Wladimir Korolenko
Die Geschichte meines Zeitgenossen – Erster Band
Wladimir Korolenko

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Während des polnischen Aufstands.

Der Aufstand brach bekanntlich zu Beginn des Jahres 1863 aus. Eine dumpfe Gärung, die sich in Demonstrationen Luft machte, hatte indes schon bedeutend früher um sich gegriffen.

Ungefähr im Jahre 1860 kehrte der Vater einmal in ernster und sorgenvoller Stimmung vom Dienste heim. Nach einer Unterredung mit der Mutter ließ er uns alle in sein Zimmer kommen und sagte:

»Hört, Kinder, ihr seid Russen, und von heute ab habt ihr Russisch zu sprechen.«

So geschah es, daß in unserer »polnischen« Familie nunmehr das Russische als Umgangssprache eingeführt wurde. Wir Kinder nahmen diese Reform ziemlich sorglos, beinahe vergnügt hin, brachte sie doch jedenfalls etwas Neues in unser Leben; die Ursachen jedoch, die zu dieser Neuerung geführt hatten, blieben uns einstweilen verborgen. Freilich drangen auch zu uns schon allmählich Gerüchte über mancherlei aufregende Ereignisse, die in Warschau, dann in Wilna – wo es schon 1861 zu ziemlich ernsten Demonstrationen gekommen war – stattgefunden haben sollten. All dies ging jedoch irgendwo in weiter Ferne, in der unbekannten abstrakten Welt vor sich, die uns Kinder nicht weiter interessierte. Unsere kleine Welt atmete noch ungetrübten Frieden.

Im Rychlinskischen Pensionat herrschte zwar die polnische Sprache, von nationalen Gegensätzen jedoch gab es unter den Zöglingen nicht eine Spur. Herr Rychlinski hatte es lange fertig gebracht, den Geist gegenseitiger Toleranz unter uns aufrecht zu erhalten. In unserer Mitte gab es auch einige echte Russen, darunter zwei Brüder Suchanow, von denen der ältere stets der erste in der Klasse war. Einmal passierte mit diesem oder einem anderen Russen folgender Zwischenfall: einer der polnischen Zöglinge, der erfahren hatte, daß sein russischer Mitschüler am Vorabend das heilige Abendmahl empfangen hatte, begann den orthodoxen Ritus zu verhöhnen. Er knitterte eine Art Kelch aus Papier zurecht, schnitt über demselben Grimassen und spuckte zum Schluß hinein. Der Russe hielt eine Weile an sich, dann holte er aus und gab dem Jungen eine so schallende Ohrfeige, daß sie im ganzen Klassensaal zu hören war und auch von Rychlinski gehört wurde.

Nachdem er erfahren hatte, um was es sich handelte, rief er die beiden vor und richtete an den Polen vor der ganzen Klasse die Frage:

»Was hättest du getan, wenn er ebenso die Hostie (das katholische Abendmahl) verhöhnt hätte?«

Der Pole wurde verlegen, sagte aber dann mit gesenktem Blick: »Ich hätte ihn geohrfeigt.«

»Nun, so ist dir recht geschehen. Geh', und überdies sollst du noch niederknieen!«

Der Junge wurde feuerrot, kniete im Winkel nieder und blieb sehr lange knien. Wir errieten endlich, worauf der alte Rychlinski wartete. Wir hielten unter uns Rat, wählten eine Deputation, an deren Spitze Suchanow stand, und entsandten sie an Rychlinski, um für den Bestraften Pardon zu erbitten. Rychlinski empfing die Deputation mit ernstem Gesicht und begab sich auf seinen Krücken in den Klassensaal. Nachdem er seinen üblichen Platz eingenommen hatte, befahl er dem Bestraften aufzustehen und ließ die beiden Gegner einander die Hand reichen.

»Nun, jetzt ist die Sache abgemacht und vergessen,« sagte er. »Wenn aber,« fügte er hinzu, indem er plötzlich mit wütendem Augenrollen seine sehnigen Arme mit den kurzen gespreizten Fingern vorstreckte, »wenn ich noch einmal höre, daß sich einer erlaubt, einen Andersgläubigen zu verhöhnen . . . Die Knochen schlage ich euch entzwei . . . alle Knochen . . .«

Und wir lebten wieder friedlich miteinander, ohne die Nationalitätenunterschiede im geringsten zu beachten.

Indessen loderten die fernen Flammen immer höher empor, und ihr heißer Odem fing an, wie von Windstößen dahergetragen, auch unsere stille Provinz zu versengen. Immer häufiger bekamen wir von Vorgängen in Warschau und Wilna, von »Opfern« zu hören, doch nahmen sich die Erwachsenen noch in acht, »im Beisein der Kinder« darüber zu sprechen.

