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Drittes Kapitel

I

Der Frühling drang der Welt aus allen Poren, vom Himmel stürzte Glanz und Helligkeit. In der Nacht hatte es geregnet, der Morgen war noch wolkig gewesen, doch der Nebel hatte sich gesenkt, der ganze Raum war wie frisch gewaschen, und die Luft war warm und voller Licht. Blanche stand an einem der beiden Fenster ihres Zimmers in der elterlichen Wohnung, mit der einen Hand den Vorhang zur Seite haltend, und sah durch die Scheiben in die sonnenerfüllte Straße. Sie war in Gedanken, doch die Tür ging, und sie wurde aus ihrer Versunkenheit herausgerissen. Ihre Mutter kam, um einige Tagesdinge zu besprechen und sie zu erinnern, daß für den Abend Gäste eingeladen seien; sie erinnere sie, sagte sie, jetzt schon daran, damit sie sich einrichte und es nicht so gehe wie damals vor einigen Wochen, als sie, Blanche, erst im letzten Augenblick nach Hause gekommen sei und dann in einem scheußlichen grünen Kleid dagesessen habe, weil sie nicht einmal mehr Zeit gehabt habe, sich umzukleiden. Blanche lachte auf, sie sprachen noch ein wenig, und schließlich machte Frau Riedinger ihrer Tochter den Vorschlag, jetzt mit ihr auszugehen und einige Besorgungen für den Abend zu machen.

Nein, sagte Blanche, es sei ihr nicht möglich, sie habe zwar auch daran gedacht, in die Stadt zu gehen, aber sie habe sich anders entschlossen, sie wolle jetzt am Vormittag lieber arbeiten, denn sie müsse das prachtvolle Licht ausnützen. Frau Riedinger runzelte mit einem zweifelnden Blick die Stirn, wie wenn sie fragen wollte: Muß das sein? Blanche bemerkte die kleine Unzufriedenheit ihrer Mutter und fügte deshalb erklärend hinzu, sie müsse am Vormittag arbeiten, weil sie am Nachmittag ja doch nicht dazu kommen würde, denn dann sei sie in Anspruch genommen. Frau Riedinger nickte mit einem kaum merklichen ironischen Lächeln, als ob sie sagen wollte, sie wisse schon, welch überaus wichtige Angelegenheit Blanche am Nachmittag in Anspruch nehme.

Als Blanche allein blieb, wandte sie sich wieder dem Fenster zu und öffnete es. Sie beugte sich über die Brüstung, so weit es ging, und lehnte sich weit vor, hinaus ins Freie, als wollte sie das beinahe sommerliche Wetter, das sie bisher durch das Glas der Fenster nur gesehen und geahnt, auch fühlen und spüren; aber durch die vom Sonnenschein erwärmte Luft zog überraschend ein leichter, kühlerer Wind. Er rührte an ihre Wangen, strich über Stirn und Augen, umspielte den Hals und wiegte die kurzen Härchen an ihren Schläfen. Mit sich weitenden Nasenflügeln und mit schwellender Brust zog Blanche die Luft ein, dieses belebende Gemenge aus wohliger Sonnenwärme und frischerer Windeskühle, dann richtete sie sich auf, legte mit sich schließenden Augen den Kopf zurück, stand still und gab so ihr Gesicht den Sonnenstrahlen preis. Sie beleuchteten und röteten es mit freundlicher Glut und mochten die Haut durchdringen als ein die Nerven umspülender, ins Innere drängender Strom. Schließlich öffnete sie wieder die Augen und trat ins Zimmer zurück, um sich für den Ausgang bereit zu machen. Von draußen aber drang weiter das durcheinander zankende Zwitschern der Spatzen, das aufgeregte Kläffen eines im Spiel sich hetzenden Hundes und das Gelächter zweier Frauen herauf, alles klar, kräftig und fast wild, als wär's von der Wärme angeheizt.

Blanche kleidete sich um und zog sich an, ein wenig behutsamer und sorgfältiger als sonst, wahrscheinlich, weil sie den Entschluß gefaßt hatte, zu Fuß ins Atelier zu gehen, und vielleicht auch, weil sie das Bedürfnis hatte, sich dem neuen Glanz draußen anzupassen, sich mit ihren neuen Kleidern, mit ein wenig Puder und ein klein wenig Schminke, mit wohlgepflegten Fingern unter den Handschuhen, mit zarterer Wäsche unterm Kleid des Wetters würdig zu erweisen und selbst etwas zum Frühling beizutragen.

Der Garten ihres Häuschens erstrahlte in allen Lichtern dieses Tags. Noch in der menschenleeren Gasse vor der Pforte stehend, warf Blanche schon übers Gitter erwartungsvolle, über Bäume und Sträucher gehende Blicke hinein. Als sie die Tür aufgesperrt hatte und zwischen den schwärzlich-schäbigen Holzpfosten ihr Besitztum betrat, überquerte eben in flatterndem Zickzackflug ein Kohlweißling den Gartenpfad. Der neue weiße Kies glitzerte ihr entgegen, und als sie den Weg vorwärtsging, knirschte es rauh, doch anheimelnd unter ihren Füßen. Regen und Morgennebel waren längst vergessen, auch der kleinste Fetzen einer Wolke hatte sich verflüchtigt, überall nur Glanz und tiefes, ungestörtes Blau des Himmels, und doch war eine Erinnerung an die regnerische Nacht, ein letzter Rest geblieben, denn auf Blättern, Gras und Blüten lag der allerletzte Hauch von Feuchtigkeit, und sie schimmerten taubeglänzt in die freie Luft, die so durchsichtig war, als wär's noch weniger als Luft.

Blanche schritt elastischen Ganges zum Haus, während ihre Blicke von Baum zu Baum, von Blüte zu Blüte liefen, wie wenn sie feststellen müßte, welche Fortschritte hier das hervorsprießende Laub, dort eine sich öffnende Knospe seit gestern nachmittag gemacht hatten, da sie zum letztenmal hier gewesen war. Es war windstill, hie und da wippte ein Zweig, wenn sich ein Vogel auf ihm niederließ oder davonflog, da und dort schon eine Wespe in einem unter ihrem Gewicht sich neigenden Blütenkelch. Alles war neu, doch Blanche, mit der Natur im Einklang, stand gleichsam auch in neuer Blüte. Wie konnte es anders sein, als daß sie es selbst so fühlte! Sie trug heute zum erstenmal ihr neues Kostüm, das, auf Betreiben ihrer Mutter, nicht von einer beliebigen Schneiderin, sondern von einem ausgezeichneten Schneider genäht worden war. Bis zum letzten Millimeter mit pedantischer Präzision aller Maße gearbeitet, zeigte es dennoch im Fluß des Stoffs, im Wurf der Falten jene Leichtigkeit, die den Eindruck der hingeworfenen Selbstverständlichkeit hervorruft, ohne die aufgewendete Mühe ahnen zu lassen. Es war aus grauem Tuch, von der Farbe einer hellen Wolke, in das weißliche Längsstreifen eingewebt waren, nicht mehr als einige Fäden breit. An die linke Klappe war eine zartlila Phantasieblume geheftet, einer Chrysantheme ähnlich, mit langen, leichten, schmalen Blättern, die unter der Bewegung des Ganges erzitterten und manchmal unter einem Windhauch lebhafter aufflatterten. Die Schuhe waren aus grauem Wildleder und hatten weiße Einsätze, der dunkelgraue Hut mit seinem etwas helleren Band war übern ganzen Kopf gestülpt, die vordere Krempe aber kühn zurückgeschlagen, so daß über der schönen, freien, hochgewölbten Stirn ein Streifen ihres Haars hervorleuchtete. Unterm Sonnenschein schimmerten Blanches Wangen, ihre Lippen waren mit weichen Strichen nur leicht nachgerötet.

Als sie hergegangen war, hatte sich so mancher Kopf nach ihr gedreht, die Männer hatten ihre kräftige, wohlgeformte Gestalt, ihr volles, gesundes Gesicht im Vorübergehen in aller Eile überflogen, die Augen waren prüfend über ihren Körper abwärts gegangen, mit Freude wieder aufwärts spaziert und waren oft dort geblieben, wo die nur mit einem Knopf geschlossene Jacke die schön geschwellte weiße Bluse sehen ließ. Wie den unsichtbar über eine Wiese streichenden Wind ein lautloses Neigen, Zittern und Kräuseln der Gräser begleitet, so zog mit ihr auf ihrem ganzen Weg leichte Bewegung und Vibration durch die Menge der Männer, zwischen denen sie durchging. So mancher von ihnen hatte sich bemüht, ihre Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, so mancher Blick hatte versucht, den ihren zu finden, doch sie hatte getan, als fühle und bemerke sie es nicht, und war unbeirrt vorwärtsgeschritten, elegant, damenhaft und unnahbar.

Vor dem Haus angekommen, holte Blanche unter der Matte den altmodischen, unförmigen Schlüssel hervor, der mit grobem Geräusch und schließlich, wie immer, mit einem plötzlichen dumpfen Knall die Tür aufsperrte. War es schon, wann immer sie herkam, ihre Gewohnheit, durch alle Räume zu streichen, um sich zu überzeugen, daß nichts aus der vorgesehenen Ordnung gebracht sei, so hatte sie am Morgen oder Vormittag, da sie zum erstenmal an einem Tag das Haus betrat, erst recht zu tun, denn sie mußte die Arbeit der Putzfrau kontrollieren, die jedesmal schon vor ihr, in den ersten Morgenstunden, hier gewesen war. Es war eine junge, hübsche Person, für eine Bedienerin sehr gut und mit Geschmack gekleidet; aus ihrem lebhaften Gesicht mit den schwarzen, blitzenden Augen und den vollen Lippen sprühte eine fröhlich-herzhafte Sinnlichkeit.

Blanche fand die Räume immer in gehörig aufgeräumtem Zustand und hatte selten etwas auszusetzen. Gewiß, vielleicht war hier in einem Vorhang ein Fältchen glattzustreichen, dort ein Stück Metall nachzupolieren, doch sie tat gern diese Handgriffe, weil sie im ganzen mit der Putzfrau sehr zufrieden war. Allerdings, da schließlich kein Mensch ganz ohne Fehler ist, hatte auch diese junge Bedienerin den ihren: wenn sie nämlich nach ihrer Morgenarbeit davonging, hinterließ sie im reingefegten, blankgeputzten Haus nun ihrerseits Tag für Tag in unabänderlicher Gewohnheit die Spuren ihrer eigenen Arbeit, also eine neue kleine Unordnung. Blanche fand einmal den Staubpinsel oben auf den Büchern liegend, das andere Mal war in der Kammer ein triefend nasser Fetzen über den Rand eines Eimers geworfen, so daß neben ihm auf dem Boden die fallenden Tropfen eine häßliche Lache gebildet hatten, die Blanche nun wegzuwischen hatte. Doch auch dies tat sie gern, denn sie freute sich, daß das Haus ja doch im ganzen in der vorgeschriebenen Ordnung funkelte.

Tatsächlich aber verhielt es sich so, daß Blanche nicht nur am Morgen, sondern zu jeder Tageszeit, wann immer sie herkam, und ebenso jedesmal, bevor sie wegging, durchs Haus strich, jedes Fältchen glättete, jedes Stäubchen von Möbeln, Teppich und Parkett aufklaubte, so daß es am Abend nach dem Tagesleben in keinem schlechteren Zustand war als am Morgen und also in Wirklichkeit für einen anderen Menschen überhaupt nichts zu tun übrigblieb. Der Putzfrau hatte dies nicht entgehen können, und sie hatte sich damit begnügen müssen, nur über diesen oder jenen Gegenstand hinwegzuwischen und -zufegen. Da sie aber Blanche vor Augen führen mußte, daß sie doch an der Arbeit gewesen, ließ sie gern eines der Utensilien, die sie gerade in Händen hatte, an sichtbarer Stelle da oder dort als Beweisstück liegen. Jetzt bestand schon längst ihre Tätigkeit in nichts anderem als darin, Tätigkeit vorzutäuschen und zu diesem Zweck eine kleine Unordnung herzustellen. Wenn sie am Morgen kam, griff sie zuerst nach einem Pinsel, um ihn sofort wieder wegzuwerfen, auf einen Tisch, einen Stuhl, auf das Bücherregal, oder sie tauchte schnell einen Fetzen ins Wasser und legte ihn über den Rand des Eimers. Dann machte sie sichs im Biedermeierzimmer auf dem Sofa bequem, las ihre Zeitung und ging wieder nach Haus. Begreiflich, daß Blanche immer wieder an ihr loben konnte, sie habe noch niemals irgend etwas zerbrochen, noch niemals auch nur den geringsten Schaden angerichtet.

Sie sahen einander gewöhnlich nur einmal im Monat, am Ersten, bei der Auszahlung des Lohnes, wenn Blanche zu diesem Zweck eher als sonst ins Atelier kam, wo an solch einem Tag die Bedienerin ihrerseits geduldig auf sie wartete. Dann gab's jedesmal ein großes Hallo und Gelächter darüber, daß sie beide, deren eine doch bei der anderen angestellt sei, einander fast niemals sahen. Es gab lange Hausfrauen-Fachgespräche über die Sauberhaltung des Hauses, über Putzmittel und Waschmethoden, die Bedienerin berichtete über die Neuigkeiten auf diesem Gebiet und riet Blanche, was man kaufen könne oder wenigstens ausprobieren solle. Dabei erzählte sie, wie sie alles bei sich selbst zu Hause mache; mit treuherzigem Temperament ins Geplauder geratend, kam sie auf ihren Haushalt, auf sich selbst, auf ihren Mann, der Polizist war, auf ihre Kinder und ihre ganzen Umstände zu sprechen. Sie war eine gute Frau und Mutter, überdies eine gute Hausfrau und hatte offenbar nur die eine Schwäche, ein wenig gierig nach hübschen Kleidern, nach etwas feinerem Leben, nach bürgerlicher Art und Weise zu sein. Blanche nahm Einblick in dieses bescheidene Familienleben und hörte ihr gern zu, wenn sie von ihrem Mann und seinen Gewohnheiten sprach, von der Entwicklung der Kinder, von ihrem Haushalt und von ihrer Wohnung, für die ihr noch so vieles fehlte. Sie erhöhte von einem halben Jahr zum andern ihren Lohn, schenkte ihr alle Kleider und Wäsche, die sie nicht mehr trug oder ihr zuliebe nicht mehr zu tragen sich entschloß, die Wäsche und die Kleider ihres Vaters für den Mann, für die Kinder bei ihren Bekannten eingesammelte Kindersachen, Zuckerzeug, wenn sie gesund, und Medikamente, wenn sie krank waren, und gab ihr auch dies und jenes für die Wohnung mit, einen Spiegel, ein Tablett, eine Vase, vielleicht ein überflüssig oder unvollständig gewordenes Service oder gar einen alten Teppich.

Nachdem der halbe Vormittag vergangen war, schärfte ihr Blanche vor dem Abschied nochmals ein, was alles sie an Putz- und Waschmitteln, an Reinigungsinstrumenten zu besorgen habe, schenkte ihr natürlich jene, die hier nun überflüssig geworden waren, und gab ihr für die Einkäufe einen Haufen Geld, von dem am nächsten Tag die Putzfrau neben einigen Schächtelchen und Päckchen ein Sümmchen als übriggeblieben auf dem Tisch zurückließ. Blanche gefiel die junge, lebhafte Person immer besser, die diese Sympathie mit Herzlichkeit und Dankbarkeit erwiderte. So fühlte sie sich gedrängt, immer mehr für sie zu tun, sowohl aus Bedürfnis zu schenken und zu geben, aus Gutmütigkeit, aus Lust, sich zu verausgaben, als auch auf Grund ihrer Überlegung, die ihr überaus weltklug erscheinen mochte, daß man sich die Leute, mit denen man zufrieden sei, auch warm halten müsse.

Als Blanche den Schalter angedreht hatte, erstrahlte unter der zu starken Birne in der würfelförmigen Ampel aus Preßglas ein wenig zu grell der kleine Vorraum mit seiner hellgelben Matte und seinen noch helleren, gelblichen Wänden, doch in all dem Licht und Glanz hing, unordentlich und ordinär, ein Staubfetzen von der Stange der blinkenden Messinggarderobe herab. Sie schüttelte entsetzt den Kopf und mußte doch zugleich lächeln über die unverbesserliche Person; Unheil ahnend, eilte sie ins erste Zimmer, und wirklich, dort stand, in die Ecke gelehnt, roh und unverschämt, eine Art von Besen, ein neues und neuartiges Instrument, das sie noch nie gesehen, ein langer Stock, an dessen einem Ende weiche Borsten standen, geschmeidig wie Wolle, während übers andere, verbreiterte Ende ein harter, kratziger Wollstoff gespannt war. Bevor sie noch ablegte, schaffte Blanche diese Greuel schleunigst in die Kammer, dann erst nahm sie den Hut vom Kopf und zog die Jacke aus. Sie schweifte durchs Haus, wie sie es gewohnt war, rückte dort einen Gegenstand zurecht, zupfte an einer Decke und wischte hie und da mit einem Pinsel und dem Staubfetzen, den sie wieder hervorgeholt hatte, ein Pünktchen Staub aus einer Ecke. Im ganzen aber war alles in guter Ordnung, sie war befriedigt und konnte nun an die Arbeit gehen.

Das Licht fiel durch das in die Decke eingelassene Fenster gleichmäßig, hell und voll ins eigentliche Atelier, in diesen länglichen Raum, der, im Gegensatz zu den unteren Räumen, in strenger Askese nur für die Arbeit eingerichtet war. Seine Mauern waren nur weiß gekalkt, und es war nichts in ihm zu sehen außer einem Hocker in einer Ecke, dem Ungetüm der komplizierten, raffinierten Staffelei und den früheren, fertigen Bildern auf dem Fußboden unter den Fenstern, je fünf und fünf übereinandergeschichtet und nach der Entstehungszeit geordnet. Auf der Staffelei stand, von einem Lappen zugedeckt, das im Entstehen begriffene Werk, das Seestück. Wie lange hatte Blanche nicht gemalt! Nun aber holte sie den frisch gewaschenen Malkittel vom Nagel und warf ihn um, zog aus dem im Fuß der Staffelei verborgenen Fach Pinselkasten, Paletten, Farbkästen und Malfetzen hervor und breitete dies alles auf seitlich am Gestell angebrachten, aufklappbaren Brettchen aus. Schließlich hob sie das Tuch von der Leinwand und betrachtete sie.

Da dehnte sich nun im leidenschaftlichen Sommerlicht die ekstatische Bläue des Himmels und des Meeres, da wiegte sich nun idyllisch der bräunlich-rote Kahn. Die kleinen Wogen waren mit winzigen Schaumkronen verziert, der Horizont mit Lämmerwölkchen dekoriert, und da schwärmte nun das Liebespaar mit zurückgebogenen Köpfen in die Höhe und Weite, in seiner keuschen Leidenschaft, als hätte das Gefühl in seinem Innern keinen Platz mehr und wollte die körperliche Hülle sprengen, die Leiber verrenkend, verkrümmend und zur Seite neigend, so daß sich auch das Boot schon neigte und Übergewicht bekam, allerdings, wie durch ein Wunder, ohne zu kippen und die Liebenden ins blaue Wasser zu werfen.

Blanche blickte lange auf das Bild, doch ihre Stirn runzelte sich. Sie schien nicht zufrieden zu sein. Die ungemischten Farben waren zu grell, das Ganze war zu bunt, das Blau des Meeres schrie, das Blau des Himmels kreischte, die Ekstase des Sommertags und Sonnenlichts war auf Abwege geraten. Tatsächlich, die herzliche Begeisterung der Malerin war ausgeglitten, es blieb alles nur farbige Fläche auf weißer Leinwand, die Höhe und Weite war keine rechte Höhe und Weite, die Unendlichkeit der See keine rechte Unendlichkeit, Schaumkronen und Lämmerwölkchen waren wie Wattebäusche hingeklebt, jene nur ein wenig zerzauster als diese.

Blanche starrte lange auf ihr Werk und schüttelte den Kopf. Kein Zweifel, es gefiel ihr nicht, und sie überlegte, woran es lag. Vielleicht dachte sie an jene guten Zeiten, da sie nacheinander die Schülerin mehrerer Lehrer gewesen war und sich deren Kunstanschauungen, Dogmen und Prinzipien unterworfen hatte, mochten sie nun formal, moralisch-sozial oder ästhetisch-philosophisch und mochten auch manche von ihnen in der Theorie schwer zu verstehen gewesen sein; aber in der Praxis war doch manches gelungen, und die Lehrer hatten sie gelobt, wenn sie von ihnen gelernt, wenn sie sich ihren Überzeugungen gefügt hatte. Dann aber hatte sich Blanche von ihren Lehrern losgelöst, hatte sich auf ihr Gefühl, ihr inneres Erlebnis, ihre Vision verlassen. Sie blickte noch immer prüfend und grübelnd auf ihr Bild. Ach, vielleicht sah sie jetzt ein, daß dieser gerade, unverkrümmte, allereinfachste Weg der schwerste sei. Ach, wo waren die beschwingten Zeiten der Überzeugungen, der Prinzipien, wo waren die goldenen Zeiten der Weltanschauung!

Endlich mußte Blanche denn doch die schlechte Stimmung, diese Depression überwinden, die, wie sie gelesen hatte, von Zeit zu Zeit jeden echten Künstler überkommt. Sie mußte mit neuem Mut weiterarbeiten, das nun einmal Begonnene weiterführen, und vorläufig, wo sie unzufrieden war, wenigstens da und dort nachhelfen und verbessern. Da war die Woge, die sich mit kleinem, strahlend weißem Schaum am Bug des Bootes brach. Nun sollte sie auch aufspritzen und ihre Tropfen in die Lüfte werfen, so wollte es Blanche. Nachdem sie die Farben ein wenig gemischt hatte, tupfte sie hin, aber es wollte nicht gelingen – welche Farbe haben die in die Lüfte geworfenen Wassertropfen eines schreiend blauen Meers? Sie versuchte es mit diesem Pinsel und mit jenem, mit dieser Farbe und mit jener, und schließlich gab sie es auf. Sie bedeckte das Bild mit dem Tuch und sah auf die Uhr. Es war ihr viel Zeit übriggeblieben, denn die Arbeit oder vielmehr der Versuch, zu arbeiten, hatte sie nicht mehr gekostet als fünfzehn Minuten. Nachdem sie noch die Malutensilien weggeräumt hatte, so daß das Zimmer genauso aussah wie vor einer Viertelstunde, schlenderte sie durch die offene Tür ins Nebenzimmer, in jenes kleine Kabinett, das, mit dickem, weichem Velours ausgelegt, zur Hälfte von einer Couch ausgefüllt war. In diesem Raum, so war's gedacht, als Blanche das Haus einrichtete, würde sie schlafen, wenn sie einmal hier übernachten sollte.

Blanche ließ sich auf der Couch nieder, stützte den Ellenbogen auf und legte den Kopf in die offene Hand, so daß sie halb saß und halb lag. Sie verharrte in dieser Stellung, und während sie so unbeweglich blieb, wurde es immer stiller im Haus. Die Dinge schienen zu schlafen, die Zeit ging auf Zehenspitzen vorbei, nur Blanches vor sich hinblickende Augen verrieten bei all ihrer Starrheit, daß noch Leben in ihr war. Aber endlich erwachte sie. Sie erhob sich, ging in den Garten, kehrte aber bald wieder um, kam ins Haus zurück und machte sich dort zu schaffen. Sie begoß die Erde in den Blumentöpfen und wechselte das Wasser in den Vasen. Als dies getan war, schlenderte sie zur Haustür, lehnte sich, auf der Schwelle stehend, mit der Schulter gegen den Türpfosten und sah hinaus. Die Mittagssonne fiel schweigend auf Rasen, Bäume und Blüten, die Stadt war fern, und in der Windstille waren nur die wenigen Laute des Gartens zu hören, das Zwitschern eines in den Zweigen versteckten Vogels, das Summen einer unsichtbaren, um eine Blüte kreisenden Wespe. Blanche schritt den Weg um den Rasen ab, dann trat sie aus dem Kreis der Bäume auf die freie Wiese draußen, ging entlang der Büsche, den Blick auf die Sträucher, auf jede Knospe gerichtet, als wollte sie feststellen, welche gedieh und vor dem Aufbrechen stand, welche im Wachstum zurückblieb. Sie bückte sich, um an einer Hyazinthe zu riechen, hob ein dürres Hölzchen zwischen den Gräsern auf, betrachtete lange die noch geschlossenen Maiglöckchen, ging weiter, roch an dieser und jener Blüte, an einer anderen Hyazinthe, an einer Narzisse. So verging einige Zeit, und nichts rührte sich, was sie nicht berührte und in Bewegung brachte.

Endlich betrat sie wieder das Haus, ging geraden Wegs ins Schreibzimmer, ließ sich vor dem Sekretär nieder, holte einen Bogen Papier aus dem Fach, die Füllfeder aus dem Behältnis und schrieb: ›Mein Freund, ich habe das Bedürfnis, dir zuerst zu erzählen, was ich heute bisher getan habe und was ich noch vorhabe. Du sollst alles wissen, auch das Kleine und Unbedeutende, diese Vertraulichkeit bereitet mir Freude. Ich bin am Vormittag hergekommen, um zu arbeiten, denn am Nachmittag werde ich keine Zeit haben, heute nämlich gibt's zwei Abschiede, am Abend übrigens sind wieder einmal Gäste bei uns. Aber mit der Arbeit war es wieder einmal ein Fiasko, ich habe es sein lassen, weil ich denke, man soll es nicht zwingen wollen, wenn die Inspiration fehlt. Jetzt sitze ich hier und schreibe dir –‹

Sie brach ab, zerriß den Brief und warf ihn in den Papierkorb. Noch während sie dies tat, schliefen all ihre Bewegungen ein, der Körper blieb reglos zur Seite geneigt, die Hand schwebend mit noch offenen Fingern über dem Korb. Dann rührte sie sich wieder und lehnte sich zurück, die Hände im Schoß. Endlich nahm sie einen anderen Bogen und begann von neuem: ›Ach, mein Freund, ich habe eben darüber nachgedacht: was ist die Liebe? Die große Vertraulichkeit und Vertrautheit? Die große Freundschaft? Die große Besessenheit? Die Gier, zu genießen? Die Gier, gütig zu sein? Der Wunsch, Leben in die Welt zu setzen? Die Gier, zu besitzen? Die Gier, zu geben? All dies, ich weiß es, all dies und noch viel mehr! Wie wir's zerlegen und an den zehn Fingern aufzählen, es ist niemals genug! Ach, mein Freund, die Liebe ist der Ersatz für die ganze Welt! Das ist's. Ich habe darüber nachgedacht, warum sie sich so selten erfüllt oder nie. Einer dieser schrecklichen, gescheiten Menschen hat mir einmal gesagt: der Mensch ist eben nichts anderes als ein einsames Tier mit Anlehnungsbedürfnis. Wie grauenhaft, so zu denken! Aber ich, ich glaube an die Liebe, wie oft habe ich es dir gesagt: ich glaube nur an dich und an die Liebe!‹

Sie hielt ein, als wolle sie ein wenig ausruhen oder sich ihren Gedanken überlassen, aber während sie vor sich hinblickte, hörte sie draußen knirschende Schritte auf dem Gartenweg. Sie waren schon vor dem Fenster und näherten sich dem Eingang. Blanche horchte, einige Augenblicke war's still, dennoch stand sie eilig auf, um hinauszulaufen. Zugleich aber klopfte auch schon deutlich und laut der Knöchel eines Fingers gegen die Tür.

Als Blanche geöffnet hatte, stand vor ihr ein fremder Mann mittleren Alters, sauber und kleinbürgerlich gekleidet. In der linken Hand hielt er eine Aktentasche, und mit der rechten lüftete er den Hut. Er fragte, ob sie Fräulein Blanche Riedinger sei, und als sie nur nickte, weil ihr nach dem Schrecken der Atem stockte, trat er auf die Schwelle, so daß sie einen Schritt zurück tat, und schon war er ihr auch nachgekommen und stand im Vorraum. Mit befremdet-ärgerlichem Staunen sah Blanche ihm entgegen; bevor sie ihn aber fragen konnte, wer er denn sei und was er denn wünsche, sagte er: »Ich komme nämlich wegen des Hauses. Hier ist meine Legitimation.«

Er öffnete die Aktenmappe, zog aus einem Stoß von Papieren einige Blätter hervor und überflog sie mit fachmännischem Blick: »Ja also«, begann er von neuem, »Sie werden ja wissen, um was es sich handelt?« Sie nickte, und er fuhr fort: »Es ist gegen Sie ein Räumungsurteil ergangen, das müssen Sie ja wissen, und ich –« Er wies mit dem Daumen über seine Schulter hinter sich, durch die offene Tür ins Freie.

»Ich werde es sofort meinem Anwalt weitergeben«, sagte Blanche und streckte die Hand aus, um das Papier in Empfang zu nehmen. Er schüttelte den Kopf. Das habe keinen Zweck, antwortete er, der Räumungsbefehl sei ergangen, habe Rechtskraft erlangt, und ein Anwalt könne gar nichts mehr dagegen unternehmen. Er wies abermals über seine Schulter durch die offene Tür zurück ins Freie und sprach weiter. »Ich hoffe«, sagte er, »Sie werden sich ins Unvermeidliche fügen und mir und sich Unannehmlichkeiten ersparen.«

»Wieso?« fragte Blanche.

Er trat ein winziges Schrittchen aus der Anonymität des Beamten hervor, indem er sie mit persönlichem Staunen betrachtete. »Ja, wußten Sie denn nicht, daß ich komme?« fragte er. Ja, nein, stotterte sie, sie wisse selbstverständlich, daß ein Prozeß laufe, aber sie habe immer alles ihrem Anwalt übergeben. Er blätterte in seinen Papieren: »Darf man fragen, welchen Anwalt Sie hatten?« Nun ja, sagte sie, eigentlich habe sie zwei Anwälte gehabt. »Zwei Anwälte?« wiederholte er und sah fast versonnen auf seine Akten hinunter, in einer Art, als dächte er: Recht kläglich dieses Resultat, für zwei Anwälte! Dann zuckte er mit den Achseln: »Ja, also, Fräulein Riedinger, Sie wissen, ich tue hier nur meine Pflicht, und hoffe, Sie werden sich ins Unvermeidliche fügen, denn«, fuhr er fort, indem er wieder mit dem Daumen hinter sich ins Freie wies, »denn ich bin gezwungen, meinen Auftrag auszuführen.« Doch sie hörte nicht auf ihn und war nur durch diese seine Geste, die er offenbar unzähligemal in seinem Leben vollführt hatte und nun schon ohne Bewußtsein vollführte, in Zorn geraten.

»Wohin zeigen Sie denn da immer?« rief sie fast schreiend.

Er erschrak: »Fräulein Riedinger, ich bin Beamter und tue nur meine Pflicht. Ich bin beauftragt, die Räumung durchzuführen, und draußen«, und jetzt endlich bekam die abermals vollführte, ins Freie weisende Bewegung ihren Sinn, »draußen warten die Arbeiter, die sie zu bewerkstelligen haben. Ich hoffe, Sie werden sich ins Unvermeidliche fügen und mir und sich Unannehmlichkeiten ersparen. Die Folgen hätten sonst Sie zu tragen.«

Was das alles zu bedeuten habe, fragte sie, und als er abermals nur mit den Achseln zuckte, fuhr sie fort, er wolle ihr doch nicht etwa drohen, daß er ihre Möbel und was sonst hier sei und ihr gehöre, aus dem Hause werfen werde. Er nickte, er sei dazu verpflichtet. »Wann?« fragte sie.

»Jetzt!« antwortete er.

»Heute?« fragte sie.

»Jetzt!« wiederholte er und betonte stärker das Wort, und schon hob er wieder seine Hand zu dieser enervierenden Geste.

Da raffte sich Blanche auf, straffte sich, trat einen Schritt auf ihn zu, und mit Energie und Empörung rief sie ihm entgegen: »Verzeihen Sie! Wie verhält es sich denn? Ich bitte um Aufklärung! Sie sagen, das Räumungsurteil ist ergangen, aber so viel glaube ich denn doch zu wissen, daß in solchen Fällen eine angemessene Frist zu setzen ist!« Er nickte. Das eben sei es, sagte er, die ihr gewährte Frist von einer Woche sei vorgestern abend um sechs Uhr abgelaufen, ob sie denn seine gestrige Mitteilung nicht vorgefunden habe, als sie hergekommen sei. Doch, antwortete sie, und ihrer Stimme kam ein wenig der Klang abhanden, aber sie habe den Brief, wie immer alle Papiere, dem Anwalt geschickt, und zwar schon gleich gestern abend. Er zuckte mit den Achseln: sie sei aber doch hier – ob sie nur zufällig hier sei, fragte er.

»Ja«, antwortete sie, »ganz zufällig!« Nun, sagte er, er tue nur seine Pflicht als Beamter, gestern sei er, den Vorschriften entsprechend, hier erschienen, um sich zu überzeugen, ob die freiwillige Räumung erfolgt sei. Obwohl er schon von der klagenden Partei benachrichtigt worden sei, daß es nicht der Fall sei, und aufgefordert worden sei, zur Exekution zu schreiten, habe er doch, den Vorschriften entsprechend, sich auch selbst davon zu überzeugen gehabt. Dies zu tun, sei er in der Lage gewesen, obwohl sie nicht zu Hause gewesen sei; den Vorschriften entsprechend habe er ihr eine schriftliche Mitteilung hinterlassen, daß die zwangsweise Räumung auf ihre Kosten heute mittag erfolgen werde. Jetzt sei er hier, und er hoffe, sie werde sich ins Unvermeidliche fügen.

Sie starrte ihn an, und jetzt endlich begriff sie ganz die Situation.

