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Vor wenigen Jahren war ich Zeuge dieser Gerichtsszene:

Ein junger Mann war des Diebstahls angeklagt, und eine Zeugin, ein junges Mädchen, sollte über gewisse, mit dieser Affäre zusammenhängende Tatsachen aussagen. Sie betrat den Saal, pflanzte sich vor dem Richter auf und erklärte: »Herr Vorsitzender, Sie müssen ihn verurteilen! Er ist ein Schuft!«

Die Antwort, die sie bekam, konnte ihr Temperament nicht hemmen.

»Er ist ein gemeiner Hund! Er hat bestimmt das Zeug gestohlen! Er ist zu allem fähig! Wenn Sie wüßten, wozu er fähig ist, der Lügner!«

Der Richter erriet, wie alles stand: daß sie einmal seine Geliebte gewesen sein müsse; und schließlich, als es immer weiter und unaufhaltsam aus ihr sprang und sprudelte, erlaubte er ihr, um endlich zur eigentlichen Verhandlung kommen zu können, die Geschichte des ihr widerfahrenen Unrechts zu erzählen: sie hätten einander kennengelernt, hätten sich ineinander verliebt, sie sei ihm treu gewesen, dem Hund, hätte ihm immer alles zu Gefallen getan, dem gemeinen Kerl, dann aber, ganz unerwartet und plötzlich, habe er sie verlassen, nachdem er ihr noch wenige Tage vorher von einem Ausflug eine Ansichtskarte geschickt habe, auf der noch gestanden sei –

Bis hierher hatte sie flammend und voller Zorn gesprochen, jetzt aber, bei der Erinnerung an die Ansichtskarte und die Worte, die auf ihr gestanden waren, klappte sie zusammen und weinte. Die Wut verwandelte sich in Schmerz, die Flüche in Tränen, und schluchzend und stockend sprach sie zu Ende: »Und auf der Karte ist noch gestanden: Herzlichste Grüße von Deinem Dich ewig liebenden Franz.«

Einmal vor unendlichen Zeiten mag als erster ein Mann seine, eines doch sterblichen Menschen Liebe zu einer Frau so ungeheuer, so über alle Maßen groß empfunden haben, daß er nicht glauben konnte und wollte, sie könnte irgendeinmal nicht mehr sein, daß er vielmehr überzeugt war, sein Gefühl, stärker als Körper, Leben und Atem, könnte niemals ein Ende finden, auch dann nicht, wenn sie, die beiden Menschen, längst schon tot wären, niemals und in keiner Zukunft; mag er nun gemeint haben, es müßte, zwar an keinen Lebenden gebunden und unvorstellbar, dennoch immer im unermeßlichen Raum des Daseins bleiben und bleiben, oder mag er gehofft haben, sie könnten, eben weil ihre Liebe unvergänglich sei, auch nicht vergehen und müßten, von ihr neu geformt und zu neuem Dasein gezwungen, auch nach dem Tod noch weiterleben. Er muß, dieser Mann, der es als erster gewagt hat, die menschlichen Gefühle in die Ewigkeit zu projizieren, ein Ekstatiker gewesen sein, und die Frau, die mit ihm gefühlt hat, ein starker, leidenschaftlicher und in seiner Leidenschaft großer Mensch.

Seit damals wird, immer wieder, immer wieder, von der ewigen Liebe gesprochen. Weil die Menschen so fühlen wie Jener, der diese Worte zum erstenmal gebraucht hat? Weil sie glücklich sind, einen treffenden Ausdruck für ihre eigenen Empfindungen vorzufinden? Nein, denn diese Worte stellen ja gar keinen treffenden Ausdruck mehr dar, sie wurden millionenmal gebraucht, wurden durch alle Gassen geschleift, und, abgenutzt und ganz entleert, haben sie sich längst mit dem Schlamm aller anderen Phrasen vermengt. Hätte aber der Geliebte diesem Mädchen statt dieser nichtssagenden Wendung irgend etwas geschrieben, das auf seine Art in selbstgefundenen Sätzen und Bildern seiner Miniatur-Ekstase Ausdruck gegeben hätte, wäre er persönlich und also auf natürliche Weise nur ein wenig originell gewesen, dann hätte sie mit seinen Worten gar nichts anzufangen gewußt, hätte sie als überspannt und verrückt empfunden, hätte sie in ihrem Zorn vielleicht vor Gericht höhnisch zitiert und am Ende gar Phrasen genannt.