Einmal waren die Eltern bis spät in der Nacht bei Rychlinskis zu Besuch geblieben. Endlich vernahm ich noch im Schlaf das Rollen unseres Wagens im Hof, und kurz darauf machte mich ein ungewöhnlicher Vorgang vollends wach: Vater und Mutter standen, beide noch in Überkleidern, wie sie gekommen waren, im Schlafzimmer und stritten über irgend etwas hitzig in voller Vergessenheit sowohl der späten Stunde wie der schlafenden Kinder. Ich hörte ungefähr Folgendes:

»Und dennoch,« sagte die Mutter, »du mußt zugeben: es war doch früher anders, noch unter Nikolaus . . . noch leben ja Leute, die sich erinnern . . .«

»Na, und was folgt denn daraus,« erwiderte der Vater, »es war anders, ist es aber jetzt nicht mehr. Unter Alexander habt ihr's gehabt, Nikolaus hat es weggenommen . . . Geschah euch recht, weshalb habt ihr gemeutert? . . .«

»Aber du mußt doch zugeben . . . ist denn das gerecht?«

»Belehre Kranker den Medikus! Was gerecht, was ungerecht, dich hat man nicht befragt. Ihr habt den Treueid geschworen und damit basta!« . . .

»Nein, warte mal« . . .

»Nein, warte du mal« . . .

»So laß mich doch ausreden . . .«

Ich hatte bis dahin noch nie, zumal um diese Stunde, meine Eltern so hitzig streiten gehört und setzte mich verwundert im Bett auf. Als sie den unerwarteten Zuhörer gewahr wurden, wandten sich beide an mich:

»Nun gut, der Junge soll entscheiden,« sagte die Mutter.

»Schön, er soll entscheiden. Also höre, Kleiner: du hast, sagen wir, der Mama versprochen immer brav zu sein. Mußt du dein Versprechen halten?«

»Jawohl,« antwortete ich ziemlich fest.

»Nein, warte mal,« unterbrach die Mutter, »höre jetzt auf mich. Da liegt dein neuer Anzug (neben meinem Bett lag tatsächlich mein neuer Anzug, den ich am Abend sorgfältig auf dem Stuhl ausgebreitet hatte). Wenn jemand Fremder von draußen kommt und ihn dir raubt, wirst du ihn nicht wieder wegnehmen wollen?«

»Ich nehme ihn wieder weg,« antwortete ich noch fester.

»Belehre Kranker den Medikus,« sagte der Vater gereizt, da er sah, daß der Schiedsrichter der Gegenpartei zuneigte. »Und sicherlich wird ihn dir jener auch wieder zurückgeben! Wenn er der Stärkere ist . . .«

»Da haben wir's!« griff die Mutter hitzig auf, »weil er der Stärkere ist, darf er ihn wegnehmen. Hörst du das? Hörst du's?«

»Ach Unsinn,« rief der Vater ärgerlich, nun sich seine Chancen noch mehr verschlechterten. »Wie aber, wenn du selbst etwas hingegeben und versprochen hast, es nie wieder zurückzufordern? Und nun schreist du: gib's zurück?« . . .

»Hingegeben, hingegeben!« unterbrach ihn die Mutter bitter. »Nun sag mal, wirst du's von selbst hingeben? Aber sicherlich, wenn man dir die Pistole auf die Brust setzt . . .«

In diesem Augenblick erwachte das Schwesterlein weinend aus dem Schlaf. Die Eltern kamen zu sich und gaben, unzufrieden miteinander, den Streit auf. Der Vater ging, rot und aufgeregt, auf seinen Stock gestützt, in sein Zimmer, die Mutter aber nahm das Schwesterlein auf den Schoß und fing an, es zu beruhigen. Aus ihren Augen rollten Tränen . . .

Lange konnte ich nicht wieder einschlafen, verwundert über die ungewöhnliche Szene. Ich fühlte, daß es kein persönlicher Streit war. Nicht um persönlichen Kummer erhitzten sich die Eltern und weinte die Mutter, sondern darum, was einst war und nicht mehr ist, – um ihr Vaterland, wo es einst Könige mit der Krone auf dem Haupte gab, Hetmans, schöne Trachten, eine unbekannte, aber bezaubernde »Freiheit«, von der die Sborowskis sprachen, wo es Schulen gab, in denen der kleine Thomas aus Sandomir studierte . . . Jetzt ist es mit all dem vorbei, Vaters Verwandte haben es weggenommen . . . Sie sind die Stärkeren . . . Die Mutter weint, weil das ungerecht ist . . . Den ihrigen ist Unrecht geschehen . . .

Am nächsten Morgen war mein erster Gedanke, daß ich an etwas Wichtiges zu denken hatte. Etwa an den neuen Anzug? Dieser lag wie am Vorabend auf seinem Platz. Manches andere aber stand nicht mehr an Ort und Stelle. In meinem Herzen bohrten wie ein Stachel die Keime neuer Probleme und neuer Stimmungen. Das Phantom: »Es kommt was« nahm neue Formen an . . . Die Atmosphäre erhitzte sich immer mehr. Damen und Mädchen aus unseren Bekanntenkreisen zeigten sich nur noch in Schwarz gekleidet. Die Polizei verfolgte diese Trauertoiletten: die Demonstrantinnen, besonders diejenigen, die Abzeichen (Herz, Anker, Kreuz) trugen, wurden auf die Wache geführt und aufnotiert. Auf der anderen Seite wurden helle Toiletten in den Straßen von unbekannter Hand mit Säure begossen, in den Kirchen mit Messerchen zerschnitten. Katholische Geistliche hielten leidenschaftliche Predigten . . .

Im September 1861 wurde die Stadt durch ein unerwartetes Ereignis in Aufregung versetzt. Eines Morgens gewahrte das zum Markt zusammenströmende Publikum mit Erstaunen auf dem städtischen Hauptplatz am Bernhardinerkloster in einer kleinen Umfriedung ein riesiges schwarzes Kreuz mit weißem Trauerrand, mit einer Girlande frischer Blumen und der Aufschrift: »Den in Warschau zu Tode gemarterten Polen zum Gedächtnis.« Das Kreuz war etwa fünf Ellen hoch und stand dicht am Schilderhäuschen.