Nach seinen eindeutigen, leicht verständlichen Erklärungen wartete er nun ab, wie sie sich verhalten werde. Es fuhr Leben in sie. Es könne doch nicht sein, rief sie, es müsse doch zu verhindern sein, es sei doch nicht möglich, es müsse ein Mißverständnis sein, und als er antwortete, er sei nur Beamter und tue nur seine Pflicht, wiederholte sie, nicht mehr an ihn gewandt, sondern vor sich hinmurmelnd, immer wieder dieselben Sätze: es könne doch nicht sein, es müsse ein Mißverständnis vorliegen. Währenddessen drehte sich ihr Körper fahrig und zackig einmal in dieser, dann in jener Richtung, als wäre er vielen, ihm zugeschrienen, aber widerstreitenden Kommandos ausgesetzt, er zuckte zur Ausgangstür hin, zu den Zimmern, zur Stiege, auf den Beamten zu. Dann aber kam endlich ein Entschluß, sie rief, daß sie telephonieren müsse, und als er eine Bewegung machte, die etwa sagen sollte, daß er leider nicht Zeit genug habe, um sich durch ohnedies überflüssige und aussichtslose Unternehmungen aufhalten zu lassen, bat sie ihn so aufgeregt und dringend, doch ein wenig Geduld zu haben, der Automat sei ganz in der Nähe, sie werde gleich wieder hier sein, es werde nur einen Augenblick dauern, daß er schließlich mit einer resignierten Geste andeutete: also schön, er wolle warten, und schon stürzte sie auch weg. Doch an der Tür kehrte sie um und, sei es nun, daß sie fühlte, es werde mehr als einen Augenblick bis zu ihrer Rückkehr dauern, sei es, daß sie sich diesen Feind günstig stimmen zu müssen meinte, sie kehrte um, hetzte ins Zimmer, holte Zigaretten und Likör aus dem Eckschrank, stellte beides auf den Tisch, bat ihn mit hervorgestoßenen, stolpernden Worten, Platz zu nehmen und sich zu bedienen, und jagte davon. Er war unbestechlich und betonte es, indem er nicht einmal eine ihrer Zigaretten rauchte, sondern seinem versilberten Etui eine eigene entnahm.

Blanche lief durch den Garten, durch die Gasse bis zur Ecke der breiten, entlang des Parkes laufenden Straße, und dort blätterte sie, in die Zelle eingesperrt, mit ungeschickt wilden Bewegungen im Telephonverzeichnis und konnte und konnte die Leute nicht finden, die sie suchte, als hätte sie das A-B-C vergessen. Als sie aber schon die Hoffnung aufzugeben schien, daß sie sich jemals in der Reihenfolge der Namen auskennen würde, ließ sie plötzlich das dicke Buch fallen und ergriff den Hörer: ihr war mit einemmal, mit Rhythmus und Klang, doch noch die Nummer wieder eingefallen, die sie so oft schon benutzt hatte. Zuerst rief sie den ersten dieser zwei Anwälte an, die, wie sie dem Vollstreckungsbeamten gesagt hatte, ihre Angelegenheiten führten. Als sie nach ihm verlangte, sagte das Bürofräulein: »Einen Augenblick bitte!« Nach wenigen Sekunden kam es zurück und fragte, wer ihn zu sprechen wünsche. Blanche nannte ihren Namen, es verging geraume Zeit, schließlich kam das Fräulein wieder, um ihr mitzuteilen, daß sie sich geirrt habe, der Herr Doktor sei leider nicht anwesend. So, rief Blanche, der Herr Doktor sei nicht anwesend, warum sie dann erst überhaupt zurückgekommen sei, um zu fragen, wer ihn sprechen wolle. Die andere antwortete, sie habe eben gemeint, daß der Herr Doktor noch nicht weggegangen sei. Sie könne das nicht gemeint haben, wenn er tatsächlich nicht dort wäre, gab Blanche zurück, denn sie, Blanche, kenne doch die Lokalitäten, und das Fräulein müsse es ganz genau wissen, ob der Herr Doktor da sei. Nein, erwiderte wieder das Fräulein, der Herr Doktor sei schon im Vorzimmer gewesen, als das Telephon geklingelt habe, sie habe gedacht, sie werde ihn noch zurückrufen können, aber inzwischen sei er doch weggegangen. Darauf wußte Blanche nichts mehr zu sagen und fragte, ob der Herr Doktor heute eine Zuschrift bekommen habe, die sie ihm gestern geschickt habe. Das Fräulein zögerte und stotterte, ja, sie glaube, der Herr Doktor habe irgend etwas bekommen. Gut, sagte Blanche, dann solle das Fräulein ihm ausrichten: daß sie ihn für alles verantwortlich mache, daß er an allem schuld sei, daß er sofort herzukommen und die Sache in Ordnung zu bringen habe, sonst werde er noch seine Wunder erleben. Sie habe gehört, daß man gewisse Dinge der Advokatenkammer übergebe, daß man gegen Winkeladvokaten vorgehen könne. Blanche drohte mit einem ihr befreundeten, sehr bedeutenden Anwalt, der schon auf ihn, den Herrn Doktor, aufmerksam geworden sei, sie sprach von Pflichtverletzung und Schwindel, von den verbrecherischen Ratschlägen, die sie bekommen habe und für die er ins Gefängnis gehöre, wohin sie ihn auch bringen werde, sie drohte mit Maßnahmen und Anzeigen, sie drohte mit Donner und Blitz, und kurz und gut, sie werde alle Hebel in Bewegung setzen, wenn er nicht augenblicklich herkomme und die Angelegenheit in Ordnung bringe.

Das Fräulein gab sich alle Mühe, Blanche zu beruhigen und vor allem ihren Chef zu verteidigen, er habe sicherlich sein Möglichstes getan, er meine es immer gut mit seinen Klienten, doch sie kam kaum zu Wort und konnte gerade noch versprechen, daß sie alles versuchen werde, den Herrn Doktor irgendwo zu erreichen. »Irgendwo zu erreichen!« schrie Blanche. »Er steht neben Ihnen!«, und mit einem neuen heftigen Entschluß hängte sie ein und rief Feding an. Er war nicht in seinem Büro, sondern bei Gericht, und man wußte nicht, wie lange die Verhandlung dauern würde. Man versprach ihr, ihm sofort auszurichten, daß sie ihn bitten lasse, hinzukommen, und gab auf ihre Fragen sowohl der Meinung Ausdruck, daß er nach der Verhandlung noch ins Büro zurückkommen, als auch, daß er hinfahren würde, wenn sie ihn so dringend darum bitte, aber natürlich, wie lange er bei Gericht aufgehalten sein würde, könne man nicht voraussagen, und da auch dieses Gespräch beendet war, stand Blanche ratlos in der engen Zelle. Nach kurzer Weile verlangte sie Giselas Nummer, aber der Anschluß war besetzt, von zehn Sekunden zu zehn Sekunden versuchte sie es von neuem, immer vergebens. Sie mochte die Vorstellung haben, daß sie sich schon eine halbe Stunde bemühe, Gisela zu erreichen, und den Schluß daraus ziehen, daß die Leitung gestört sei, denn sie gab es auf, und nun stand sie abermals dort, bewegungslos, die eine Hand auf dem Pult, die andere am Hörer, bereit, ihn wieder abzuheben, das Gesicht mit den zornig vorgeschobenen Lippen bis zur Leblosigkeit gefroren, mit vor sich hinstarrenden Augen, und hinter der wild gefurchten Stirn mochte wohl das Gehirn die sich überstürzenden Vorstellungen aus sich herauspressen und jagen und jagen.

Alle Leute, die sie kannte, tauchten auf, die Namen schwammen vorüber, es war ein kochender Nebel aus Worten und Bildern – ihr Vater würde sie nur anschreien, daß ihn die ganze Sache nichts angehe, er sei immer gegen diese Clownerie gewesen, Carola wäre der Aufregung nicht gewachsen und würde es auch ablehnen zu kommen; Ruge war ein unpraktischer, unbeholfener Mensch, der alles nur verderben würde. Heinzfurth dagegen wäre der Richtige, der ist praktisch, energisch, fast ein Gewaltmensch, er wäre der Richtige, aber wahrscheinlich würde er ihr nur mit pathetischer Breitspurigkeit sagen: Das eben ist meine Stärke, Fräulein Blanche, das eben ist meine Stärke, der ich alles verdanke, daß ich nur dann etwas unternehme, wenn ich es für richtig halte! Im übrigen kennt sie nicht den Namen seiner Fabrik oder Firma, Schröder aber, das ist verlockend, er ist drüben, im Hauptgebäude, damals wurde sie ja von Heinzfurth an ihn gewiesen, gerade in der Angelegenheit des Häuschens, aber später war er unfreundlich geworden, sie war ihm unsympathisch gewesen. Stadel ist telephonisch überhaupt nicht zu erreichen, Giselas Anschluß ist gestört, Müller-Erfurt, wann war es doch gewesen, daß er bei ihr war, wann war es gewesen, dieses schöne, innige Gespräch über die Träume und über die Liebe, nachher allerdings hatte er sich nicht mehr bei ihr gezeigt, aber es war doch fast ein Liebesgespräch gewesen, aber dann war er verschwunden wie weggeblasener Nebel, ah, alles ist Nebel, Ladislaus Joachim, der Dichter, der Laffe, wird sich hüten, sich in eine so ordinäre Angelegenheit einzulassen; ja, wenn es sich um ein Perlenhalsband der Nichte des indischen Vizekönigs handelte … Ihre Mutter, was könnte sie denn ausrichten, im übrigen ist sie gar nicht zu Hause. Giselas Anschluß ist gestört, so viele Fäden verbinden einen mit den Nebenmenschen, aber wenn es darauf ankommt, ist man allein, ja, allein, allein ist der Mensch, wohin gehört man denn? Hilfe bringt immer nur der eine, der ganz zu einem gehört, allein, allein ist der Mensch, aber ihre Mutter, Feding, Gisela, sie würden ja kommen, es ist ja nur ein Zufall, daß sie nicht zu erreichen sind, nein, es ist kein Zufall, allein ist der Mensch, es ist kein Zufall, denn der eine, der ganz zu einem gehört, ist eben da, wenn man ihn braucht, er ist da, alles andere ist ferner Hintergrund, Kulisse, Schwindel, zum Teufel mit dem angeblichen Zufall, verflucht, verflucht das Leben, allein ist der Mensch, aber doch, etwas muß unternommen werden, Schröder ist so in der Nähe, ganz nahe, auch er ist ein praktischer Mann, vielleicht ist nur ein Handgriff nötig, eines Tages würde er vielleicht sagen: Aber selbstverständlich, gnädiges Fräulein, hätten Sie sich an mich wenden sollen, warum sind Sie nicht zu mir herübergekommen? Das aber würde er nur nachträglich sagen, wenn alles vorüber ist, sie war ihm unsympathisch damals, vor allem seine Sekretärin war geradezu frech, sie ist seine Geliebte, diese schnippische, unverschämte Person, aber er ist nebenan, ein Versuch wäre verlockend, aber es wäre verrückt, ihn von hier aus anzurufen, wenn er selbst so in der Nähe ist.

Blanche stand noch immer dort, mit erstarrten, in die Luft gebohrten Blicken. Endlich rührte sie sich, verließ die Zelle und rannte nach Haus.

Der Beamte erschrak, als er sie wiedersah, denn sie kam anders zurück, als sie weggelaufen war: atemlos vom Lauf und mit wehenden, zerrauften Haaren, das Gesicht aufgelöst, in den flatternden Blicken verzweifelt hilflose Fragen, in allen Zügen die Ratlosigkeit.

Blanche war recht lange fortgewesen. Der Beamte war während ihrer Abwesenheit auf die Gasse geschlendert, um den Arbeitern zu sagen, sie möchten noch einige Minuten warten. Zurückgekehrt aber war er allmählich ungeduldig geworden und hatte immer wieder auf die Uhr geschaut. Als sie nun hereinstürzte, schaute er ihr mit einem gewissen Entsetzen entgegen. Sie brachte Entschuldigungen und Erklärungen vor, warum sie so lange weggeblieben sei, und sprach, verwirrend und verwirrt, von den Telephonanschlüssen, die immer dann besetzt oder gar gestört seien, wenn man sie am dringendsten brauche, aber plötzlich hielt sie ein, denn sie nahm wahr, daß er seine eigenen Zigaretten rauchte; sie machte ihm Vorwürfe deshalb und schleppte nun andere Zigaretten, überdies noch Zigarren und Portwein herbei. Er bat sie vergebens, Flaschen und Gläser getrost an ihrem Platz zu lassen, und verfolgte mit einer gewissen Unruhe, wie sie hin und her jagte, um von hier eine Zigarrenkiste, von dort einen Aschenbecher für ihn herbeizutragen. Sie solle ihm lieber jetzt antworten, sagte er, was sie also ausgerichtet habe, sie solle sich doch ins Unvermeidliche fügen, er sei Beamter, er wisse selbst am besten, wie peinlich die Aufgaben seien, die ihm zugewiesen würden; nun also, sie solle ihm sagen, was sie ausgerichtet habe.

Ihre Anwälte, ja, ihre beiden Anwälte, berichtete sie als Resultat ihrer Aktion und sprach, als hätte sie schon einen gewissen Sieg erkämpft, ihre beiden Anwälte würden herkommen, er müsse sich nur ein wenig gedulden, es werde sich herausstellen, daß alles ein Mißverständnis sei, daß es sich vielleicht nur um eine Formalität handle, man werde es ihm sicherlich aufklären, er müsse sich nur ein wenig gedulden. Aber er schüttelte den Kopf: das alles sei gar nichts nütze, er habe seinen Auftrag, und ihre Anwälte könnten daran gar nichts ändern, ob es nun einer oder ihrer zwei oder zehn seien. Ja, wenn sie mit dem gegnerischen Anwalt gesprochen hätte, beziehungsweise mit der klagenden Partei selbst und deren Einverständnis zum Aufschub der Räumung gebracht hätte, ja, das wäre etwas anderes, dann hätte er nur auf die schriftliche Bestätigung dieses Einverständnisses zu warten gehabt, um sich schleunigst aus dem Staub zu machen; aber er zweifle mit aller Bestimmtheit, daß sich die klagende Partei dazu herbeilassen würde. Sie hatte ihm zugehört und jedes Wort gierig in sich eingesogen. »Wieso?« rief sie jetzt, sie hoffe bestimmt, daß die Gegenpartei einverstanden sein würde, ja, sie sei geradezu davon überzeugt, denn einer ihrer beiden Anwälte stehe ausgezeichnet mit dem gegnerischen Anwalt. Es war ihr etwas durch den Kopf geschossen, sie strahlte auf, raffte sich von neuem zusammen und sagte, daß sie nur ins Nebenhaus laufe und im Augenblick zurück sei. Sofort und schnell erhob sich der Beamte: in was für ein Nebenhaus sie denn laufe, rief er verwirrt und mit Angst im Blick, was sie denn da rede, um Gottes willen!, hier sei doch überhaupt gar kein Nebenhaus, was sie denn da rede. Doch, doch, klärte sie ihn auf, hier im Garten sei das Hauptgebäude, zu dem dieses hier nur das Nebengebäude sei, einige Schritte entfernt, dort werde sie telephonieren, es sei näher als der Automat, und sie werde nur ein einziges Gespräch führen, inzwischen solle er trinken, rief sie, schon bei der Tür, unbedingt müsse er trinken und rauchen, sonst sei sie böse, ja, sie sei persönlich böse auf ihn, wenn er es nicht tue. »Wirklich! Ganz böse, ganz böse!« wiederholte sie und verschwand.

Er seufzte auf, ging wieder auf und ab, besah sich die Zigarrenschachteln, roch an den Zigarren, nahm die Flaschen in die Hand, studierte die Etiketten und nickte beifällig zur guten Qualität, aber er rauchte nicht von ihren Zigaretten und trank nicht von ihrem Wein. Wie ein gewisses Mitleid, das er spürte, mochte ihn auch ihre Gastfreundschaft oder Freigebigkeit vielleicht veranlassen, schonungsvoller mit ihr zu sprechen und behutsamer gegen sie vorzugehen, keinesfalls aber ihn gefügig machen, auch nur um ein Schrittchen von dem ihm vorgeschriebenen Weg abzugehen, denn es verfolgten ihn strenge Augen, es walteten strenge Aufträge über ihm, donnernde Mahnungen des Herrn Klarens, sich nicht zu irgendwelchen ungesetzlichen Rücksichten verleiten zu lassen, und schreckenerregende Drohungen mit den peinlichsten Maßnahmen bis zur letzten Konsequenz für den Fall, daß er sich auch nur zu den kleinsten Unregelmäßigkeiten oder Unkorrektheiten von dieser Dame gewinnen lasse, und sollte sie auch noch so verlockende Methoden verwenden, ihn einzufangen.

In der Richtung gegen das Hauptgebäude hörte Blanches Besitztum schnell auf – soweit es eben ihr Besitztum war oder überhaupt jemals gewesen war –, und sobald sie, zwischen zweien der Bäume hindurchlaufend, den Kreis der Ulmen verlassen hatte, war sie in fremdem Gebiet, in jenem Niemandsland, das zwischen den beiden Häusern lag, das kaum jemals begangen, von keinem Menschen gepflegt wurde und durch das nur ein schmaler Weg führte, der, vom Regen zerwaschen, von unregelmäßigen Grasflecken bewachsen und von den herandrängenden Sträuchern überwuchert, kaum einer mehr war. Es war Wildnis um sie, ein nur für sich selbst blühender Frühling, in dem die nicht gesäten Blumen zwischen dem verfaulten Laub und Abfall der vergangenen Jahre wuchsen und in dem geknickte, verdorrte Äste von den neu ausschlagenden Sträuchern, von den mit frischen Blättern übersäten Bäumen hingen. Dieses Stück Erde war wie aus der Welt herausgehoben, und es war nichts anderes zu hören, als unter ihren rennenden, hetzenden Schritten das Knacken trockener Zweige, die von ihren Füßen getreten und zerbrochen wurden. Sie hastete vorwärts, dann leuchtete ihr die Seitenfront des Hauses entgegen, und sie gelangte auf den breiten Weg, der vom Gartentor zum feierlichen Hausportal führte.

Ohne Bedenken sprang sie die vier Vorstufen hinauf, am Portier vorbei, der auf der obersten stand. Er fragte sie zwar, wohin und zu wem sie wolle, aber sie warf nur hin, daß sie telephonieren müsse, und bevor er noch seinen Satz beenden konnte, daß dies hier weder ein Postamt noch eine Telephonzelle sei, war sie längst vorüber und rief, schon von der Freitreppe, zurück, sie gehe zum Herrn Prokuristen Schröder. Ein Angestellter kam ihr entgegen, sie fragte ihn nach Herrn Schröder, und ohne daß er fähig gewesen wäre, in seinen Blicken die Überraschung über ihre ganze Erscheinung zu verhehlen, wies er sie in den ersten Stock. Oben, in der Vorhalle, begegnete sie nochmals einem Angestellten, der sie, auf ihre abermalige Bitte um Auskunft, auf den Anmeldungsraum zeigend, in den Gang schickte, der seitlich von hier weiterlief. Sie eilte hin und suchte die Tür, auf der das Wort Anmeldung stand, dort aber – energisch, schlau und geistesgegenwärtig – wartete sie, indem sie an ihrer Frisur herumfingerte, bis der Angestellte in einem Zimmer verschwunden war, und dann lief sie weiter bis zur Tür, auf der der Name Schröder stand. Mit der linken Hand anklopfend, drückte sie schon mit der rechten die Klinke nieder. Sie kam in den Nebenraum, in dem Schröders hübsche und zierlich gebaute Sekretärin vor der Schreibmaschine saß und nun, den Kopf von ihrer Arbeit hebend, mit strafendem und empörtem Blick der Eindringenden entgegensah.

Auf Blanches Verlangen, zu ihrem Chef geführt zu werden, stemmte sie den Ellenbogen auf den Tisch neben die Maschine, legte den Kopf schief in die offene Hand, und, dem Gast ins Auge sehend, sagte sie, die Anmeldung sei vier Türen zurück, und zugleich wies sie mit ausgestrecktem Finger und auch noch mit straff ausgestrecktem Arm in die angegebene Richtung, eine Geste, die zugleich einen Hinauswurf markierte. Aber Blanche ließ sich nicht abweisen und nannte ihren Namen, sie sei nun einmal hier, sagte sie, und müsse augenblicklich mit Herrn Schröder sprechen, in einer privaten Angelegenheit, fügte sie hinzu. »In einer privaten Angelegenheit?« wiederholte die andere, musterte Blanche, erkannte in ihr jene Dame, die sie vor über zwei Jahren mitten im eisigen Winter auf Schröders Wunsch durch den Garten hatte hinüberführen müssen, und mochte sich eilig zu entscheiden suchen, welche von den in ihrem brodelnden Gehirn auftauchenden frechen Antworten sie ihr hinlegen sollte als die beste und schlagendste. Aber während sie die Besucherin anschaute und anstarrte, kam doch eine gewisse Angst oder doch wenigstens eine gewisse Scheu über sie, und da gerade ein Bote eintrat, befahl sie ihm kurzerhand und mit einer wegwerfenden Handbewegung, Fräulein Riedinger anzumelden.

Der Bote mußte Herrn Schröder berichtet haben, in welch aufgeregtem und abgehetztem Zustand die Dame sei, die ihn zu sprechen wünschte. Mochte es nun Neugier oder gesellschaftlicher Zwang sein, er war nicht nur höflich genug, sie sofort zu empfangen, er kam ihr auch bis zur Tür entgegen, um sie in sein Büro zu führen. Es sei schwer für ihn, sagte er, sobald er gehört hatte, worum es sich handelte, sich in diese Angelegenheit einzumengen, die doch schließlich eine Rechtsangelegenheit und, wie es den Anschein habe, eine zu Ende gebrachte und abgeschlossene Rechtsangelegenheit sei. Deshalb halte er es auch für unangebracht, daß er als fremder Mensch sich an den Anwalt des Herrn Klarens wende, denn dies könnte am Ende nur verstimmend wirken, aber sie solle es doch selbst tun, munterte er sie auf und verband sie. Der Anwalt hatte eine wichtige Konferenz und ließ ihr durch seinen jungen Sozius sagen, er könne die Verhandlungen, in denen er begriffen sei, nicht unterbrechen, er sei aber im übrigen leider auch der Meinung, daß ein Gespräch doch zu nichts führen würde, da er sich streng an die Weisungen seines Mandanten halten müsse. Schröder ging, während sie sprach, auf und ab. Seine anfängliche Kühle und staunende Zurückhaltung schmolz ein wenig, je länger er sie betrachtete und zusehen mußte, wie sie gegen die Tränen anzukämpfen hatte. Er verspreche sich zwar nichts davon, sagte er, da sie es aber so dringend wünsche, werde er, sobald er dieses wichtige und eilige Schriftstück hier studiert habe, in fünf Minuten etwa, hinüberkommen. Vielleicht könne er mit dem Beamten sprechen und wenigstens Einblick in die Sache bekommen.

Die Tür öffnete sich und, den Stenographieblock in der Hand, trat die Sekretärin ein. Sie kam auf Zehenspitzen, legte, wie um Verzeihung bittend, den Kopf niedlich zur Seite, machte ein Mäulchen und hauchte mit demütigen Blicken, sie bitte tausendmal um Entschuldigung, daß sie störe. Er kannte dies alles, so kam sie immer, wenn er einen Gast hier hatte, dem sie sich, weil er ihr aus irgendeinem Grund bedeutend oder interessant erschien, mit ihrem hübschen Gesicht, ihren hübschen Beinen und ihrer eminenten Tüchtigkeit im Beruf präsentieren wollte, in der Überzeugung, daß er sich im geheimen die Augen nach ihr ausschauen und, kaum daß sie das Zimmer wieder verlassen hätte, geradezu explodieren werde in Lobgesängen auf ihr entzückendes Gesicht, ihre wunderbaren Beine und alles andere und zugleich auf ihre eminente Tüchtigkeit im Beruf; so also kam sie immer, wenn ihr ein Gast besonders interessant erschien oder wenn sie neugierig war.

Jetzt näherte sie sich schüchtern ihrem Chef, mit allen Zeichen der Vorsicht, um nur ja nicht mehr zu stören, als es unbedingt nötig war, dann beugte sie sich zu ihm und sprach halblaut: Er habe ihr vorhin diesen Brief an die Bank diktiert und darin berufe er sich auf die stattgehabte Korrespondenz vom November vorigen Jahres, sie aber fürchte, daß hier ein Irrtum vorliege, sie glaube sich zu erinnern, daß diese Korrespondenz erst im Dezember oder Januar stattgefunden habe; sie erlaube sich, ihn darauf aufmerksam zu machen. Man dürfe es schließlich der Bank in einer so wichtigen Sache nicht so leicht machen, daß sie gegebenen Falles erklären könnte, zu der angegebenen Zeit,, nämlich im November vorigen Jahres, habe überhaupt keine Korrespondenz stattgefunden. »Schauen Sie nach!« sagte er und wies auf ein Regal hinter sich. Sie pirschte sich mit zartester Behutsamkeit an die rückwärtige Wand, als hätte sie den Wunsch, sich zu einem nicht zu beachtenden Nichts zu machen, holte eine Mappe vom Regal und blätterte in ihr.

Ganz und gar im Banne ihrer augenblicklichen Situation sprach Blanche rückhaltlos über ihre Angelegenheiten. Sei es aus Diskretion, sei es, weil er seine Sekretärin enttäuschen wollte, versuchte Schröder abzulenken und blieb bei allgemeinen Redewendungen: er werde ihr sehr gern behilflich sein; ihr selbst sei er zwar nur einmal begegnet, aber ihren Vater kenne er natürlich, und er sei über ihn um so besser informiert, als er ja seit Jahrzehnten der Rechtsvertreter seines besten Freundes Heinzfurth sei. »Haben Sie's gefunden?« wandte er sich über die Schulter an seine Sekretärin.

»Ja, eben habe ich's gefunden, Herr Prokurist!« antwortete sie und stellte die Mappe zurück. Bevor sie aber das Zimmer verließ, blies sie, schon an der Tür, Schröder zugewandt und hinter Blanches Rücken, die Backen auf, um eine dicke Person nachzuahmen, und deutete mit beiden Händen vorn und hinten gewaltige Rundungen an.

Blanche antwortete Schröder, da er von Heinzfurth spreche, müsse sie ihm gestehen, sie habe in ihrer Not auch daran gedacht, ihn, Heinzfurth, anzurufen; immerhin sei er einmal ihr Gast dort gewesen, er kenne also das Häuschen, und es habe ihm, wie sie glaube, sehr gut gefallen. Er mochte sich jenes Besuches erinnern, den sein Freund drüben gemacht hatte, jenes Besuches, über dessen Verlauf er allerdings nur einseitig von Heinzfurth informiert worden war. Nun, sagte er jetzt, indem er einen Blick auf die Uhr warf, sein Freund pflege ihn um diese Zeit abzuholen, denn sie äßen gewöhnlich miteinander zu Mittag, wenn sie es wünsche, werde er ihn mitbringen, wofern er tatsächlich kommen sollte, was natürlich nicht gar so sicher sei, oder ihm hier hinterlassen, daß er nachkommen solle; am Ende werde er besser Rat wissen, als er, Schröder. Ach ja, sagte Blanche und atmete aus der Tiefe her auf, sie sollten nur ja beide kommen; wenn zwei so praktische, energische und kluge Männer sich der Sache annähmen, dann müßte ja alles verhext sein, wenn sie nicht wieder in Ordnung kommen sollte. Sie dankte ihm voll Überschwang, war schon voller Hoffnung, ja, schon voller Freude und rannte zurück.

Die Sekretärin übrigens hatte genug gehört, um ungefähr zu wissen, was Blanche zu ihrem Chef geführt hatte, der zugleich ihr Geliebter war, und schon eilte durchs ganze Haus mit Flügelschritten die Kunde, was sich hier, ganz in der Nähe abspiele: Exmittierung, zwangsweise Räumung, Skandal, Gewalt, Kampf und schreckliche Verzweiflung der Betroffenen. Mit größerem Eifer trugen die Boten die Akten von Zimmer zu Zimmer, um die Nachricht zu verbreiten, und die Schreibmaschinen klapperten hastiger, damit die eben eingespannten Briefe schneller beendet seien und sich die Schreiberinnen dann mit leichterem Gewissen der Erörterung der Neuigkeit widmen könnten. Die Langeweile des Tages, die Langweiligkeit der Arbeit war durchbrochen, die Laune aller, die erfuhren, was drüben vor sich ging, besserte sich – wer sehnte sich nicht hinüber auf den Schauplatz der schauerlich-schönen Vorgänge?

Die Sekretärin war entschlossen, Zuschauerin dieses Theaters zu werden. Im Garten vor dem Haustor begegnete sie, wie immer in der schönen Jahreszeit um diese Stunde, zwei Freundinnen, die wie sie hier angestellt waren, und sie beratschlagten voll Hast und Leidenschaft, wie sie es bewerkstelligen könnte, hinüberzukommen, etwa unter dem Vorwand, wenn Schröder tatsächlich hinübergehen sollte, daß sie ihn suche, um von ihm eine dringende Auskunft zu erbitten. Der Portier gesellte sich zu ihnen und berichtete, daß diese Dame wie eine Verrückte an ihm vorübergeflogen sei. Einen Augenblick sei es ihm durch den Kopf geschossen, sie sei ein verkleideter Mann, und es handle sich um einen Gangsterüberfall bei hellichtem Tag, er habe noch froh sein müssen, daß sie ihn nicht niedergeboxt oder niedergeschossen habe. Sie solle, sagte jemand, doch lieber den Hausherrn, der sie hinauswerfe, oder, wenn der nicht zur Hand sei, den Exekutor niederboxen. Aber ein zwanzigjähriger Angestellter, ein sehr eleganter junger Mann, setzte ihnen, indem er seine juristischen Kenntnisse vorführte, fachmännisch auseinander, das sei Beamtenbeleidigung und Widerstand gegen die Amtsgewalt, darauf stehe sehr hohe Strafe, und wenn sie sich dazu hinreißen ließe, würde sie augenblicklich verhaftet und eingesperrt werden. Da erhob sich ein gewaltiges Gelächter, und in allen rumorte die lüsterne Hoffnung, daß sich die Sensation noch steigern, daß sich vielleicht doch noch etwas Ungeheueres ereignen werde. Als aber nun zwei Musikanten erschienen, mit Violine und Miniatursaxophon, zwei häufige Gäste, die hier immer viel verdienten, denn es waren lustige und hübsche junge Burschen, deren Stärke es war, immer die neuesten Schlager zu kennen, da hob sich die Stimmung noch mehr, und es war, als habe wirklich nur noch Musik gefehlt zum Texte der Seelen.

Die beiden waren mit Schwung und Elan, schon geigend und blasend, von der Straße her in den Garten eingebogen, und die Leiber der jungen Damen begannen sich zu wiegen und zu schlängeln. Der elegante junge Angestellte erklärte mit einem gewissen herrischen Trotz, er gehe ohne jeden Vorwand hinüber, denn er habe das Recht, im Garten spazieren zu gehen, wo er wolle; der Portier übergab sein Amt für diese leere Mittagsstunde seiner Frau, um hinüberzuschauen, und nun folgten auch die Mädchen, nachdem die Sekretärin den hübschen Musikern zugewinkt hatte mitzukommen, drüben gebe es vielleicht viel zu verdienen. Die drei jungen Damen schlugen sich auf dem fremden, verwahrlosten Weg lachend mit den niederhängenden Zweigen der Bäume, trampelten auf den aufgehäuften, dürren Ästen, weil ihnen das Krachen Vergnügen machte, dann gingen sie wieder wie die Schulmädchen zu dritt eingehängt und hüpften und zuckten, als koketten Gruß an die hinter ihnen marschierenden Musikanten, mit ihren Hinterteilen zum Takt der Musik und summten zuerst und sangen dann immer lauter in den Frühlingstag den schmissigen Schlager: Ich fühle mich als Gentleman / Wenn du so heiß mich küßt!

Blanche wurde, von ihrem Besuch bei Schröder zurückkommend, schon von weitem mit unzufriedenen Gesten des Beamten begrüßt. Er breitete, indem er vorwurfsvoll den Kopf schüttelte, fragend die Arme aus und: wie sie sich's denn denke; er habe Pflichten, strenge Aufträge und dürfe unter gar keinen Umständen den Tag hier untätig verbringen, aber sie solle ihm, fuhr er fort, wenigstens sagen, was sie ausgerichtet, ob sie mit dem gegnerischen Anwalt gesprochen habe. Sie gingen ins Haus, und Blanche sprach von Schröder, von Heinzfurth, die gleich herüberkommen würden, was sie nun schon als zweiten Sieg zu betrachten geneigt war, dann sprach sie wieder von ihren beiden Anwälten. Da sie aber das Zimmer betraten, fuhr ein neuer Schrecken in sie: Warum er denn noch immer nicht getrunken habe, rief sie enttäuscht, sie sei sehr böse, es sei sehr häßlich von ihm, alles zu verschmähen, was sie ihm anbiete, und sie lief zum Tisch, um sich zu überzeugen, daß er seine eigenen Zigaretten rauchte und daß tatsächlich das Glas unbenutzt war. Sie hob das Glas ein wenig auf und sah unglücklich auf seinen trockenen Boden, als stände dort ein böses Zeichen geschrieben. Sie klammerte sich nun einmal, wie unter einem Bann, an dieses Mittel der Gastfreundschaft oder Freigebigkeit, das seinen guten Willen entfachen, ein gewisses Entgegenkommen anregen, seine erfahrungsreichen Ratschläge aus ihm herausziehen und sie auf solche Weise aus dieser Situation erretten sollte.

