid ließ Elsbeths schöne, mädchenhaft zarte und schlanke Körperformen deutlich hervortreten, und die Freundin konnte sich nicht sattsehen und pries ihre entzückenden Arme und Beine und – sie barg errötend das Gesicht an Elsbeths Busen. Als sie wieder auftauchte und schalkhaft lächelnd zur Freundin emporblickte, flüsterte sie ihr zu, daß sie tausendmal schöner sei als die »melonische Venus«.

Frau Bachelmayer entstieg den Fluten und kam auf die erschrockene Elsbeth zu. Sie steckte in einem grellroten Badekleid, das Haar hatte sie mit einem blauen, weißgetupften Tuch umwunden.

Sie schien völlig aus den Fugen gegangen. Ihr Umfang beängstigte Elsbeth. Ihre Arme und der Hals waren kupferrot gebrannt. So kam sie mit schwabbelnden Brüsten auf Elsbeth und die kleine Florian zugelaufen und ließ sich bei ihnen nieder. Elsbeth hatte die Vorstellung: stich irgendwo ein kleines Loch ins Badekleid, so fließt sofort der ganze Inhalt heraus: klares Schweinefett.

Nun begannen sie beide an Elsbeth herumzunesteln und zu tätscheln und fanden sie abwechselnd entzückend 86 und süß. Sie nahmen sie nochmals mit ins Wasser und zeigten ihr, wie man sich gegen die Strömung halten könne.

Einer neuerlichen Bewunderung ihrer melonischen Schönheit entging Elsbeth, indem sie kurz erklärte, daß sie das grelle Sonnenlicht nicht mehr ertrage.

Den Rest des Nachmittags und den ganzen Abend lag sie mit quälenden Kopfschmerzen und Übelkeiten auf dem Sofa.

Es blieb ihr erstes und letztes Strombad.

Dr. Körner war ärgerlich. Nichts vertrug diese Frau. Ewig empfindlich und matt und müde. Man mußte sich wirklich schon genieren vor den Bekannten.

 

25.

Dann ermattete der Sommer.

Es kam eine stille, satte, gelassene Ruhe über die Stadt, eine andere, als die Erschöpfung der glühenden Sonnentage.

Sachte tönten sich die Auwälder ins Gelbe und auf den Wegen im Volksgarten lagen bisweilen braune Blätter.

Die Mauern der Schloßbastionen überrieselte rotbrennend das wilde Weinlaub.

Im Weingarten Dr. Körners feierte man die Lese. Zugleich beging man festlich den zweiten Jahrestag der Hochzeit des jungen Paares. Man half Trauben pflücken und betätigte sich bei der Presse. Man verzehrte kalten Gansbraten und trank den trüben, in Gärung übergehenden Most. 87

Schließlich war die ganze Gesellschaft ziemlich stark angeheitert. Nur Elsbeth nicht; sie ekelte der schmutzigtrübe, unklare Most, der so widerlich schmeckte. Sie nippte kaum am Glase.

Ein paar rote Lampions hingen am Gebälk der kleinen Laube. Der Vollmond kroch langsam und riesig, gelbrot über die Hügel empor.

Es wurde feucht und kühl.

Ein Jahr war vorbei.

 

26.

Am Allerseelentage besuchte sie mit der Mutter das Grab des Vaters und hing einen Kranz violenfarbner kleiner Feldastern an das Kreuz.

Sie kam beinahe jede Woche an das Grab und schmückte es. Nur der Besuch am Allerseelentag war ihr unlieb. Zugleich mit soviel hundert anderen Menschen die Liebespflicht gegen den Toten zu erfüllen wie eine einmal im Jahre geleistete Abschlagszahlung und dabei seinen Schmerz fremden Augen zur Schau stellen, das widerstrebte ihr. Aber es war eben so üblich und man mußte es tun. –

Der November brachte noch warme Tage. Dann kamen neblige Abende und es wurde kalt. Aber der Schnee zögerte noch. Das Leben floß eintönig hin wie nur je. –

Elsbeth kam langsam die Herrengasse herunter gegen das Theater zu gegangen. Es war spät am Nachmittag, die Stadt lag finster, kaum daß ein paar Laternen kümmerlich flackerten. Der Nebel hatte sich zu 88 einem feinen, leisen, kalten Regen verdichtet. Die Gasse war menschenleer.