Die Neuigkeit verbreitete sich in der Stadt mit Blitzesschnelle, und vor dem Kreuze entstand bald ein Auflauf. Die Behörden wußten nichts Besseres zu tun, als das Kreuz schleunigst zu entfernen und auf die Polizeiwache einliefern zu lassen.

Die Kunde, daß das Kreuz »auf die Polizei gekommen« sei, schlug in der Stadt wie eine Bombe ein. Den ganzen Tag über sammelten sich vor der Polizeiwache Menschenhaufen an. Frauen in großer Menge hielten in der Kirche Rat, wobei sie dem herbeigeeilten Polizeipräsidenten den Einlaß verwehrten, und am Nachmittag zog die ganze Frauenschar in tiefer Trauer zum Gouverneur hin. Das kleine einstöckige Haus des Gouverneurs war bald von der weiblichen Belagerung umzingelt. Mein Vater hatte im Vorbeifahren die Menge und den ergrauten Chef des Gouvernements gesehen, wie er auf der Freitreppe seines Hauses stand und die Damen vergeblich zu überreden suchte, auseinanderzugehen. Schließlich wurde Militär aufgeboten. Allein die Menge verharrte bis zum Abend auf der Straße, und erst in der Dunkelheit gelang es, sie auseinanderzutreiben. In der Stadt rief dies alles die größte Erregung hervor. Es wurde erzählt, wie die roh mißhandelten Frauen in die Höfe und Haustore flüchteten, sich in die Läden retteten. Über das »polizeilich beschlagnahmte Kreuz« aber war selbst die orthodoxe Bevölkerung nicht wenig bestürzt, war sie doch gewohnt, das gemeinsame Heiligtum zusammen mit den Katholiken zu verehren.

Seitdem schäumte die patriotische Erregung in hohen Wellen auf, und die Demonstrationen häuften sich. In unserer Stadt wurde der Belagerungszustand unter Trommelwirbel verkündet. Einmal wurde auch unser Gäßchen von Militär besetzt. In allen Häusern wurde nach Waffen gesucht, und fand man solche, dann wurden sie beschlagnahmt. Auch unsere Wohnung kam an die Reihe. Über dem Bette meines Vaters hing seit jeher auf einem Teppich eine alte türkische Pistole und ein krummer Säbel. Beide mußten jetzt dran glauben. Dies war übrigens die erste Haussuchung, der ich beiwohnte, und die Prozedur wirkte auf mich äußerst niederdrückend und beklemmend.

Alle diese Vorgänge steigerten die allgemeine Erregung und spiegelten sich natürlich auch in unseren Kindergemütern wieder. Da ich aber für meinen Teil zu jener Zeit weder Russe noch Pole oder richtiger zugleich Russe und Pole war, so jagten die Schatten jener Erregungen über meine Seele wie vom Sturmwind gepeitschte Wolken dahin . . .

Einmal hatte mich meine Mutter in die katholische Kirche mitgenommen. Wir pflegten nämlich bald mit dem Vater den orthodoxen, bald mit der Mutter den katholischen Gottesdienst zu besuchen. Diesmal stand ich mit der Mutter im Seitengang, neben der Sakristei. In der Kirche war es sehr still. Alles schien von einer unbestimmten Erwartung und Spannung erfüllt. Der Geistliche, ein jugendlicher blasser Mann mit glühenden Augen, trug mit lauter erregter Stimme lateinische Sätze vor. Dann erfüllte ein tiefes banges Schweigen die gothischen Gewölbe des Bernhardinerklosters, und inmitten des Schweigens ertönte die Nationalhymne: »Herr, der du Polen durch so lange Zeiten . . .«

Erst waren es vereinzelte Stimmen, die sich hier und dort schüchtern erhoben, nach und nach flossen sie wie Ströme zusammen, das Lied erklang näher und fester, lauter und geschlossener, und schließlich brauste an das Gewölbe wie ein Orkan ein tausendstimmiger Chor, dem irgendwo in der Höhe das gewaltige Gebrüll der Orgel antwortete . . . Meine Mutter lag auf den Knieen und weinte still, das Gesicht ins Taschentuch gedrückt.

Auf mich machte dieser Klageschrei, von dem die ganze Menge, wie von einer Meeresbrandung mitgerissen wurde, einen geradezu erschütternden Eindruck. Mir war, als hätte mich etwas erfaßt und emporgetragen, als schwebte ich, von seltsamen Phantomen umgaukelt, in die Höhe . . .

»Kosaken . . .« ließ plötzlich jemand in der Nähe fallen. Das Wort rollte im Flüsterton weiter, prallte irgendwo ab und tauchte im Stimmenmeer unter. Den wirren Träumen meiner erhitzten Einbildung gab jedoch dieses Wort sogleich einen bestimmten Inhalt . . .