Er winkte ab und beharrte auf seiner Frage, was also der gegnerische Anwalt ihr gesagt habe. Als sie aber mit stockenden, immer wieder abbrechenden, nicht recht verständlichen Sätzen antwortete, zuckte er mit den Achseln und bat sie, sich setzen zu dürfen. »Bitte sehr!« sagte sie und schob ihm, wie eine gar zu höfliche Gastgeberin, den Sessel zurecht und ließ sich selbst nieder. Sie saß auf dem Sofa an der Wand, ein wenig vorgeneigt und die Hände mit gespreizten Fingern rechts und links von sich auf dem Sitz, er an der Breitseite des ovalen Tisches, dem Fenster gegenüber, und blätterte in den Akten. Er müsse doch, die Herren würden gleich kommen, bat sie schüchtern, er müsse doch ein wenig Geduld haben. Er hob den Kopf. »Geduld, Geduld!« wiederholte er und dachte nach, indem er sie ansah. Nein, sagte er dann und schüttelte den Kopf, er dürfe keine Geduld mehr haben, er müsse an die Arbeit gehen, deshalb solle sie ihn jetzt zuerst einmal durchs Haus führen, denn er müsse doch orientiert sein, vielleicht übrigens, fügte er achselzuckend hinzu, komme inzwischen am Ende wirklich ihr Erretter.

Sie stiegen langsam ins erste Stockwerk. Nach seinen Blicken zu urteilen, stellte er in seinem Geiste fest, daß es Schwierigkeiten geben werde, über die schmale Stiege Möbel zu transportieren, und oben, zwischen den beiden Räumen, prüfte er angesichts der riesigen Couch mit den Augen die Höhe und Breite der Tür. Hier aber, vor diesem kleinen Raum, hielt er doch noch, ehe er weiterging, für ein kurzes Weilchen ein, um ihn zu betrachten, vielmehr, da viel zu betrachten nicht war, ihn in sich aufzunehmen oder zu genießen. Seine private Seele schien Wohlgefallen an diesem winzigen Zimmer zu empfinden, sein privates Gehirn zu denken, wie hübsch solch ein Kabinett, nur mit einem großen, breiten Ruhebett ausgestattet, und wie wohlverwendbar es sei. Blanche beobachtete ihn ohne Unterlaß und wandte nur manchmal den Kopf zum Fenster, um hinauszuhorchen, ob schon jemand komme.

Sie kehrten ins Erdgeschoß zurück, und als sie wieder die unteren Zimmer betraten, lief Blanche mit einem plötzlichen erschreckten Aufschrei zum Sekretär. Sie hatte vergessen, daß dort noch ihr Brief lag, und schob ihn vorläufig zwischen die Deckel der Schreibmappe. Sie brauche keine Angst zu haben, sagte er, er wolle gewiß ihre Privatbriefe nicht lesen; und er lächelte vielsagend, als zweifle er nicht, daß dieser so ängstlich versteckte Bogen Papiers ein Liebesbrief sei. Er mochte das Bedürfnis empfinden, endlich etwas zu sagen, was außerhalb seines Amtes wäre. »Wahrscheinlich«, fragte er, »werden nicht nur Sie um dieses Häuschen trauern?« Sie verstand ihn nicht. Er versuchte, verschmitzt zu lächeln: »Nun, ich nehme an – wenn man sich umsieht, wie hübsch alles ist und so geschmackvoll, es ist ja, wie soll ich sagen, es ist ja wie ein Liebesnest.« Doch als fürchtete er, zu weit gegangen zu sein, fuhr er schnell zu reden fort und versprach ihr, daß er den Arbeitern den Auftrag geben werde, vorsichtig mit den Möbeln umzugehen.

Jetzt hörte man Schritte im Garten. »Sehen Sie!« rief Blanche triumphierend aus und wollte ans Fenster eilen, aber er war näher und kam ihr zuvor. Als er einen Blick durch die Scheiben warf, stieß er einen Fluch hervor und wandte sich gleich wieder zurück, zu Blanche. »Da haben wir's!« sagte er vorwurfsvoll. »Der Herr Klarens!«

Wirklich, im Freien stand, dem Eingang gegenüber, zwischen zwei Ulmen, Herr Klarens, aufrecht mit seiner gestrafften Gestalt, in wohlgebügelter Korrektheit, vor dem Auge das in der Sonne funkelnde Monokel und die Hand auf einen Stock mit goldener oder vergoldeter Krücke gestützt. Hinterm Vorhang versteckt, konnte Blanche ihn beobachten, ohne selbst bemerkt zu werden. Sie hatte ihn, immer im düstern Halbdunkel seines Vorzimmers, bisher nur zweimal gesehen, das erste Mal kaum zwei Minuten lang, das andere Mal nur einige Sekunden, und nun betrachtete sie ihn wie einen Menschen aus einer anderen Welt, und doch war's nur ein leichter Hauch, der ihn von anderen Menschen unterschied. Er trug einen beigefarbenen Sommerüberzieher und einen grauen Velourshut, unter dem Kragen mit abgebogenen Ecken eine mit weißen Phantasieblumen durchwebte schwarze Krawatte, graue Wildlederhandschuhe und schwarze, an der Seite geknöpfte Halbschuhe mit hellbraunen Einsätzen. Eines wollte nicht recht zum andern passen, und wer einen Blick dafür hatte, mußte erraten, daß alles, was er trug, schon recht alt war. Von seiner Erscheinung ging die leichte Fremdartigkeit des Gestrigen aus, die sich oft nur durch kaum definierbare, verfließende Kleinigkeiten vom Heute unterscheidet. Der Überrock war ein wenig zu kurz, die Hutkrempe ein wenig zu schmal, die Schuhe zu lang und zu spitz, und doch war alles zugleich wie neu, denn das Material hatte den Zeiten standgehalten, die Güte der Arbeit hatte die Eleganz konserviert.

Als der Beamte den Garten betrat, rief Herr Klarens ihm schon von weitem entgegen, ohne gegrüßt zu haben oder den Gruß des andern abzuwarten: »Na also! Da sind Sie ja! Sehr liebenswürdig!« rief er, mit dem lauten Knarren seiner Stimme in die Stille des Gartens einbrechend. »Sehr liebenswürdig! Außerordentlich liebenswürdig, daß Sie die Unterhaltung mit der Dame, die ja sehr amüsant sein mag, zu unterbrechen geneigt sind, um vielleicht die noch größere Liebenswürdigkeit an den Tag zu legen, an die Ausführung Ihres Auftrags zu gehen! Draußen lungern die Arbeiter herum – der Staat bezahlt die Kerle wohl dafür, daß sie sich dort untätig herumsielen?« Es sei nur selbstverständlich, warf der Beamte hin, daß er sich zuerst an die zu exmittierende Partei wende, aber schon rötete die Wut Klarens' Gesicht. »Selbstverständlich?« schrie er. »Was ist selbstverständlich? Herr! Der jetzige Staat verlangt von uns Steuern bis zum Weißbluten! Verstehen Sie? Bis zum Weißbluten! Jetzt sieht man ja, wofür er sie braucht! Damit die jungen Kerle draußen untätig und Zigaretten rauchend herumlümmeln können!«

Auch der Beamte hatte längst einen roten Kopf bekommen, denn die beiden kannten einander schon. Fürs erste, begann er, habe Fräulein Riedinger für die Kosten der Exmittierung aufzukommen und nicht der Staat, aber Klarens hörte gar nicht hin. »Ich gehe jetzt«, rief er, »um meinem Anwalt mitzuteilen, daß hier überhaupt noch nichts in Angriff genommen ist! Vielleicht wird er ihnen einige Rechtsbelehrungen über die Pflichten eines Beamten erteilen!« Und damit drehte er sich auch schon um und eilte wieder davon. Er marschierte mit starken Schritten dahin, elastisch und schnell wie ein Jüngling, den Körper voll Spannung, jede Bewegung voll Kraft. Wie er sich seine Jugendlichkeit bewahrt hatte!

Der Beamte zuckte nur mit den Achseln, er schien keine Angst zu haben, weder vor Klarens, noch vor dessen Anwalt, und kehrte zu Blanche zurück. Sie müsse sich ins Unvermeidliche fügen, sagte er, sie sehe ja, wie er selbst gedrängt werde, nun müsse er einmal zu den Arbeitern hinausschauen, am Ende komme inzwischen ihr Erretter. Er schlenderte hinaus, kaum aber war er zurückgekehrt, tauchte auch Klarens wieder auf. Er mußte geradezu gelaufen sein, nur um einige Worte ins Telephon zu schreien, und wieder zurückgerannt sein. »Schon im Anrollen, mein Lieber!« triumphierte und drohte er. »Mein Anwalt ist schon im Anrollen! Er ist empört und wird Ihnen, hoffe ich, einige Rechtsbelehrungen erteilen!« Er wisse selbst, was seine Pflicht sei, rief der Beamte zurück. »Dann also Tempo, Tempo!« warf Klarens hin und begann, auf und ab zu gehen, offenbar entschlossen, alles weitere seinem Anwalt und dessen energischen und durchgreifenden Maßnahmen zu überlassen. Die Vorgänge schlugen nun wirklich ein gewisses Tempo an.

Der Beamte schaute nach den Arbeitern aus. Statt ihrer jedoch kam ein fremder Mann, der, etwas atemlos, da er offenbar von der Haltestelle der Elektrischen hierher gelaufen war, zugleich aber ängstlich und scheu, vom Eingangspfad her zwischen den Bäumen auftauchte, dort stehenblieb, sich verschreckt umsah und dann erst auf den Beamten zuging, um sich ihm als den Rechtsvertreter von Fräulein Riedinger vorzustellen und sofort, wie gehetzt, zu beginnen: Was denn hier vorgehe, Fräulein Riedinger habe ihn eilig herbestellt, er habe sich von dringenden Arbeiten freigemacht, da sie seine Hilfe benötige, er sei außer sich, er sei ganz erstaunt, was denn hier vorgehe. Der Beamte berief sich abweisend mit wenigen Worten auf seinen Auftrag, und Klarens unterbrach seinen Marsch hin und her, um das ihm unbekannte Individuum zu mustern. Dieser Unbekannte, Blanches Vertreter, war mit seinem zerdrückten, fetzig herunterhängenden Ulster, seinen faltigen Hosen und schiefgetretenen Stiefeln recht schäbig gekleidet und trug einen Künstlerhut. Wenn man ihn sah, konnte man zweifeln, ob er bei seinen grauen Haaren, die rings in dünnen Büscheln wie unregelmäßige Fransen unterm Hutrand hervorlugten, und mit seinen tief eingefressenen Falten im zerfallenen Gesicht wirklich schon sechzig Jahre alt war oder erst ein Vierziger, der viel geprügelt und geschunden worden ist. Ob Fräulein Riedinger am Ende selbst hier sei, fragte er weiter, er möchte ihr nämlich, um Gottes willen, fügte er gefühlvoll hinzu, er möchte ihr, die er als Menschen so sehr schätze und von der er wisse, was für eine zarte Seele sie habe, er möchte ihr die Peinlichkeit dieser Situation ersparen, um so mehr als sich diese ohnedies bald klären werde, denn er werde augenblicklich alle nötigen Schritte unternehmen. Der Beamte wies ihn ins Haus, und aus dessen Innerem waren bald die beiden Stimmen zu hören, die ihre einmal weinend, dann wieder empört, vorwurfsvoll und drohend, dazwischen die seine als beschwichtigendes, beschwörendes Geflüster.

Endlich kamen die drei Arbeiter. »Tempo! Tempo!« rief ihnen Klarens zu, aber sie mochten denken: Was hat uns der zu befehlen! Sie beachteten ihn nicht und schlenderten gemächlich weiter. Der Beamte gab ihnen ziemlich ausgesponnene Aufklärungen und Befehle, zeigte mit ausführlichen Gesten aufs Erdgeschoß, ins Stockwerk hinauf, deutete mit den Händen den Umfang der Möbel an und wies auf die Enge der Tür.

Der Fremde kam wieder zum Vorschein, mit rotem Kopf und außer Atem. Er drängte sich schnell an den Beamten heran, mit sich überstürzenden, vertraulich geflüsterten Worten, mit heiß hervorgestoßenen Eiden, daß ganz bestimmt der Exmittierungsauftrag spätestens morgen rückgängig gemacht sein werde, mit aus der Brieftasche hervorgekramten Papieren, Quittungen, wie er sagte, über Eingaben und Rekurse, die er weggeschickt, mit Warnungen, die Presse könnte sich für den Fall interessieren, wie man Künstler um ihre Arbeitsmöglichkeit bringt, doch der Beamte hörte kaum zu und wies nur auf Klarens als den Kläger, er selbst habe hier nichts zu entscheiden. Der Vertreter erschrak, als er erkannte, daß dieser vornehme und kampflustig herüberblickende Mann der Gegner sei, aber er ging dennoch hinüber, murmelte, bei Klarens angekommen, seinen Namen und begann gleich, mit einer gewissen Intimität und einem lächelnden Augenzwinkern zu reden, als wollte er sagen: Wir zwei, wir sind vernünftige Männer und wollen zeigen, wie man eine Sache im Handumdrehen aus der Welt schafft! Er sprach von Entgegenkommen und gegenseitigem Verstehen, von Blanches Künstlertum, um dessentwillen sie doch auf sie Rücksicht nehmen wollten, von Menschlichkeit, vom Frieden der Herzen und von gütlicher Vereinbarung auf menschlicher Grundlage.

»Sagen Sie einmal!« unterbrach ihn Klarens, »wer sind Sie eigentlich?« Er sei der Rechtsvertreter von Fräulein Riedinger, antwortete er. »Rechtsvertreter? Rechtsvertreter?« rief Klarens. »Sagen Sie lieber Unrechtsvertreter!« Er lachte mit schrillem Geschrei. »Wie viele Unrechtsvertreter hat denn eigentlich die Dame? Ich glaube doch schon einen Unrechtsvertreter zu kennen? Jawohl, mein Herr, Unrechtsvertreter sage ich, Unrechtsvertreter! Und Sie müssen sich auch so vorstellen, wenn ich Sie frage: Ich bin der Unrechtsvertreter der Dame, müssen Sie sagen, nicht Rechtsvertreter! Das ist nämlich etwas ganz anderes! Mein Anwalt ist mein Rechtsvertreter, verstehen Sie? Sie aber sind der Unrechtsvertreter der Dame! Und wenn es, so Gott will, zum Prozeß kommen sollte, müssen Sie vor Gericht sagen: Als Unrechtsvertreter der beklagten Partei erkläre ich –! Ja, so müssen Sie sich auch dem Richter vorstellen: Herr Vorsitzender, müssen Sie sagen, ich bin der Unrechtsvertreter der beklagten Partei –!« Er lachte immer weiter, das Gelächter schüttelte ihn, daß sich sein Gesicht über und über rötete und er das Monokel vom Auge nehmen mußte. Das Wortspiel schien ihm so über alle Maßen treffend und witzig, daß er es vielleicht bis zum Tage des Weltendes, glücklich und lachend, in allen nur möglichen Variationen und Zusammenstellungen wiederholt hätte, wenn er nicht von neuem abgelenkt worden wäre. »Da kommen wohl neue Unrechtsvertreter?« rief er.

Von der gegenüberliegenden Seite nämlich, gerade dem Platz gegenüber, auf dem er stand, war endlich Schröder erschienen und hinter ihm Heinzfurth. Dieser war tatsächlich kurz nach Blanches Weggang seinen Freund abholen gekommen. Kaum hatte er gehört, was drüben vorging, war er auch schon bereit, Schröder zu begleiten, sei es aus Neugier und Sensationslust, sei es, weil die Scharfsinnigkeit und Geistesgegenwart der Eitelkeit ihm eingab, daß sich hier eine gute Gelegenheit biete, Blanche zu beweisen, daß er sich durchaus nicht verletzt fühle, daß er an seinen Besuch bei ihr als an eine vorübergehende Laune, als einen Spaß längst nicht mehr denke, daß er durchaus nicht unglücklich, im Gegenteil, daß er ein sehr glücklicher Mensch sei, auch ohne sie und ihre Liebe.

Schröder war geschickt genug, noch bevor sich das Donnerwetter gegen ihn wenden konnte, mit allen Zeichen der Höflichkeit zu Klarens zu eilen, den er kannte. Er entschuldigte seine Anwesenheit hier, es sei ihm nicht möglich gewesen, sich den Bitten des Fräulein Riedinger zu entziehen, aber natürlich, es liege ihm durchaus fern, sich in Angelegenheiten einzumengen, die ihn, das wisse er sehr genau, ganz und gar nichts angingen. Dann sprach er einige Worte mit dem Beamten und ließ sich sofort überzeugen, daß alles nur nach Recht und Ordnung zugehe und jede Intervention also aussichtslos sei. Schließlich fühlte er sich nur noch verpflichtet, sich Blanche zu zeigen und ihr ein wenig zuzureden; doch bevor er noch seine Absicht hatte ausführen können, erschien Klarens' Anwalt, und er betrat gar nicht erst das Haus.

Der Anwalt kam hastig, mit mürrischem Gesicht, offenbar mißgestimmt, daß er von einem Augenblick zum andern mit wildem Alarm hergeholt und gezwungen worden war, eine wichtige Konferenz vorzeitig abzubrechen, aber Klarens' wütende Energie hatte ihn mit einer Dringlichkeit hergerufen, als ob sein ganzes Besitztum lichterloh in Flammen stehe und er, der Anwalt, die Feuerwehr sei. So hatte er sich denn in den Wagen geworfen und war hergefahren.

»Na also! Da sind Sie ja endlich!« rief Klarens dem Herankommenden schon von weitem zornig entgegen. Der Anwalt lüftete nur im Vorübergehen den Hut vor dem alten Mann und ging geraden Wegs auf den Exekutor zu. Er habe mit dem Beginn der Exmittierung ein wenig gezögert, sagte ihm der Beamte, weil er von Fräulein Riedinger dringend darum gebeten worden sei, denn sie habe sich noch von irgendwelchen Telephongesprächen oder Interventionen Erfolg versprochen. »Gut, gut, mein Lieber!« sagte der Anwalt. »Ich verstehe! Jetzt aber müssen wir darangehen!« Er drehte sich suchend nach den Arbeitern um. »Los, meine Herrschaften!« rief er ihnen zu und legte zugleich mit freundlicher Gemütlichkeit die Hand auf die Schulter des Beamten. Dieser nickte. »Ich werde ihr also mitteilen, daß sie sich ins Unvermeidliche fügen muß«, sagte er und ging hinein.

Plötzlich aber schrie Klarens wiederum auf, und alle wandten sich ihm zu. »Was ist denn los hier?« brüllte er. Man folgte seinen Blicken und sah, daß abermals zwischen den Bäumen am Rand des Platzes jemand erschienen war, und dies erregte seine Wut; aber es war nur ein harmloser Zuschauer, der Chauffeur des Lastwagens, dem das viele Kommen und Gehen vor dem Tor die Hoffnung erregt haben mochte, daß es hier etwas Besonderes zu sehen gebe. Es sei ja toll, schrie Klarens, ob er denn nicht das Recht habe, fremde Leute von seinem Grund und Boden zu weisen und, wenn es nötig sein sollte, polizeiliche Hilfe in Anspruch zu nehmen. Es sei eine heikle Frage, ob er jetzt schon dieses Recht habe, antwortete der Anwalt.

Blanche verließ das Haus. Sie erschien in der Tür, mit Hut und Mantel, unterm Arm ein Paket aus häßlichem, braunem, mit grobem Bindfaden zugeschnürtem Packpapier, da sie nichts anderes gefunden hatte, um ihre Briefe einzupacken, das einzige Besitztum, das sie selbst von hier wegtragen wollte. Sei es, daß sie von der Sonne geblendet wurde, sei es, daß sie erstaunt war, so viele Menschen hier zu sehen, sie hielt für einige Momente auf der Schwelle ein und blickte aus den verweinten Augen blinzelnd um sich, als wollte sie erkennen, wer denn die vielen Leute seien.

In diesem Augenblick heulte schmetternd das Saxophon auf, und der Bogen der Geige strich wild und mit aller Kraft über die Saiten. Dort hinten nämlich, in den Gebüschen, hatte sich die Sekretärin halb niedergehockt, um unten, durch eine Lücke des dichten Gesträuchs, eine freiere Aussicht auf die Vorgänge zu haben, und bei Blanches Anblick hatte sie den einen der beiden, den neben ihr stehenden Musiker leicht in die Kniekehle gestoßen und zu ihm hinaufgeflüstert: »Kennen Sie das auch: Ich bin so scharf –?« Er hatte nur kurz genickt, dem Kollegen zugewinkt und schon übermütig die ersten Takte des furios anhebenden Schlagers: Ich bin so scharf auf Erika / Wie Kolumbus auf Amerika / in sein Instrument geblasen und getobt.

Blanche zuckte zusammen, sie hielt den Atem an, der Schrecken fuhr durch ihren ganzen Körper, vom Kopf bis zu den Fußspitzen. Gott weiß es, was sie dachte, welche Vorstellungen in ihr erweckt wurden, als sie die schrecklichen Töne hörte! Klarens' Kopf wurde so rot, daß man glauben mußte, er werde in Flammen aufgehen, und als er den Mund öffnete, um zu brüllen, japste er nur. Zugleich natürlich waren alle anderen aufgefahren und drehten ihre Köpfe in die Richtung, aus der das Getöse kam, aber schon war auch die Musik verstummt, denn auch die hinter den Sträuchern versteckten Zaungäste waren über ihren eigenen Lärm und über sich selbst erschrocken. Der Mut verließ sie, sie schlichen davon, und sobald sie außer Hör- und Sichtweite waren, rannten sie, so gut sie konnten, nur die Sekretärin blieb, und jetzt kam auch, als letzter, Feding.

Gehetzt und atemlos bog er vom Eingangspfad her ein. Auch er mußte die hingehauenen Takte gehört haben. Vorerst blieb er stehen, mit gefurchter Stirn, zusammengezogenen Brauen, den Schnurrbart über den zornig vorgeschobenen Lippen in weitem Bogen gewölbt, und sah sich um, aber er erfaßte schnell die Situation, um so schneller, als er geahnt haben mochte, daß er sie so oder ähnlich hier vorfinden würde. Nur das scheußliche Konzert mußte ihn überrascht haben. Blanche ging, zwar noch benommen und eingeschüchtert, doch schnell auf ihn zu, aber Klarens' Anwalt kam ihr zuvor, und die beiden Kollegen begrüßten einander. Er bedauere außerordentlich diesen Ausgang der Sache, sagte der Anwalt, er wisse, daß sich Feding für die Angelegenheit interessiert habe, er wäre ihm gern entgegengekommen, um so mehr, als Fräulein Riedinger die Tochter eines Kollegen sei, aber er haben den strengen Weisungen seines Klienten folgen müssen, und die Rechtslage sei nun einmal eindeutig.

»Ich bezweifle es nicht!« antwortete Feding. Es könne sich ja auch nur, da er selbst wünsche, daß ein Ende gemacht werde, um einen kurzen Aufschub handeln, eine gewisse Frist, damit Fräulein Riedinger selbst den Auszug bewerkstelligen könne und nicht auf diese widerliche Weise aus einem Haus geworfen werde, an dem sie nun einmal so sehr hänge. Der Anwalt begriff es und begriff Blanche. Er werde es also in diesem Sinn noch einmal bei Herrn Klarens versuchen, versprach er und ging hinüber.

Feding überblickte nochmals den Schauplatz, dann trat er, als erstes, auf Blanche zu. »Komm!« sagte er und legte seinen Arm um ihre Schulter. »Steh hier nicht herum! Was hast du hier?« Er wies auf das braune Paket, das sie trug.

»Nichts!« sagte sie stockend. »Wichtige Papiere.«

»So, wichtige Papiere, gut, komm! Steh hier nicht herum! – Du siehst aus, als ob man dir das Paradies aufgekündigt hätte, und nicht –. Schau es dir an, schau es dir nur an!« Und er wies mit wegwerfender Bewegung auf das Haus. »Schau es nur an!« wiederholte er und hielt den Arm gegens Gebäude hin ausgestreckt. »Eine Bude, eine Baracke! Ich weiß, ein Ding kann mehr sein als es selbst, dennoch –. Eine Bude, eine Baracke! Man muß doch sein Gefühl ein wenig im Verhältnis zu den Dingen halten! Glaub es mir, mein Kind, es gibt anderes, größeres, schrecklicheres, tieferes Unglück, als das. Nun, komm, steh hier nicht herum!«

Er führte sie ins Haus, doch er hatte sie wohl nur aus dem Garten wegbringen wollen, denn er kam schnell wieder zum Vorschein und schritt zielbewußt, gleichsam einen Rundgang antretend, als müsse er hier Ordnung machen, zuerst auf den Fremden zu, auf Blanches Vertreter, der am Rand des kleinen Platzes stand, hinter sich das Gebüsch und zwischen zwei Bäumen halb versteckt. »Sie sind, wie ich höre«, sprach Feding ihn schon von weitem an, »der Rechtsvertreter von Fräulein Riedinger? Wir sind Kollegen! Mein Name ist Feding.« Der Fremde murmelte seinen Namen. »Wie bitte?« fragte Feding. »Ich habe Ihren Namen nicht verstanden.« Er mußte ihn deutlicher nennen. »Ah!« rief Feding. »Wie kommt es, daß wir einander in all den Jahren noch niemals begegnet sind?«

Der Fremde schwieg, doch Feding wartete, und so mußte er sprechen. Es sei ihm eine große Ehre, begann er, den großen und berühmten Anwalt kennenzulernen, er habe nicht gewußt, daß es sich bei Fräulein Riedinger um die Tochter des großen Anwalts Riedinger handle, er hätte sonst natürlich alles dem Herrn Vater überlassen –. Er stockte, aber Feding schwieg beharrlich weiter, und die Stille zog die Rede aus ihm. Er trete nämlich, fuhr er also fort, nur sehr selten vor Gericht auf, oder eigentlich so gut wie niemals mehr, es habe sich so entwickelt, seine Fähigkeiten und seine ganze Natur seien nun einmal so, er sei nämlich ein Nachtarbeiter, er sei nämlich auch Journalist und Schriftsteller, das sei sein eigentliches Gebiet, er sei auch den Intrigen gewisser neidischer Kollegen unter den Anwälten nicht gewachsen gewesen, so habe er sich zurückgezogen, er sei nämlich aus dem Anwaltsstand ausgetreten und betätige sich nur noch sozusagen privat als Rechtsvertreter, Rechtskonsulent oder Berater. Fräulein Riedinger habe sich an ihn gewandt, aber jetzt, da er sehe, daß sie einen großen Juristen zur Seite habe, sei er natürlich gern bereit, den Platz zu räumen, um so mehr, als er jetzt, und er sah in seiner Verzweiflung tatsächlich auf seine Uhr, bei einer wichtigen Konferenz erwartet werde. Angesichts des ungünstigen Resultats, an dem er allerdings ganz unschuldig sei, denn er habe sein möglichstes getan, verzichte er aufs Honorar; den Vorschuß sei er zurückzuerstatten bereit, in Raten.

Während er gesprochen hatte, war er immer mehr verfallen. Feding betrachtete ihn und schien zu grübeln. »Sie sagen«, fragte er schließlich, »daß Fräulein Riedinger sich an Sie gewandt hat, gut – aber erklären Sie mir doch dies eine: Wie wendet man sich an Sie? Wie stöbert man Sie auf? Wie gelingt es einem Menschen, Sie zu entdecken? Wo findet man Sie?«

Der Fremde gab keine Antwort. Er war wie ein weggeworfener Fetzen, der von einer unsichtbaren Hand immer weiter gedrückt und geknetet wird. Bald wird er sich selbst aus diesem Garten weggeschlichen haben, und zu Hause erst, in dem düsteren Zimmer, aus dem seine Kanzlei besteht, wird er sich erst wieder ein wenig entfalten, sich ein wenig aufrichten und wie selbstverständlich hinwerfen: »Alles erledigt!« – »Gott sei Dank!« wird aufatmend das ältliche Bürofräulein sagen, das ihn liebt, ihn immer so tapfer verteidigt und als einziger Mensch, wie sie immer behauptet, als einziger Mensch auf der ganzen weiten Welt ihn versteht, weil sie seine Künstlerseele kennt.

Feding ließ ihn stehen, trat auf die Sekretärin zu, die aus dem Gebüsch hervorkam, legte seine Hand unter ihr Kinn und hob ihr Gesicht sich zu. »Mittagspause?« fragte er. Sie errötete ein wenig und sagte leise, fast hauchend: »Ja.« Bald nachher war auch sie verschwunden.

Er setzte seinen kleinen Rundgang fort, begrüßte im Vorübergehen Schröder und Heinzfurth und ging wieder zu Blanche in den Vorraum des Hauses. Die beiden aber, Heinzfurth und Schröder, hätten sich gern von hier weggedrückt, statt untätig und überflüssig in dieser unangenehmen Situation vor dem umkämpften Gebäude zu stehen, doch sie wußten nicht, ob man sie, die doch hergeholt worden waren, nicht am Ende auf die eine oder andere Weise werde brauchen können, und wollten, wahrscheinlich mehr Feding als Blanche, ihre Hilfsbereitschaft beweisen.

»Ein reizendes Häuschen!« sagte Schröder und sah entlang der Front.

»Und erst innen solltest du es sehen!« antwortete Heinzfurth. »Entzückend und gemütlich! Weißt du, wer es überhaupt entdeckt hat? Natürlich ich! Lange vor Blanche Riedinger, und ich war es auch, der sie zuerst darauf aufmerksam gemacht hat! Erinnerst du dich, damals habe ich dir vorgeschlagen, daß wir es miteinander mieten. Das war eine geniale Idee, mein Lieber! Erinnerst du dich?«

Sie wurden abgelenkt und wandten ihre Köpfe. Das Gespräch zwischen Klarens und seinem Anwalt hatte ohnedies schon lange genug gedauert. Der eine hatte, ohne sich abschrecken zu lassen, mit einer gewissen Hartnäckigkeit, begütigend und beschwichtigend gesprochen, wie ein Mensch, der den anderen überreden will, doch Klarens hatte nur selten, nur knapp und zornig erwidert, und jetzt beendete er, indem er den Stock gegen die Erde stieß, mit einem wütenden Laut die Debatte. Der Anwalt verließ ihn und ging wieder auf Feding zu, der, durch die offene Haustür blickend, darauf nur gewartet hatte. »Nein!« sagte der Anwalt. »Ich habe mein möglichstes getan, aber es ist nichts zu machen.«

Feding nickte. »Gut«, sagte er. »Es war ja auch nicht anders zu erwarten, aber sagen Sie mir: warum diese Unnachgiebigkeit, diese Intransigenz?«

Der Anwalt zuckte mit den Achseln und dachte nach. »Sie sind«, antwortete er dann, »der Ältere und Erfahrenere von uns beiden und wissen besser als ich, wie gern die Menschen hassen. Dieser Tatsache, glaube ich, verdanken wir viel eher unser Einkommen als dem wirklichen Kampf um den Vorteil. Ich sage es Ihnen, wie es ist: er haßt Fräulein Riedinger. Warum er sich gerade in den Haß gegen Ihre junge Freundin verbissen hat – Gott weiß es!«

Klarens blickte ungeduldig herüber, räusperte sich und hüstelte, der Anwalt hörte es zwar, aber beachtete es nicht. Die Arbeiter standen noch immer untätig im Garten, weil doch offenbar noch eine Intervention im Gange war, vielleicht auch aus Trotz gegen Herrn Klarens. »Ja, Gott weiß es«, fuhr der Anwalt fort. »Ich kenne Fräulein Riedinger nur flüchtig, mir selbst gefällt sie sehr gut, weil ich, nüchtern, wie ich bin, die phantasievollen Menschen gern habe, aber mein Klient – Gott weiß es, warum er sich in diesen Haß verbissen hat, welche Gegensätze zwischen den beiden obwalten, die der böse alte Mann aufgespürt hat, wahrscheinlich ohne sich selbst Rechenschaft darüber zu geben, und die viel tiefer sind als Interessengegensätze; irgendwo ganz weit unten, wo das Namenlose beginnt. Das Namenlose«, wiederholte er und lächelte, »mit dem wir Anwälte nichts zu tun haben. Um aber auf das Benennbare und Benannte zurückzukommen: dabei ist doch dies alles, was hier vor sich geht, eine absolute und komplette Narrheit. Ich habe meinem Mandanten auseinandergesetzt, daß es geradezu eine Verrücktheit wäre, in dieses Haus zu ziehen, in diese Baracke auf dem teuersten Grund und Boden der Stadt. Wenn er die paar Quadratmeter nach dieser Seite hin bis zum Park dazukauft, kann er hier, in der besten Gegend der Stadt, in der elegantesten Straße, ein luxuriöses Mietshaus mit Zehn- und Zwölfzimmerwohnungen bauen. Grundhypotheken bekäme er, er bekäme Kredit und wäre wieder ein vermögender Mann! Und bis dahin könnte doch hier wohnen wer will, und er hätte noch eine Einnahme, die er ohnehin, vorläufig wenigstens, sehr gut brauchen könnte!«

Heinzfurth und Schröder waren zu den beiden getreten und hatten zugehört. Feding legte mit einem kleinen traurigen Lächeln die Hand auf die Schulter des Anwalts. »Sehr richtig, mein Lieber, alles sehr richtig!« sagte er. »Aber ich fürchte, daß meine Klientin da drin, während wir uns unterhalten, der Melancholie verfällt, und Ihr Klient ist, wie ich sehe, eben dabei, in Tobsucht zu verfallen!«

Der Anwalt lachte ein wenig: »Ah, Fräulein Riedinger hat Gesellschaft! Schauen Sie nur durchs Fenster! Unser Exekutor setzt ihr auseinander, daß sie sich ins Unvermeidliche fügen soll. Was aber meinen Klienten betrifft, so soll er warten!« Und er rief Klarens hinüber, daß Fräulein Riedinger nur noch jene Sachen heraussuche, die sie selbst wegführen wolle.