Aber der Satz von der ewigen Liebe hat aus einer kleinen Megäre ein kleines Mädchen machen, hat einen Menschen ganz verwandeln können. Welch eine ungeheure Macht hat dieses eine armselige Wort, dieser Fetzen von einem Wort, noch gehabt! Es ist eins der großen Geheimnisse der Sprache, daß ein Wort vollkommen inhaltslos und tot sein und dennoch ganz extreme Wirkungen hervorrufen kann. Es gleitet auf ausgefahrenen Bahnen ins Innere des Menschen und löst dort automatisch Empfindungen aus; allerdings immer nur Empfindungen, denen er sich gern hingibt. Auf der Wirkung solcher Worte, die gar nicht das meinen, was sie besagen, die keine Substanz umschließen, die aber die Seele des Menschen nur anzutippen brauchen, um sie augenblicklich in Wallung zu versetzen, beruht die Wirkung des Kitsches, wobei nur noch eines nötig ist, damit diese, im Bereich der Pseudokunst, ganz in Erscheinung tritt: daß alles andere genau so ungeformt bleibt wie das Wort, also etwa die Gestalten eines Romans oder Theaterstücks, konturenlos, keine Individuen umzeichnen, und so der Einzelne des Publikums sich bequem mit ihnen identifizieren, »in sie hineindenken« kann.

Ein Parkett kann in seinen eigenen Tränen ertrinken, aber eine politische Versammlung kann auf die gleiche Art dazu gebracht werden, in Raserei zu geraten, und jede Schicht von Menschen dazu angeregt werden, im Chor nichts als Dummheiten zu sprechen und immer nur das Falsche zu tun. Denn unsere Zeit hat eine ungeheuere Entdeckung gemacht: daß dieses Mittel des Kitsches, durch nichts besagende, verschwimmende Worte den Menschen in eine Bewegung zu versetzen, die ihm angenehm ist, auch auf allen anderen Gebieten verwendet werden, daß es nicht nur des Menschen Wunsch nach Rührung, sondern auch jeden anderen seiner Wünsche befriedigen kann; daß es aber weiter nicht nur im Bereich der primitiven Empfindungen, sondern auch im Bereich des Denkens zu funktionieren imstande ist, und daß also schließlich das ungefähre Wort den ganzen Menschen beherrschen, ihn ganz verändern und in seinen Handlungen bestimmen kann. Er kann in jeder Lebenslage mit dieser Technik bedient, aber, eben dadurch, auch für jeden Zweck ausgenützt werden.

Das Bedürfnis der Menschen nach Feinden ist groß; es wird zwar im persönlichen Leben einigermaßen befriedigt, aber eben nur unvollkommen, in kleinlicher Weise und unter tausend Vorwänden; die meisten Leute sind darin, was unter den Frauen die demies vierges oder gar die alten Jungfern sind, und sie haben nie das Glück des offenen Hasses kennengelernt. Aber auch ihnen ist zu helfen. Man muß sie nur in Scharen zusammentreiben und einige jener Worte hören lassen, die zwar demjenigen, der sie hört, nichts Eigentliches besagen, die aber in Hunderttausenden oder Millionen einen Rauschzustand oder Wahnsinnsausbruch hervorrufen können, indem sie in den dumpfsten Winkel der Seele fallen, dorthin, wo sie, in femininer Hingebungsbereitschaft wartend, nur dahinvegetiert, wo Inhalte nicht verstanden, Erlebnisse nicht aufgenommen werden, wo die unklaren, vergessenen Bilder abgelagert sind und nur die losesten Assoziationen wirken. Man muß ihnen nur zurufen: »Schmach des Vaterlandes«, »Schande«, »Ehre«, und dieser dumpfe Winkel gerät in Bewegung, alles kommt in Wallung und sie sind erlöst: aus der privaten Sphäre herausgehoben und also scheinbar legitimiert, dürfen sie sich allen Feindschaftsgefühlen hingeben. Und wenn man das Wort »Reparationen« durch das Wort »Tribut« ersetzt hat, so wollte man damit, was es mit den Zahlungen Deutschlands auf sich hat, nicht deutlicher, sondern undeutlicher machen: es gab einmal tributpflichtige Völker, sie waren, ganz offiziell, zweitrangig und zweitklassig und mußten Jahr für Jahr und für unabsehbare Zeit Abgesandte schicken, die demütig und in entehrender Form Gold, Geschmeide und vielleicht gar die allerschönsten, allerjungfräulichsten Jungfrauen abzuliefern hatten. Daran müssen die Menschen, die heute das Wort hören, gar nicht mehr denken, sie müssen an gar nichts mehr denken, um empört zu sein, aber sie dürfen sich in jenes Feuer versetzen lassen, in dem sie so gern brennen. Und der Rauch, der aufsteigt, stellt den Dunst der Politik des halben Landes dar.