»Kosaken! . . .« Sie stürmten in die Kirche. Oben vor dem Altar steht der Geistliche, zu seinen Füßen drängen sich Frauen und unter ihnen meine Mutter. Die Kosaken stellen sich in Reihen auf und zielen. In diesem Augenblick springt ein kleiner Junge die Altarstufen hinauf, öffnet sein Jäckchen auf der Brust und ruft mit lauter Stimme:

»Schießt auf mich . . . Ich bin ein Orthodoxer, aber ich will nicht, daß man den Glauben meiner Mutter schmäht! . . .«

Die Kosaken feuern . . . Rauch, Flamme, Geknatter . . . Ich falle hin, ich bin erschossen – doch . . . so merkwürdig glücklich, daß mir nachher alle die Hände drücken, polnische Damen und Herren flüstern: »Das ist des Richters Sohn, seine Mutter ist Polin. Ein edler Jüngling . . .«

»Dieser Junge hat recht,« rufen auch die russischen Herren, »es geht nicht an, in den Kirchen zu schießen und fremden Glauben zu schmähen . . .«

Offenbar hatte mich das verfrühte Bücherlesen, die polnische Theatervorstellung, die Zeitereignisse, die einander in der erhitzten Atmosphäre der patriotischen Begeisterung jagten, zu einem kleinen Romantiker gemacht. Und es ist sehr wohl möglich, daß, wenn alles sich so abgespielt hätte wie im Theater, d. h. wenn die Kosaken sich erst gegenüber der majestätischen Figur des Priesters mit dem geweihten Pokal in der Hand und der Frauengruppe zu seinen Füßen hübsch in Reih und Glied aufgestellt, und dann abgewartet hätten, was ich unternehmen würde, ich mein Programm wohl ausgeführt hätte. Allein das wirkliche Leben ist roh und unharmonisch, und es ist viel wahrscheinlicher, daß ich mich in einem prosaischen wüsten Handgemenge so feige benommen hätte wie nur der Feigste unter der lieben Stadtjugend . . .

Als mein Vater von der »Demonstration« erfuhr, war er sehr ungehalten. Nach einigen Tagen sagte er zur Mutter:

»Der Polizeipräsident hat mir gesagt, daß auch du schon aufnotiert seist.«

»Was kann ich dafür,« erwiederte die Mutter, »ich habe nicht gesungen und hatte auch nicht gewußt, daß es zum Singen kommen würde.«

»Und wenn du gewußt hättest?« frug der Vater.

»Dann . . . hätte ich den Jungen nicht mitgenommen,« gab sie zur Antwort. »Ich kann doch nicht aufhören, zur Kirche zu gehen!« . . .

Dabei blieb sie auch in der Folgezeit: sie beteiligte sich nicht an dem Getue der überspannten Patriotinnen und »Betschwestern«, fuhr jedoch wie früher fort, zur Kirche zu gehen, ohne darauf zu achten, ob sie aufnotiert würde oder nicht. Der Vater war nervös und unruhig, sowohl ihretwegen wie seiner Stellung halber, erkannte jedoch als innig frommer Mensch das Recht des fremden Glaubens an.

Mehrmals passierten um jene Zeit Truppen unsere Stadt. Einmal verbreitete sich das Gerücht, daß Baschkiren zu uns kämen. Es hieß, dies seien Wilde, die kein Wort polnisch oder russisch verständen, sondern bloß in ihrer eigenen wilden Sprache radebrechten und mit der Nagajka nur so zuschlugen, wo es auch hintreffe. Diese Kunde verbreitete einen fast abergläubischen Schrecken. Einige Tage darauf passierte in der Tat die Straßen ein Trupp schrecklicher Reiter auf ganz kleinen Pferdchen: kegelförmige schafpelzverbrämte zottige Mützen, Gesichter mit vorstehenden Backenknochen, kleine Schlitzäuglein, eine seltsame wilde Haltung im Sattel . . . Als sie eine Gruppe Neugieriger, darunter einige Frauen, an einer Straßenecke bemerkten, riß einer der Reiter plötzlich sein Pferd in die Höhe und schwang die Nagajka. Hysterisches Gekreisch ertönte, der Baschkire aber ritt weiter, nur sein blendend weißes Gebiß blitzte im dunklen Gesicht auf, und daneben galoppierten im Staube, den ihre Pferde aufwirbelten, die anderen und lachten gleichfalls.

Mir kam es befremdend vor, daß sie wie andere Menschen lachen konnten, und ich stellte mir mit Entsetzen eine Attacke dieser dunkelfarbigen Wilden vor.

Indes zogen sie weiter und verschwanden bald hinter dem westlichen Schlagbaum, in der Richtung nach Polen zu, wo, wie es hieß, »bereits Blut geflossen sei«. In unsere Stadt aber zogen wieder andere Truppen ein.

In unserem Stall fanden bald auch drei oder vier Kosakenpferde ihren Stand. Die Kosaken selbst hatten sich gleichfalls im Stall, neben ihren Pferden, einquartiert, während in der Küche und im Schuppen Infanteristen untergebracht waren. Diesen Logierbesuchen begegnete man in der Stadt nicht allzu freundlich. Hausbesitzer und Mieter stritten gewöhnlich lange mit dem Quartiermeister, wollten keinen Platz einräumen und wandten sich irgendwohin mit Beschwerden. Wir Kinder gewöhnten uns jedoch rasch an die ungebetenen Gäste. Die Kosaken setzten uns manchmal auf ihre Pferde und nahmen uns mit, wenn sie an das Flüßchen zur Tränke gingen. Die Soldaten erlaubten uns herablassend, die Knöpfe ihrer Uniformen mit Kreide und Tuchlappen blankzuputzen, und die dünne Kohlsuppe, die sie in Kesseln jeden Tag aus der Kompagnieküche brachten, kam uns über alle Maßen schmackhaft vor.