»Bitte sehr!« rief Klarens zurück und begann, auf und ab zu marschieren.

Schröder kannte die Preise für den Boden in dieser Gegend, Heinzfurth interessierte sich für das Geschäftliche, das im Spiel war, sie berechneten den Wert des Grundstücks, die Mieten, die zu erzielen wären, die Kosten des Baus, die Kredit- und Hypothekenzinsen, errechneten schließlich die zu erwartenden Zinsen des Kapitals, das durch den Grund und Boden repräsentiert wurde, und kamen zu einem außerordentlich günstigen Resultat. »Im übrigen«, sagte Heinzfurth, »wissen Sie, daß ich selbst einmal diese Baracke habe mieten wollen? Als Erholungsheim sozusagen, als Dependance des Lebens –!« Der Anwalt verstand ihn und lächelte aus Höflichkeit. »Äh«, fuhr Heinzfurth fort und zwinkerte Schröder zu, »und wissen Sie, daß ich auch heute noch bereit wäre, es zu mieten? Fragen Sie doch einmal Ihren Mandanten, Herr Doktor!«

»Gott behüte mich davor!« rief lachend der Anwalt, und Feding sagte, er halte es für angebracht, zuerst einmal dieses Theater hier zu beenden.

Gewiß, gewiß, rief Heinzfurth und warf sich ein wenig in die Brust, er sei viel zu galant, um die Angelegenheiten einer Dame zu vergessen, das eben sei eine seiner Eigenschaften, daß er niemals nur sich und seine eigenen Interessen vor sich sehe und berücksichtige, sondern immer auch die andern und deren Interessen, im Privatleben wie im Berufsleben. Er sprach weiter, denn er hatte hier schon zu lange den Statisten abgegeben und mußte sich ausbreiten, sich entfalten. Er habe ohnedies vor, erzählte er, sich vor der Stadt ein Sommerhäuschen zu bauen, denn wer wage es zu behaupten, daß der Mensch nur eine Wohnung oder nur ein Haus besitzen dürfe. Aber bevor dieses Landhäuschen stehen werde, könnte noch einige Zeit vergehen, denn eben dies sei seine Stärke, daß er nichts übereile, daß er sich für alles Zeit lasse, auf diese Weise für alles seine ganzen Kräfte sammle, und deshalb habe er gedacht, daß er dieses Häuschen hier auch jetzt noch mieten könnte, bis zu der Zeit, da er sein Landhäuschen haben werde. »Fragen Sie doch einmal für jeden Fall Ihren Mandanten!« schloß er, doch auch der Anwalt war schon ungeduldig. Er habe keine Lust, warf er hin, sich von seinem eigenen Mandanten anbrüllen zu lassen, man wisse doch, wie versessen Herr Klarens darauf sei, selbst hierherzuziehen.

Klarens hatte sich schon vor einiger Zeit vor dem Hauseingang postiert, hatte den Beamten, als dieser hervorkam, abgefangen und ihm mit einem Gesicht, das verriet, daß er nun zu allem fähig sei, zwei harte, scharfe Sätze hingeworfen, und jetzt trat seinerseits der Beamte an den Anwalt heran, um ihm einige Worte zuzuflüstern, doch Heinzfurth ließ sich nicht stören.

»Bitte sehr!« rief er, »wenn Sie es nicht tun wollen, werde ich eben selbst fragen!« Er schritt tatsächlich auf Klarens zu und stellte sich vor. Kaum aber hatte er nur zwei Sätze ausgesprochen, als von drüben, aus der Kehle des Herrn Klarens, ein furchterregendes Gelächter ertönte, krächzend und scheppernd, daß Luft und Bäume erschraken. »Aber selbstverständlich«, rief er und schrie es fast, »selbstverständlich, mein Herr! Selbstverständlich vermiete ich Ihnen das Gebäude! Mit größtem Vergnügen!« Man hätte glauben können, daß es Ironie sei, doch erkannte man schnell, daß er meinte, was er sagte. Er kam wie zufällig ein wenig näher und sprach so laut, daß alle ihn hören konnten. »Aber selbstverständlich, mein Herr, selbstverständlich! Wie war Ihr Name? Heinzfurth? Ich freue mich außerordentlich, Sie kennenzulernen! Mein Anwalt hat mir ja bewiesen, daß es eine Narrheit wäre, herzuziehen! Selbstverständlich werde ich bauen oder das Grundstück verkaufen! Aber bis dahin, wenn Sie darauf reflektieren – bitte sehr! Wann wünschen Sie das Objekt zu übernehmen? Wollen wir es nicht gleich vereinbaren? Denn was vereinbart ist, ist vereinbart, nicht wahr? Welchen Preis sind Sie zu zahlen bereit? Wir wollen es vielleicht gleich erledigen? Denn was erledigt ist, ist erledigt, sind Sie nicht auch dieser Meinung, Herr Heinzfurth, nicht?«

Die Herren faßten sich nur allmählich, sogar Heinzfurth vergaß, auf seinen Erfolg stolz zu sein. Feding zog sich zurück und ging zu Blanche. Klarens sah ihm nach und strahlte aus allen Poren. »Aber dies alles«, rief er hastig, damit der andere es noch höre, »dies alles selbstverständlich unter der Bedingung, daß Sie sich, bei hoher Konventionalstrafe, verpflichten, es niemandem, niemandem! wer es auch sei! weiterzuvermieten!«

Heinzfurth erwachte aus seiner Verwunderung und griff zu. Er versuchte nicht zu sparen, jeder ging bereitwillig auf die Bedingungen des andern ein, der Mietvertrag sollte jederzeit kündbar sein, gewisse unwesentliche Einzelheiten sollten am heutigen Nachmittag besprochen werden, und der Handel war schnell abgeschlossen. Doch Heinzfurth eilte noch zu Feding: er sei sich dessen bewußt, hob er mit einem gewissen Pathos an, daß er sich nicht, so wie dies niemals in seiner Art liege, auf Kosten anderer einen Vorteil verschafft habe, denn es sei doch genügend klargestellt, daß Fräulein Riedinger als Mieterin keinesfalls in Betracht komme, aber er sei keine Hyäne, er werde selbstverständlich auf keine Vereinbarung mit Klarens eingehen, wenn dieser nicht Fräulein Riedinger in angemessener Weise entgegenkomme, welche Frist für die Räumung also, fragte er zum Schluß, Feding verlange. Nur bis morgen abend, antwortete Feding, denn je schneller dies alles beendigt sei, desto besser sei es.

»Bitte sehr!« rief Heinzfurth. »Ich werde ihm also dieses Ultimatum stellen! Entweder – oder! Ich bin es gewohnt, Ultimata zu stellen! Gerade heute erst hatte ich einen Konflikt mit gewissen Leuten meines Personals, und ich habe ihnen auch nichts anderes gesagt, als: entweder – oder! Ich bin es gewohnt, ich bin es gewohnt!« wiederholte er, eilte zurück, und nun, tatsächlich, machtlos gegen Heinzfurths Entschlossenheit und zugleich schon verlockt durch die neue Einnahme, die in seiner Lage sehr ins Gewicht fiel, im Gefühl, ganz und gar gesiegt zu haben und zu seinem Recht gekommen zu sein, im Gefühl sogar des gierig genossenen Triumphes, frei über das umstrittene Haus verfügen und, mehr noch, es vor Blanches Augen einem andern vermieten zu können, nun, tatsächlich, gab Klarens nach und ging auf die ihm gestellte Bedingung ein.

Blanche mußte endlich die Geduld verloren haben und trat ins Tor. Sie trug noch immer das häßliche braune Paket unterm Arm, wie wenn sie fürchte, sie könnte es am Ende doch noch hier vergessen und es könnte in diesem Trubel verlorengehen oder gestohlen werden. Als sie aber hörte, daß sie Zeit gewonnen hatte, brachte sie es wieder zurück, da sie es, vorläufig wenigstens, im Geheimfach ihres Sekretärs für besser geschützt gegen fremde Blicke hielt, als in der elterlichen Wohnung, denn den Schlüssel zu ihrem kleinen Schreibtisch zu Hause hatte sie längst verloren.

Noch stand man, da und dort verstreut, zögernd im Garten, aber es war hier nichts mehr zu tun. Jetzt sah jeder auf seine Uhr, längst war es Mittagszeit. Als erster ging Klarens davon, mit schräg erhobenem Stock scharfe Hiebe in die Luft schneidend, wie ein junger Student, der in seinen Vorstellungen die schönen Terzen und Quarten eines Säbelduells genießt. Heinzfurth und Schröder standen abseits. »Das eben ist meine Stärke«, sagte Heinzfurth, hoch oben auf der Leiter der Selbstbewunderung, »daß ich niemals auch nur im geringsten zögere, daß ich sofort zugreife!« Er ballte die Hand zur Faust, um zu zeigen, wie er zupacken könne. Sie wandten sich der Erwerbung zu, die sie da gemacht hatten, waren voll Entzücken, gratulierten einander und besprachen schließlich, daß sie losen würden, wer von ihnen das Erdgeschoß, wer das Stockwerk bekommen, an welchen Tagen der Woche jeder von ihnen freien Zutritt zum Haus haben werde, und planten ein gemeinsames Einweihungsfest, das sich, wie sie sagten, mit allen Champagnern gewaschen haben würde. Dann gingen sie, wie fast täglich, miteinander ins Restaurant.

Feding brachte Blanche in einem Wagen nach Haus. Klarens' Anwalt begleitete sie bis zum Standplatz der Autos, nachdem er durch seine Unterschrift bestätigt hatte, daß die Exmittierung mit seiner Einwilligung unterblieben sei. Der Beamte hatte, nach seinen Erfahrungen mit Klarens, auf dieser Erklärung bestanden. Nun, da er sie in Händen hatte, ordnete er, sich im Freien gegen die Hauswand lehnend, seine Papiere und steckte sie in die Aktentasche. Als dies getan und er hier nun fertig war, trat er plötzlich aus seiner Anonymität hervor, indem er temperamentvoll den Arm hob und oben in der Luft lustig mit den Fingern schnippte. »Abmarsch, meine Herrschaften!« rief er fast übermütig den Arbeitern zu, die ohnedies schon bereitstanden, den Garten zu verlassen.

II

Als Blanche nach Hause kam, waren ihre Eltern über das Geschehene schon unterrichtet, und kaum hatte sie die Wohnung betreten, stürmte auch Gisela herein. Sie hatte von Blanches Mutter erfahren, was vor sich ging, und war augenblicklich ins Atelier geeilt, da sie aber Blanche dort nicht mehr angetroffen hatte, war sie ihr hierher nachgefahren. Frau Riedinger war die Neuigkeit telephonisch von ihrem Mann mitgeteilt worden, dem wiederum vom Personal der Kanzlei berichtet worden war, daß seine Tochter bei Feding Hilfe gesucht habe.

Man machte Blanche Vorwürfe, und zugleich versuchte man, sie zu trösten. Riedinger schrie, er habe immer schon diesen Ausgang der ganzen Narrheit prophezeit, er fluchte und lachte, es gab Debatten, Fragen, ein aufgeregtes Hin und Her, man sprach über die Sache wie über eine Sensation, und zugleich hatte man den guten Willen, ihre Bedeutung auf das entsprechende Maß zurückzuführen, sie als kleines Malheur darzustellen, über das man ohne viel Geschrei hinwegzugehen habe. Zu tun aber war schließlich nicht mehr viel: Frau Riedinger übernahm es, für einen Spediteur zu sorgen, und Gisela, Blanche bei der Übersiedlung zu helfen. Es tauchte der Gedanke auf, noch heute, in aller Eile, ein anderes Atelier zu suchen, damit morgen die Möbel und Bilder geraden Wegs vom alten ins neue geschafft werden könnten, doch Blanche wollte davon nichts wissen. Sie wolle überhaupt, sagte sie, von der ganzen Affäre nichts mehr hören, es sei nun einmal so weit gekommen, schön, so werde sie ausziehen, und damit basta; ja, man habe sie vergeblich gewarnt, gut, sie habe selbst die Schuld, sie gebe es ja zu. Nun solle man ihr aber auch, um Gottes willen, endlich ihre Ruhe lassen, man solle ihr lieber nachdenken helfen, sie habe da etwas ganz anderes im Kopf, das sofort erledigt werden müsse, und brauche einen guten Rat.

Es sollte an diesem Tage noch ein Ereignis stattfinden, dem es auf Grund der ganzen Umstände gelungen war, sich zu einer gewissen Wichtigkeit hinaufzuschrauben, und das deshalb, wie auf einem von vielen Lichtern bestrahlten Podium, in einem bestimmten Umkreis nach allen Seiten deutlich sichtbar war: es stand nämlich, nachdem sie sich, wie man sagte, lange dagegen gewehrt hatte, endlich für den Nachmittag Carolas Abreise bevor. Die Sorge Blanches war nun, daß sie noch kein Abschiedsgeschenk für ihre Freundin hatte. Das sah nach gar nichts aus, dennoch gab's ihr keine Ruhe; sie bringe es nicht über sich, sagte sie, mit leeren Händen zu kommen, gerade sie als gute Freundin könne nicht so achtlos und gleichgültig daherkommen, wo doch die arme kranke Frau von allen Seiten verwöhnt und überhäuft werde. Sie habe sich ja in den letzten Tagen genug den Kopf zerbrochen, sich aber nicht entscheiden können, denn ebenso zuwider wäre es ihr, Carola eines der üblichen trivialen Reisegeschenke zu bringen. Gisela stimmte ihr bei: es sei tatsächlich sehr schwer, da es von allen Dingen, die der Mensch nur halbwegs brauchen könne, keines gebe, das Carola nicht besitze, und sie stimmten darin miteinander überein, daß es also etwas Besonderes, etwas Originelles und Exquisites sein müsse, erst recht, wenn man bedenke, daß Carola einen sehr diffizilen Geschmack habe und im übrigen wirklich nur das schönste zu ihr passe. So hielten sie denn eine ausführliche Beratung ab, und es wurde alles aufgezählt, was nur im allerentferntesten in Betracht kam, vom Banalsten bis zum ganz und gar Extravaganten, von einer besonders praktischen Garnitur verschieden großer Sicherheitsnadeln bis zum Pelzfußsack, der allerdings, wenn er nicht in Gebrauch sei, keinen Raum wegnehmen dürfe.

Aber sie kamen bei aller Phantasie, die sie aufwendeten, zu keinem Resultat und einigten sich schließlich nach langen Mühen, daß eben Blanche nichts anderes übrigbleibe, als sich schleunigst aufzumachen, um einige der schönsten Geschäfte abzulaufen, vielleicht werde sie in einem von ihnen die Erleuchtung haben und das Richtige finden. Dabei blieb's, und sie gingen miteinander weg. Vor dem Haus aber mußte sich Gisela verabschieden und Blanche sich selbst und der Qual der Suche im letzten Augenblick überlassen, denn sie hatte zwar gestern schon Carola ihr Abschiedsgeschenk übergeben, doch mußte sie jetzt noch einmal nach Hause fahren, um eine Bonbonniere zu holen; sie hatte nämlich gerade gestern das Glück gehabt, in einem kleinen, aber guten Schokoladengeschäft eine bestimmte Sorte von Pralinen zu entdecken, die Carola besonders liebte, weshalb sie ihr ja auch Ruge manchmal eigens habe kommen lassen, denn sie werden in ganz Europa nur von einem einzigen Konditor, in Nizza, hergestellt: gezuckerte Weinbeeren, in Kognak schwimmend, in einer Kugel aus bitterer Schokolade. So trennten sie sich und verabredeten, einander am Bahnhof wiederzusehen, wobei sie einander ans Herz legten, ja nicht zu spät, mindestens eine Viertelstunde vor Abgang des Zuges hinzukommen.

Blanche rannte los und begann ihren Rundgang durch die Läden, aber, wie es bei ihren anspruchsvollen Ambitionen nicht anders zu erwarten war, ohne rechten Erfolg. Sie durchsuchte vergebens alle Schaufenster, die Verkäufer trugen und schleppten alles herbei, was ihnen nur in Frage zu kommen schien, vom Fingerhut und dem winzigen, silbernen oder goldenen Apparat zum Einziehen des Fadens ins Nadelöhr bis zum Schiffskoffer und dem zusammenklappbaren, transportablen Sonnendach, und gerieten angesichts ihrer wählerischen, halsstarrigen Unzufriedenheit in Verzweiflung. Sie mußten ihre Lager durchstöbern, ihre Köpfe zermartern, und schließlich tasteten sie ratlos nur noch dahin und dorthin, in der Hoffnung, durch Zufall auf das Richtige zu stoßen. Ob die Dame, fragten sie, für die das Geschenk bestimmt sei, vielleicht kurzsichtig sei, sie hätten hier ein entzückendes Lorgnon, natürlich noch ohne Gläser, ob sie vielleicht, der aufkommenden Mode entsprechend, voller zu erscheinen wünsche, als sie sei, sie hätten hier etwas, das in der letzten Zeit schon von so mancher Dame in aller Stille gekauft worden sei und das mit einem einzigen Griff ins Kleid zu knöpfen sei, ob sie vielleicht zu klein sei oder einen Fußfehler habe, sie hätten hier ganz neue, prachtvolle, für jeden Fuß und jeden Schuh verstellbare Einlagen, und es fehlte nur noch, daß sie fragten, ob der Dame ein Bein fehle, sie hätten hier eine reizende Prothese. Über all dem war natürlich alle zur Verfügung stehende Zeit vergangen, und als nun wirklich keine Minute mehr zu verlieren war, entschied sich Blanche für eine luxuriöse Handtasche, nachdem man ihr, in der Hoffnung, sie loszuwerden, leidenschaftlich versichert hatte, daß dies bei jeder Gelegenheit und unter allen Umständen das passendste Geschenk für eine Dame sei, auch wenn sie schon noch so viele habe.

Blanche kam, trotz allem unzufrieden mit dem Resultat ihres Einkaufs und deshalb mißgestimmt, sehr spät vor dem Bahnhof an, abgehetzt und voll Angst, Carola am Ende gar nicht mehr zu sehen. Als sie aber vorfuhr, hielt im nächsten Augenblick hinter ihrem Wagen ein zweiter an, aus dem, ebenso eilig wie sie selbst, Gisela sprang. Es war auf den ersten Blick zu erraten, wodurch sie ihrerseits sich so verspätet hatte, und man mußte den Verdacht haben, daß außer der Notwendigkeit, die Bonbonniere zu holen, sie noch etwas anderes veranlaßt hatte, nach Hause zu fahren: war sie nämlich zu Mittag bei Blanche in unscheinbarer Alltagskleidung gewesen, so stieg sie jetzt als eine andere aus dem Auto, wie umgestülpt und wie verzaubert, eine andere mit jedem Härchen, in jeder Pore und bis zum letzten Fädchen ihrer Kleidung; alles an ihr schien neu zu sein, das rohseidene Kostüm, das lustige Mützchen, der noch unzerdrückte Staubmantel, den sie überm Arm trug. Von der silbernen Spange an der Mütze bis zu den Lackspitzen ihrer sehr hellen, grauen Schuhe war alles blinkend, von oben bis unten stand sie im Frühjahrskleid wie ein Baum mit schimmernder Rinde und Blüte. Die hervorlugenden Härchen leuchteten noch heller als sonst, und von ihrer Haut strahlte Frische und ein seidiger Glanz. Man mußte die Vorstellung haben, daß sie in der Zwischenzeit alles getan hatte, was nur zur Erfrischung und zur Pflege des Körpers getan werden kann: gebadet, manikürt, frisiert, den Kopf gewaschen, die Haare onduliert und die Haut massiert, und man mußte sich nur wundern, daß diese Veränderung in einer einzigen Stunde hatte bewerkstelligt werden können.

Nachdem sie einander in großer Hast, zuerst vorwurfsvoll, dann lachend, begrüßt hatten, konnte sich Blanche bei aller Eile, noch während sie die Wagen bezahlten, nicht enthalten, eine Bemerkung über Giselas neues Kostüm und überhaupt über ihre ganze Verwandlung zu machen. Sie setzten sich in Trab und begannen, sich durch die Menge stoßend und drängend, den weiten Weg bis zur Sperre zu laufen. Ja, antwortete Gisela, als sie die Vorstufen zum Bahnhofseingang hinaufsprangen, mit großer Lebhaftigkeit und schien im Augenblick Carola und ihre Abreise zu vergessen, ja, sie habe sich umgekleidet, sie werde nämlich direkt vom Bahnhof aus einen Autoausflug machen, sie habe, wie Blanche ja wisse, einen kleinen Wagen geschenkt bekommen, zwar habe sie ihn gestern ein wenig kaputt gefahren, mit Hilfe eines trottelhaften Schutzmanns, der so undeutliche Zeichen gegeben habe, daß sie vorzeitig losgefahren sei, und mit Unterstützung eines idiotischen Chauffeurs, der nicht habe beizeiten ausweichen können, als sie dann wieder zurückfahren mußte; aber die Reparatur solle eben jetzt fertig werden, und der Wagen werde ihr hergebracht. Sie sprach, während sie rannten und gegen die Entgegengehenden stießen, schnell und sprudelnd, und wenn sie für Augenblicke durch dazwischenkommende Menschen getrennt wurden, ließ sie sich nicht stören und rief eben nur lauter zu Blanche hinüber, was sie ihr zu sagen hatte. Sie wollten dann in einen kleinen Ort fahren, erzählte sie weiter, während ihr schon der Atem auszugehen begann, in einen kleinen Ort, dort sei ein ausgezeichnetes Restaurant, mitten im Wald, mit einer Veranda, ein herrlicher Weg gehe hin, und es gebe dort herrliche Krebse, groß wie Hummern. Zwar lief auch Blanche schon schwerer, dennoch fragte sie mit mühsamem Atem: »Krebse? Schon?« Ja, die ersten in diesem Jahr, antwortete Gisela, sie freue sich auf den Abend, unbändig freue sie sich, sie esse nämlich Krebse riesig gern, über alles gern, sie esse Krebse lieber als alles andere, noch lieber, warf sie pathetisch hin, daß sich die Passanten nach ihnen umdrehten und lachten, noch lieber als zum Beispiel Austernstrudel. Immer wieder rannte sie gegen jemanden an, rief ein lustiges Hoppla! oder vorwurfsvoll: So geben Sie doch acht! und lief weiter.

»Ich bitte dich!« keuchte Blanche, »Austernstrudel? Was ist denn das?«

»Nichts«, antwortete Gisela und lachte, daß es in der Bahnhofshalle schallte. »Ich hätte genausogut sagen können Karpfenbusen oder Vollbart in Essig und Öl!« War es aber nun Zufall oder der Anblick eines Entgegenkommenden, der ihr, in den hurtig arbeitenden Mechanismus hineingewirbelt, gerade diesen, kindischen oder kindlichen, Scherz eingegeben hatte, jedenfalls befand sich in diesem Augenblick neben ihnen ein sehr großer, breitschultriger Mann mit einem langen, braunen, mächtig wallenden Vollbart. Er mußte ihren Ausruf als beabsichtigten Hohn auf sich beziehen und schien keinen Spaß zu verstehen; denn er hielt mit zornigen Augen ein und machte alle Anstalten, Gisela mindestens zur Rede zu stellen. Aber die beiden Frauen stürmten, ohne zu bemerken, was sie da angerichtet hatten, und ohne zu ahnen, was ihnen drohte, lachend und mit aller ihnen nur möglichen Schnelligkeit weiter, so daß er sie gar nicht hätte einholen können, denn Männer mit Vollbart können nicht laufen, und kamen endlich an die Sperre und auf den Bahnsteig. Der Zug stand noch in der Halle, und es blieben ihnen einige Minuten übrig.

Carola war schon eingestiegen und stand im Gang des Wagens, im Rahmen des heruntergelassenen Fensters.

Es war gesagt worden und hatte sich herumgesprochen, daß Carola sehr zeitig auf den Bahnhof kommen werde, damit ihr jede Hast und Nervosität der Abreise erspart bleibe. Man hatte sich danach gerichtet, und so erwarteten sie denn, als sie mit Ruge und Krau vorfuhr, der sich als ihr Arzt verpflichtet fühlte, ihre Abreise zu überwachen, schon eine gewisse Zahl ihrer Freunde vor dem Bahnhof. Sie war schöner, als sie es jemals gewesen war, und alle, die da gekommen waren, sich von ihr zu verabschieden, sahen und fühlten es, und manche sagten es auch. Es standen dort Müller-Erfurt und Frankenfelde, jener hübsche, schüchterne und wohlerzogene Knabe, dem Blanche damals begegnet war, als sie von ihrem ersten Krankenbesuch bei Carola nach Hause ging; dann jener Mann, den sie bei derselben Gelegenheit gesehen hatte, wie er aus der Elektrischen stieg, um ebenfalls zu Carola zu gehen, auch er mit einem großen Blumenstrauß; und jener Doktor Meinhardt, der bei Giselas turbulentem Fest an Carola kühne und sonderbare Reden gerichtet hatte; schließlich noch einige andere Bekannte und der und jener von Ruges Kollegen. Als sie alle begrüßt hatte, setzte sich die Gesellschaft in Bewegung, an ihrer Spitze sie selbst zwischen ihrem Mann und ihrem Arzt. Ihre hochbeinige Gestalt, ihr langsam ausschreitender, wiegender Gang war wie ein feierlicher Gesang, dem alle folgten, die eine, herabhängende Hand war ohne Handschuhe und zeigte ihre langgliedrigen Finger, die Linien ihrer schmalen Hüften, ihrer Schenkel und Beine waren voller Adel. Ihr Reisekostüm war dunkelgrau, ihre ganze Kleidung war sehr schlicht, und zwischen diesen geschwärzten Mauern, in dieser dunklen Luft, in dieser finsteren Atmosphäre war sie wie ein köstlich dunkel-sammetener Schmetterling, der sich in eine Kohlengrube verirrt hat.

Während sich die kleine Prozession vorwärtsbewegte, kam ihr noch der und jener nachgelaufen, holte Carola ein, begrüßte sie und brachte ihr Blumen, ein Buch oder sonst etwas zum Abschied. Da sie aber in der einen Hand den Schirm hielt, in der anderen die Handtasche, wobei noch der Mantel über ihrem Arm lag, konnte sie nichts weiter mehr tragen, so daß Ruge und Krau nichts anderes übrigblieb, als die Geschenke zu übernehmen. Als sie im Begriff waren, den großen Gang zu verlassen, der quer durch den Bahnhof lief, und den Wartesaal zu passieren, kam noch ein Mann hinter Carola hergeeilt und begrüßte sie. Krau blickte ihn überrascht an, weil er ihn noch nie gesehen hatte, obwohl ihm doch keiner der vielen Bekannten des Ehepaares fremd war, Ruge entsann sich nur mit Mühe, und auch dies erst, da er daran erinnert wurde, daß er ihn einmal kennengelernt hatte, als er während einer Konzertpause Carola begrüßt und sich ihm bei dieser Gelegenheit vorgestellt hatte, und sogar Carola selbst war verwundert, daß er hergekommen war. Aber aus dem rückhaltlos und demütig bewundernden Blick, mit dem er die Schönheit ihres Gesichtes trank, während er für Sekunden ehrfurchtsvoll ihre Hand in der seinen hielt, war zu erraten, daß er das Bedürfnis gehabt hatte, sie wenigstens noch einmal zu sehen, ehe sie wegfuhr, obwohl nicht zu erraten war, auf welche Weise ihm die Abfahrtszeit, ja, überhaupt die Tatsache ihrer Abreise zur Kenntnis gekommen war. Er hatte ein flaches, farbloses und leeres Gesicht, aus dem nur die zu großen, weit vorgewölbten Augäpfel hervorstachen. Sein Name war Schmitt, er war billig gekleidet und hatte das Benehmen etwa eines kleinen schüchternen Beamten, der im Augenblick sehr aufgeregt ist. Die mit Gräsern und Farn garnierten, zu einem großen Strauß zerzogenen Blumen, die er brachte, wirkten außerordentlich ungeschickt. Nachdem er die drei begrüßt hatte, erkannte er, daß da noch eine ganze Gesellschaft zu ihnen gehörte, und nun ging er von einem zum anderen, zog vor jedem den Hut, streckte ihm die Hand entgegen, verbeugte sich und nannte seinen Namen, wobei er jedem einzelnen starr und feierlich in die Augen sah. Endlich schloß er sich einer der Gruppen an, und ohne daß jemand mit ihm gesprochen hätte, denn niemand kannte ihn, trottete er nebenher, überflüssig wie ein abgebranntes Streichholz.

Beim Zug angelangt, ging Ruge mit seiner Frau durch die Wagen, und sie wählte ein Abteil, in dem nur ein Reisender saß, ein soignierter Herr, der ein wenig älter als fünfzig Jahre sein mochte. Er las eine ausländische Zeitung. Sein Gepäck war alt und gut.

Auf dem Bahnsteig vor dem Wagen zogen die vielen Freunde Carolas einen weiten Halbkreis. Unterm Fenster, ihr am nächsten, stand Ruge; er war bleich. Krau neben ihm hatte zwar Kraft genug, seinen Tränen den Weg über die Wangen zu verwehren, nicht aber Kraft genug, zu verhindern, daß seine Augen schwammen und glänzten. Zugleich lächelten beide aufmunternd zu Carola hinauf, wie in wehmütiger Glückseligkeit, daß sie es so weit gebracht hatten und sie nun, wie man wohl endlich hoffen durfte, gerettet sei. Ein kleines Hin und Her zum Fenster hinauf und zum Bahnsteig hinunter, Versprechungen, bald von sich hören zu lassen, Fragen und Ratschläge, wie sie in diesen Minuten der Verlegenheit üblich sind. Da hasteten, mit geröteten Gesichtern und kaum mehr fähig, zu laufen, Gisela und Blanche heran, Erklärungen und Entschuldigungen wegen der Verspätung hervorkeuchend und streckten schon von weitem die Arme aus, um ihre letzten Geschenke hinaufzureichen, die Handtasche und die Bonbonniere mit den Pralinen, die Gisela zu finden das außerordentliche Glück gehabt hatte: gezuckerte Weinbeeren, in Kognak schwimmend, in Kugeln aus bitterer Schokolade.

Es roch nach weiter Welt, der Dunst der Ferne lag über dem Bahnsteig. Ungewohnte, ein wenig exotische Menschentypen gingen ab und zu, hie und da hörte man schon fremde Sprachen, Gepäck wurde vorbeigetragen, das um die ganze Welt gefahren war, und schließlich wurde noch ein Wagen angeschoben, der hoch oben aus dem Norden kam und weit in den Süden fuhr, aus den Schnee- und Eisländern der langen Nächte in die Länder der Hitze und Sonne. Carola war schon wie entrückt, sie gehörte schon dieser Fremde und Ferne an.

Gerade als auf der Bahnhofsuhr die Abfahrtszeit stand, wurde die Aufmerksamkeit noch auf eine lärmende Gestalt am Ende des Bahnsteigs gelenkt, die, lang und hager ihre Umgebung überragend, schon von der Sperre aus schrie, der Zug müsse noch warten. Es war Stadel, der sich zwischen den Schranken durchquetschte, die Bahnsteigkarte, da er keine Hand frei hatte, zwischen den Zähnen, von wo sie der gutmütige Beamte hervorzog und wohin er sie lachend wieder zurücksteckte. Er kam mit gerecktem Hals, den Kopf weit vorgeschoben, mit weit ausholenden Schritten angehastet, beide Arme von sich und nach vorn streckend und mit den Händen einen Blumentopf umklammernd, in dem ein länglicher, sehr stacheliger Kaktus steckte. Zuerst lächelte man über diesen närrischen Einfall, doch schnell verdüsterten sich, im Gefühl der Peinlichkeit, die Gesichter, da man irgendeinen Hohn in diesem Geschenk spürte; nur Gisela, die niemals ganz konsequent war, lachte laut und rückhaltlos auf, als verstehe sie gar zu gut seine Ironie. Es war ein Mißton in dieser schönen und lyrischen Abschiedsatmosphäre. Als Stadel Carola strahlend das lächerliche Ding hinaufreichte, mit hervorstürzenden Worten, er bringe ihr dieses sicherlich passendste Geschenk, da sie nach dem Süden fahre, der Kaktus werde dort gewiß gut gedeihen, war's für einen schnellen Moment, daß etwas Fremdes in ihren dunklen Blick kam, es war wie Wut, ja, wie Haß und Mord in ihren Augen, weil man es wagte, sie zu necken, doch eben nur für einen vorübergleitenden Moment, und schon lachte sie und nahm mit heiterem Dank das extravagante Geschenk entgegen. Nun aber überstürzte man sich, die Häßlichkeit zu übertönen, Stadel wurde ignoriert und in den Hintergrund geschoben, man zwang sich, augenblicklich die Szene zu vergessen; mit doppelter Herzlichkeit, Innigkeit und Liebe wünschte man ihr nochmals Glück, denn schon begannen die Schaffner, den Zug entlangzulaufen und die Türen zuzuklappen, und durch alle, die Reisenden und die Begleitenden, ging der letzte Abschiedsruck. Blanche fragte nochmals Carola, ob sie gut untergebracht sei und ob ihr wirklich nichts fehle. Carola war zufrieden. Der Herr, der das Coupé mit ihr teilte, war ans Nebenfenster getreten und blickte teilnahmslos auf den Bahnsteig, vielleicht aber wollte er nur, gelangweilt, die Gesellschaft da unten betrachten und ein wenig kombinieren, was das für eine Frau sein mochte, die mit ihm die lange Reise im selben engen Raum zurücklegen sollte und die mit so viel Liebe und Sorgfalt behandelt wurde. Zum zweiten und dritten Mal zischte und schnaubte die Lokomotive und zog an, die Hände streckten sich nochmals zu Carola hinauf, die hinten Stehenden winkten, und die Wagen begannen zu rollen. Alle lächelten ihr nach, und sie lächelte allen zurück, nur andeutend, wie sie immer lächelte, mit leichtem, ganz sanftem Verschieben der Lippen.

