Wladimir Korolenko
Die Geschichte meines Zeitgenossen – Erster Band
Wladimir Korolenko

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Noch eine Kehrseite.

Die Sommerferien gingen allmählich ihrem Ende entgegen. Mir stand nunmehr ein bedeutsamer Moment: die Wiederholungsprüfung vor dem Eintritt in das Realgymnasium von Rowno bevor.

Dies letztere war eine Schulanstalt von eigenartigem Übergangstypus, der bald darauf verschwinden sollte. Die neue Schulreform des Unterrichtsministers D. A. Tolstoj, auf Grund deren die staatlichen Mittelschulen in ganz Rußland in humanistische und in Realgymnasien eingeteilt worden waren, war um jene Zeit noch nicht völlig durchgeführt. In Schitomir hatte ich erst in der dritten Klasse angefangen, Latein zu lernen, mir auf dem Fuß folgte aber der lateinische Unterricht schon von der jüngsten Klasse an. Umgekehrt wurde das Gymnasium von Rowno, das mich nunmehr aufnehmen sollte, in ein Realgymnasium umgewandelt. Hier verschwand das Latein Schritt um Schritt und der Lehrplan der dritten Klasse, in die ich gerade eintreten sollte, war schon ganz nach dem neuen »realistischen« Programm, d. h. ohne Latein, dafür aber mit entschiedenem Übergewicht der mathematischen Fächer eingerichtet.

Erst in Rowno, aus beiläufigen Unterhaltungen der Erwachsenen, ward mir die Erkenntnis, daß mir dank der neuen Schulreform und unserer Übersiedelung nach Rowno der Zutritt zur Universität verschlossen war, und daß nunmehr ausgerechnet die verhaßte Mathematik mein Hauptfach werden sollte.

Die Wiederholungsprüfung hatte ich in allen Fächern glänzend bestanden und nur in Algebra den Lehrer durch meine frappante Unwissenheit in Erstaunen gesetzt. Der Inspektor, der vor Verwunderung darob den Kopf schüttelte, sagte zu meinem Vater, der im Wartezimmer der Entscheidung entgegenharrte:

»Wir wollen den Jungen schließlich aufnehmen. Sie täten jedoch entschieden besser, ihn aufs Humanistische zu lenken.«

Der Rat war natürlich vollkommen richtig, hatte jedoch leider gar keinen praktischen Wert für mich. Mein Vater mußte wie alle Beamten seine Kinder in dem Ort in die Schule schicken, an den er dienstlich gebunden war. Es zeigte sich auf diese Weise, daß die Wahl der weiteren Bildungsmöglichkeiten für uns nicht nach der geistigen Befähigung der Kinder, sondern nach den Wechselfällen der dienstlichen Laufbahn unserer Väter schon im voraus bestimmt und getroffen war.

Diese in die Augen springende Ungereimtheit allein genügte vollauf, um die Schulreform des Ministers Tolstoj in den Kreisen des damaligen Mittelstandes äußerst unpopulär zu machen, und dieser Umstand hatte ganz zweifellos zu der allgemeinen oppositionellen Stimmung der von ihr betroffenen jungen Generation in erheblichem Maße beigetragen.

Eines Abends – bald nach meiner glücklich bestandenen Prüfung – hatten sich beim Vater etliche Dienstkollegen und Bekannte zum Kartenspiel eingefunden. Es war dieses so ziemlich die einzige Zerstreuung, die sich mein Vater gönnte, und sehr bald hatte er sich auch in Rowno eine kleine Tafelrunde für sein Spielchen gebildet. Da war der Gerichtsbeisitzer Kroll, ein Deutscher mit rötlichem Backenbart und ernsthafter Haltung, der durch einen seltsamen Zufall mit einer russischen Popentochter verheiratet war; dann der dicke »Polizeimeister« Dembski, wohl der letzte Vertreter dieses Amtes, das bald darauf abgeschafft werden sollte; ferner der Arzt Pogonowski, ein gutmütiger Mensch mit glattrasiertem Kinn und langem Backenbart, dieser um jene Zeit unter Aeskulaps Jüngern sehr beliebten Gesichtsverzierung; dann Pan Bogazki, der »Sekretär der Mündelfonds«, der ganze 18 Rubel monatliches Gehalt bezog, dabei aber ein Haus auf großem Fuße führte . . . Da waren noch einige bescheidene Spießergestalten, die mit dem größten Ernst dem »Préférence«-Spiel oblagen und nicht im geringsten zur Politik oder gar zur Opposition hinneigten. Die Gattinnen dieser Herren saßen an den Kartenabenden gewöhnlich mit meiner Mutter im Wohnzimmer und pflegten eifrig ihre eigenen Damenunterhaltungen. Im Kartenzimmer war die Luft stets von Zigarettenrauch dick, und es herrschte dann für gewöhnlich eine beträchtliche Langeweile. Von den grünen Spieltischchen her waren immer wieder nur die üblichen lakonischen Zwischenrufe zu hören:

»Ich passe« . . .

»Ich kaufe« . . .

»Sieben Treff« . . .

»Sie hätten mit dem König herausrücken sollen« . . .