Eine Soldatengestalt ist mir besonders deutlich in der Erinnerung geblieben. Das war ein schon ältlicher Mann mit runzligem Gesicht, borstigem grauen Schnurrbart und einem Ohrring im linken Ohrläppchen. Seine Miene war unfreundlich und finster. Nachdem er sich im Schuppen installiert, seine »Munition« an den Nägeln aufgehängt und das Gewehr sorgfältig im Winkel untergebracht hatte, lehnte er sich mit der Schulter an den Türpfosten und schaute mit ernster Aufmerksamkeit zu, wie wir mit anderen Jungen aus der Nachbarschaft mit hölzernen Gewehren »exerzierten«. Nach einer Weile hielt er die Rolle des unbeteiligten Zuschauers nicht aus, trat an unsere Front heran und fing an, uns die Hauptgriffe zu zeigen, wobei uns die Exaktheit und Elastizität seiner Bewegungen verblüffte. Es war, als ob in seinem Innern Metallfedern sich spannten und klapperten.

»Jetzt bringe ich's euch, Polenbrut, bei, ihr aber geht dann meutern und knallt mich selbst am Ende nieder,« sagte er zum Schluß halb scherzhaft und halb ärgerlich.

Nach einiger Zeit hatte sich zwischen uns Kindern und dem alten Soldaten die beste Freundschaft angeknüpft. Viele Stunden verbrachten wir zusammen in sommerlicher Abenddämmerung, auf Afanassijs Schlafbank, die nach Schweiß, nach Lederzeug der »Munition« und saurer soldatischer Kohlsuppe roch, bis seine Kompagnie irgendwohin aufs Land weiter zog, um polnische Freischärler zu verfolgen. Für uns war die Trennung von ihm sehr schmerzlich. Aber auch der alte Soldat war sichtlich ergriffen. Der lange »nikolajewsche« Militärdienst hatte bereits sein ganzes Leben verschlungen, alle seine Familienbande zerrissen, und das alte Soldatenherz zehrte nur noch von beiläufigen Anhänglichkeiten der Standquartiere . . .

Von den Kosaken haftet in meiner Erinnerung besonders ein junger schwarzlockiger Unteroffizier. Er war pockennarbig, was jedoch seinem Ruf als schöner Mann durchaus keinen Abbruch zu tun schien. Für uns Kinder war es immer der größte Genuß zu beobachten, wie er ohne jeden Anlauf, fast wie durch Zauberei, aufs Pferd flog. Von Zeit zu Zeit pflegte sich der Tollkopf sinnlos zu betrinken und schrie dann über den ganzen Hof mit blitzenden Augen:

»Ach, ihr Polaken! Wo denkt ihr hin mit euren Meutereien! Merkt euch wohl: einst erhebt sich der Don und wird das Mütterchen Moskau an der Kehle packen . . . Dermaßen wird er es packen . . . Da kommt ihr gar nicht mit!« . . .

Und er fuchtelte mit der geballten Faust, als hielte er darin schon das Mütterchen Moskau fest.

Unser Freund, der alte Afanassij, schüttelte in solchen Fällen mißbilligend den Kopf und pflegte zu sagen:

»Ist das aber ein Volk, diese Kosaken! Ein Diebsvolk sind sie: wo nur irgendwas locker hängt, gleich haben sie's geklaut. Auch ihr Dienst ist ein anderer: wofür unser einer Spießruten laufen mußte, das geht jenen alles glatt hin. Der Unteroffizier peitscht so einen bloß mit der Nagajka ein wenig durch und damit gut. Und auch das nicht wegen des Diebstahls selbst, sondern weil es heißt: laß dich eben nicht erwischen!« . . .

Die Kosaken pflegten bei diesen ernsten Vorträgen Afanassijs nur zu lachen.

Einst hatte der schwarzlockige Teufelskerl wieder einmal etwas Tolles ausgefressen und sollte in Arrest gehen. Total betrunken wie er war, riß er sich aus den Händen seiner Kameraden los, schwang sich auf sein nicht entsatteltes Pferd und sprengte zum Tore hinaus. Es schleuderte ihn dermaßen im Sattel hin und her, daß es schien, als müßte er jeden Augenblick aufs Pflaster fliegen und mit zerschmetterten Gliedern liegen bleiben. Als wir aber zum Hof hinausliefen, erblickten wir ihn schon weit in der Fernsicht der Straße. Er schoß wie der Blitz dem Kijewer Schlagbaum zu, hinter ihm in immer größerem Abstand die Verfolger.

Am andern Morgen striegelte er, wie wenn nichts passiert wäre, sorgfältig seinen Rappen und machte sich über die Kameraden lustig, die ihn nicht hatten einholen können.

Die Freischärler waren inzwischen auch in unserer Gegend aufgetaucht. Über der Stadt erhob sich ein unheilverkündender Schatten. Alle Augenblicke hörte man, daß bald dieser, bald jener von den uns bekannten jungen Leuten verschwand. Sie zogen »in den Wald,« wie man zu sagen pflegte. Die Zurückgebliebenen wurden von den Fräulein mit der spitzen Frage: »ob sie wirklich noch hier wären,« begrüßt. Auch mehrere Jünglinge vom Pensionat Rychlinski waren »in den Wald gegangen« . . .