Elsbeth hatte merkwürdige Gedanken. Plötzlich stand ganz klar die Vorstellung vor ihr, daß es herrlich und unendlich wonnevoll sein müßte, wenn sie nun hier ginge, eingehüllt in einen langen, leichten und doch warmen Regenmantel und die Hand unter den Arm eines geliebten Mannes schieben könnte, dessen Hand die ihre mit zärtlichem Druck umfaßte. Eng aneinandergeschmiegt würden sie langsam dahinschreiten, unbekümmert um den kalten Regen, der ihnen nichts anhaben konnte und ihnen bloß die Gesichter erfrischte, und die Augen nur desto froher blitzen ließ. Und immer, wenn seine Hand die ihre leise und kurz drückte, würde sie lächelnd zu ihm aufsehen und die Blicke begegneten sich und er preßte ihren Arm dann fest an sich und flüsterte ihr etwas zu . . . Und beide fühlten sich unendlich wohl und sicher und geborgen in der nachtfinsteren, nassen, windigen Straße, denn sie wußten, daß ihrer ein warmes, helles Zimmer harrte, in das sie nun bald treten würden, in dem sie allein sein würden miteinander und ihrem Glück . . .

Welch ein Narr sie doch war: da hob sie eben leicht den Kopf und lächelte glückselig – als ginge wirklich dieser geliebte Mann ihr zur Seite.

Die Tränen schossen ihr heiß in die Augen.

Beim Theater ging sie nicht rechts hinunter zum Rathausplatz, sondern gegen die Kirche zu; es war ein winziger Umweg, der ihr höchstens zwei Minuten längeren Alleinseins einbringen konnte – aber schon das war etwas. 89

Sie ging langsam die Kirche entlang und blickte zu den alten Grabsteinen auf, die dort in die Mauer eingefügt waren. Da war das Wappen des Herrn von Hasenauer, der vor ein paar hundert Jahren gestorben: zwei drollige Hasen hielten es mit den Pfoten empor. Das gefiel ihr jedesmal.

In diesem Augenblick vernahm sie aus der dunklen Kirche Orgelspiel. Es setzte mächtig ein und brauste hin wie ein Orkan, alles überflutend und überstürzend wie ein Strom, der seine Dämme zerbrochen hat.

Sie stand ganz still. Das Herz pochte ihr in langen, zögernden, fast schmerzhaften Schlägen. Der Atem setzte aus. Alles an ihr horchte.

Sie wußte: dort drinnen in der grabdunklen, versperrten Kirche spielte jetzt Pater Friedrich die Orgel. Man hatte ihr erzählt, daß er immer, wenn er übe, die Kirche schließen lasse, weil er keine Zuhörer wollte.

Sie aber mußte ihn heute hören! Ob sie wohl der Meßner gegen ein Trinkgeld durch die Sakristei einließ?

Die Sakristei war leer. Der Meßner saß beim Judennatzl.

Sie betrat leise und ängstlich das Presbyterium. Vor dem Altar flimmerte blutrot das ewige Licht und ließ die goldstrotzenden Ornamente und die schweren Silberleuchter matt aufglänzen. Sie drückte sich scheu vorüber und huschte ins dunkle Kirchenschiff. Das Orgelspiel hörte auf. »Ist jemand hier?« brüllte eine heisere Stimme vom Chor herunter. Sie drückte sich erschrocken in eine finstere Nische. Die Orgel setzte 90 wieder ein. Im dunkelsten Winkel ließ sich Elsbeth auf eine Bank nieder und horchte dem Spiel dieses gottbegnadeten Künstlers.