Als ob ein Ding verschwunden wäre, sein Schatten aber immer weiter liegen bliebe, ein Laut längst verklungen wäre, das Echo aber in alle Ewigkeit weitertönte, so leben diese Worte von ihrer längst vergangenen, nicht mehr gültigen Vergangenheit. Tauchen aber neue Worte auf – nicht in der Politik, da gibts das nicht, in keinem ihrer Teile, denn die Parteien sagen immer wieder dasselbe, das ihnen erprobt erscheint, weil ihre Angehörigen bei einem bestimmten Ton, der an ihr Ohr dringt, applaudieren, bei einem anderen automatisch Pfui! rufen – tauchen also auf anderen Lebensgebieten neue Worte auf, dann werden sie gleich so grausam hin- und hergewälzt, daß das, was sie besagen, bald nicht mehr erkennbar ist. Ja, es gibt Worte, die erst drei oder fünf Jahre existieren oder wenigstens gelten, in dieser kurzen Zeit aber haben sie sich so schlecht, so schamlos benommen, daß wir ihrer längst überdrüssig geworden sind und glauben könnten, sie wären nicht fünf, sondern fünftausend Jahre alt. Das war ein schmachvoller Friede, den die Menschen mit ihnen abgeschlossen, das war eine furchtbare Diktatur, unter die sie uns gestellt haben! Sie haben mit der Welt gemacht, was sie wollten, und auch mit den Gehirnen der Menschen; und es gibt einen Mann in Berlin, dem ein Denkmal gesetzt werden müßte als ein Denkmal dieser Zeit, die vor grandioser Tatsachengesinnung birst, doch mit den einfachsten Tatsachen des Daseins nicht fertig werden kann in ihrem grandiosen Tempo. (Aber es ist das Tempo des Amokläufers, der nichts von allem leben läßt, was ihm im Weg steht.)

Dieser Mann also ist Bürovorsteher bei zwei Anwälten. Als seine Chefs eines Tages in die Kanzlei kamen, fanden sie nicht, wie sonst, ihre Post auf den Schreibtischen vor. Der Grund dafür war die Tatsache, daß Herr F., eben jener Bürovorsteher, alles neu organisiert hatte, also auch die Behandlung der einlaufenden Briefe: eines der beiden in der Kanzlei tätigen Fräuleins mußte die Kuverts aufschneiden, das zweite die Briefe herausziehen, und ein drittes hätte diese verteilen müssen. Bisher hatte eine der jungen Damen die Post in Empfang genommen, allein das Nötige getan, und alles war gut gegangen; jetzt ging gar nichts mehr gut, und die armen Chefs sollten außerdem nach dem Willen des Herrn F., damit das laufende Band richtig bedient werden könnte, ein drittes Fräulein engagieren.