Einmal beim Mittagessen sagte die Mutter zum Vater:

»Stassiek ist gekommen. Sie laden uns zu heute abend ein.«

Der Vater blickte sie verwundert an.

»Wie,« frug er, »alle drei?«

»Ja, alle drei,« gab die Mutter mit stiller Trauer zur Antwort.

»Ihr seid alle verrückt!« rief der Vater ärgerlich und legte den Löffel weg. »Rein verrückt sind alle geworden, und die Alten mit dazu!« . . .

Es stellte sich heraus, daß es sich um die drei Söhne des Herrn Rychlinski handelte, die an der Kijewer Universität studierten und jetzt gekommen waren, um Abschied zu nehmen und den elterlichen Segen zu erbitten, bevor sie zu den Freischaren zogen. Der eine war im letzten Kursus der Medizin, der andere, glaube ich, im dritten Kursus. Der Jüngste, eben der Stassiek, der im achtzehnten Jahr stand, hatte erst im Vorjahre das Gymnasium absolviert. Er war ein rotwangiger lustiger Junge mit glänzenden schwarzen Augen und der ausgesprochene Liebling seiner ganzen Umgebung.

Nachdem sie den Abend in der Mitte der Familie und der nächsten Freunde verbracht hatten, fielen alle drei auf die Knie, die Alten gaben ihnen den Segen, und in der Nacht reisten sie ab.

»Ich hätte diesem Stassiek die Rute gegeben und ihn hinter Schloß und Riegel gesetzt,« sagte mein Vater ärgerlich am anderen Tage.

»Selbst Kinder ziehen aus, um für das Vaterland zu kämpfen,« sagte die Mutter sinnend, und ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Was wird das bloß werden?«

»Was werden wird? Einfangen wird man sie, wie junge Hühnchen,« erwiderte der Vater bitter. »Ihr seid alle miteinander rein verrückt geworden!«

In der ersten Zeit war die Stimmung in der polnischen Gesellschaft eine gehobene und zuversichtliche. Man sprach von Siegen, von einem gewissen Roschitzki, der sich an die Spitze der Wolhynischen Freischaren gestellt hätte, von der Hilfe, die Napoleon senden wolle. Im Pensionat teilten die Schüler einander diese Neuigkeiten mit, die Marynia, Rychlinskis einzige Tochter, mit leuchtenden Augen überbrachte. Diese großen Mädchenaugen, die denen Stassieks ähnlich waren, strahlten vor freudiger Begeisterung. Ich glaubte gleichfalls an alle Erfolge der Polen, die Empfindungen aber, die sie bei mir weckten, waren ziemlich verworrene.

Eines Nachts hatte ich einen aufregenden Traum. Zuerst war es wohl ein Spiel: »Polen und Russen«, das um jene Zeit bei uns Buben alle anderen Spiele verdrängt hatte. Dabei pflegten wir die Rollen nicht etwa nach unserer Nationalität, sondern nach dem Los zu verteilen, so daß bald russische Knaben an die Polenfront, bald polnische Knaben an die Russenfront kamen. Ich weiß nicht, zu welcher Front ich diesmal, im Traum, gehörte; ich weiß nur, daß das Spiel bald zum wirklichen Krieg wurde. Da war ein großes Feld, in dem ein schilfbewachsenes Flüßchen sich dahinschlängelte. Irgendwo brannte es, irgendwo sprengten in Staub und Rauchwolken gehüllt Reiter mit kegelförmigen Mützen, irgendwo knatterten Gewehrschüsse, und der Wind trug weiße Rauchwölkchen fort, wie ich sie auf dem Schießplatz gesehen hatte. Ich floh vor irgend jemandem und verbarg mich unter dem Abhang des Flußufers . . . Auf einmal zeigte es sich, daß eigentlich nicht ich mich dort verbarg, sondern eine Korporalschaft russischer Soldaten. Mitleiderregend in ihrer Angst, kauerten sie sich unter dem Abhang im Schilf, knietief im Wasser, nieder. An ihrer Spitze, mir zunächst, stand der Afanassij in seiner runden schirmlosen Mütze und mit dem Ohrring im linken Ohrläppchen. Er betrachtete mich mit einem ernsten, fast finsteren und vorwurfsvollen Blick, und mein Herz schnürte sich vor Pein und Angst zusammen. Drüben im offenen Feld sprengten im Rauch die siegreichen Polen dahin . . . Plötzlich taucht über dem Abhang hoch zu Roß Stassiek Rychlinski auf. Seine lustigen schwarzen Augen blitzen, und er lächelt sein kindlich übermütiges Lächeln. Mir blieb das Herz stehen vor Angst, und es war mir, als gäbe es in der ganzen Welt niemand Schrecklicheren als diesen Jüngling, der im nächsten Augenblick den im Schilf versteckten Afanassij und die Soldaten entdecken mußte. Mir aber waren diese Menschen jetzt lieb und teuer, und ich litt um sie, als wären sie meine Brüder . . .

»Das kommt daher,« dachte ich, als ich in Schweiß gebadet mit heftigem Herzklopfen erwachte, »weil sie Russen und ich ein Russe bin!« Aber ich irrte mich. Das kam nur daher, weil sie Menschen waren . . . Und bald wandte sich auch mein Mitleid der anderen Seite zu.