Der Zug fuhr langsam an den Zurückbleibenden vorbei. Als erster setzte sich, vielleicht, weil er in sein Amt oder in sein Büro zurückeilen mußte, Herr Schmitt in Bewegung. Er trat an die kleinen Gruppen heran, die sich neben dem Geleise gebildet hatten, um sich von allen, mit denen er sich vorhin bekannt gemacht hatte, zu verabschieden, er reichte einem um den anderen die Hand, zog vor jedem einzelnen den Hut und verbeugte sich umständlich. Jenen aber, denen er sich noch nicht vorgestellt hatte, nannte er jetzt nachträglich seinen Namen, wobei er jedem von ihnen starr und feierlich in die Augen sah. Die Gespräche mußten unterbrochen werden, wenn er herantrat, die dem Zug Nachschauenden mußten aufhören zu winken, die Herren mußten seinem Beispiel folgen, den Hut abnehmen, sich verbeugen und ihm die Hand drücken. Nachdem er alle Gruppen und die ganze Linie abgegangen war, wandte er sich nochmals zurück, grüßte mit tiefem, ernstem Senken des Hutes die Gesamtheit der Versammelten und verließ endlich den Bahnsteig. Sie sahen ihm nach. »Zum Donnerwetter!« rief Gisela. »Wer ist denn das?« Aber niemand konnte ihr Auskunft geben, denn niemand kannte ihn, und niemals erfuhr jemand von ihnen, wer dieser Mensch war, denn niemand sah ihn jemals wieder.

Gisela stand neben Blanche. »Wo Carola das auftreibt!« lachte sie und schüttelte staunend den Kopf »Wo sie das auftreibt!« Aber plötzlich durchzuckte es sie. »Ich muß auch laufen! ich werde erwartet! Ich muß laufen!« schrie sie fast auf, und indem sie nur mit kurzen Rufen und schnellem Winken der Hand von den übrigen Abschied nahm, rannte sie davon. Sie flog den Bahnsteig hinauf, aber all ihre Eile hielt sie nicht davon ab, kaum daß sie Herrn Schmitt überholt hatte, sich mit plötzlicher Eingebung wieder zurückzudrehen, vor ihn hinzutreten und sich nochmals von ihm zu verabschieden, indem sie ihm mit zeremoniöser Höflichkeit die Hand hinstreckte, ihm starr und feierlich in seine Augen glotzte und schließlich mit pathetischer Langsamkeit den Kopf senkte. Dann rannte sie weiter.

Krau trat zu Blanche. »Nun ist sie weg!« sagte er klagend, und seine weitgeöffneten Augen, wie mit einer Haut aus Feuchtigkeit überzogen, schauten dem Zug nach, der schon verschwunden war. In der Nähe stand Müller-Erfurt, blickte herüber und war offenbar im Zweifel, ob er Blanche begrüßen sollte. Aus Gründen, die tief in den Abgründen und Höhlen seiner Seele verborgen lagen und nicht wert sind, von dort hervorgeholt zu werden, entschloß er sich, es nicht zu tun; mit weitausholender Bewegung schwenkte er seinen Hut, um sie zu grüßen und dann zu gehen. Blanche dankte und lächelte ihm mit unbefangener Freundlichkeit zu, fast mit der Frage im Blick, warum er denn nicht zu ihnen trete; er aber setzte den Hut wieder auf und marschierte mit kühn zurückgelegtem Kopf, mit festen, hallenden Schritten davon. Krau hatte von diesen kleinen Vorgängen nichts wahrgenommen und starrte in jene Ferne, in die der Zug verschwunden war. Blanche betrachtete ihn mit Mitleid. »Es ist sicherlich gut so, Sie müssen nicht traurig sein!«

Er seufzte auf. »Wer weiß«, klagte er, »ob Ruge sie jemals wiedersieht!«

Da erdröhnte hinter ihnen Gelächter. Es war Stadel, der unbemerkt hinter ihnen gestanden hatte. »Sie können ein Dutzend Schock Veronaltabletten darauf nehmen«, rief er, »daß er sie jemals wiedersieht! Zwölf Dutzend Schocks, daß er sie sein Leben lang nicht loswerden wird! Soll ich Ihnen über dieses Thema einen kurzen, aber inhaltsreichen Vortrag halten? Sie wünschten es wohl, aber ich tue es nicht! Und warum nicht? fragen Sie klagend. Weil«, und er streckte den Arm von sich, um auf eine alte riesige Taschenuhr zu sehen, die er zu einer Armbanduhr hatte umarbeiten lassen, »weil mir dieses Ührchen sagte, daß ich dadurch, daß ich hergekommen bin, schon ein Rendezvous versäumt habe und eben im Begriff bin, das zweite zu versäumen, weshalb ich Sie verlasse, zu Ihrem tiefen Bedauern, daß Sie auf meinen Vortrag verzichten müssen! Ich habe die Ehre!« Er legte einen Finger an den Hutrand und ging davon, zuerst mit großartig-patzigen Schritten, bald aber schneller und schneller. Schon geriet er ins Laufen, und mit vorgeneigtem Oberkörper, mit vorwärtsgestoßenem Kopf rannte er, wie er gekommen war, in fürchterlicher Eile davon, als ob 's ums Leben ginge. Draußen hetzte er, ohne ihn zu bemerken, an Müller-Erfurt vorbei, der vor dem Bahnhofseingang stand und offenbar unschlüssig war, wohin er sich wenden sollte.

Müller-Erfurt sah auf den großen, freien Platz hinaus und überlegte, dann aber drehte er sich zurück, dem Innern des Bahnhofs zu, wie um zu schauen, ob einer seiner Bekannten erscheine. Tatsächlich kamen Ruge und Krau in Sicht, und Müller-Erfurt stellte sich in eine Seitenöffnung neben einen der beiden Torpfeiler, die den Eingang in drei Teile schnitten, so daß die beiden nicht auf ihn stießen, als sie durch die Mitte ins Freie traten. Draußen trennten sie sich, denn Krau hatte in seiner Sprechstunde noch Patienten, die er unter dem Vorwand eines akuten, gefährlichen Falles im Stich gelassen hatte, und Ruge mußte nach Hause fahren. Dort allerdings warteten schon Unordnung und Zerstörung auf ihn.

Auf der Straße, vor seinem Gartentor standen schon die Leute, die sein Haus gemietet, dies aber, unter günstigen Bedingungen für ihn, nur unter dem Vorbehalt getan hatten, daß er es ihnen innerhalb von drei Tagen übergebe, und die nun gekommen waren, um zu erfahren, ob sie morgen oder erst übermorgen einziehen könnten. Gleich nachher tauchte der Vermittler auf, der dieses Geschäft zustande gebracht hatte und nun voll Angst war, Ruge könnte den Termin versäumen und er selbst um seine Provision kommen, und schon kam auch, um nach dem Rechten zu sehen, der Spediteur angerannt und kündigte an, daß die Packer jeden Augenblick erscheinen würden, und wirklich fuhr nach wenigen Minuten der Möbelwagen vor, aus dem die Arbeiter stiegen, um sich sofort zu Herren des Hauses zu machen. Es war ohnedies spät genug am Tag, dies aber war eben wiederum Ruges Vorbehalt gewesen, daß erst nach Carolas Abreise mit der Auflösung begonnen werden dürfe. Allein und hilflos ließ er sie nach ihrem Gutdünken wirtschaften, wie eben unkämpferische Menschen lieber gleich gar nichts tun, wenn sie sich einer Situation nicht gewachsen fühlen. Er ging hinauf ins Stockwerk, wo er vorläufig noch ungestört war, und kam in Carolas Schlafzimmer. Von unten tönte Schieben, Hämmern und undefinierbares Gepolter herauf, hier oben aber war es noch still, und er setzte sich, wie um auszuruhen, auf ihr Bett und sah vor sich hin.

Im ganzen konnte er zufrieden sei, es war ein bestimmter Plan für die Zukunft aufgestellt und manches schon getan. Er hatte an praktischen Fähigkeiten, wie er meinte, viel zugelernt, seine Lebenstüchtigkeit, davon war er überzeugt, hatte sich gut entwickelt. Im Ausland war eine gewisse Summe deponiert, als Rückhalt für Carola, allerdings unter der Bedingung, daß sie nur bei äußerster Notwendigkeit, bei unvorgesehenen Fällen von ihr angegriffen werden dürfe, da für ihren Lebensunterhalt durch seine regelmäßigen Zuwendungen gesorgt werden sollte, die wiederum, zum Teil wenigstens, durch den Ertrag aus der Vermietung des Hauses im voraus gedeckt waren. Gewiß, es blieb noch sein Leben zu bestreiten, vor allem waren noch die großen Schulden zu bezahlen, die er in der letzten Zeit gemacht hatte, ja, manchmal war es ihm, wenn er am Morgen erwachte, als ob er sich in ein Dickicht verstrickt hätte, aus dem herauszufinden ihm, bei aller neuerworbenen Lebenstüchtigkeit, jede Möglichkeit und jedes Talent fehlte, aber das war ja nichts, seine Freunde würden ihn schon beraten, seine wichtigste Sorge war ja doch aus der Welt geschafft: Carola seinen finanziellen Zusammenbruch zu verheimlichen, denn schon der Gedanke, sie könnte einer neuen Erschütterung ausgesetzt sein, war über alle Maßen schauderhaft, und im übrigen hatte er gefürchtet, sie werde, wenn sie erführe, wie alles stand, sich weigern, wegzufahren, ihm vielmehr, da er nun arm geworden war, zur Seite bleiben und ihm beistehen wollen. Es war sehr schwer gewesen, das Geheimnis vor ihr zu bewahren, ja, es war ein Meisterstück gewesen – wie Krau, der ihm dabei geholfen, und er selbst, glücklich über den Erfolg, voreinander sich rühmten. Denn waren nicht immer wieder fremde Besuche gekommen, hatte es nicht Besprechungen, Konferenzen, verdächtige Telephonanrufe gegeben, konnte nicht ein einziges Wort alles verraten, und Carola war doch klug und hatte ein feines Ohr, aber die beiden Männer hatten eben all ihre diplomatischen Künste verwandt, hatten sich auf ihre psychologische Taktik gestützt, um mit ausgeklügelten Kniffen, Ausreden, Lügen und Fabeln Carola über die Geschehnisse zu täuschen und im Dunkeln zu lassen. Was die beiden nur ärgerte und kränkte, war, daß ihnen fast niemand glauben wollte, im Grunde auch Gisela nicht, Carola sei tatsächlich im unklaren darüber geblieben, was vorging. So saß Ruge auf dem Bett seiner Frau, bis schließlich die Arbeiter herauftrampelten und ihn aufstörten.

Indessen hatte Müller-Erfurt lange in der Einfahrt des Bahnhofs gestanden, als warte er auf jemanden. Allmählich war die ganze Gesellschaft, die sich versammelt hatte, um von Carola Abschied zu nehmen, an ihm vorübergekommen, ohne ihn, der halb versteckt war, zu bemerken. Blanche war eine der letzten gewesen. Er erblickte sie erst, als sie den Bahnhofsplatz überquerte, dann allerdings schaute er ihr unverwandt nach, bis sie verschwunden war. Schließlich setzte er sich in Bewegung, ging die Front des Gebäudes entlang, bog um die Ecke und kam an die Seitenfront, in eine alte, häßliche Straße, deren andere Seite nur aus Hotels bestand und in der auch am Tag die Mädchen gingen. Er schritt teilnahmslos, ja, mit einer gewissen Würde an ihnen vorbei, aber die schlendernde Langsamkeit seines Ganges und die Blicke, mit denen er sie aus den Augenwinkeln und zufällig streifte, verriet ihnen, daß dieser bucklige Mann zwar noch nicht ganz entschlossen war, sich verführen zu lassen, daß es aber nur darauf ankam, ob eine von ihnen ihm zusage oder ihn anrege. So taten sie denn in dieser für sie toten Tagesstunde alles, um sich ins rechte Licht zu setzen, und manches geflüsterte Wort machte Reklame für die Sensationen, die sie ihm bieten wollten. Er gelangte ans Ende der Häuserreihe, wo ein uraltes Gäßchengewirr begann, und kehrte um. Es schien ihm ein Mädchen zu gefallen, das zwischen all den anderen in seinen Zügen etwas Naives, in seinem Lächeln etwas Herzlicheres hatte und den Schatten einer Wärme zu versprechen schien. Sie war bald neben ihm. »Nun, mein Fräulein?« fragte er mit maliziösem Lächeln, und sie lud ihn kurzerhand in ein Hotel ein. »Was dort?« fragte er und zog die Brauen in die Höhe. »Liebe!« sagte sie leise und mit Innigkeit, wandte ihr Gesicht ihm zu, die Nasenflügel blähend, und schob ihren Körper dichter an den seinen.

»Liebe?« antwortete er. »Man muß unterscheiden zwischen Liebe zur Liebe und Liebe zum Geld!« Doch sie hatte nicht viel Sinn für Aperçus oder Aphorismen und redete ihm zu, da sie ihn noch unentschlossen sah, mit ihr zu gehen. Er gefalle ihr, sagte sie, er sei sicherlich ein Doktor, er habe etwas Sympathisches. Das sage sie wohl jedem, meinte er, aber sie versicherte ihm, daß dem nicht so sei, gewiß, sie gehe nun einmal für Geld, aber mit jedem gehe sie nicht, sie suche sich schon die Männer aus, und zwar aus mancherlei Gründen, sie sehe sofort, was einer für ein Mensch sei, er sei ihr gleich aufgefallen, er habe ein gescheites und interessantes Gesicht, es komme ihr bei den Männern nur auf ihr Benehmen, auf ihre Nettigkeit an, ihm sehe man an, daß er ein gebildeter Mann sei, und im übrigen habe er etwas in seiner Stimme, sie wisse nicht, wie sie es sagen solle, etwas Männliches und zugleich etwas Weiches.

So, sagte er nur mit halber Ironie, da habe er also geradezu eine Eroberung gemacht. Ja, sagte sie und sprach von der Roheit, dem häßlichen Benehmen der anderen Männer. An ihm aber sei etwas, das ihr gefalle, deshalb habe sie ihn auch angesprochen, sonst tue sie das niemals, sie warte vielmehr, bis die Männer es tun; wenn er nur ein paar Worte sage, merke man gleich, mit wem man es zu tun habe, er habe so eine feine Art zu sprechen, sie rede auch gern ein wenig mit den Männern, und mit ihm könne man sich sicherlich auch unterhalten; ihr könne man nichts vormachen, aufs Äußere gebe sie gar nichts, sie erkenne, was ein richtiger Mann sei, ein richtiger Mann sei Pfeffer und Zucker. Daß er, und sie stieß schelmisch ihren Ellenbogen derb in seine Seite, daß er gepfeffert sei, spüre sie, und süß werde er auch sein, das höre man seiner Stimme an, ja, man merke es gleich, daß er gewöhnt sei, mit den feinen Damen zu sprechen, und er habe sicher bei ihnen großen Erfolg, die einen Männer haben Erfolg, weil sie groß und stark, die anderen, weil sie lustig und frech seien, wieder andere aber, weil sie Verstand im Kopf haben und schön zu sprechen verstehen, in so einer gewissen Art, und zu diesen gehöre er, man müsse nur, so wie sie, die Männer kennen und einen Blick dafür haben. Er ließ sie reden und reden, mit einem Lächeln, das sich verpflichtet fühlte, skeptisch zu sein, aber er hörte ihr zu, er ließ sich's gefallen, so anerkannt zu werden, er erntete ihre Lobsprüche ein, ja, er pflückte sie vom Munde dieses Mädchens, und diese verfaulten Brosamen waren es, von denen er sich nährte. Das nächste Hotel, sagte das Mädchen und fing an, wütend zu werden, denn sie hatte sich schon ganz ausgegeben und wußte nichts mehr zu sagen, das nächste Hotel sei sauber und billig, und sie gingen hinein.

 

Blanche ließ die Augen schweifen, als sie die Straße betrat, und atmete auf. Das Licht war hell, die Luft schien rein, wenn man aus dem Bahnhofsdunst kam. Die Mittagshitze hatte sich gemildert und in angenehme Nachmittagswärme verwandelt, der etwas milchig blaue Himmel war durch keine Wolke gestört. Von den Rasenstreifen in der Mitte des Fahrdamms leuchtete das Grün herüber, die Kleider der Frauen waren hell, und an allen Ecken standen die Blumenverkäufer. Es war eine Ahnung vom Frühling zwischen den Häusern, ein Abglanz aus der Ferne über das häßliche Grau der Steine gegossen, ein fließender Schimmer zwischen den Mauern. Durch allen Staub der Straßen, durch allen Lärm der Stadt schwebte der Mai.

Wie es nicht anders zu erwarten gewesen, war Blanches Ziel ihr Atelier. Mit tiefem Atemholen, gleichsam das ganze schöne Wetter in sich einziehend, entschloß sie sich, zu Fuß zu gehen, statt sich in den dumpfen Wagen der Straßenbahn zu drängen, und so schritt sie denn aus. Carola fuhr, der Zug, in dem sie saß, rollte und trug sie fort, dies also war abgetan und erledigt, die große Sorge um die Freundin war aus der Welt geschafft. Die letzten Stunden mit ihrem Abschiedswirbel waren wie aus dem Tag herausgeschnitten, jetzt aber, da er vorüber war, schloß sich die Zeit der Zeit an, die eigenen Sorgen durften wieder auferstehen, das eigene Leben kehrte zurück. Blanche bog in eine Quergasse ab, um zur Elektrischen zu kommen, und stieg ein; als sie aber zwei Haltestellen weit gefahren war, hatte sie keine Geduld mehr, stieg wieder aus und nahm einen Wagen, um noch schneller in das Atelier zu kommen. Gisela hatte angekündigt, daß morgen der ganze Rummel mit einem einzigen Ruck erledigt und alles fix und fertig sein würde, ehe Blanche auch nur Zeit hätte, ein winziges Seufzerchen des Abschieds von den herrlichen Lichtverhältnissen auszustoßen; im übrigen hatte sie ihr, was sicherlich nur gut gemeint und richtig empfunden war, verboten, bis dahin auch nur einen Fuß ins Atelier zu setzen. Blanche hielt sich nicht an den Befehl, wenigstens Ordnung wollte sie machen, Übersicht gewinnen, gewisse Vorbereitungen treffen, Kästen und Schränke räumen und sehen, was sonst noch zu tun sei. Sie hatte offenbar das Gefühl, eine große, komplizierte Arbeit vor sich zu haben.

Als sie angekommen war, sprang sie geschäftig aus dem Wagen und hastete dem Atelier zu. Sie ging durchs Haus und sah sich um, was zu schaffen und wo anzupacken sei, sie stand auf der Schwelle zu den Zimmern und überlegte, sie schweifte nochmals durch alle Räume, sie stellte sich nachdenkend auf die Schwelle der Vorratskammer, strich abermals durchs ganze Gebäude und warf überallhin Blicke um sich, sie suchte, wo zu beginnen sei, und erkannte, daß gar nichts zu tun war. Denn, tatsächlich, sollte sie die Möbel und Bilder vor die Tür stellen, damit sie morgen zum Abtransport bereit seien? Sollte sie etwa die in den Räumen verstreuten Dinge zusammenrücken, nur damit sie morgen beieinander standen? Sollte sie zu packen beginnen? Darauf aber ergab sich die Antwort von selbst, da sie kein Material dafür hatte, kein Papier, keine Kisten, keine Schachteln, denn wenn auch in diesem Haushalt für alle Möglichkeiten vorgesorgt war – an diese hatte sie denn doch nicht gedacht, auch in der letzten Zeit nicht.

Sie stand im Atelier. Auf der Erde waren, ordentlich gegen die Fensterwand gelehnt, all ihre Gemälde aufgereiht, je fünf und fünf übereinander geschichtet und nach ihrer Entstehungszeit geordnet. Was sollte mit ihnen geschehen? Es würde sich morgen schon zeigen. Ihr Blick fiel auf das alte, faltig hingeworfene Tuch, unter dem auf der Staffelei ihr letztes Werk stand, das noch nicht vollendet war. Blanche besann sich nicht lange, und ohne das Bild anzusehen, hob sie es auf, mitsamt dem Fetzen, der es bedeckte, und fügte es an den Stoß der letzten fünf Bilder. Mit diesem Handgriff war sozusagen die grobe Arbeit getan, und es blieb ihr nur noch übrig, die wenigen Fächer auszuräumen, in denen man bewahrt und versperrt hält, was man an jenen privaten und privatesten Dingen besitzt, die nicht bestimmt sind, von fremden Augen gesehen zu werden, allerlei Notizen und Aufzeichnungen, vielleicht über peinliche Geldverhältnisse, Rechnungen und unangenehme Mahnungen, vielleicht Erinnerungen, Geschenke, Andenken, jene kleinen, wertlosen Dinge, die zu wertvollen Zeichen, zu inhaltsreichen Symbolen für bestimmte Zeiten, für unheilvolle oder beglückende Momente, für große Lebensaugenblicke geworden sind. Sie machte sich auch gleich daran, die Laden durchzugehen, doch hier, im eigentlichen Atelier, gab es überhaupt nichts, das zu durchsuchen gewesen wäre, da sie die Schubladen der Staffelei nicht weiter beachtete, denn sie waren ohnedies nur mit Malutensilien gefüllt, und nebenan, in dem kleinen Kabinett, war nur die kleine Lade in jenem Tischchen, das neben der Couch wie ein Nachtkasten stand.

Als sie sie öffnete, fand sie darin nur einen alten Malerpinsel, dessen Borsten von der trocknenden Farbe wie zu einem spröden Stein zusammengekittet worden waren, und ein dick geschwollenes Kuvert mit jenen Tabletten, die Blanche bei Giselas turbulentem Fest nach der Hausherrin tobendem, aber im Grunde heiterem und sogar lebensdurstigem Selbstmordversuch auf des Arztes Krau Befehl, damit weiteres Unglück vermieden werde, an sich genommen, in der Hast des Augenblicks in die Handtasche gesteckt, dann mit hergebracht und schließlich hier abgelegt hatte. Sie nahm beides heraus und warf den Pinsel in den Pinselkasten im Fuß der Staffelei; das volle Kuvert aber hielt sie noch in der Hand, und als sie sich abwandte, blieb sie mitten im Raum stehen und sah darauf nieder. Es war alt und zerknittert, die Briefmarke begann sich abzulösen, vorn stand Giselas Name und Adresse geschrieben. Blanche drehte es um, ein Absender war nicht genannt. Ihr Blick blieb darauf liegen, und es mochten ihr Erinnerungen durch den Kopf gehen an alles, was damit zusammenhing, vielmehr mit seinem Inhalt: an Giselas schreienden Wutanfall, an Carolas rätselhafte, aus Melancholie geborene Tat, an die Liebesverzweiflung des Dienstmädchens von Krau, dem ersten Glied der Unglückskette, an dieses Greifen nach dem Tod, an alles Geheimnisvolle, das sie spürte und das sie beunruhigte, an das wirkliche Unglück, das sie nachempfinden mochte, und an das Komödienhafte, Komische und Groteske, das sie aber niemals so aufgenommen hatte. Ihre Züge verdüsterten sich, und so blieb sie geraume Zeit.

Schließlich riß sie sich zusammen, nahm das Kuvert, ging hinunter und warf es mit einer schnellen Bewegung, in die eine gewisse Wildheit, eine gewisse Verbissenheit geriet, im Biedermeierzimmer auf einen Sessel. Doch kaum hatte sie einen einzigen Schritt davon weggetan, kehrte sie um, nahm es wieder und ging daran, es in den Sekretär zu sperren; als sie sich besann, daß doch gerade und vor allem er auszuräumen war, legte sie das Kuvert auf seine Platte; hier wiederum war es, aufstörend und aufreizend, im Weg, und so stand sie auf, um es wegzubringen. Sie war schon dabei, es wieder im ersten Zimmer auf den Tisch zu legen, um es aus der Hand zu bekommen, aber sie entschloß sich anders und ging in den Vorraum zur Garderobe, denn es blieb ihr nichts anderes übrig, als es wieder in die Handtasche zu stecken, in der es hergebracht worden war. Da dies getan war, kehrte sie schnell zum Sekretär zurück, und mit zornig raschen Bewegungen ging sie daran, hier Ordnung zu machen. Sie überlegte, wo sie beginnen sollte, dann öffnete sie zuerst die vorderen Schubfächer, entnahm ihnen den Inhalt und breitete ihn vor sich aus: die fast leere Geldkassette, einige noch unbeschriebene Briefbogen, sehr viele unbenutzte Kuverts, Papiere, die sich hier angesammelt hatten, Notizen, Adressen und Telephonnummern, Aufstellungen über ihre Ausgaben und ihre Schulden, von Handwerkern und Lieferanten geschriebene Postkarten und Briefe, die hierher adressiert worden waren, Einladungen und gleichgültige Mitteilungen, Rechnungen, Mahnungen, Postabschnitte und Quittungen. Sie machte den Versuch, die Papiere zu sortieren und je nach ihrem Charakter zu mehreren Stößen auseinanderzulegen, doch sie arbeitete nur kurze Zeit daran und ließ es mißmutig wieder sein. Ihre Hände sanken müde auf die Platte, denn welcher Art und welchen Charakters auch all die verschiedenen Papiere sein mochten, sie alle miteinander waren vollkommen inhaltslos und ganz und gar uninteressant. Nichts war der Erinnerung wert, alles wesenlos und schattenhaft.

Blanche raffte sich auf und schob endlich all diese Reste vergangener Tage verächtlich, ja, voller Ekel beiseite und drückte mit einer gewissen Wut auf das winzige, in die Unterseite der Platte eingefügte Knöpfchen, wodurch sich der Verschluß des Geheimfachs löste. Es enthielt ja auch wirklich ihr einziges Geheimnis, das einzige, für das gesorgt werden mußte. Sie erhob sich, mußte sich bücken, um das Fach auch zu öffnen, und niederknien, um die dort aufgestapelten Briefe hervorzuziehen. Sie steckten, mit dem groben, haarigen Bindfaden verschnürt, noch in dem häßlichen braunen Packpapier, in das sie am Vormittag gehüllt worden waren. Als sie sich wieder niedergesetzt hatte, löste Blanche den Knoten und öffnete das Paket. Alle Briefe waren von gleichem Format und alle ungefaltet. Sie ließ die Ränder der Blätter am Daumen vorbeilaufen und -springen, als wollte sie sehen, wie viele es seien, und als müßte sie selbst über die große Menge staunen, die sich im Laufe der Zeit angesammelt hatte. Sie blätterte mit gerunzelter Stirn, mit zusammengezogenen Brauen in diesem ganzen Stoß, warf einen Blick auf die eine oder andere Seite und las diesen Satz und jene Stelle. Vielleicht erinnerte sie sich, an welchem Tag, in welcher Stimmung sie dies oder jenes hingeworfen hatte; vieles aber mochte vergessen, fremd und wie neu sein.

Mit neugierig verwunderten Augen blickte sie auf die eigene Schrift. Wie viele Stunden hatte sie gebraucht, um diese Bogen zu füllen, welch ein Teil ihres Lebens war verbraucht worden, um solche Fülle ins Nichts zu werfen! Sie stützte die Ellenbogen auf, legte den Kopf in die Hände und neigte das Gesicht hinunter über den Stoß von Papieren. Die Augen waren auf den obersten Bogen geheftet, doch ihre Blicke lasen nicht mehr, sie schauten nicht mehr, sondern starrten nur und starrten. So verging lange Zeit, in der Stille schien das Leben zu entweichen, Blanche war in eine tiefe Grube gesunken. Nun war aus ihren Zügen nicht mehr zu lesen, was sie bewegte und was sie fühlte; mit einemmal aber fuhr sie, die Schultern einziehend, zusammen, mit jener plötzlichen, zuckenden Bewegung, zu der unser Körper gezwungen wird, wenn uns bei einem kalten Windstoß oder bei plötzlichem Fieber ein Schauer überkommt.

Erwachend und aufgeschreckt, schaute sie um sich und stand hastig auf, als müßte sie fliehen, aber wohin sollte sie fliehen, sie wußte nichts mit sich zu beginnen und ging ins Nebenzimmer, um sich ans Fenster zu stellen. Nach kurzer Weile öffnete sie es; sie zog einen Sessel zu sich heran, ließ sich nieder und sah durchs offene Fenster in den Garten, der in der milden Nachmittagssonne vor ihr lag, mit seinem freundlichen runden Rasen, um ihn der Weg, mit weißlichem Kies bestreut, in seiner Mitte der kleine Platz aus sehr hellem Sand. Als wäre der Kreis der mächtigen Ulmen die Grenze zwischen dem Hier und der Welt und als verwehrte er allem Lärm und sogar jedem Geräusch den Eintritt, war kein Laut zu hören, auch kein Rauschen und kein Wehen der Blätter, es war windstill, alles blieb unbewegt.

Blanche mochte wohl selbst nicht wissen, wie lange sie so gesessen hatte, und mochte auch nicht wissen, warum gerade jetzt die Zeit abgelaufen war und sie sich gerade jetzt und in diesem Augenblick rührte und erhob, aber sie tat es nun einmal, wahrscheinlich, weil es im Wurzelwerk ihres Wesens zu Ende gearbeitet hatte. Sie stand auf und machte sich bereit, wegzugehen, denn sie holte Hut und Handtasche von der Garderobe. Sie strebte fort, es hielt sie nicht mehr, und wirklich, sie hatte hier nichts mehr zu tun, es war begreiflich, daß sie der Einsamkeit entkommen wollte.

Auf dem Sekretär lagen noch die Briefe. Dies war von allem, was sie hier hatte, das einzige, das sie selbst wegschaffen wollte. Gewiß, bei ihrer Ruhelosigkeit an diesem Tag war es nicht ausgeschlossen, daß sie nochmals, vor dem Abend oder gar in der Nacht, zurückkommen werde, doch diese Briefe mußten so bald wie möglich in Sicherheit und nach Hause gebracht werden. Sie hob sie auf, um sie zu einem glatten Stoß zu ordnen, und als sie im Begriffe war, ihn wieder niederzulegen, fiel ihr auf, wie schwer er war. Sie behielt ihn zwischen den Fingern, fühlte in den Händen das Gewicht des ganzen Packens, und es war, als wöge sie den Traum ihres Lebens. Dann hüllte sie die Briefe schnell und ein wenig oberflächlich in das braune Packpapier und verschnürte sie. Was sonst noch blieb, all die Zettel, Notizen, Rechnungen, Quittungen, Mahnungen und Postkarten, fegte sie heftig in eine Lade und stieß sie mit zorniger Bewegung zu, daß sie krachend gegen ihren Rahmen schlug. Nun war sie schon daran, mit dem Paket in der Hand das Haus zu verlassen, aber sie konnte doch ihrer Gewohnheit nicht entsagen, vor dem Weggehen durchs ganze Gebäude zu streichen, um zu sehen, ob sie alles in Ordnung zurücklasse. So schweifte sie denn auch heute durch alle Räume.

Noch stand alles da wie immer, alles genau und sorgfältig an seinem Platz, ein Bild der Sauberkeit, ein Beispiel liebevoller Ordnung, und war doch schon tot, so wie ein Leichnam in seinem Paradeanzug aufgebahrt liegt, bevor er weggetragen wird. In ihre Gedanken versunken, nahm Blanche mit ihren Blicken schon den ersten Abschied, wiederum aber wie von einem Leichnam, der uns auf jene ganz und gar unbeteiligte Art entgegenschweigt, die sogar darüber schon hinaus ist, zu sagen: Ich habe nichts mehr mit dir zu tun.

Blanche verließ das Haus und hatte den Garten und das Gäßchen rasch hinter sich; wo dieses in die große Straße mündete, blieb sie stehen, als erwache sie aus der großen Stille, die hinter ihr lag. Um sie waren jetzt die durcheinander tönenden Geräusche der Stadt, vor ihr floß Eile und Hast, Bewegung und Leben. Die Wagen schnellten vorbei, hintereinander, nebeneinander, einander überholend, als habe jeder einzelne ein ganz besonderes, hochwichtiges Ziel. Das klare Licht hob alles überdeutlich hervor, jedes Ding hatte seine scharfen Konturen, nichts ging verloren, und nichts verschwamm.

Blanche sah auf die Uhr. Sie hatte viel Zeit übrig und mußte noch lange nicht zu Hause sein; sie konnte einen Umweg machen. Der Park jenseits der Straße lockte sie, sie überquerte die Straße und betrat ihn auf dem schmalen Pfad, der sich in sein Inneres wand. Sie verfolgte ihn, und als er in eine Hauptallee mündete, bog sie, ohne zu überlegen, nach rechts ein und schritt unter den aufblühenden Kastanien dahin, und als rechts ein Seitenweg abzweigte, überließ sie sich ihm, bis ein anderer kam, dem sie folgte. So war sie ins Gehen gekommen und beschrieb, immer nach rechts einbiegend, eine Art von Kreis. Es war zu erkennen, daß sie kein Ziel vor sich hatte, daß sie nur vor sich hinging, so wie sie vor sich hindachte, grübelte und träumte.

Der Umweg, den Blanche hatte machen wollen, war zum Spaziergang geworden, der Spaziergang zu einem planlosen Gehen und Irren. Von Zeit zu Zeit das schwere Paket und die leichtere Handtasche aus einer Hand in die andere wechselnd, schritt sie weiter, unentwegt und gleichmäßig, und kam wieder in jene Alleen und Wege, die sie schon einmal gegangen war.