Man versteht wohl, wie sich die Sache verhielt: Herr F. stand nicht unter der Herrschaft des Begriffes, sondern unter der Suggestion des Wortes »Rationalisierung«. Gewiß, er stellt in seiner Dummheit eine Ausnahme dar, aber immerhin hatte er doch Verstand genug, um seinen Beruf auszuüben. Wie verwirrt muß er also gewesen sein, um dem Wort »Rationalisierung« zuliebe so unrationell sein zu wollen, und die Frage, ob seine Maßnahmen nicht ein, wenn auch extremes Beispiel für andere, im Großen vor sich gehende, weniger kontrollierbare Organisierungskünste darstellen, bleibe unbeantwortet. Ich würde sie nach allem, was mich die Zeit lehrt, bejahen. Denn man mag diese betrachten von welcher Seite man auch will, zu dem einen Resultat kommt man immer wieder: daß es die unsachlichste Zeit ist, die man sich nur denken kann. Und daran trägt zu einem großen Teil ein Wort die Schuld: das Wort »Sachlichkeit«. Dieses Wort war es, das die Leute gezwungen hat, Stühle zu kaufen, die in ihrer tollen Unsachlichkeit ihren Zweck in vollkommener Weise verfehlt haben, weil auf ihnen zu sitzen eine Tortur gewesen ist; das die Leute dazu gebracht hat, in Wohnungen zu hausen, die eines lebendigen Menschen unwürdig sind; dieses Wort war es aber auch, das ganze Kunstgebiete in Verwirrung gebracht hat. Denn man kann zwar unter Sachlichkeit die Tendenz verstehen, einer Sache gerecht zu werden, sie nach den ihr von der Natur mitgegebenen Gesetzen zu betrachten und zu behandeln, eine Tendenz, die immer schon von allen ehrlichen und in ihrem Instinkt unverdorbenen Menschen verfolgt wurde, deren Notwendigkeit aber durch einen neu auftauchenden oder aus der alten Vokabulatur hervorgeholten Ausdruck von neuem zu betonen durchaus von Vorteil hätte sein können; man kann jedoch unter Sachlichkeit noch etwas anderes verstehen: ganz dumm, plump und unsäglich primitiv immer nur die Sache selbst, das Ding, den Gegenstand. Man hat sich nicht entgehen lassen, unter diesen beiden Bedeutungen die alles in Unordnung bringende Bedeutung auszuwählen. Natürlich, bei dem ungeheuren Bedürfnis nach Worten wird ein jedes, sobald es nur auftaucht und bevor es noch eigentlich hat gehört werden können, schon weitergegeben, der Klang entscheidet, das Ungefähre, das es auszudrücken scheint, wird aufgegriffen, bevor es aber noch hat begriffen werden können, wird es schon mißbraucht, und schon ist es das Stigma einer Epoche.

Infolge dieser nicht wirklichen, sondern nur scheinbaren, nicht aufs Ziel gerichteten Sachlichkeit hat man überall die Sachen, hat man nicht nur vom Journalismus, sondern auch vom Roman Reportage verlangt und vom Drama, daß es nicht der Idee dient, daß es nicht nur aktuelle Probleme, sondern gleich die aktuellen Tatsachen erörtert. Eines Tages allerdings beginnen sie vielleicht zu schreien: ein Kunstwerk müsse auch ein Kunstwerk, ein Theaterstück auch ein Theaterstück sein! Die Erfahrung muß sie erst lehren, was sie der einfache, wirklich auf die Sache gerichtete Instinkt hätte lehren müssen, wenn sie sich nicht von einem Wort hätten niederboxen lassen. (Gewiß, in Zeiten der Not und der Krisen wird die Realität mehr Gewicht bekommen müssen, aber darum geht es ja hier nicht, sondern um die widerstandslose Hingabe an ein aus der Situation sich ergebendes Wort.)

Wir leben in einer Inflation der Worte. Jede Stunde muß eine neue Zeitung erscheinen mit neuen Schlagzeilen, neuen Nachrichten, Mitteilungen, Plaudereien und Nachdenklichkeiten, und auf irgendeine Weise kann ja auch jeder irgend etwas schreiben; Worte, im selben Augenblick gezeugt und geboren, unkontrolliert gesagt und unkontrolliert aufgenommen, Luftworte, Papageienworte umschwirren uns laut und schreiend; und in diesem brausenden Urwald, hilflos wie ein verirrtes Kind, das Wort, das harmlos eine Meinung wiedergeben will, oder das dichterische oder das philosophische Wort, das Wort, das einem Begriff oder einer Idee dient, das erfüllte neben dem leeren, das gestaltete neben dem ungestalteten Wort! Niemand hört es. Niemals hat es weniger Geltung gehabt. In diesem Urwald jene Menschen, jene Narren, die, mit dem Willen, etwas zu erörtern oder zu gestalten, mühsam um Klarheit und Deutlichkeit ringen, mühsam jeden Ausdruck erkämpfen und dann mühsam Satz für Satz niederschreiben. Sie wissen, daß sie kein Wort durch ein anderes ersetzen können, ohne dadurch das Geschriebene entweder besser oder schlechter zu machen. Sie wissen, daß nur das ganz geformte Wort wirklich lebensfähig ist. Denn das ist das andere Geheimnis der Sprache: daß das gestaltete Wort sich vom ungestalteten, zufälligen nicht durch ästhetische Nuancen unterscheidet, sondern eine andere, unter ganz anderen Gesetzen stehende Welt darstellt, auch dann, wenn beide dasselbe ausdrücken wollen und, soweit das eben möglich ist, auch ausdrücken. Denn jenes, das gestaltete Wort, repräsentiert nicht nur Meinungen, Gedanken, Empfindungen, denen ein Ausdruck gegeben werden soll, sondern auch den Menschen, der ihnen Ausdruck gibt: seine Art zu denken, seinen Willen, seine Kraft, seinen Rhythmus, sein Temperament – und nur mit all dem beschwert kann es sich in die Zukunft vorschieben. Allerdings, zuerst muß es, wenn auch nur an versteckten Stellen, in der Gegenwart Wurzeln fassen. Aber die Geistigen sind in einer tragischen Situation: denn sie, die an die Macht des gestalteten Wortes geglaubt haben, spüren seine augenblickliche Ohnmacht. Sie spüren, daß heute in Wirklichkeit kein Geistiger Geltung hat, daß, was er sagt, kein Gewicht hat. Selbst wenn er gehört wird, bleibts ohne Wirkung, denn man hat das unmenschliche Talent entwickelt, alles zu zerkneten und augenblicklich in eine Phrase oder in ein Schlagwort zu verwandeln.