Es war eine ungeheure Leidenschaft, die sich hier Bahn brach zur Gestaltung, die in einer Flut von Tönen hinbrauste, aufwühlte und erregte und das Herz wild pochen machte und wieder sänftigte und befriedete. Dort oben rang einer mit seinem Gott in wilder Verzweiflung – mit Gott oder mit der eigenen Seele.

Und immer ungeheuerlicher und kühner wurden die Harmonien, ein Riesenorchester schien dort in vollem Zug – aber es war nur einer, der die Tasten griff. Immer wilder wurde das Spiel, rasende Verzweiflung und verbitterter Haß schrieen aus wild zerrissenen, gellenden Dissonanzen, die wie Peitschenhiebe die Luft durchschnitten und schmerzend in den Ohren schrillten, kein Ausweg mehr schien aus dem Chaos. Aber da endlich dämmerte, wie ein tröstendes, verheißendes Licht aus der Ferne her ein Thema, das mählich an Kraft gewann und über dem gigantischen Trümmerfeld baute sich in mächtig auftürmenden, grandiosen Steilen ein Riesenbau empor – das Finale der fünften Brucknersymphonie brauste wie ein stürmendes Heer dahin und endigte Pater Friedrichs Seelennot in strahlendem Sieg. – – –

Elsbeth war längst von der Bank geglitten und in die Knie gesunken. Ihr Kopf lag auf den verschränkten Armen, sie wußte nicht, daß ihr die erlösenden Tränen aus den Augen strömten – sie wußte überhaupt nichts mehr, sie dachte ohne Gedanken, sie war nicht 91 mehr an die leidvolle Erde gebunden, sie lebte ein anderes, freies, allem Bewußtsein entrücktes Leben. Sie war nicht mehr ein leidendes, unglückliches, müdes Weib, das nach unbekannten Fernen sich in unklaren Sehnsüchten mühte und verzehrte, sie war nicht mehr Mensch, sie war Musik geworden und erlebte die Welt . . .

Pater Friedrich saß noch eine Weile vor der schweigenden Orgel, dann erhob er sich, wischte den Schweiß von der Stirn, schloß die Orgel und schaltete den Strom aus.

Als er zur Sakristei vorschritt, sah er in einer Bank ein Weib knien, den Kopf in den Armen verborgen und aufs Betpult gelegt. Also hatte er sich doch nicht getäuscht! Und seine ganze Not hatte er da vor einer fremden Seele ausgebreitet. Die Zornadern schwollen ihm auf der Stirn. Er tupfte der scheinbar Schlafenden auf die Achsel: »Sie Frau, wie kommen's denn da herein? He?!«

Elsbeth fuhr auf und starrte dem alten Priester ins Gesicht wie einer Erscheinung.

Er wurde leicht verlegen. »Oh, entschuldigen Sie, gnädige Frau, ich habe Sie nicht erkannt! Aber wissen Sie, ich habe streng verboten, jemand in die Kirche zu lassen, wenn ich – – übe . . .«

Sie starrte ihn noch immer wortlos an. Die Augen brannten groß in dem bleichen Gesicht. Er sah hinein in diese Augen und ihre tiefste Seele und erkannte und wußte alles und wußte, daß er vor keiner fremden Seele sich geoffenbart hatte. Er stand erschüttert vor dieser blassen Frau. 92

»Ich mußte Sie hören, Hochwürden, ich mußte . . . verzeihen Sie mir . . . ich danke Ihnen . . .«

Und ehe er es hindern konnte, hatte sie seine derbe Hand ergriffen und inbrünstig geküßt.

Er entzog sie ihr rasch. »Was treiben's denn?! Also, wenn Sie gern zuhören, so kommen's halt manchmal . . .« Und damit machte er eine ungeschickte Verbeugung und rannte davon. Vor dem Hochaltar vergaß er, das Knie zu beugen.

Elsbeth verließ gleich nach ihm die Kirche.

Sie kam knapp vor ihrem Mann heim.

Sie lag zitternd in tausend Wonnen und Qualen und dennoch tiefbeglückt im Herzen schlaflos die ganze Nacht.

 


 << zurück weiter >>