Der Rasen mußte wohl gespritzt worden sein, denn vom Boden stieg der Atem angefeuchteter Erde auf; der Geruch von Gras und Laub durchgeisterte die Luft, sanfter Wind trug eine schwere Wolke von Duft herbei. Der Pfad, auf dem Blanche jetzt gekommen, war leer, nur ein Liebespaar ging vor ihr. Der Mann hatte den Arm um die Schulter der Frau gelegt, und so schritten sie langsam und friedlich einher. Die Gestalt des Mannes war, ohne daß er sich wirklich aufgestützt hätte, denn Arm und Hand waren nur leicht über Nacken und Schulter der Frau gelegt, dennoch ein klein wenig schief, als lehne er sich an die Frau, und so war eine innigere Verbindung angedeutet. Die Frau gab eine leise Antwort, indem sich ihr Kopf ein ganz klein wenig neigte; hätte er sich noch weiter geneigt, hätte er auf seiner Schulter gelegen. Wie sie so vor ihr einhergingen, langsam, Schritt für Schritt und in ein gemächliches Gespräch vertieft, waren sie ein großes und feierliches Bild, zwei aus der Welt gehobene Gestalten, von einer unsichtbaren Hand beschützt. Blanche dämpfte, ohne daß sie es wußte, auf dem knirschenden Weg ihre Schritte und blieb allmählich zurück, weil sie die beiden weder dadurch, daß sie sie überholte, noch dadurch, daß sie ständig hinter ihnen ginge, stören wollte – obwohl jene wahrscheinlich weder durch das eine noch durch das andere gestört gewesen wären.

Sie ging weiter, im Zickzack und im Kreis, indem sie den belebten Hauptalleen auswich. Sie suchte auf den stillen Nebenwegen Einsamkeit für ihre grübelnden Gedanken und ihre zerrissenen Gefühle, doch je abgelegener die Pfade waren, je weniger Menschen sie begegnete, desto weniger fand sie die Einsamkeit. Wer ihr entgegenkam, betrachtete sie, die so allein umherirrende, so grüblerisch und verträumt dreinschauende Dame, die keineswegs glücklich aussah und überdies noch dieses häßliche Paket in der Hand trug. So störte jeder ihr Begegnende sie durch seine Blicke auf, noch mehr aber schon durch seine Anwesenheit selbst, die in der Leere des Weges hervorstach und sie geradezu zwang, auch ihrerseits ihn zu betrachten.

Blanche hatte ein wenig die Orientierung verloren. Sie war bei einer ganz anderen Stelle an den Rand des Parks gelangt, als sie es erwartet hatte, und nun sah sie sich vor einem fremden Viertel, in das man nur selten kam, wenn man nicht dort wohnte. Sie überlegte, hielt aber nur einen kurzen Augenblick ein; dann betrat sie eine Straße, die grau und leblos war, und setzte ihren Weg fort, zwischen den fremden Häusern, den fremden Läden, den unbekannten Aufschriften und Firmenschildern. Sogar die Menschen schienen hier fremder zu sein als die fremden Menschen in bekannten Straßen. Die Nebengassen, in die sie blickte, waren wie aus einer anderen Stadt. Es war ein etwas abgestorbener Bezirk mit großen alten Mietshäusern, in denen vor Jahrzehnten die reichen Leute gewohnt hatten und zwischen denen sich nun ein mäßiger Verkehr bewegte. Hier herrschte die Nüchternheit und der Alltag, hier hatte alles seine Ordnung, ein jeder trug etwas Festes und Sicheres mit sich, und sie war die einzige, die leer und müßig ging.

Sie hätte nicht sagen können, wie lange sie schon dahingeschritten war. Es war eine jener eintönigen Straßen, die endlos zu sein scheinen, wenn man einem Ziel zustrebt oder gar in Eile ist, die aber bequem und ohne Störung sind für den Nachdenklichen, den Träumer, den Versunkenen, der sich im Geiste auf einer ebenso endlosen Wanderung befindet. Endlich wurde die langgestreckte Linie der Häuser durch einen mittelgroßen Platz, die Farblosigkeit durch das Grün eines Rasens unterbrochen. Blanche überquerte den Platz auf einem schmalen Weg, der zwischen den Grasflächen hindurchführte. Auf der anderen Seite angelangt, wurde ihr Blick von zwei großen Plakaten gefangen, die dort, wo die sich fortsetzende Straße mit dem Platz eine Ecke bildete, auf einer Bretterwand klebten. »Wir alle müssen sterben!« stand auf dem einen Plakat in großen Lettern, und zweifellos richtete diese tröstlichen Worte jener gütige alte Mann an jene junge Frau, die in Trauerkleidung zwischen zwei unerwachsenen Kindern vor ihm stand. Es war das Plakat einer Versicherungsanstalt, und es mahnte die Passanten, rechtzeitig zugunsten ihrer Angehörigen eine Lebensversicherung einzugehen. Es war in drei Exemplaren aufgeklebt; dreimal rief es dem Vorübergehenden zu, daß alle Menschen sterblich seien – auch er, der es gerade betrachtete oder las.

Darunter befand sich, ebenfalls dreifach, fast in gleicher Größe, das Plakat einer Pralinenfabrik. Dem Gegenstand entsprechend, zeigte es die Welt von einer anderen Seite. In einem gemütlichen Erker überreichte ein schöner und eleganter junger Mann, mit einem Lächeln, das seine blitzblanken Zähne herwies, und mit einem Blick, der seine Gefühle erraten ließ, einem außerordentlich hübschen Mädchen eine riesige Pralinenschachtel. Die junge Dame leuchtete vor Freude auf und sah ihm glückselig entgegen. Man wußte nicht, ob sie so glücklich darüber war, daß er ihr Pralinen gerade dieser Marke brachte, oder über seinen Besuch selbst und seine kaum mehr verhehlte Liebe, ob sie sich mehr auf seinen ersten Kuß freute oder auf die erste Praline. Welch ein Idyll! Welch ein Glück! Und welch eine Keuschheit! Welch ein Augenblick für die beiden, da sie über die Pralinenschachtel hinweg einander anstrahlten! Sicherlich werden sie sich heute noch verloben, sie wird eine reizende Braut sein, mit Schleier und Myrthenkranz. Wir alle müssen sterben, aber vorher ist die Liebe – es sei denn, daß wir alle sterben müssen, und vorher ist nichts.

Blanche hatte den Damm überquert und ging mit seitwärts gerichtetem Kopf, um die Plakate noch ein wenig im Auge zu behalten, bevor sie sich erneut der öden Straße überließ, die in der alten Richtung weiterführte. Schließlich aber war die Straße doch zu Ende, und Blanche mußte, wenn sie nicht umkehren wollte, in ein Gäßchen einbiegen, das in ein Gewirr von niedrigen alten Häusern führte. Es war der letzte vergessene Rest einer Gegend, die einmal den Rand der Stadt gebildet hatte. Das schmale Gebiet war schnell passiert, und Blanche stand plötzlich in der Helligkeit und fast im Freien. Nun hatte sie die Orientierung wiedergefunden und wußte, wo sie war. Jenseits der sehr breiten, ausladenden Chaussee vor ihr lag der alte Friedhof, auf den zwar keine Toten mehr gebracht wurden, doch erst seit kurzer Zeit, so daß er immer noch viele Besucher sah. Die Friedhofsbesucher vermengten sich mit den vielen Spaziergängern, die entlang der alten, schönen Friedhofsmauer dahinwanderten. Hinter ihr, der steinernen, stand machtvoll eine zweite, höhere, lebendige Mauer aus uralten Bäumen, die über den Köpfen der Vorübergehenden leise rauschten, aus Büschen, die ihre hellen Blüten zeigten, aus unbewegten Tannen, aus Sträuchern, die ihre laubbeladenen Zweige herüberreichten; hie und da wies eine Pappel, wie ein großer Finger in den Himmel.

Blanche ging hinüber. Sie zog die Luft ein, den Duft der Erde, des frischen Rasens, der Blüten, und schlug einen Randweg ein, der sich der Friedhofsmauer näherte, sich fast an sie drängte. An manchen Stellen hatte sich drüben der Efeu die Steine hinaufgerankt und kroch diesseits wieder herunter. Der letzte Flieder zeigte sein bläuliches Lila, der Jasmin sein Weiß, ein Goldregenzweig hatte sich auf die alten Quader gelegt und ließ seine Dolden leuchtend herüberhängen, der Frühling der Toten blühte über die Mauer, der Duft der ersten Akazien schwebte her. Es trieb Blanche weiter, sie konnte nicht einhalten, so wie ihr Herz, ihr Atem, ihr Gehirn nicht einhalten konnten, obwohl sie schon müde zu werden begann. Bald trug sie das Paket in der linken, bald in der rechten Hand, bald drückte sie es an die Brust, bald hing's am Bindfaden von den Fingern. Sie entfernte sich immer weiter von der inneren Stadt, und erst dort, wo die Mauer ihr Ende hatte und leere Bauplätze Lücken in der Straße zu bilden begannen, kehrte sie um.

Hinter ihr wurde der eilige, hetzende Gang eines Frauenfußes hörbar, der sie schnell einholte, daneben das laufende Trippeln eines Kindes, das offenbar nur mit Mühe Schritt halten konnte. »Soll ich dich tragen?« fragte die Frau, selbst schon ein wenig außer Atem. Das Kind gab keine Antwort. Sie kam vorbei, in ihren Zügen Schrecken und Sorge, an ihrer Hand, mit fiebrig gerötetem Gesicht, ein drei- bis vierjähriger Junge, der sich apathisch mitziehen ließ. »Soll ich dich tragen?« fragte sie nochmals, ängstlich auf ihn niedersehend, doch er schüttelte den Kopf. Sie seufzte auf. »Dann mußt du aber laufen«, sagte sie. »Weißt du, wir müssen laufen, damit du gleich ins Bett kommst und schnell wieder gesund wirst!« Sie sprach schnell und hastig weiter: »Wo hast du dir nur etwas geholt, Junge? Ich kann es mir gar nicht vorstellen, erkältet kannst du dich doch nicht haben bei diesem Wetter, erhitzt warst du auch nicht, es wäre mir doch aufgefallen!« Der Junge trippelte mühsam neben ihr her und versuchte, im Laufen zu ihr aufzuschauen, fragend und ohne Verständnis für ihre Überlegungen. »Hast du etwas gegessen, wovon ich nicht weiß?« fragte sie ihn. Er aber, als hätte sie nicht aus Besorgnis gefragt, sondern aus Strenge, um zu wissen, ob er nicht etwas Verbotenes getan und genascht habe, schaute erneut zu ihr auf, und indem er sie aus seinen matten Augen treuherzig ansah, schüttelte er protestierend und mit der ganzen winzigen Energie, die ihm geblieben war, seinen Kopf. »Hast du wirklich gar keine Schmerzen? Es wäre mir lieber, du hättest welche. Du mußt dir etwas von einem der Kinder geholt haben, mein Gott, es wird doch nicht –! Was wird der Vater sagen!«

Schon war sie vorüber, doch man sah, daß sie immer weiter mit dem erkrankten Kinde redete, als ob es sie verstehen und ihre Gedanken mitdenken könne. Wie ihr Gang, wie die Hast jedes Schrittes ihre Sorge verriet! Wie ihr ganzes Wesen erzitterte, weil dem Kind Gefahr drohte! Wie ihre Hand die des Kindes umklammerte! Und wie dieses sich mitschleifen und seine Hand pressen ließ! Ach, wie die Blicke hinauf und hinunter gingen, die der verzweifelten Frau, die sich ihren angstvollen Phantasien überließ, und die des fiebernden Kindes, das, mit schon halb umdämmertem Bewußtsein, über die aufgeregten Reden seiner Mutter staunte! Schrecklich, schrecklich, und doch war dies schreckliche Bild viel schöner als das glückliche Leben auf dem Pralinen-Plakat. Endlich fand die Frau ein freies Mietauto, hob das Kind hinein und fuhr davon. Blanche sah ihm gedankenvoll nach, wie es die lange Straße entlangglitt, bis es sich zwischen andern und in der Ferne verlor.

Die Dämmerung kündete sich an, ein leiser Schatten, vom matteren Himmel niedersinkend, begann den Farben etwas von ihrer leuchtenden Kraft zu nehmen, die Linien und Konturen wurden weicher, alle Schärfe milderte sich, noch war kein Abendwind zu spüren, doch die Kronen der Bäume rauschten in kleinen Stößen auf, als hätten sie schon den ersten Hauch empfangen. Blanche überquerte die Straße und bog, ohne zu überlegen, in jenes enge düstere Viertel ein, das sie vorhin passiert hatte, und schien nun, ein zurückrollendes Rad, wiederum den ganzen langen Weg gehen zu wollen, den sie hergeirrt war, als ob sie nicht einen kürzeren, direkten hätte wählen können, um nach Hause zu kommen. Sie verfiel wieder in ihren alten regelmäßigen Trott, nur jetzt mit schwereren Füßen. Sie verlor sich in die schmalen alten Gassen, mochte nicht wissen, wie lange sie schon auf dem Rückweg war, und schaute erst auf, als sie auf jenen runden Platz gelangte, den sie schon einmal überquert hatte. Auf dem Gehsteig waren nur wenige Menschen zu sehen, die hier wohnen mochten und nun nach Hause gingen; innerhalb der Rasenanlage aber, die in stiller, abgeschiedener Friedlichkeit lag, war überhaupt niemand, und als Blanche sie durchschritt und eine leere Bank erblickte, war der Gedanke, sich nach dem langen Wandern ein wenig auszuruhen, verlockend, und nachdem sie festgestellt hatte, wie spät es war, ließ sie sich aufatmend niederfallen.

Sie saß mit trübem Blick, erschlafft und vorgebeugt, dann richtete sie sich auf und drehte sich zur Seite, um wenigstens ihren Arm auf die Lehne der Bank zu stützen und bequemer zu sitzen. Jetzt erst, da ihr monotones Gehen zum Stillstand gekommen war, mochte sie so recht die Müdigkeit des Körpers und des Geistes spüren. Blanche gönnte sich's, wenigstens für eine Minute die Augen zu schließen. Ob wohl jemand vorüberkommen würde, dachte sie, und was er wohl denken würde, wenn er sie so sähe, allein auf der Bank, mit geschlossenen Augen? Vielleicht würde er sie nur für eine müde Ausflüglerin halten oder, lächerlicherweise, für eine Landstreicherin, die kein Obdach hat, obwohl sie doch nicht wie eine Landstreicherin aussah, denn sie trug seit dem Morgen ihr neues Kostüm.

Plötzlich kam ihr in Erinnerung, daß ihr Vater wieder einmal Gäste zum Abend eingeladen und eine jener Gesellschaften arrangiert hatte, die er so sehr liebte und für die sie niemals etwas übrig gehabt hatte. Sie verließ den Park und rief einen freien Wagen an, doch sie hatte sich noch nicht entschieden, wohin sie fahren solle. Den Fuß schon auf dem Trittbrett, überlegte sie noch immer; der Chauffeur sah sie staunend an. Schließlich entschloß sie sich und nannte die Adresse ihrer elterlichen Wohnung.

III

Als Blanche nach Hause kam, begegnete sie im Treppenflur schon einem Gast, und als sie mit ihm die Wohnung betrat, sah sie, daß es nicht der erste war, denn in der Garderobe hingen bereits die Mäntel anderer Gäste, und in die Halle drangen fremde Stimmen; zunächst aber mußte sie in ihr Zimmer eilen, um sich umzukleiden, ehe sie sich zeigen konnte. Sie versteckte das Paket, das sie auf so langen Umwegen hergetragen, im hinteren Winkel des obersten Fachs eines Schranks, dann griff sie ohne weitere Überlegung nach dem ersten Kleid, das ihr halbwegs passend schien, und schlüpfte hinein. Als sie sich aber vor den Spiegel setzte, um sich mit einigen schnellen Strichen zu frisieren, hielt sie, kaum daß sie den Blick aufs Glas gerichtet hatte, mit schon erhobener Hand erschrocken ein und betrachtete entsetzt sich selbst: sie war bleich, die Augen waren glanzlos, die Falten schienen sich vertieft, das Gesicht schien seine Form verloren zu haben. Sie seufzte auf; ihr Aussehen bestätigte ihr, daß sie wirklich unglücklich war. Während sie schon im Begriff war, ihr Zimmer zu verlassen, fühlte sie plötzlich Atemlosigkeit und Beklemmung, sie mußte sich niedersetzen und warten, bis die Ruhe wiederkehrte, und als sie endlich in die vorderen Räume ging, war die ganze Gesellschaft schon versammelt. Frau Riedinger sah ihr mit mühsam verhehltem Ärger, ihr Vater mit offenem Zorn entgegen, und nur ein mahnender Blick seiner Frau hielt ihn zurück, vor allen Freunden und Bekannten seiner Tochter Vorwürfe zu machen. In seiner Vorliebe für Lärm und Bewegung, in seinem Bedürfnis nach Geselligkeit war er schon lange vor der Zeit, mit seinem etwas altmodischen Smoking angetan und auf die ersten Gäste wartend, ruhelos und ohnedies übelgelaunt, durch die Wohnung gestrichen, von Zeit zu Zeit seiner Frau durch alle Zimmer etwas zurufend, auf Blanche schimpfend, weil sie sich wieder einmal verspätete, und Erwägungen anstellend, wie man jetzt noch, spät genug und bei ihrem Alter im allerletzten Moment, versuchen könnte, sie zu erziehen oder wenigstens zu zwingen, sich an die Hausordnung zu halten und auf die Wünsche ihres Vaters Rücksicht zu nehmen. Seine schlechte Stimmung wollte nicht weichen und hielt noch zwei volle Stunden an.

Man saß schon längst im Wohnzimmer bei Kognak und Likör. Die Kaffeetassen waren leer, der Rest in der Kanne war erkaltet. Das Abendessen war unlustig und eigentlich recht langweilig verlaufen, mit eintönig murmelnden, von Nachbar zu Nachbar geführten, träge rieselnden Gesprächen. Freude oder Amüsement waren teils wegen der üblen Laune des Hausherrn nicht aufgekommen, in die ihn, wie er meinte, seine Tochter gebracht, die aber in Wirklichkeit schon eingesetzt hatte, als am Nachmittag, also fast im letzten Augenblick, Stadel, der wie immer auch für heute eingeladen gewesen, abgesagt und erst auf Riedingers Protest und Zureden und nach langem Hin und Her versprochen hatte, wenigstens später zu kommen, zum andern Teil aber eben deshalb, weil er, weil Stadel gefehlt hatte, dieser lärmende und witzige, immer Wellen schlagende Geist, auf dessen originelle und aufpeitschende Unterhaltungskunst man sich immer verließ. Blanches Stimme hatte man bei Tisch überhaupt nicht gehört. Die an sie gerichteten Fragen hatte sie nur leise und wie mit verrosteter Stimme beantwortet, und auf die Versuche ihrer Nachbarn, in ein Gespräch mit ihr zu kommen, war sie so stockend und zerstreut eingegangen, daß jene es hatten aufgeben müssen.

Man saß also schon geraume Zeit um den großen runden Tisch des Wohnzimmers, die älteren Damen auf dem langen, in die Ecke eingebauten Rundsofa, die übrigen auf Stühlen und Sesseln, die den weiten Kreis fortsetzten und schlossen. Stadel war bisher, obwohl es schon zehn Uhr war, nicht gekommen. In der etwas stumpfen Atmosphäre des großen Raumes erklang nur die Stimme Riedingers, der sich zwingen wollte, die Gesellschaft zu unterhalten. Seiner Neigung folgend, über Dinge der Liebe zu sprechen, und zugleich seiner Gewohnheit, besondere wegen ihrer Rechtsprobleme interessante Fälle des Gerichtssaals zum besten zu geben, mit seiner Anwaltskenntnis die Folge der Ereignisse und den Prozeßverlauf übersichtlich auseinanderfaltend, hatte er eben begonnen, mit vielen Einzelheiten einen sensationellen Kriminalfall darzubreiten und zu erläutern, der den Anwesenden nur nach den Zeitungsberichten und ungenau bekannt war. Mit einmal auflebend und in die beste Stimmung versetzt, hatte er freudig seine Erzählung unterbrochen, denn endlich und kaum mehr erwartet, war Stadel angelangt und eingetreten, sofort mit seiner Turbulenz das gedämpfte Zimmer füllend, verhungert und verdurstet, wie er atemlos verkündete. Man servierte ihm, wie es ihm zugesagt worden war, nachträglich ein kaltes Abendessen, nicht im Eßzimmer, wie es Frau Riedinger angeordnet, sondern hier, wie Riedinger es jetzt in seiner Ungeduld verlangte, den wichtigen Gast der Gesellschaft zu präsentieren und einzuverleiben.

Doch Stadel zeigte sich nicht in seiner Fulminanz, er schwieg, er aß und trank. Vor sich einen dicht besetzten Extratisch, saß er tief vorgebeugt und verschlang, was man ihm bot, richtete sich nur auf, um zu trinken, setzte das Glas erst ab, wenn es ganz geleert war, und beugte sich von neuem vor, um zu essen, dies alles in breiter Behaglichkeit und offenbar sehr zufrieden mit der Sonderbehandlung, die ihm zuteil wurde. Sein ganzes Gehaben war so intensiv, daß sich die Aufmerksamkeit auf ihn richten mußte und unwillkürlich alle ihm zusahen, die einen insgeheim über seinen gewaltigen Appetit lächelnd, die anderen degoutiert von seinem sich ausbreitenden Wesen, von dieser betont ungenierten, gleichsam auf sich selbst stolzen Art. Riedinger aber strahlte, als Stadel der Gesellschaft seinen Riesenhunger und sich selbst als Esser vorführte und ihr so schon ein Schauspiel bot, das aus dem gewohnten Rahmen fiel.

Ein toller Kerl! Er hatte nun einmal eine Vorliebe für diesen Menschen, für seine Paradoxa, für seine originellen und vorurteilsfreien, der Mode oft entgegengesetzten Ansichten und sein von keiner Konvention gehemmtes Benehmen. Er sah in ihm den Vertreter des Geistes, das Bild des freien Menschen und das Element der Revolution. Stadel selbst aber schloß aus der Tatsache, daß er immer wieder Leute fand, die ihm applaudierten, und daß er im Laufe der vielen Jahre nur selten aus einem Haus hinausgeworfen worden war, er schloß daraus, daß er ein wichtiges, in die bürgerliche Gesellschaft eingedrungenes Element darstelle, berufen, sie durch seine Kritik von innen heraus zu läutern.

Bald war vor Stadel ein Durcheinander von hin- und hergeschobenen Tellern, Gläsern und Schüsseln, so daß er sich, beengt und ratlos, auf dem Tischchen nicht mehr zurechtfand. Frau Riedinger bemerkte seine Verlegenheit und gab ihrer Tochter ein Zeichen, das sie aber, vor sich hin und in die Luft sehend, nicht wahrnahm. So rief denn Frau Riedinger und schreckte sie auf: »Blanche! Hilf doch ein wenig!« Blanche stand gehorsam auf und machte ihm Ordnung.

»Danke, mein Kind!« rief er. »So ist's recht! Sie sind eine brave, gute Haustochter! Ich lobe Sie! – Hallo!« machte er, da er den Kopf hob. »Was ist denn mit Ihnen? Wie sehen Sie denn aus?«

»Wieso?« fragte Blanche.

»So! Es schien mir so –?« antwortete er. »Oder nicht? Irre ich mich? Bitte sehr! Ganz recht! Sie haben es erraten! Jetzt kommt der Käse an die Reihe!« Er beugte sich von neuem über den Tisch, dann richtete er sich wieder auf und sah mit triumphierendem Stolz im Kreis; als er mit seinem Blick bei Frau Leonhardt angelangt war, hielt er ein. »Donnerwetter!« rief er und musterte sie mit starrenden Augen. »Ich wiederhole: Donnerwetter!« sagte er und forderte sie auf, neben ihn zu rücken, da er noch den Nachtisch zu genießen habe und sich also nicht neben sie setzen könne. Sie errötete, lächelte freudig, fand keine Antwort und blieb sitzen.

Ihr Nachbar aber, ein etwa vierzigjähriger, mit natürlicher Eleganz gekleideter und außerordentlich appetitlicher Mann mit weißblonden Haaren, mit der Gestalt eines durchtrainierten Athleten und mit einem kräftigen, roten, gesundheitsstrotzenden Gesicht, dem aber der scharfe Blick der schmalen Augen etwas Kluges und zugleich ein überraschend kleines spitzes Näschen etwas Kindliches gab, dieser Nachbar also, auf naivere Weise von Frau Leonhardt entzückt, musterte seinerseits Stadel und schien eben, wenn man aus seinen Mienen schließen durfte, den Entschluß zu fassen, ihn auf dem Nachhauseweg kurzerhand durchzuprügeln, wenn er es nicht augenblicklich unterlassen sollte, sie mit ungehörigen Redensarten und Blicken zu verfolgen. Allerdings würde auch jeder andere mit seinen Blicken unwillkürlich bei Frau Leonhardt haltgemacht haben, wenn er, so wie Stadel es getan, sich rings im Kreis umgeschaut hätte, denn sie war in der ganzen Gesellschaft eine herausleuchtende Köstlichkeit, ein schimmernder Tautropfen, eine entzückende Puppe und stach, auch zwischen den anderen Frauen, um so mehr hervor, als ihre Toilette die letzte, noch nicht allgemein bekannte und also in die Augen fallende Mode präsentierte.

Doch auch als Person hätte Frau Leonhardt der Mittelpunkt sein müssen, weil die Gesellschaft wieder einmal ihr zu Ehren stattfand, aus Anlaß ihrer bevorstehenden Abreise, so wie vor einigen Wochen aus Anlaß ihrer Ankunft eine stattgefunden hatte. Die nochmalige Ehrung hatte ihren Grund in der ärgerlichen Tatsache, daß man in der Zwischenzeit ihre Anwesenheit in der Stadt so gut wie vergessen und sie während ihres Aufenthaltes ganz und gar vernachlässigt hatte, obwohl Riedinger Wert darauf legte, ihr, als der Gattin des besten Klienten seiner Anwaltskanzlei, Aufmerksamkeit zu widmen, und obwohl er Blanche ans Herz gelegt hatte, diese Aufgabe zu übernehmen. Der Grund aber, warum er die Aufgabe auf seine Tochter hatte abwälzen wollen und warum diese wiederum sich ihr, nach ihrem einzigen Besuch im Hotel, mit konsequenter Vergeßlichkeit entzog, lag darin, daß sie überaus beschwerlich und geradezu peinigend war, denn es war außerhalb aller Möglichkeit, mit Frau Leonhardt in ein noch so lockeres Gespräch zu kommen.

Bei Tisch war heute Stievensen ihr Nachbar gewesen, jener Mann, der auch jetzt neben ihr saß, denn er war ihr nicht mehr von der Seite gewichen, weil er vom ersten Augenblick entzückt von ihr gewesen war. Er hatte sich gleich ins Gespräch mit ihr gestürzt, sehr heftig, sehr vorsichtig und höflich. Nachdem er das Notwendigste über sie erfahren hatte, fragte er sie, ob sie sich denn in der kleinen Provinzstadt, in der sie leben müsse, nicht langweile und wie sie denn dort all ihre Zeit verbringe. Sie hatte geantwortet: »Der große Haushalt gibt viel Arbeit, und ich lese sehr viel.« Nun, der große Haushalt gab tatsächlich viel Arbeit, wenn auch ihre eigene, genau genommen, nur darin bestand, hier und da der Hausdame, die eine große Dienerschaft zu leiten hatte, eine Anweisung zu geben, Stievensen aber hielt sich an den anderen Teil ihrer Antwort und fragte sie nach ihrer Lektüre der letzten Zeit.

»Zuletzt habe ich alle Werke von Ladislaus Joachim gelesen«, sagte sie.

Er war erstaunt, denn er hielt Joachim für einen leeren Kerl. »Alle Werke?« fragte er verwundert. Ob sie ihn denn so schätze und, fragte er schließlich geradezu, was sie an ihm finde. Da blieb ihr nichts anderes übrig, als ungefähr zu wiederholen, was Joachim ihr über sich selbst gesagt hatte. Sie finde, sagte sie, daß sich unter seiner glatten und eleganten Oberfläche Tiefen, ja, Abgründe verbergen, und daß er außerdem als erster die sozialen Probleme vom ästhetischen Standpunkt, beziehungsweise die ästhetischen Probleme vom sozialen Standpunkt betrachte. Angesichts dieser tieferen Auffassung, die ihm nicht einmal ganz verständlich war, wurde Stievensen denn doch ein wenig eingeschüchtert, und um seiner Nachbarin gerecht zu werden, sprach er nun seinerseits über jene Schriftsteller und Dichter, die er liebte, die vielen alten und die wenigen neuen, und setzte ihr auseinander, warum er den und warum er jenen liebe. Er wußte ja nicht, daß Frau Leonhardt seit der erzwungenen Lektüre ihrer Schulzeit außer allen inländischen und ausländischen Modezeitschriften und außer allen Werken Joachims nur noch vor sechs oder sieben Jahren den Abdruck eines halbwegs populär gehaltenen Vortrags »Über das veränderte Verhältnis der Mathematik zur Physik im Lichte der neuesten Forschungen« gelesen hatte, dessen Verfasser damals während einiger Herbstwochen viel mit ihr verkehrt und ihr zu Beginn ihrer Bekanntschaft diese Broschüre geschenkt hatte.

Stadel hatte zu Ende gegessen. »Blanche!« rief Frau Riedinger. »Läute dem Mädchen, daß es abräumt!«

»Danke, mein Kind!« rief Stadel, als Blanche aufstand. »Sie sind brav! Ich lobe Sie!« Unwillkürlich richtete man seine Blicke auf sie, da sie so von zwei Seiten angesprochen wurde, und sah ihr nach oder beobachtete sie gar im geheimen, wie sie schweigend zur Tür ging, den Klingelknopf drückte und wieder auf ihren Platz zurückkehrte. Angesichts ihres zerstreuten und in sich gekehrten, nicht aufzurüttelnden Wesens, das niemandem hatte entgehen können, glaubten vielleicht die einen, sie sei noch böse wegen des zu deutlich vorwurfsvollen Empfangs, den ihre Eltern ihr vor allen Gästen wegen ihrer Verspätung bereitet; die anderen mochten, nur allgemein und ungefähr, bei sich feststellen, sie müsse heute irgendwelche Unannehmlichkeiten gehabt haben.

Stadel sah zu, wie sein Tisch abgeräumt wurde, lehnte sich breit-behaglich zurück und überließ mit einer im Kreis gehenden, einladenden Geste, die zu verkünden schien, daß man sich durch seine Anwesenheit nicht stören lassen solle, er persönlich sei entschlossen, nur zuzuhören und sich auszuruhen, den anderen das Feld der Unterhaltung. So kehrte denn Riedinger zu seiner Kriminalgeschichte zurück, obwohl es vielleicht niemanden nach dem verzwickten Fall und seiner breit ausgesponnenen Gruseligkeit gelüstete. Aber er hatte, wie es schien, seine Freude daran. Es handelte sich um den vorgeblichen oder wirklichen Doppelselbstmord eines Liebespaares, das am Fuße eines abschüssigen Felsens in den Alpen gefunden worden war, die Frau durch den Sturz getötet, der Mann nur betäubt und verletzt. Aus der Lage der Leiber und aus anderen Umständen hatte man auf einen Kampf geschlossen. Er habe, so wurde angenommen, seine Geliebte in die Tiefe stoßen wollen, sie habe sich gewehrt, bis beide, miteinander ringend, vom Rand des Felsens abgeglitten seien, so daß er des Mordes angeklagt wurde, wogegen seine Darstellung lautete, sie hätten sich in einer letzten verzweifelten Umschlingung miteinander in die Tiefe geworfen, eine Darstellung, deren Richtigkeit oder Unrichtigkeit kaum nachzuweisen war. Doch wurde der Verdacht gegen den Angeklagten durch die Tatsache verstärkt, daß es gelungen war, ihn zu dem Geständnis zu bringen, er habe die Frau zu der gemeinsamen Tat überredet, was die Anklage als Eingeständnis seiner Willensrichtung wie als Eingeständnis der Tat selbst auffaßte, da die Frau mit ihrem lebenslustigen Charakter seinen Überredungskünsten, wie der Staatsanwalt sagte, nicht unterlegen sein konnte. Doch nun wurde es interessant, verkündete Riedinger, denn es hatten sich Freundinnen der Toten mit der Aussage eingefunden, sie habe ihnen nicht nur angedeutet, daß er fürchterliche Zumutungen an sie stelle, sondern auch, daß sie, unter seinem Bann, ihnen nicht widerstehen könne, so daß abermals seine Schilderung glaubhafter erscheinen und ihn wenigstens von dem Verdachte des direkten Mordes befreien konnte.

Der Staatsanwalt aber, der den Angeklagten als einen widernatürlichen Wüstling hinstellte, wollte – und hier begann die Sensation – diese Zumutungen nicht in bezug auf einen gemeinsamen Selbstmord, sondern in einem anderen Sinn verstanden haben, als Zumutungen nämlich auf dem Gebiet der körperlichen Liebe, und nun hatte es die Verteidigung verstanden, die Frage nach der Bedeutung jener Äußerungen der Frau zur Hauptfrage zu machen und die Vorladung einer Reihe weiterer Zeuginnen beantragt, deren Namen vorläufig nur auf einer dem Vorsitzenden überreichten Liste standen und die bestätigen sollten, daß seine Veranlagung durchaus in den Bahnen der Normalität liege, ein Antrag, der ungeheueres Aufsehen erregte, einigermaßen Verwirrung stiftete und den Staatsanwalt zur Drohung veranlaßte, er werde andere Zeuginnen bringen, die das Gegenteil aussagen würden – kurz, es hatten sich kochende Höhepunkte des Prozesses ergeben, über die Riedinger jetzt noch sich freute und lachte und die beinahe dazu geführt hätten, daß eine ganze Serie von Damen der besten Gesellschaft, wie er sagte, hätte aufmarschieren müssen, um über ihre intimsten Erfahrungen mit dem Angeklagten, über seine privatesten Gewohnheiten und Gelüste Bericht zu erstatten.