Zwei oder drei Wochen später kamen zu uns Gerüchte über Scharmützel, die bei Kijew stattgefunden hatten. Das waren nur noch klägliche Anläufe, die gar bald von Kosaken und Bauern niedergeschlagen wurden. Im Rychlinskischen Hause zog qualvolle Unruhe ein. Wir saßen einmal mit unseren Schularbeiten in Marynias Zimmer, die der jüngsten Klasse französischen Unterricht erteilte, als sie zu ihrem Vater gerufen wurde. Sie kam zurück, hochrot im Gesicht mit verweinten Augen, und versuchte den Unterricht fortzusetzen. Plötzlich sprang sie jedoch auf, warf sich aufs Bett und brach in lautes Schluchzen aus. Ich stürzte nach einem Glas Wasser, sie schob es jedoch mit der Hand von sich und sagte unter Schluchzen:

»Geht . . . geht alle . . . Ich brauche nichts.«

Bald wurde im Pensionat bekannt, daß alle drei Brüder Rychlinski an dem Scharmützel beteiligt und gefangen genommen waren. Der Älteste war obendrein von einer Kosakenlanze am Halse verwundet . . .

Der alte Rychlinski erschien nach wie vor zum Frühstücks- und Mittagstisch, frug nach wie vor: »qui a la règle,« saß zu Gericht über uns und sprach Recht. Seine Frau leitete den großen Haushalt mit derselben Festigkeit weiter. Marynia setzte ihren Unterricht mit uns fort, ohne sich mehr von ihren Gefühlen überwältigen zu lassen. Die ganze Familie trug stolz ihr Leid und war bereit, neuen Schicksalsschlägen die Stirn zu bieten.

Der Aufstand hatte unterdessen nirgends Erfolg. Napoleon kam nicht, die Bauern stießen selbst im eigentlichen Polen nur widerstrebend zum »Putsch«, in anderen Gegenden aber spielten sie dem aufständigen Adel gar übel mit.

Einmal bekam ich einen Gefangenentransport zu sehen. Auf langen Leiterwagen, wie sie zum Ernteeinfahren gebraucht werden, saß ein Trupp Aufständiger, einige mit verbundenen Köpfen oder einem Arm in der Binde. Die Verwundeten sahen blaß aus. Bei einem war auf der Binde Blut zu sehen. Vorne im Wagen saßen Bauern, die ihre Pferde antrieben, während rechts und links zur Seite gleichfalls Bauern als Konvoi ritten . . .

Die Sympathien der städtischen Bevölkerung waren zumeist auf Seiten der Gefangenen. Junge Dienstmädchen spieen die sich auf ihren Mähren herumtummelnden Bauernlümmel an, diese warfen ihrerseits höhnisch den Schopf in die Höhe und schoben die Schafpelzmütze keck aufs Ohr.

Das Gefängnis in dem engen Tschudnowskaja-Gäßchen war bald mit Eingelieferten überfüllt, und die bloß »Verdächtigen« sowie die »Übelgesinnten« mußten in privaten, zu diesem Behufe gemieteten Räumen untergebracht werden.

Dann begann der »Triumph der Sieger« und die Vergeltung . . .

Einmal fuhr vor unserem Hause eine zweispännige Mietskutsche vor, aus der ein junger Offizier stieg und nach meinem Vater frug. Er hatte eine nagelneue blaue Uniform an, von der die weißen Achselschnüre effektvoll abstachen. Seine Sporen klirrten bei jedem Schritt leise und angenehm.

»Wie hübsch ist der Herr,« sagte mein kleines Schwesterlein. Uns anderen gefiel er auch sehr gut. Die Mutter jedoch erschrak, ich weiß nicht warum, bei seinem Erscheinen und ging eilig zum Vater hinein.

Als Vater ins Wohnzimmer trat, stand der schöne Offizier vor einem Bilde, auf dem die Gestalt eines bärtigen Polen im roten »Kontusch«, mit einem Säbel an der Seite und dem Hetmansstab in der Hand ziemlich roh in Ölfarbe gemalt war.

Der Offizier verneigte sich, klirrte mit den Sporen und frug, auf das Bild weisend:

»Masepa?«

»Nein, das ist Scholkiewski,« antwortete der Vater.

»Ach so,« sagte der Offizier gedehnt, als ob er gleichermaßen den Masepa wie den Scholkiewski mißbilligte, worauf er sich mit dem Vater in dessen Zimmer begab. Eine Viertelstunde später stiegen beide in die Kutsche. Die Mutter und die Tanten blickten ihnen vorsichtig und ängstlich durch das Fenster nach. Ich glaube, sie befürchteten, daß der Vater verhaftet sei . . . Uns Kindern kam es hingegen seltsam vor, daß eine so hübsche, tadellose und einnehmende Erscheinung Angst einflößen konnte.

Am Abend erzählte der Vater: als die Kutsche vor dem Gefängnis vorbeifuhr, meinten die Aufständigen, die aus den Fenstern hinausschauten, gleichfalls, »der Richter sei verhaftet worden« und fingen an, den Gendarmen laut zu beschimpfen.