Es ist, als ob sich die Menschen nur in Fetzen kleiden wollten. Sie wollen nicht das haftende Wort. Sie sagen, daß sie keine Zeit, daß sie Eile, daß sie Sorgen haben. Und tatsächlich kann man weder einen Hungernden mit der Schönheit eines Hölderlinschen Gedichtes sättigen, noch kann man einen zermürbten Menschen zur Konzentration zwingen. Es kommt aber nicht auf die Unfähigkeit des einzelnen an, sondern auf den Mangel an Willen der Zeit, dem verantwortlichen Wort zuzuhören. Es ist fast wie ein Entschluß, es ist eine Abkehr. Sie zweifeln daran, daß ihnen ein Gedicht noch einen »Lebenswert« darstellen könne, sie sagen, daß sie die Klassiker nicht mehr lesen können, sie erklären, daß sie die Geschichte des menschlichen Geistes nicht interessieren könne, daß ihnen Philosophie und die »unpraktischen« Wissenschaften überflüssig erscheinen, sie sagen, daß ihnen Menschen, die die Dinge in genauerer Art untersuchen, langweilig sind, und sie verkünden, daß sie Menschen nicht verstehen, die über die Welt und nicht nur über das Jetzt und Hier sprechen; aber sie schreiben an all dem nicht sich oder der Zeit die Schuld zu, sondern diesen Menschen, dem menschlichen Geist, den Klassikern und dem Gedicht. Das bedeutet aber nichts anderes, als daß sie den geistigen Zustand, in dem sie sich selbst befinden, nicht erleiden, sondern bejahen, daß sie legalisieren wollen, was für die einzelnen Folge ihrer Nöte sein mag, daß sie sich wohl fühlen in diesem Dämmer oder es wenigstens glauben. Es ist die Hingabe an die Zeit, die ihnen die Gelegenheit verschafft, zu verschlampen, es ist die Hingabe an die Verlotterung.

Die Sprache ist zur Phraseologie geworden. Zwar ist eine Welt, in der die Geistigen einsam sind, immer noch besser, als eine, in der sie schon schweigen, denn das gestaltete und erfüllte Wort hat eine stärkere Daseinskraft als jene Worte, die nur das schnellvergehende Leben eines Funkens führen, aber Explosionen hervorrufen können; zwar ist es zähe und man muß daran glauben, daß es, beschwert mit den Meinungen, Gedanken, Erlebnissen und Wünschen jener, die es ausgesprochen haben, daß es, Hülle und Inhalt, Fahrzeug und Fracht zugleich, auf heimlichen Schleichwegen in die Zukunft vordringt, aber diese Zukunft kann für die Lebenden im Unendlichen liegen und wir müssen von der Gegenwart sprechen. Und wenn diese darauf beharrt, so zu bleiben, wie sie ist, dann wird sich in fünf oder zehn Jahren eine andere Zukunft verwirklicht haben und eine Welt, die überhaupt nur noch widerhallt von Worten, die nicht mehr Gewicht haben als diese: der ewig liebende Franz und Sachlichkeit und Tribut und Rationalisierung und Schande des Vaterlandes; und dann werden wir ganz und gar von der Hölle der Gedankenlosigkeit und Dummheit verschlungen sein.

 

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