Hier wurde endlich die lange Erzählung durch scherzhafte Zwischenrufe, noch mehr durch Bemerkungen der Verwunderung und Empörung unterbrochen, nachdem man bisher der wegen ihrer juristischen Interessantheit vorgetragenen Geschichte stillschweigend hatte zuhören müssen. Während die Stimmen für einige Augenblicke durcheinandergingen, wandte sich Frau Riedinger an ihre Nachbarin, die Frau Feding. »Daß mein Mann immer solche Geschichten erzählt –!« sagte sie.

Stadel aber, der, müde oder faul, noch immer weit zurückgelehnt, in ihrer Nähe saß, hatte ihre Worte gehört. »Was wollen Sie!« warf er gelangweilt hin. »Alte Geschichten! Kapitel: Liebe und Tod!«

Offenbar durch den Tonfall gereizt, wandte sich Stievensen, der Nachbar der Frau Leonhardt, während sein rotes Gesicht noch röter wurde, angreifend gegen Stadel, wenn er auch nur langsam begann und vorsichtig die Worte setzte, ganz wie ein Mensch, der sich befangen fühlt, weil er nicht gewohnt ist, sich an Debatten zu beteiligen: »Ich sehe nichts von Liebe und Tod. Ich sehe nur Tod. Ich begreife sehr gut, daß man sich aus unglücklicher Liebe umbringen kann, aber dieser Prozeß ist – wie soll ich es sagen – nicht Liebe und Tod, sondern Pikanterie und Tod, und da bekommt denn doch die Pikanterie etwas Häßliches, sie schmeckt nach Verwesung, und der Tod wiederum wird herabgedrückt und bekommt etwas Unernstes!«

Von da und dort nickte man ihm beifällig zu, er aber neigte sich gleich zu Frau Leonhardt, um sie halblaut zu fragen: »Habe ich nicht recht?«

»Gewiß!« sagte sie, und er freute sich über ihre Zustimmung. Es war zu ahnen, daß er nur für sie sich bemüht hatte, seine Meinung in gute Worte zu kleiden.

Riedinger rief ihn an: »He, Stievensen! Sie sind, wie ich sehe, gegen den Angeklagten eingenommen? Eben, eben! Die Geschworenen waren es auch!« Er lachte und fuhr triumphierend fort: »Und eben deshalb war's ein Meisterstück, ihn freizubekommen!«

»Ich gratuliere!« machte Stadel. Hatte Riedingers Erzählung niemanden so recht interessiert, bei manchen nur Schauer oder Peinlichkeit erregt, so machte Stadels Ironie erst recht einen unangenehmen Eindruck. Um diese Momente zu überbrücken, trat Klodius in die sich ausbreitende Stille. Er war Philologe und Altertumsforscher und ließ seine Gedanken leicht und gern in sein Gebiet hinüberziehen. »Nach dem Urteil müssen wir also glauben, daß es ein Selbstmord war«, begann er gemütlich, wie in einer freundlichen Erinnerung lächelnd, »und wir wollen nur hoffen, daß sich nun nicht andere Paare auf den Weg zu diesem Felsen machen, um dem ersten nachzuahmen. Sonst müßte auch etwas dagegen geschehen! Ihre Geschichte, Herr Doktor, erinnert mich nämlich an den leukadischen Felsen.«

»Woran?« machte Riedinger.

»Erzähl nur!« rief Stievensen hin, der ein Freund Klodius' war, und neigte sich zu Frau Leonhardt: »Sie kennen die Geschichte?«

»Nein«, sagte sie.

»Nein?« wiederholte er. »Oh, sie wird Ihnen sicherlich gefallen!«

»An den leukadischen Felsen«, wiederholte Klodius. »Auf der Insel Leukas nämlich stand ein abschüssiger Felsen, der immer wieder zu ebendemselben schauerlichen Zweck benutzt wurde wie jener Alpenfelsen. Allerdings, er stand am Ufer und fiel ins Meer. Im Dunkel der Zeiten muß einmal ein Unglücklicher, der sein Leben enden wollte, oder ebenfalls ein unglückliches Paar, auf den Gedanken gekommen sein, dies durch einen Sturz von seiner Höhe zu vollbringen. Die Tat fand Nachahmung, und wer sich umbringen wollte, stieg auf den Berg und stürzte sich in die Tiefe. Ja, vielleicht mehr noch, vielleicht reizte diese poetisch-romantische Geste, dieser Sprung von der einsam ragenden Felsenspitze, aus dem unendlichen Äther ins unendliche Meer, manche Gemüter und verführte so erst manchen jungen Menschen zum Selbstmord. Bis es eines Tages den Bewohnern der Insel zuviel wurde und sie diesem gefährlichen Treiben Einhalt gebieten wollten. Heute würde man den Zugang zu dem Felsen mit einer Verbotstafel versehen und mit einem Seil absperren, die Einwohner von Leukas aber hielten sich an die Götter. Sie hofften, ihre Insel von dem vielfachen Unglück dadurch zu befreien, daß sie ihnen freiwillig ein Opfer brächten, und stießen deshalb, um sie zufriedenzustellen oder zu versöhnen, jedes Jahr von dieser selben Stelle einen Menschen ins Meer. So feierten sie denn alljährlich ein Fest, bei dem von diesem Felsen ein Verbrecher hinuntergestürzt wurde, der eigens für diesen Tag aufbewahrt worden war. Aber die guten Leukadier, dachten sie nun, der arme Kerl sei mit dem schrecklichen Sturz allein schon genügend bestraft, oder meinten sie, die Götter würden sich mit einem Symbol begnügen, oder gar, sie könnten die Götter ein wenig beschwindeln – sie wollten in Wirklichkeit den Menschen, indem sie ihn in die Tiefe warfen, ja gar nicht töten – und was taten sie nun? Sie behingen ihn von oben bis unten mit lebenden Vögeln, und dann erst stießen sie ihn ins Meer, und das Flügelschlagen der kleinen Tiere, ihre Bemühungen, sich gegen die Schwere seines Körpers, gegen den Zug nach unten aufwärts zu schwingen, hielten ihn in Schwebe, und in bunte Federn gehüllt, von den leichten, schwachen, flatternden Geschöpfen getragen und gerettet, glitt er langsam und sachte aufs Wasser, wo übrigens schon Nachen und Kähne warteten, um ihn aufzufischen, ans Land zu ziehen und laufen zu lassen. Ist das nicht hübsch?«

Stievensen neigte sich zu Frau Leonhardt: »Ist das nicht wirklich hübsch? Ich denke immer, in dieser Geschichte stecken fast alle Elemente der Antike. Ist sie nicht schön?«

»Ja«, sagte sie, und er freute sich über seinen Freund Klodius, dessen Erzählungen er gern hörte, und über die Tatsache, daß die Geschichte auch ihr gefallen hatte.

Da ertönte aus dem Hintergrund des Zimmers, von dort, wo neben dem Fenster der Bücherkasten stand, eine strenge und ziemlich grelle Frauenstimme: »Und was willst du mit dieser Geschichte beweisen?«

»Nichts, mein Kind«, antwortete Klodius, »aber sie gefällt mir.«

»Ja, sie ist reizend«, sagte Frau Riedinger und lächelte über seine gelassene Antwort. Sie hatte Klodius gern und verzieh es ihm auch, wenn er sich manchmal, als Lehrer gewohnt, in ungestörter Weise das Wort zu führen, gar zu sehr auf seinem Gebiet ausbreitete und in einem Thema verlor. Ja, vor über dreißig Jahren, bevor sie Riedinger geheiratet hatte, war das Gerücht gegangen, sie liebe Klodius, der damals ein junger Dozent war, ein Gerücht, das heute längst vergessen war, Riedinger aber Jahrzehnte hindurch veranlaßt hatte, Klodius außerordentlich unsympathisch zu finden. Mit zunehmendem Alter hatte sich die Abneigung gemildert, und jetzt, da alles längst Vergangenheit, die Vergangenheit schon Legende und umwölkte Fabel war, hatte er, alles vergessend, den Vorschlag seiner Frau, Klodius einzuladen, ausgezeichnet gefunden. Sie freute sich, ihn hier zu haben, und war gesprächiger als sonst. »Also gab's auch schon damals«, fragte sie jetzt, »Narren und Verbrecher, die alle Probleme und Schwierigkeiten des Daseins dadurch zu lösen meinten, daß sie das ganze Dasein von sich warfen?«

»Auch schon damals? Narren? Verbrecher? Oh, gnädige Frau, auch schon damals?« Er geriet ein wenig in Eifer: »Auch schon damals? Gehören Sie am Ende zu den Menschen, die glauben, daß alles, was heute ist, zum erstenmal ist? Daß die Welt sozusagen aus lauter Premieren besteht? Gott bewahre mich vor den nichtssagenden Trivialitäten: Alles schon dagewesen! Es ist immer dasselbe! – und wie diese Weisheiten sonst noch lauten, aber ich sage immer meinen Hörern: Es gibt nichts Schwierigeres auf unserem Gebiet, als die Linie zu finden, bis zu der die Menschen eines anderen Zeitalters so waren wie wir, ganz genau so, haargenau so, und von der an sie anders waren, ganz anders, weltenfern anders. Und beides, bedenken Sie!, haargenau so wie wir und weltenfern anders als wir, dies und jenes waren sie zugleich!

Was aber Ihre eigentliche Frage betrifft –: nun, es gab damals, wahrscheinlich sogar öfter als heute, Selbstmorde aus ganz eben denselben Motiven wie heute, weil nämlich die Menschen ganz, ganz genau so waren wie wir, und doch stellten sich diese Taten als etwas ganz anderes dar, weil sie, unabhängig vom persönlichen Motiv, in einer Umwelt mit ganz anderen allgemeinen Überzeugungen vor sich gingen, anderen Grundgefühlen, mit einer anderen Religion, die weit entfernt war, den Selbstmord als Sünde zu betrachten, mit einer anderen Wertung des Lebens, die auf der Meinung beruhte, daß es von einem gewissen Augenblick an nicht lebenswert mehr sei. Deshalb war sogar unter gewissen Umständen das Wort Lebensliebe ein Tadel, und durch die Jahrhunderte zieht sich eine lange Kette gerade von Philosophen, die Selbstmord begangen haben – womit ich aber, gnädige Frau«, unterbrach er gutmütig lächelnd sich selbst, da er Frau Riedinger ins Gesicht blickte, ihre gerunzelte Stirn sah und von dieser ihre Unzufriedenheit mit seiner Antwort ablas, »womit ich, bei all jenen Göttern, denen die Leukadier geopfert haben, durchaus keine Propaganda für den Selbstmord machen will! Gott bewahre mich davor! Unter anderen Menschen, in einer anderen Welt, unter anderen Überzeugungen! Ich würde ja auch schön Ihre Gastfreundschaft lohnen, wenn ich nichts Besseres zu tun hätte, als Ihren übrigen Gästen zu beweisen, daß sie sich schleunigst zu erschießen haben! Aber Sie sind mit jenen Philosophen und mit dieser ganzen Denkweise unzufrieden? Nun, dann muß ich denn doch sofort feststellen, daß andererseits ein großer Philosoph, als er schon sehr alt war, krank darniederlag und furchtbare Schmerzen litt und als man ihm einen Dolch reichen wollte, was natürlich den Rat bedeutete, von ihm Gebrauch zu machen, ausrief: Nicht mein Leben will ich beenden, sondern meine Leiden! Und daß es in Athen ein Gesetz gab, auf Grund dessen die Leiche eines Selbstmörders bestraft wurde: mit Verlust des rechten Arms und des linken Beins, mit Versagung eines ehrlichen Begräbnisses und mit Atimie, das ist etwa Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte! Nun, sind Sie zufrieden?«

Man lachte über die mit Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte bestraften Leichname und über Klodius' heitere Art, mit der er sich bemühte, in den Augen der Frau Riedinger den Geist der Antike zu rehabilitieren. »Und wie wurden«, rief Riedinger mit anzüglicher Betonung, »gewisse Frauenzimmer bestraft, die mit ihrem grausigen Selbstmord die Welt in Aufruhr versetzten, nachdem sie alle Vorbereitungen getroffen hatten, um gerade noch im letzten Augenblick durch reinen Zufall den Klauen des Todes entrissen zu werden?«

»Laß das doch!« winkte seine Frau ihm ab, die wußte, daß Blanche zornig wurde, wenn man höhnisch über ihre Freundinnen sprach, und blickte auch gleich nach ihr hin, um zu schauen, was sie zu dem ironischen Scherz ihres Vaters sage, doch sie sah, daß Blanche seine Bemerkung ebensowenig gehört hatte wie offenbar irgend etwas von allem übrigen; sie saß, ohne Teilnahme, ein wenig steif auf ihrem Stuhl, wie ein Kind pflichtgemäß auf der Schulbank seine Zeit absitzt, ohne aufzumerken oder, mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt, auch nur zuzuhören.

»Darüber«, beantwortete Klodius Riedingers Frage, »ist mir nichts bekannt, aber es ist der Name eines Mannes auf uns gekommen, der nicht weniger als viermal versucht hat, sich zu töten, und nicht weniger als viermal gerettet wurde, aber er wird nicht einmal in höhnischem oder ironischem Sinn genannt. Er betrachtete eben den Selbstmord als Frage an das Schicksal, das über sein Leben und seinen Tod entscheiden sollte, indem es ihn gelingen oder mißlingen ließe.«

»Hoho!« machte Riedinger. »Immerhin hat er ihn so durchführen müssen, daß er dem Schicksal überhaupt die Möglichkeit ließ, einzugreifen!«

Theokopullos, ein junger Grieche, warf ein: »Bestens Messer in Herz!«

»Er war des Glaubens«, erwiderte Klodius auf Riedingers Einwurf, »daß unter allen Umständen das Schicksal die Macht hat einzugreifen, wenn es nur will!«

»Aber Messer in Herz!« rief nochmals Theokopullos.

Des Glaubens? gab Riedinger zurück, Klodius wolle wohl sagen: des Aberglaubens, aber Stievensen warf ein: die Grenze zwischen Glaube und Aberglaube sei schwankend und schwer festzulegen, und Klodius sagte: »Ganz recht! Die Grenze liegt in jeder Epoche anderswo!«

Theokopullos, der die deutsche Sprache nur unvollkommen beherrschte und offenbar nicht erfaßt hatte, daß das schnelle Gespräch schon abgewichen war, rief nochmals und schon geradezu verzweifelt: »Aber bitte! Messer in Herz!«

»Was soll es denn da überhaupt für eine Grenze geben!« rief Riedinger. »Es gibt alles in allem nur eines: Aberglauben!«

Endlich richtete sich Stadel aus seiner trägen Lage auf und begann unvermittelt zu schreien, doch hatte es etwas Unnatürliches an sich, als hätte er sich erst aufpumpen müssen und als zwänge er sich nur aus Pflicht, mit Temperament seinen bestimmten Standpunkt oder seine Weltanschauung zu vertreten: »Im Gegenteil, im Gegenteil! Glaube, Glaube! Glaube ist alles! Man muß gläubig sein! Man muß auch davon durchdrungen sein, daß man glaubt! Alles ist Glaube!«

»Ich würde gern«, antwortete Klodius bedächtig, »die Grenze zwischen Glaube und Aberglaube beibehalten, denn ihre Anerkennung beinhaltet moralische, ethische und allgemeine religiöse Werte.«

»Und wo bleiben die sozialen Werte?« rief Riedinger.

»Nun«, antwortete Klodius und lachte leicht auf. »In diesem Zusammenhang muß ich sagen: ich hoffe, dort, wohin sie gehören, wenn sie natürlich mit den übrigen Werten auch in engem Zusammenhang stehen.«

Riedinger knurrte nur noch einige nicht recht verständliche Worte, und Stadel legte sich, unzufrieden und müde, wieder zurück.

Da ertönte aus dem Hintergrund des Zimmers, vom Bücherschrank her, wieder jene etwas grelle und scharfe Frauenstimme, diesmal breiter, wie zu einer längeren Rede ansetzend: »Es ist selbstverständlich richtig, daß in jedem Jahrhundert die Grenze zwischen Glaube und Aberglaube eine andere ist, aber man müßte natürlich, wenn man logisch sein will, hinzufügen: auch in jedem Erdteil! Wenn Sie, Doktor Riedinger, gesagt haben: alles ist Aberglaube, so ist das natürlich, herausgehoben, an sich richtig, aber es ist im ganzen Komplex falsch, wenn aber andererseits Stadel behauptet hat, daß alles Glaube ist, so ist das psychologisch richtig, aber es ist natürlich ebenso falsch, ich meine, in einer anderen Richtung. Aber selbstverständlich ist die Logik immer dieselbe, ich möchte sagen: überzeitlich und global, und sie ist selbstverständlich das einzige, woran wir uns halten dürfen bei der ganzen Lebensgestaltung, wobei natürlich viele Komponenten hinzukommen. Wenn Sie, Doktor Riedinger, gefragt haben: wo bleiben die sozialen Werte?, so war das ausgezeichnet, aber ich weiß nicht, ob es Ihnen bewußt ist, daß die sozialen Probleme nicht losgelöst werden können aus der Totalität der Gesamtheit, ich meine, des Gesamtlebens, allerdings ebendeshalb müssen sie objektiv und absolut gelöst werden, wenn auch das Absolute in gewissem Sinn relativ ist, weil es aus dem Subjektiven kommt. Auch das Objektive ist subjektiv, aber das Absolute an sich und das Objektive an sich ist natürlich nicht dasselbe. Im übrigen wollte ich noch hinzufügen: vorhin, als über den Selbstmörder gesprochen wurde, hast du gesagt, Theokopullos, daß er sich hätte ein Messer ins Herz bohren können. Das ist natürlich falsch, denn das Messer kann abgleiten, aber im Prinzip hast du natürlich Recht, denn zu sagen, ich weiß nicht mehr, wer es war, der es gesagt hat, daß er sich nicht hätte mit absoluter Sicherheit töten und daß das sogenannte Schicksal ihn unter allen Umständen hätte retten können, ist natürlich absoluter Unsinn, denn er hätte nur, um den Zufälligkeitskoeffizienten auf ein Minimum herabzudrücken, mehrere Todesarten miteinander kombinieren müssen! Was aber die Geschichte von dem Verbrecher betrifft, der vom Felsen hinuntergestürzt wurde, so muß ich denn doch sagen, daß diese Handhabung der Justiz auf mich etwas gar zu merkwürdig und unseriös wirkt. Entweder bestraft man den Verbrecher oder man bestraft ihn nicht, und ich will nur hoffen, daß sich die Sache anders abgespielt hat. Die Justiz ist nämlich eine Sache der Gerechtigkeit, beziehungsweise der Rechtsprechung. Das ist nämlich ihre fundamentale Idee!«

Alle hatten sich, als sie zu sprechen begann, ihr zugewendet. Sie hieß Sonja und war die Tochter des Professor Klodius, eine zweiundzwanzigjährige Studentin. Eher klein als mittelgroß, mit langen Füßen, starken, rundgeformten Beinen und mit viel weichem, etwas schwammigem Fleisch, das sich überall angesetzt hatte, machte sie einen untersetzten, dicklichen Eindruck, und man hätte sie übrigens für älter halten können, als sie tatsächlich war. Sie war mit überbetonter Schlichtheit gekleidet und hatte schwarze Halbschuhe mit sehr niedrigen, breiten Absätzen, Strümpfe, die zwischen Dunkelbraun und Dunkelgrau eine undefinierbare Farbe hatten, einen blauen Rock und eine graue Bluse. Beides, Bluse und Rock, umspannten eng und straff den Körper, so daß vorn die Wölbung der Brust gar zu füllig vorgebaut war und hinten das Gesäß sich gar zu mächtig vordrängte. Ihr Gesicht, fast rund, von blasser, ein wenig käsiger Farbe, war beherrscht vom breiten Mund mit vollen Lippen und einer großen schwarzen Hornbrille mit sehr dicken Gläsern.

Klodius war Witwer. Er war heute zum erstenmal hier, und man hatte sich für verpflichtet gehalten, mit ihm seine Tochter, die sein einziges Kind war, ins Haus zu bitten. Um ihr zwischen all den älteren und alten Leuten eine angemessenere Gesellschaft zu bieten, hatte man zugleich den mit ihr fast gleichaltrigen Sohn eines Freundes von Riedinger eingeladen, der als hübscher, frischer junger Mann galt und von allen Leuten, die ihn nur halbwegs kannten, mit seinem Spitznamen Bum genannt wurde. Allerdings, diese Zusammenstellung war ein Mißgriff gewesen, denn Bum, der es ablehnte, Debatten zu führen, dessen Meinungen man also nicht kannte, aber auch nicht erraten oder ahnen konnte, dessen tatsächlich hübsches, aber leeres Gesicht zwar auf keine Hintergedanken oder geheime Gedanken schließen ließ, um dessen Mund aber dennoch, auch wenn man nicht den geringsten Anlaß dafür sah, hie und da ein Lächeln huschte, das nicht zu entziffern war, so daß man nicht erkennen konnte, ob es ein lustiges, ein ironisches oder nur ein verlegenes Lächeln war, dieser Bum also und Sonja hatten nichts miteinander anzufangen gewußt, ja, vom ersten Augenblick an einander mit Mißtrauen betrachtet. Sie ignorierten einander um so vollkommener, als Sonja ohnedies heute morgen kurzerhand bei Frau Riedinger telephonisch angefragt hatte, ob sie ihren Freund mitbringen dürfe. Als sie die Antwort bekommen hatte, daß man sich freuen werde, ihn kennenzulernen, war mit ihr Theokopullos gekommen, ein junger Grieche, dessen Vater ein vermögender Kaufmann in Athen war und die Gewohnheit hatte, zu allen Familien- und Vereinsfestlichkeiten spaßige Verse in antikem Versmaß zu machen, zu welchem Zweck er sich, da er sowohl homerische Hexameter als auch Distichen aus dem Ärmel schüttelte, die alten Tragiker, die altgriechische Lyrik und die uralten Chorgesänge im Original angeschafft hatte, um Freunde und Verwandte mit ulkigen Gedichten in immer neuen Versmaßen überraschen zu können. Der Sohn nun, in dieser Atmosphäre aufgewachsen, hatte sich entschlossen, Sprachwissenschaften und Kulturgeschichte zu studieren, und war in dieser Absicht hergekommen; als Klodius' Schüler aber hatte er schon im ersten Monat Sonja kennengelernt und war unter ihrem Einfluß zur Nationalökonomie übergegangen.

Sobald Sonja geendet hatte, setzte sie sich zwischen die anderen, sah im Kreis und wartete auf Antwort und Debatte; es fand sich aber niemand, der sie eröffnet hätte, und tatsächlich wär's ja auch schwer gewesen, denn sie hatte über so verschiedenartige Themen, über so weit auseinanderliegende Dinge ihr Urteil abgegeben, daß man nicht gewußt hätte, wo anzupacken und einzuhaken sei. Frau Feding saß neben der Hausfrau. Über ihr sechzigjähriges Gesicht, auf dem der Schimmer ihrer früheren Schönheit, nein, auf dem, in abendlichem Glanz, noch ihre ganze reine Schönheit lag, hatte sich, als sie Sonja zugehört und sie betrachtet hatte, ein kaum zu verbergendes, rührend fassungsloses Staunen ergossen, das ihr etwas Kindliches gab, es hatte sie, tief von innen her, ganz und gar überschwemmt, daß sie hilflos immer wieder nach ihrem Mann hinüberblickte, in der Hoffnung und überzeugt, daß er sich nun endlich rühren und etwas sagen werde, aber er verharrte in seinem Schweigen, wie fast den ganzen Abend bisher, mürrisch und offenbar voll Mißmut, der ihn seit heute mittag, seit der häßlichen Szene in Blanches Atelier, nicht verlassen hatte.

In die Stille der ersten Sekunden, als Sonja schwieg, rief Stadel, indem er auf sie wies, in langgedehnten Lauten, vor Bewunderung singend: »Ein intelligentes Kind –!« Aber natürlich, man wußte nicht, ob es aufrichtig oder ironisch gemeint war, und Riedinger warf einige Verlegenheitssätze hin; das seien so Sachen, sagte er, komplizierte Probleme seien es, und man müsse alles von allen Seiten betrachten. Theokopullos aber, der Sonjas Rede mit geradezu gieriger Aufmerksamkeit verfolgt hatte, bei jeder ihrer Feststellungen mit aufgeregt hastiger Zustimmung nickend, war noch voller Probleme und Ideen, und im Drange, sie zu äußern, durch die mangelhafte Beherrschung der Sprache jedoch gehindert und ohne Mut, öffentlich zu sprechen, sprang er auf, eilte hinüber, beugte sich hinter Sonjas Stuhl zu ihr hinunter und sprach auf sie ein, eifrig, aber stockend, und im ganzen eher mit dem Tonfall des Fragenden und um Auskunft Bittenden. Da man ihn nicht verstand, hörte man in gewissen Intervallen nur sie, die den Kopf nach ihm zurückgedreht hatte: »Ja, in gewissem Sinn kann man es so sagen! – Nein, hier ist irgendwo eine Fehlerquelle! – Ja, das ist teilweise richtig, aber das Problem ist anders gelagert!« Er nickte, wenn sie sprach, zu jedem ihrer Worte, hastig, erfreut und dankbar, und ging zurück auf seinen Platz. Um jedoch die allgemeine Unterhaltung in Gang zu halten oder gar mit neuen Tönen anzufachen, schlug Riedinger dem jungen Mann, der Bum genannt wurde, gemütlich auf den Schenkel und fragte ihn, was denn nun er zu all dem sage. Bum antwortete: »Nichts!« Das könne doch nicht sein, meinte Riedinger, er denke doch gewiß auch etwas, solle es nur getrost sagen, man wolle auch die jungen Leute hören, nur heraus, nur heraus damit! Aber der junge Mann beharrte darauf, daß er nichts denke, er wisse nicht, warum er etwas denken sollte, nein, über nichts von allem, was gesprochen wurde, habe er eine Meinung, er wisse nicht, warum er über irgend etwas von all dem irgendeine Meinung haben sollte. Ja, antwortete er auf weitere Fragen, da man ihn nun einmal ins Gespräch ziehen wollte, er sei Student, ja, Mediziner, nein, das Studium freue ihn nicht, nein, es interessiere ihn nicht, nein, keines der Fächer interessiere ihn, aber, ja, er habe schon einige Prüfungen glücklich hinter sich gebracht.

»Werden Sie«, lachte Stievensen auf, und er lachte dröhnend, wie es ihm manchmal geschah, daß ein Ausruf oder ein Gelächter überraschend für die anderen, aber auch für ihn selbst, so stark und donnernd aus seiner Kehle kam, wie es seinem ganzen Äußeren und seiner ganzen naiven Kraft entsprach. Doch jedesmal, wenn gegen seinen Willen seine Stimme so mit ihm durchging, hielt er auch sofort wieder ein, sah entsetzt um sich, wirklich erschrocken, doch auch den Schrecken übertreibend, legte den Finger an seine kleine Nase oder vor den Mund und vollendete seinen Satz in flüsterndem Pianissimo. So brach er auch jetzt ab, duckte sich ein klein wenig, als ermahnte er sich selbst zu gutem Benehmen, und sprach, den Finger vor den Lippen, hauchend und fast zärtlich weiter: »Werden Sie auch so wenig Interesse für Ihre Patienten und deren Krankheiten haben?«

Man lachte über seine heitere Art und über die Frage selbst, zugleich aber guckte man verstohlen, ein wenig ängstlich nach dem jungen Mann, ob er nicht zornig geworden sei, doch es war weder Zorn noch auch nur Ärger an ihm zu bemerken, und er zuckte nur mit den Achseln. Es entstand eine Sekunde der Stille, doch da geschah etwas, etwas durchaus Natürliches, ganz Leichtes und ganz und gar Nebensächliches, und es war nur staunenswert, daß es überhaupt ein Etwas war und auffallen konnte: in diese Sekunde des Schweigens nämlich drang das leise Knarren eines Sessels und ein leises, dunkles, langsames Rauschen: Frau Leonhardt hatte sich gerührt. Da man sich längst an ihr lautloses Wesen gewöhnt hatte und jetzt überrascht erwartete, daß sie sich äußern würde, wandten sich unwillkürlich alle ihr zu, aber sie hatte nur nach langer Unbeweglichkeit das Bedürfnis, ihre Glieder zu regen, ihren Körper anders zu lagern, und als die Seide ihres Kleides sich sanft am Überzug des Sessels gerieben, rings um ihre Beine die Falten sich aufgelöst und neu gebildet hatten, war das behutsame, fast geheimnisvolle Geräusch ins Zimmer gedrungen. Das war alles, und es lag ihr ganz fern, sich zu äußern.

Eine Sekunde später allerdings spürte man, daß es nicht alles war, denn mit ihrer Bewegung hatte sich auch eine leise schwebende Wolke aus Duft von ihr gelöst, von ihrer Haut, aus ihren Haaren oder von dem aus seiner Ruhe aufgestörten Kleid, und hatte sich sachte ausgebreitet. Er war von starker Süße, undefinierbar aus vielerlei Süße gemischt, doch durch Beigabe von etwas Fremdem, Strengem ohne alle Süßlichkeit, von etwas Herbem, das allein für sich vielleicht nicht einmal gut gerochen hätte, wie etwas Verwelktes oder Fauliges, durch das aber die komplizierte Lieblichkeit fremdartig-faszinierend und doppelt ergreifend wurde. Nun ging, als Lebenszeichen, das an ihre Gegenwart erinnerte, ein zarter Hauch zu ihren Nachbarn und verschwebte rings im Kreis.

Stievensen neben ihr, ohnedies schon recht verwundbar und durch diesen Duftstoß sehr getroffen, konnte sich nicht enthalten, bewundernd über dieses Parfüm zu sprechen. Sie verriet ihm, daß sie es selbst zusammengestellt habe, und tatsächlich war's ja ihre Leidenschaft, die unzählige Nachmittage ihres Lebens in Anspruch nahm, aus fertigen Fabrikaten und allerlei Wässern, aus Essenzen, Extrakten und den ursprünglichen Ingredienzien, die ihr die Chemiker aus ihres Mannes Fabrik herbeizuschaffen hatten, mit unendlich vielen Versuchen, Experimenten und Proben, in unermüdlicher Arbeit und in immer lebendiger, prickelnder Lust, ihre Parfüms selbst zu mischen, für alle Gelegenheiten und Tageszeiten, in allen Nuancen, Abstufungen und Schattierungen zwischen schwarzroter Dämonie und hellblauer Lieblichkeit.

Umnebelt von dem Hauch und von seiner sanften Kraft bezwungen, fand Stievensen die Leistung der Frau Leonhardt, diese wahrlich vollkommene Mischung ohne jede Schulung oder Anleitung hergestellt zu haben, bewundernswert. Wer bringt denn, als Laie, so etwas noch zustande, ohne Schulung, ohne fachmännische Vorbildung, ein solches Produkt, das jedem Fachmann Ehre gemacht hätte! »Nein, nein«, sagte er, als sie abwehren wollte. »So etwas bringt man nicht zustande ohne Geschmack, ohne Nerven, ohne Fleiß, ohne Präzision, ohne Vorstellungsgabe, ohne Phantasie und Erfindungsgabe – wie Sie sehen, gnädige Frau, im Grunde lauter Eigenschaften eines produktiven Menschen!« Er sah sie nicht nur bewundernd an, sondern auch schon versonnen, fast grübelnd, als dächte er: was mag noch in ihr stecken, in dieser Frau?, und vielleicht auch schon ängstlich bedenkend, daß er sich werde sehr zusammenreißen müssen, um ihr und ihrer offenbar sehr reichen Natur gewachsen zu sein.

So war für Stievensen der Abend reichlich ausgefüllt, die übrigen aber schienen sich zu langweilen, denn die Zusammenstellung der Gäste war nicht günstig, und manche sahen im geheimen auf die Uhr. »Nun!« rief Riedinger zu Stadel hinüber. »Was ist denn mit Ihnen? Sie enttäuschen mich! Sie sind heute schweigsam!« Ja, antwortete Stadel, er sei müde, er habe heute eine Verabredung nach der anderen gehabt und sei um so schlechter gelaunt, als er noch in der Nacht ein Rendezvous habe, das er nicht versäumen dürfe. Klodius wollte dem Hausherrn helfen und wandte sich höflich an Stadel, den er erst heute kennengelernt hatte, dessen Namen er aber kannte: ob man fragen dürfe, woran er augenblicklich arbeite.