Der Vater mußte von Amtswegen an Kommissionen teilnehmen, in denen der hübsche Offizier mit dem lieblichen Sporenklirren eines der grimmigsten Mitglieder war. Die übrigen Beamten, die zu der örtlichen Bevölkerung Beziehungen hatten waren milder.

Einmal erzählte der Vater, als er von der Sitzung heimkam, der Mutter: einer von den »Verdächtigen« wäre noch vor Beginn der Sitzung in den Saal getreten, hätte einen eben erhaltenen Brief auf den Tisch geworfen und in seiner Verzweiflung ausgerufen:

»Ich verteidige mich nicht mehr . . . Machen sie, was Sie wollen . . . Mein Sohn ist zu den Freischärlern gegangen und – ist gefallen.«

Der Gendarm und der Staatsanwalt waren in diesem Moment noch nicht zugegen. Mein Vater blickte die übrigen Mitglieder der Kommission an, händigte dem Greis seinen Brief wieder ein und sagte in offiziellem Tone:

»Die Sitzung ist noch nicht eröffnet und private Unterhaltungen sind hier nicht statthaft.«

Einige Minuten später trat der Gendarm ein, der alte Herr hatte aber inzwischen die Selbstbeherrschung wiedergewonnen und verbarg den Brief. Seine persönliche Angelegenheit verlief günstig, und die Familie blieb vor Vermögenskonfiskation und Ruin bewahrt.

Hinrichtungen hat es in unserer Stadt, wenn ich nicht irre, drei gegeben. Sie betrafen sogenannte »Henker-Gendarmen« sowie russische aktive Offiziere, die sich dem Aufstand angeschlossen hatten.

Ich erinnere mich nur eines dieser Fälle. Es sollte ein ehemaliger Offizier, ich glaube Stroynowski mit Namen, hingerichtet werden. Er war jung, schön, vor kurzem verheiratet, eine glänzende Laufbahn stand ihm offen. Er wurde auf dem Schlachtfeld festgenommen und »das Gesetz war klar«. Ich weiß nicht, ob die Unterschrift meines Vaters mit den anderen unter dem Todesurteil stand oder nicht: jedenfalls grollte ihm durchaus niemand aus diesem Grunde. Im Gegenteil bat der schon verurteilte Stroynowski, mein Vater möge ihn vor der Hinrichtung besuchen. Bei diesem Besuch gab er dem Vater verschiedene Aufträge und den letzten Gruß an seine junge Frau mit. Dabei äußerte er sich mit großer Bitterkeit über sein Freischärlerkorps: als er zurückweichen wollte, drängten sie lärmend darauf, in die Schlacht geführt zu werden; kaum aber hatten sich vor der Sperre auf dem Waldwege Bauern mit Sensen und Kosaken gezeigt, als das Korps Fersengeld gab, er aber, Stroynowski, wurde gefangen genommen . . .

In den Tod ging er mit Bitterkeit und Bedauern, aber männlich und in stolzer Haltung.

Die Romantik, von der der junge aufständige Adel hingerissen war, ist eine schlechte Kriegsschule. Die Begeisterung dieser Jugend zehrte von einer abgelebten Vergangenheit, vom Schatten des Lebens, nicht vom Leben selbst. Die rohe prosaische Attacke eines Haufens Bauern und Kosaken erinnerte herzlich wenig an die schönen Schlachtenbilder. Und der arme Stroynowski mußte seinen Glauben an die geschichtliche Romantik mit dem Leben büßen . . .

Es war ein heller Tag im Juni oder Juli, vom frühen Morgen an war es in der Stadt bekannt, daß auf dem wüsten Feld hinter dem Kijewer Schlagbaum, in der Nähe des Schlachthofes, bereits ein schwarzes Kreuz aufgestellt und eine Grube gegraben war. Deshalb schien alles an jenem Tage etwas Besonderes, Düster-Feierliches, Qualvoll-Spannendes an sich zu haben. Um Mittag erscholl in der hellen Luft ein kurzer dumpfer Knall. Es war, als hätte man einen stumpfen Schlag an die Schläfe erhalten. Der Knall zerriß gleichsam inmitten des helllichten Tages einen Vorhang, wie die Wolke vom Blitz zerrissen wird. Keine Wolke war zwar zu sehen und kein Blitz: die helle Mittagssonne stand am Himmel. Und doch wurde ein Vorhang zerrissen, und für einen Augenblick trat aus dem leuchtenden Tage etwas Unheimliches, Geheimnisvolles heraus, das der Alltag unsichtbar verborgen hält . . .

Das war der Augenblick, in dem, wie wir alle wußten, ein Menschenleben wie ein Faden glatt durchschnitten worden war.

Man erzählte nachher, daß Stroynowski gebeten hatte, ihm die Augen nicht zu verbinden und die Hände nicht zu fesseln; diese Bitte war ihm gewährt worden, und er gab den Soldaten selbst das Kommando zum Schießen.

Am anderen Ende der Stadt saß um dieselbe Stunde Stroynowskis Mutter bei Bekannten. Und als der kurze dumpfe Knall bis zu ihr heranrollte, fiel sie, wie vom Blitz getroffen, zu Boden.

Noch einmal: ich weiß auch jetzt nicht, ob die Unterschrift meines Vaters unter dem Urteil der kriegsgerichtlichen Kommission stand, oder ob dies ein Feldkriegsgericht aus lauter Militärs war. Niemand sprach davon oder interessierte sich dafür. »Das Gesetz war klar.«


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