Während der Pause, als sich alle ins Wohnzimmer zum Teetisch begaben, auf dem Schnaps und kalter Imbiß standen, entspann sich an jenem Herbstabend, der mir unvergeßlich bleibt, eine allgemeine Unterhaltung, die unter anderem auch die neue Schulreform streifte. Alle Anwesenden verurteilten sie einmütig vom rein praktischen Standpunkt: was könnten – fragte man – die Kinder dafür, daß ihre Väter durch den Willen der Obrigkeit ausgerechnet in Rowno den Staatsdienst tun mußten? Der Weg zur Universität bleibe ihnen dabei verschlossen, zu der Universität, die damals als die einzige wirkliche höhere Lehranstalt galt.

Irgend jemand warf die Frage auf, wie denn die »Obrigkeit« eine so augenfällige Ungereimtheit hatte passieren lassen können. Mein Vater, der den »Sohn des Vaterlandes« hielt, war jetzt in der Lage, seinen Gästen über die Schicksale der Reform kurz zu berichten: im Staatsrat war das Reformprojekt Tolstojs mit Stimmenmehrheit durchgefallen, allein »der Zar stimmte der Minderheit zu« und damit war die Sache entschieden.

Ein kurzes Schweigen folgte auf diese Mitteilung. Die Unterhaltung war gleichsam gegen eine hohe Mauer geprallt.

»Und hinter alledem steckt Katkow,« ließ jemand mit leisem Seufzer fallen.

»Freilich er,« bestätigte ein anderer.

»Ach, wieviel Übel hat doch dieser Mensch Rußland schon zugefügt!« seufzte ein Dritter.

Mein Vater schwieg. Er stimmte weder denjenigen zu, die die Reform verurteilten, noch rief er sein gewohntes: »Der Kranke will den Medikus belehren«. Er hielt sich sichtlich zurück.

Nach einiger Zeit war das Teetrinken beendet und die Partner ins Kartenzimmer zurückgekehrt, aus dem bald wieder nur zu hören war:

»Ich passe!« . . .

»Ich kaufe« . . .

»Sieben Treff« . . .

»Sie waren ja Renonce« . . .

Ich trat aus den vollgerauchten Zimmern auf den Balkon. Die Nacht war hell und heiter. Ich blickte auf den vom Mondschein übergossenen Teich und auf das alte Schloß auf der Insel. Dann ging ich hinunter, stieg ins Boot und ruderte leise bis zur Mitte des Teiches hin. Von dort konnte ich deutlich unser Haus sehen, den Balkon, die beleuchteten Fenster, hinter denen die Kartenspieler saßen. Bestimmter Gedanken, die mich etwa beherrscht hätten, kann ich mich aus jener Stunde nicht entsinnen, wahrscheinlich hatte ich auch keine solchen im Kopf, ich merkte keine schroffe Grenzlinie, die in meinem Bewußtsein etwas Neues von etwas plötzlich Überwundenem geschieden hätte. Die Theorie gewaltsamer Kataklysmen, die in der Geologie aufgegeben ist, spielt bekanntlich noch bei den Romanschriftstellern in der Schilderung seelischer Umbildungsprozesse eine viel zu große Rolle. Freilich gibt es auch schroffe Umwälzungen in der Menschenseele, wie es Vulkanausbrüche gibt, die die Erdoberfläche ins Wanken bringen. Doch das sind Ausnahmefälle; in der Regel hingegen werden die tiefgreifendsten seelischen Veränderungen durch langsame, fast unmerkliche Ablagerungen neuer Vorstellungen und durch Verwitterung alter vollzogen.

Der Umstand, daß ich gerade diesen »Kartenabend« aus der Reihe vieler anderer so gut im Gedächtnis bewahrt habe, läßt mich vermuten, daß ich in jener Stunde die raucherfüllten Zimmer meines Elternhauses mit irgendeinem neuen, noch unklaren, aber entwicklungsfähigen Gedankenkeim im Hirn verlassen hatte . . . Auf die einst mir vom Vater gestellte »philosophische« Frage: ob man ohne Worte denken könne, würde ich heute ganz entschieden geantwortet haben: gewiß, man kann ohne Worte denken. Der Gedanke, der in einen festumrissenen Begriff gegossen und in Worte gekleidet ist, bildet nur den oberirdischen Teil der Pflanze, ihren Stengel mit Blättern und Blüten. Die Wurzel der Pflanze aber liegt unter der Erde: in dem unsichtbaren Samen schlummern schon im Keim Stengel, Blatt und Blüte. Sie sind noch nicht da, über ihnen wuchern noch andere Stengel und Blätter und doch ist da drunten schon alles für die neue Pflanze bereit.

Solche Gedankenkeime muß ich wohl damals aus der sorglosen, unbeabsichtigten und durchaus »wohlgesinnten« Unterhaltung der Erwachsenen über die unpopuläre Schulreform davongetragen haben. Vor meinen Augen lagen ein Mondscheinabend, ein schläfriger Teich, ein altes Schloß mit hohen Pappeln. In meinem Kopfe wimmelten vielleicht irgendwelche Fetzen eitler Gedanken über den nächsten Tag, die Unterrichtsstunden, sie haben jedoch keine Spur in meiner Erinnerung zurückgelassen. Unter ihnen hingegen brachen sich in meinem Hirn, mir selbst unbewußt, neue Vorstellungen vom Zaren und der höchsten Staatsgewalt Bahn.

Es gibt in der Welt Sonne, Mond, Sterne, Gewitterwolken, einen Zaren, Gesetze . . . All das besteht und wirkt so oder anders nicht aus irgendeinem Grunde, sondern einfach weil es eben besteht und wirkt. Gegen den Blitzschlag murren ist sinnlos und müßig. Ebenso sinnlos ist es gegen den Zaren zu murren. Da gibt's keine Fragen: weshalb ist dies und das? Der armselige Käfer und der Wasserstrom, der ihn dahinträgt, die »alte Figur« am Kolanowskischen Hause und der Blitz, der sie zerschmettert hat, der unvernünftige »Kranke« und der allwissende mächtige »Medikus«, – alle diese Beziehungen bestehen nicht aus irgendwelchem Grunde, sondern sie waren, sind und werden sein von Ewigkeit zu Ewigkeit. Dies war die feste, geschlossene und einfache Weltanschauung meines Vaters, die unmerklich auch in meine Seele Eingang gefunden hatte. Nach meiner Überzeugung ist nur eine solche Weltanschauung das echte Fundament des Absolutismus »von Gottes Gnaden«, und solange diese Weltanschauung noch unerschüttert besteht, ist die Macht des Absolutismus groß. Bis zu jenem Abend befand auch ich mich unter dem Einfluß einer solchen geschlossenen Weltanschauung. Der Bereich des Elementaren, Unerschütterlichen, über jede Kritik Erhabenen erstreckte sich in meiner Vorstellung von der obersten Spitze, vom Zaren herunter in immer breiterem Bett bis zum Generalgouverneur, ja sogar bis zum Gouverneur.

All das erstrahlte in Glorie, wie die Figur des Generals Tschertkow, als er auf der Schwelle des zitternden Kreisgerichts erschien, all das donnerte, beglückte oder vernichtete nicht aus irgendeinem Grunde, sondern einfach so – ohne jeden Grund, Kraft eines höheren unverantwortlichen Willens, mit dem zu hadern unmöglich ist, über den selbst das Räsonnieren nicht verstattet ist.

Jetzt hatte die arglose Unterhaltung der Erwachsenen in dieser Geschlossenheit meines Gesichtskreises etwas verschoben: mein persönliches Schicksal war also im voraus entschieden, – die Universität war mir und Tausenden von Jünglingen meiner Generation verschlossen. Ich empfand dies als ein Unrecht und alle in meiner Umgebung erkannten es als solches. Und doch – dieses Unrecht brauchte nicht zu sein. Irgendeine Mehrheit in irgendeinem Staatsrat hatte es verurteilt. Der Zar konnte der Mehrheit zustimmen, dann wäre alles gut geworden. Er aber stimmte, man weiß nicht weshalb, der Minderheit zu. Daraus war nach allgemeinem Urteil eine Ungereimtheit erfolgt, die nicht hätte erfolgen brauchen. Und dies geschah nicht einfach deshalb, weil der Blitz eben Blitz und der Zar – Zar ist. Nein, all dies hat unter anderen Übeln irgendein Katkow »eingebrockt«. Vor mir enthüllte sich die Kehrseite einer bedeutsamen Lebenserscheinung. Das Elternhaus schien mir einst aus einem Stück und von ewiger Dauer zu sein. Es kamen fremde Männer, brachen die Treppe nieder, setzten eine neue an und legten dabei alte verschimmelte und verfaulte Balken bloß. Da zeigte es sich, daß das Haus nicht von Uranfang und für die Ewigkeit, sondern von Menschenhänden gemacht war, wie so manches andere Ding; und so schaute jetzt hinter meiner geschlossenen Vorstellung von der Macht des »irdischen Gottes« der einfache Katkow hervor, über den man schon urteilen und den man auch verurteilen durfte.

Es war wohl diese unklare Empfindung, eine neue »Kehrseite« der Dinge erfaßt zu haben, was mir jenes Gespräch und jenen Herbstabend mit dem klaren Mond über dem glatten Spiegel des Teiches so denkwürdig und bedeutend gemacht hat, obwohl ich mich an »Gedanken in Worten« dabei nicht im mindesten erinnern kann.

Ja noch mehr: die Idee selbst der elementaren, über jede Kritik erhabenen obersten Gewalt blieb in meinem Hirn noch eine geraume Zeit weiter bestehen, kaum unter der Schwelle des Bewußtseins erschüttert, so wie die Larve eines Käfers unter der Erde die Wurzel einer noch lebenden Pflanze benagt. Aber seit jenem Abend hatte ich bereits meine ersten politischen Antipathien. Das waren der Minster Tolstoj und vor allem jener Katkow, dem ich zu verdanken hatte, daß mir der Weg zur Universität verschlossen und das Studium der verhaßten Mathematik beschieden war.


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