»Ich arbeite«, antwortete Stadel in jenem selbstironischen Ton, der verbergen sollte, daß er wirklich dachte, was er sagte, »ich arbeite, indem ich bin, indem ich mich ausgebe und leuchte!«

»Oh!« machte Klodius, voll Verwunderung, als begreife er nicht recht die Form einer solchen Antwort, doch er faßte sich schnell und verbeugte sich respektvoll: »So haben auch Sokrates und Diogenes gelehrt!«

»Im übrigen arbeite ich an einem großen Werk!« rief plötzlich Stadel, sich anders besinnend, und aus seinem Gelächter, aus der lebhaften Breite, mit der er fortfuhr, war zu schließen, daß ihm etwas durch den Kopf geschossen war: »Da heutzutage die Frauen ihre Mission verleugnen, die große, reine, treue Liebe in die Welt zu bringen und zu vertreten, da sie vielmehr nur ihrem Vergnügen und dem des anderen Geschlechtes leben, ist eine gewisse Sorte von Damen, infolge dieser Konkurrenz, arbeits- und brotlos geworden. Ein schwerwiegendes soziales Problem! Doch ich sehe tiefer, ich sehe das seelische Problem, und darüber nun eben schreibe ich mein großes Werk unter dem Titel: Die sexuelle Not der Dirnen!«

Das war nun endlich ein Blitz. Riedinger lachte fast grölend. Seine Frau beobachtete ihn voll Angst; sie mochte sich erinnern, daß vor Wochen ein ebensolcher Abend mit jenem schreckenerregenden Herzanfall geendet hatte. »Prosit! Prosit!« rief er. Da er sein Glas hob, um die andern zu zwingen, ihm Bescheid zu tun, bemerkte Frau Riedinger, daß da und dort ein Kognakglas leer war. Sie rief ihre Tochter an, um ihr mit Blick und Wink zu bedeuten, sie möge sich doch ein wenig um die Gäste bekümmern. Blanche stand gehorsam auf und füllte die Gläser. »Hallo, hallo!« rief Riedinger, als er sie so erblickte. »Guten Tag! Guten Tag, Blanche! Schau an, schau an, meine Tochter! Ein Lebenszeichen von meiner Tochter!« Er lachte, doch aus seiner gespielten Überraschung und Lustigkeit drangen gar zu deutlich Ironie und Ärger hervor. Kein Zweifel, er war zornig wegen ihrer Schweigsamkeit und Gleichgültigkeit gegen die Gesellschaft, die nicht so recht in Schwung und Stimmung kommen wollte.

Blanche schien mit erzwungenem Lächeln nach einer Antwort zu suchen, doch sie besann sich anders und schwieg. Feding aber rührte sich. Er wünsche nur, knurrte er, daß die Lebenszeichen aller Menschen so vernünftig und freundlich wären wie dieses, das darin besteht, die leeren Gläser seiner Nebenmenschen zu füllen.

Stadel setzte nun tatsächlich an, über die Mission der Frau und der Frauenliebe zu sprechen. Frau Riedinger warf ihrer Nachbarin einen verzweifelten Blick zu; er könne, da er nun einmal dieses sein Steckenpferd hervorgeholt habe, nicht wieder von ihm heruntersteigen. Sonja aber unterbrach ihn bald und sagte, es sei nur teilweise richtig, was er da sage. Daraus entspann sich ein heftiger Disput zwischen den beiden, dem allerdings schnell Kern, Thema und alle Übersichtlichkeit verlorengingen, denn mehr, als daß der Sinn des Gesagten in den Verstand des Publikums gedrungen wäre, sprang die gegenseitige verbissene Abneigung der Debattierenden in aller Augen, die von Anbeginn eingewurzelte Überzeugung, daß der andere unrecht habe, nicht nur im ganzen, sondern auch mit jeder einzelnen seiner Behauptungen, das aufpeitschende Bedürfnis, einander unter allen Umständen zu widersprechen, so daß sie nicht mehr um einer Sache oder Idee willen zu streiten, sondern, wild von einer Idee oder Sache zur andern springend, den Kampf um des Kampfes willen zu führen schienen, ja, daß es kein Kampf mehr war, sondern eine Rauferei, bei der es den Beteiligten gleichgültig ist, ob sie den Gegner ins Schienbein treten oder in die Nase beißen, wenn sie ihn nur angreifen und treffen. Nur so viel war dem Wesen nach zu erfassen, daß Stadel zugunsten der Frömmigkeit und der Religion plädierte, wobei sein Pathos und die wilde Exhibition, mit der er von seinem eigenen Glauben und von Gott sprach, alle Scham verletzte und die Überzeugung begründete, daß er mehr von dem krampfigen Entschluß beseelt sei, an Gott zu glauben, als auch nur von dem leisesten Glauben selbst, geschweige denn von Demut vor dem Göttlichen, während Sonja von radikalen, sozialen Maßnahmen, von der Idee der Ökonomie und von globalen Lösungen sprach und, wenigstens aufrichtiger als er, tatsächlich von der alle Welten regierenden Allmacht der in Menschenköpfen hausenden Logik im allgemeinen und von der Tatsache überzeugt war, daß sie an ihr teilhabe.

Klodius schien gar nicht zuzuhören; er war, den Kopf ein wenig zur Seite geneigt, ganz in den Anblick Stadels vertieft, als versuchte er vergebens, diesen mit seiner aufgeregten Mimik und Gestik, seinem eiteln Geschrei und der ewigen Unruhe in seinem Innern ihm so fremdartigen Menschen nur ein wenig zu durchschauen und zu erfassen. Frau Riedinger beobachtete ihn von der Seite und neigte sich zu ihm. »Sie langweilen sich?« fragte sie, als bedauerte sie schon, ihn endlich nach dreißig Jahren in ihr Haus gebracht zu haben. Er schrak aus seiner Versunkenheit auf, doch er faßte sich schnell.

»Im Gegenteil!« antwortete er. »Schon einer der ältesten griechischen Dichter hat es gesagt: nichts ist süßer, als sich, nachdem man gesättigt worden ist, an Gesprächen zu ergötzen!« Sie nickte und lachte. »So sprechen Sie doch auch!« sagte sie und seufzte ein wenig auf. »Oder erzählen Sie wenigstens wieder eine hübsche Geschichte!« Oh, und auch er lachte auf, sie glaube wohl, daß ihm immer etwas einfalle. Ja, antwortete sie, das glaube sie wohl, doch er schüttelte den Kopf: für heute sei es zu Ende, er habe ja auch schon genug und recht viel gesprochen.

Ein Außenstehender, der nicht nur die beiden Duellanten beobachtet hätte, sondern, sich ein wenig zum Publikum des Publikums aufschwingend, auch die Zuhörer oder Zuschauer, hätte dabei erheitert sein können: denn so wie Klodius kein Auge von Stadel, so konnte Frau Feding, erstaunt, erschreckt und wie gebannt, kein Auge von Sonja wenden. Gewiß, Sonja war nicht hübsch, aber geradezu das Gegenteil hätte man auch nicht behaupten dürfen, gewiß, ihre Gestalt war zu gedrungen und ausladend, aber wenn man wohlwollend war, konnte man's eine gesunde Fülle nennen, es mochte also alles gerade noch hingehen. Wenn sie aber diskutierte, dann konnte gar nichts mehr hingehen, denn dann verlor sie schnell und augenblicklich alles, alles bis zum letzten Rest, was noch an Reiz der Frau und Jugend an ihr sein mochte, dann bildeten sich nämlich, während sie sprach, Falten im ganzen Gesicht, die sie entstellten, und wenn sie Idee und absolut, Problemstellung oder Fehlerkoeffizient sagte, dann riß sie auch noch in eigenartiger, unmäßiger Weise den Mund auf, wenn sie aber von der notwendigen Aufspaltung der Gesellschaft und von globalen Lösungen sprach, dann wurde sie in allen ihren Teilen und bis in alle Tiefen von atemraubender Häßlichkeit.

Der Kampf ging weiter. Theokopullos war bei der Schnelligkeit des Gesprächs und bei seiner mangelhaften Beherrschung der Sprache nicht in der Lage, sich an der Debatte zu beteiligen, und dokumentierte seine Parteinahme für Sonja nur durch atemloses Zuhören, durch eifriges Nicken, wenn sie sprach, und durch leidenschaftliches, zorniges Kopfschütteln, wenn Stadel sich äußerte. Als nach vielen Umwegen die Rede auf die Bauernkriege kam, als deren Grundlage der eine religiöse, der andere soziale Motive angesehen wissen wollte, und als sie sich, auf der Suche nach ihrem zeitlichen Verhältnis zum Beginn der Reformation, auch über die Jahreszahlen nicht einigen konnten, Sonja schließlich mit ihrer Behauptung recht behielt, der Höhepunkt der Bauernkriege sei im Jahre 1525 gewesen, und als da Stadel, in die Sackgasse gedrängt, verächtlich hinwarf, das habe sie schließlich doch nur gebüffelt oder gelesen, da barst er denn doch, Theokopullos nämlich, sprang wütend auf und schrie: »Sonja dabei sein gewesen unmöglich!«

Damit allerdings traf er den Nagel auf den Kopf, und im ganzen Raum brach lautes Gelächter los, dem man sich mit um so größerem Vergnügen hingab, als man das Bedürfnis hatte, sich ein wenig zu lösen. Stadel versuchte vorerst vergebens, es zu überschreien. Da man aber schließlich befürchtete, daß sich sein Ärger in einem Wutausbruch entladen könnte, beherrschte man sich und ließ ihn sprechen: »Ich überlasse die Jahreszahlen den Krämern und Vorzugsschülern! Es kommt darauf an, mit großem Blick die Übersicht zu haben! Die Sache liegt eben so!« Und er fuhr fort, er erwarte alles Heil von einer Erneuerung des Menschen, er setze seine Hoffnung auf die Hinneigung der Menschheit zu Gott, während sie, Sonja, und ihresgleichen auf soziale, das heißt im Grunde äußerliche Organisationsmaßnahmen ihre Hoffnung setzten.

Das war nun ungefähr eine Zusammenfassung, aber nach der Stimmung der Streitenden wäre deshalb noch nicht mit einem Ende der Diskussion zu rechnen gewesen. Doch bevor sie sich weiterstreiten konnten, fiel Klodius ein. »Hoffnung, Hoffnung!« sagte er nachdenklich und wie in einer freundlichen Erinnerung lächelnd. »Wenn ich dieses Wort höre, muß ich an Pandora denken, diese schauerlich schöne Frau, an die Unheil bringende Mission, die sie auf Erden hatte, und an Zeus, ihren zürnenden Vater.«

»Huhu!« machte Riedinger. »Der Donnerer und Blitzeschleuderer!«

»Sollte Ihnen«, sagte Frau Riedinger und lachte, »am Ende doch noch etwas eingefallen sein?«

»Nun ja«, antwortete er, »nur weil von der Hoffnung gesprochen wurde.«

»Nun also«, rief Riedinger. »Was wissen Sie Neues von Zeus?«

»Sie kennen ja alle«, begann Klodius zu erzählen, »der Pandora Geschichte und Schicksal: daß sie von Zeus, in seinem Zorn gegen das Menschengeschlecht, auf die Erde geschickt wurde mit jener berühmten Büchse, in der alle Greuel verborgen waren, und die sie in die Hände der Menschen zu bringen hatte. Es war alles in ihr verschlossen, was die Menschheit quälen, schmerzen und peinigen sollte – nach anderen Überlieferungen übrigens war es ein ganzes Faß, was mir nach dem unermeßlichen Inhalt des Behältnisses durchaus plausibel erscheint, nun, Faß oder Büchse, der Inhalt des Gefäßes sollte über die Menschheit kommen als ihr ewiger Fluch, als Strafe für ihren Hochmut, für ihre Überheblichkeit, daß sie selbst hatten göttergleich werden wollen, als Strafe des obersten Gottes, des Vaters der Götter, der über all den andern thronte und sogar die Macht hatte, sie vom Himmel zu stürzen, also des gewaltigsten Gottes in seinem gewaltigsten Zorn! Um ihr Gefäß in die Hände der Menschheit zu spielen, hatte Pandora den von Ewigkeit zu Ewigkeit vorgeschriebenen Weg der Frau gewählt, die etwas erreichen will: sie machte einen Mann in sich verliebt, und obwohl er vor ihr gewarnt worden war, erlag er ihr und bekam ihre göttlich-höllische Mitgift. So also geschah das Unglück, und da der Deckel gehoben war, flogen alle Übel in die Menschenwelt: Krankheit, Seuche, Krieg, Kampf, Laster, Verbrechen. Und, wissen Sie, was ganz zu unterst lag, was Zeus auf den Boden des Gefäßes gelegt hatte, so daß es als letztes in die Welt flattern mußte? Als blutige Krönung die furchtbarste der Furchtbarkeiten? Als letztes Donnerwort das allerschrecklichste? Nein, sondern, unter allen zukünftigen Schmerzen verborgen, ein schmerzlinderndes Mittel, als Beigabe zu allen Schrecknissen, als Milderung für alle Leiden eben die Hoffnung! Denken Sie nur! Der mächtigste der Götter, beleidigt und bestohlen von den niedrigen, verachteten Menschengeschöpfen, die er, da ja schon unterm Zucken seiner Brauen die Berge erbebten, mit dem Runzeln seiner Stirn bis ans Ende aller Tage ganz und gar hätte vernichten und in die Tiefe schleudern können, der Donnerer und Blitzeschleuderer – noch in seinem größten Zorn gegen die verachteten Feinde legt er zur Strafe gleich die Milderung, zum Fluch die Besänftigung! Man weiß nicht: ist es rührend oder erhaben? Ist es nicht, als ob auch die Allmacht besänftigt und gemildert wäre durch ein irdisches Herz? Ja, immer wenn von der Hoffnung gesprochen wird, erinnere ich mich daran.«

Als er schwieg, neigte sich Stievensen zu Frau Leonhardt: »Schön, nicht wahr?«

»Ja«, sagte sie, und er freute sich.

Doch es ertönte wieder Sonjas etwas grelle Stimme: »Es ist natürlich einerseits vielleicht ganz schön, aber andererseits müssen wir, die wir den Fortschritt der Menschheit im Auge haben, verlangen, daß realitätsfremde Märchen wenigstens heutig, aktuell und womöglich belehrend sind!«

»Gewiß, mein Kind, ich verstehe dich sehr gut«, antwortete Klodius freundlich, fast schüchtern, »aber ich habe es ja auch nur erzählt, weil es mir gerade eingefallen ist!« Er widersprach niemals seiner Tochter, ohne daß es jemals an den Tag gekommen wäre, ob er es deshalb unterließ, weil er sie für so klug und gescheit hielt, daß jeder Widerspruch unerlaubt gewesen wäre, oder deshalb, weil er überzeugt war, daß sie hoffnungslos und rettungslos dumm sei.

Frau Riedinger wandte sich an ihn: »Mein Gott, die Hoffnung, aber worauf bezog sie sich? Wohin zielte sie? Was sollte man erhoffen?«

Klodius wurde lebhafter. »Das ist eine ausgezeichnete Frage!« rief er, und nachdem bisher nur ein Spalt geöffnet gewesen, tat sich nun ein wenig die Tür auf, und es sprudelte aus ihm hervor: »Eine ausgezeichnete Frage! Und sie eröffnet große Perspektiven! Die Hoffnung kam zu der Menschheit gleich in ihren Anfängen – ein Flügelschlag, und hinter uns Äonen! Sie kennen ja das Gedicht von Goethe, das mit dieser Zeile endet, es heißt Die Hoffnung, aber er hat es mit dem griechischen Wort für Hoffnung, ελπίς, betitelt und den Titel sogar noch in griechischen Lettern geschrieben, weil ihm der Begriff aus der griechischen Mythologie oder Urphilosophie gekommen war – nun denn, die Hoffnung, im übrigen: der Fluch selbst kam, wie Sie sehen, auch hier, in dieser Schöpfungsgeschichte, schon in ihrer ersten Jugend über die Menschheit, auch hier durch ihre Neugier, auch hier durch eine Frau, auch hier durch ihre Verführungskunst oder, wie man es eben nehmen will, durch die Verführbarkeit des Mannes, wobei ein wesentlicher Unterschied allerdings dies ist, daß es an Eva genügt hat, überhaupt eine Frau zu sein, Pandora aber schon die schönste, ja, eine übermenschlich schöne Frau sein mußte – ja, also, die Hoffnung kam mit dem Fluch schon in ihrer ersten Jugend zur Menschheit, und tatsächlich, Ihre Frage: Worauf bezieht sich die Hoffnung? ist ausgezeichnet, aber ich kann nur antworten: Auf gar nichts! Es ist nicht die Hoffnung auf eine bestimmte Erfüllung, nicht die Hoffnung auf Verwirklichung eines bestimmten Versprechens, auf ein Paradies, auf ein Jüngstes, unendlich gerechtes Gericht, auf ein allgemeines, der Menschheit winkendes Ziel, es ist vielmehr nur die Hoffnung als Bestandteil der menschlichen Seele, die Hoffnung als Tropfen, der das Getränk des Lebens zur Not genießbar macht, die Hoffnung als Illusion, Traum, Betrug und Selbstbetrug, nichts anderes. Das Geschenk bestand nur darin, daß der Gott den Menschen in seinen Leiden zu einem hoffenden Wesen machte – in gar nichts anderem!«

»Mein Gott!« rief Frau Riedinger. »Wie traurig!«

»Gewiß, gnädige Frau, unendlich traurig, und doch –!«

Nun aber sprangen endlich, nachdem sie sich längst darauf vorbereitet hatten, Sonja und Stadel ein, beide, jeder auf seine Art und in seiner Richtung, gegen diese wesenlose Hoffnung des einzelnen protestierend, die Sonja als zu privat und egoistisch verachtete. Nein, widersprach Stadel, deshalb dürfe man sie nicht verachten, sofern es jene Hoffnung ist, die der Glaube vorschreibt, aber, und darin stimmten sie wiederum überein, nicht gegenstandslos, nicht richtungslos dürfe sie sein, auf etwas hinzielen müsse sie, und er sprach fachmännisch von der Erlösung und sie im Tone des Messianismus von globalen Lösungen der ökonomischen Fragen.

»Man darf mich nicht«, sagte Klodius auflachend, »für Zeus verantwortlich machen, der im Werden der Zeiten der Menschheit kein anderes Trostgeschenk gesandt hat als dieses, der den Menschen keine Vorschrift gegeben hat, was sie zu hoffen, und keinen Wegweiser, wie sie ihre Hoffnungen zu verwirklichen haben, um für alle Zeiten und Ewigkeiten glücklich und selig zu werden. Denn sehen Sie, auch vor zwei- und dreitausend Jahren hat man an goldene Zeiten geglaubt, aber man verlegte sie in die unwiederbringliche Vergangenheit, in die ersten Tage der Menschheit, für die Griechen war das Paradies tatsächlich für immer verloren, während wir unsre goldenen Tage in die Zukunft versetzen – und dies eben scheint mir einer der wesentlichsten Unterschiede zwischen den Jahrtausenden zu sein.«

»Ganz recht!« rief Stievensen. »Wir haben uns das Paradies in den Kopf gesetzt, wir sind versessen aufs Paradies! Aufs jenseitige und irdische! Aber zum Teufel damit! Es sieht ganz aus wie ein Lockmittel der Hölle, denn Millionen Jahre des Paradieses können die Leiden nicht wettmachen, die in den Kämpfen entstanden sind, aus dieser Erde ein Paradies zu machen!«

»Ich kenne nur die Erde und nicht das Paradies«, antwortete Klodius, »aber du magst recht haben. Die Alten waren grausam, weil sie hart waren und mitleidslos sein konnten, wir sind grausam um der glorreichen Zukunft der Allgemeinheit willen, also, wenn du es so sagen willst, aus Optimismus, um einer Idee willen, aus Rechthaberei, um einem Prinzip zum Sieg zu verhelfen. Jene hatten die Wut und die Kampflust, wir haben den Radikalismus –. Aber, mein Gott, wohin sind wir gekommen! Sie werden wieder mit mir unzufrieden sein«, wandte er sich an Frau Riedinger. »Lassen wir Grausamkeit, goldene Zeiten und Hoffnung! Wir wollen lieber voll Dankbarkeit feststellen, daß uns außer dieser Hoffnung denn doch noch so manche andere Geschenke gemacht worden sind!«

»Zum Beispiel die Kunst!« sagte Stievensen halblaut zu Frau Leonhardt.

»Zum Beispiel die Liebe!« schrie Stadel.

»Zum Beispiel der Alkohol!« rief Riedinger. »Prosit! Prosit!«

»Und zum Beispiel die Schönheit«, fügte Stievensen noch leise hinzu.

Man nahm die Gläser, allerdings nur, um Riedingers Aufforderung zu folgen und dann zu nippen. »Das war wenigstens ein gutes Ende!« rief er aufgeräumt, froh über den kleinen Rummel, der entstanden war.

Frau Riedinger benützte die allgemeine Bewegung, um ihre Tochter zu sich heranzuwinken. Blanche stand auf und trat zu ihr. »Hör einmal!« sagte Frau Riedinger lächelnd, indem sie Blanche zu sich herunterzog. »Du solltest dich ein wenig mit Frau Leonhardt unterhalten, sonst zankt wieder der Vater, daß wir sie ignoriert haben!«

»Gut!« antwortete Blanche. »Ich werde mich nachher zu ihr setzen.« Sie wandte sich wieder, um zurückzugehen.

»Bleiben Sie doch bei uns! Es ist Platz genug!« sagte Frau Feding und rückte ein wenig zur Seite, aber Blanche hörte es nicht mehr und schlängelte sich zwischen den Stühlen zu ihrem Platz. Zugleich hatte Riedinger dem jungen Mann, der Bum genannt wurde, nochmals lustig auf den Schenkel geklopft: nun solle aber auch er endlich etwas sagen, er solle erzählen, was er von all dem denke, man wolle doch schließlich auch seine Stimme hören, man habe, und er wies vorwurfsvoll auf Feding, an einem Schweiger und Brummbären genug. Er ließ keine Ruhe, denn er versprach sich offenbar, durch diesen Vertreter der fast jüngsten Generation neue Töne, neue Anregung in die Gesellschaft zu bringen – nur heraus mit den geheimen Gedanken, Himmeldonnerwetter, er dulde es nicht, daß da in seinem Haus den ganzen Abend ein junger Mann sitzt und, nur, weil er der jüngste ist oder aus Schüchternheit oder Bescheidenheit, schweigt. Riedinger aber war im Irrtum, Bum schwieg weder aus Schüchternheit noch aus Bescheidenheit, denn als er dann endlich sprach, tat er es voll Ruhe und ungestörter Sicherheit. »Nun also, nun also!« munterte ihn Riedinger auf, und alle sahen schon wartend auf ihn.

»Ich weiß nicht«, sagte Bum. »Ich weiß nicht: wozu ist das alles?«

»Was?« fragte Riedinger, was er denn darunter verstehe: das alles.

»Nun«, antwortete Bum. »Ich meine: das alles, worüber gesprochen wurde. Wozu ist das alles?« und er sah sich, Auskunft verlangend, um, doch da man ihm noch nicht antwortete, fuhr er fort: »Ich weiß, das ist Bildung und so, aber warum ist das?«

»Mein Lieber«, sagte Riedinger, »Sie müssen deutlicher sein, wir verstehen Sie nicht recht.«

»Ich meine«, fuhr also Bum fort, »wozu ist das? Ich meine, wozu weiß man, daß die Griechen gemeint haben, daß die Pandora, oder wie sie heißt, alle Übel auf die Erde getragen hat? Oder daß Goethe ein Gedicht geschrieben hat und daß er es von den Griechen her hatte? Ich meine, warum wird untersucht, ob er es meinetwegen von den Chinesen oder Griechen her hat? Ich meine, was habe ich davon, wenn ich weiß, daß er es von den Griechen her hat? Ich weiß, Kunst und so, aber wozu ist das, daß einer ein Gedicht schreibt, wenn er eine Hoffnung hat oder einen Sonnenuntergang sieht, und dann schreibt man noch darüber. Wozu ist das zum Beispiel, daß man herausfindet, ob die goldenen Zeiten in der Zukunft oder Vergangenheit liegen? Was habe ich davon, wenn ich weiß, daß vor drei- oder fünftausend Jahren ein Gauner von einem Berg heruntergeworfen wurde und man Geflügel an ihn gehängt hat? Ein Flügelschlag und alle Äonen hinter uns – ich meine: wozu ist das? Ich weiß, Symbole und so, aber was habe ich von Symbolen und Allegorien und wie das alles heißt? Oder zum Beispiel: der Unterschied zwischen Altertum und Christentum oder Klassik und Romantik oder Glaube und Organisationsmaßnahmen, oder ich weiß nicht was, also zum Beispiel der Unterschied zwischen wissenschaftlicher und philosophischer Weltanschauung oder Betrachtungsweise. Ich weiß, Geist, Intelligenz und so, aber –. Schon im Gymnasium lernt man alle möglichen Sachen, Lateinisch und so, Algebra und was ein Plato gedacht hat, oder lang und breit, ob die Französische Revolution gut oder schlecht war und so, wovon man doch gar nichts hat und die einem doch gar nichts helfen und so – ich weiß nicht, wozu ist das alles? Warum denkt man darüber nach? Was habe ich davon, wenn ich es weiß?«

Er schwieg und wartete auf Auskunft, aber auch die anderen schwiegen. Frau Riedinger sah von einem zum andern. »So antworten Sie doch!« rief sie.

»Aber gnädige Frau«, sagte Klodius sanft. »Die Antwort erübrigt sich doch! Der junge Herr fragt, was er davon hat. Nun, es ist doch mit einem Wort geantwortet: nichts! Denn sonst würde er doch nicht fragen.«

Die blitzenden Augen Stievensens, der Bum mit vorgeschobenem Kopf angestarrt hatte, sein sich rötendes Gesicht, sein sich schon öffnender Mund ließen darauf schließen, daß er vor einer Explosion stand und daran war, mit dröhnendem Gelächter loszubrechen, doch er hielt noch rechtzeitig an sich, legte den Finger vor den Mund und flüsterte: »Und was haben Sie davon, wenn Sie wissen, daß Kickers Liverpool gegen Victoria London vier zu eins gewonnen haben?«

Bum staunte über diese Frage, und fast belehrend, mit erhobener Stimme, gab er die Antwort: »Sehr viel habe ich davon! Denn es interessiert mich!«

»Durchaus logisch!« hauchte Stievensen. »Ich danke!« Doch Frau Riedinger sah, fast zornig, ob niemand denn ernstlich antworte, wieder von einem zum andern, auf ihren eigenen Mann, der aus irgendeinem Grunde strahlte, auf Stadel, der in seinem Sessel hingelümmelt, nur grinste, auf Feding, der sich nicht regte, und auf Klodius, der mit geradezu leidenschaftlicher Neugier in den Anblick des jungen Mannes vertieft war. Schließlich versuchte sie es selbst und wandte sich an Bum, hilflos nach Worten suchend: »Aber es geht doch darum, was wir sind, es geht doch um unsere Welt, in der wir leben, um das, was unsere Welt hervorbringt –.«

Doch sei es nun, daß sich Bum durch ihr kaum verhehltes Entsetzen angegriffen fühlte, oder daß er jetzt erst begann, ganz aus sich herauszutreten, er näherte sich der Grenze der Grobheit, als er sie voll Aggressivität unterbrach, ihre Worte fast persiflierend: »Bei der Fabrikation von Pantoffeln geht es auch um unsre Welt, in der wir leben und was sie hervorbringt, und sie interessiert mich doch nicht!«

Man erschrak, denn es offenbarte sich in ihm ein Haß. Nun hatte sich aber Sonja längst gerüstet, ihm zu antworten, und ergriff jetzt das Wort. Es sei natürlich einerseits ganz richtig, daß es viel totes Wissen gebe, andererseits brauche man ein gewisses Wissen zur durchdachten Gestaltung des –. Doch Stadel unterbrach sie, indem er aufstand, mit ausgestrecktem Arm und Finger nach ihr hinwies und schwärmerisch ausrief: »Ein intelligentes Kind –! – Aber ich muß gehen!« Und er begann mit plötzlicher Hast, sich zu verabschieden, nachdem er wahrscheinlich vorher im geheimen auf die Uhr gesehen hatte.

Riedinger war außer sich über den Aufbruch seines Lieblings, und tatsächlich, es sah fast so aus, als wäre Stadel, als letzter, nur gekommen, um zu essen, sich auszuruhen und, als erster, wieder wegzueilen. »Ich muß gehen, ich muß gehen!« rief er, schon stehend und im Triumph rings im Kreise sehend, und als könnte man mit demselben Blitze zweimal leuchten, lachte er schallend auf: »Sie wissen! An die Arbeit! Über die sexuelle Not der Dirnen!« Aber jetzt war es nur noch Riedinger, der mit ihm lachte. Was blieb ihm auch anderes übrig! Er war heute ohnedies nicht auf seine Kosten gekommen, und als er nachher die Bilanz des Abends zog, mußte er feststellen, daß Stadels Witz eigentlich nur einen einzigen Pfeil abgeschossen hatte.

Manche der Gäste wollten sich ihm anschließen und erhoben sich, aber Riedinger protestierte mit solcher Wildheit gegen diese Absicht, daß sie noch ein Viertelstündchen zugaben, um so mehr, als Stadel sich schon von ihnen allen summarisch verabschiedet hatte und jetzt voller Eile nur den Hausleuten auch die Hand reichte. Er dankte Riedinger nochmals für die herrliche Kriminalgeschichte, Frau Riedinger für das herrliche Abendessen. »Und Sie, mein Kind?« fragte er Blanche, da an sie die Reihe kam. »Wofür soll ich Ihnen danken? Was haben Sie also auf dem Herzen?«

»Aber wieso denn?« fragte Blanche zurück und wurde rot.

»Leugnen Sie nicht!« rief er. »Mir entgeht nichts! Ich sehe in die Herzen! Aber Sie wollen sich mir nicht anvertrauen? Gut! Ich hätte jetzt ohnedies keine Zeit! Auf Wiedersehen!« Noch in der Tür wieder auf die Uhr schauend, stürzte er davon.

Man blieb stehen, und froh, den starren Kreis um den Tisch aufzulösen, verzog man sich allmählich ins Nebenzimmer, einen abgestorbenen Louis-Seize-Salon, dessen Farben ermattet, dessen Tapeten verblichen waren und dessen Seidenüberzüge in nicht zu langer Zeit anfangen mußten, zu verschleißen.

Da sich auch Frau Leonhardt rührte und erhob, umwogte Stievensen abermals der Geruch von schwellender Süße, der Atem eines Blumenstraußes mit der einen fauligen Blüte, der Duft aus Leidenschaft, Sanftheit und Herbheit, und da sie neben ihm langsam in den andern Raum ging, war's, wenn unter der leise wallenden Seide des Kleides ihr Bein einen Schritt tat, als rauschte in der Ferne der Wind durch einen Wald. Ob es denn wirklich, fragte er, als sie sich gesetzt hatten, endgültig entschieden sei, daß sie morgen abreise. Ja, antwortete sie, es sei endgültig entschieden. Wann sie wiederkomme? Sie sagte: »Im Herbst.«

»Mein Gott! Im Herbst!« rief er aus, was er doch für ein Unglück habe, klagte er, heute erst habe er sie kennengelernt, und morgen schon fahre sie weg, wirklich, er habe Unglück; aber, fuhr er fort, sie werde schon sehen, eines Tages tauche er dort auf, in ihrem Nest; als sie aber erschrocken zu ihm aufschaute, lachte er auf und nahm's selbst nur als Scherz. Doch im Ernst, sprach er weiter, wenn er nicht einen so heillosen Respekt vor ihr und ihrem Urteil hätte, würde er sie fragen, ob er ihr schreiben dürfe, aber leider sei er ein elender Briefschreiber, er werfe immer nur hin, was er denke, naiv und drauflos, aber sie scheine zuviel von Literatur und also von Stil zu verstehen, und würde nur eine schlechte Meinung von ihm bekommen.

Ach nein, sagte sie, aber es sei so, daß sie mit niemandem korrespondiere, sie finde dafür gar keine Zeit. Er zog betrübt seinen Versuchsballon ein und stand schon im Leeren, dann aber begann er von neuem: da es nun einmal nicht zu ändern sei, daß sie morgen wegfahre, so müsse sie ihn wenigstens dadurch trösten, daß sie sich noch für ein Stündchen mit ihm in eine Bar setze, damit man noch etwas plaudern könne, aber sie lehnte voller Entschiedenheit ab, ja, mit Entsetzen, denn sie müsse morgen ohnedies schon um eine Stunde früher aufstehen als sonst. Nun wußte er gar nicht mehr weiter. Wie ein Mensch, dem es nun klar geworden ist, daß er sich auf einen falschen Weg verirrt, in Phantasien verloren hat, sah er ernst und nachdenklich auf sie herab und kam um allen Elan.

Schade, sagte er nur noch als müden Übergang, er hätte gern noch ein wenig mit ihr geplaudert, und dann fragte er sie, ob sie einen direkten Zug habe und ob im Zug ein Speisewagen sei. Ja, sie habe einen direkten Zug, und einen Speisewagen habe sie auch. Wann der Zug abfahre, wie lange sie fahre, ob sie eine Platzkarte habe, fragte er sie, und sie gab auf diese und alle folgenden Fragen wahrheitsgemäße Antworten. Dem Gespräch war alle Seele abhanden gekommen, und es blieben nur noch klapprige Worte. Mit gerunzelter Stirn dachte er nach und schien zu befürchten, daß ihm nichts mehr einfallen werde, aber als er sich umsah, nahm er wahr, daß ohnedies der allgemeine Aufbruch bevorstand. Da fragte sie ihn, und es geschah zum erstenmal im Laufe des ganzen Abends, daß sie es war, die ein Thema anschlug, sie fragte ihn, ob er gern ins Theater gehe. Gewiß, antwortete er, sehr gern, aber wie sie denn jetzt darauf komme. Weil sie selbst, erklärte sie ihm, auch sehr gern ins Theater gehe, aber allein dort zu sitzen, sei ihr lästig, und ob er sie nicht einmal begleiten möchte, wenn sie im Herbst wiederkomme.

Es dauerte eine lange Sekunde, ehe er antwortete. Aber selbstverständlich, rief er dann, und mit rasender Kraft und Schnelligkeit strömte wieder Luft in ihn ein. Er sprach von Stücken, die im Herbst gespielt werden sollten, von Sängern und Schauspielern, die sie sehen und hören müsse, er werde mit ihr gehen, so oft sie wolle, und womöglich noch öfter, und sie solle ihm, bevor sie komme, schreiben, damit er beizeiten die Plätze besorge. Das sei nicht nötig, sagte sie, aber sie werde ihn nach ihrer Ankunft anrufen. Da müsse sie sich doch aber auch seine Nummer notieren, und ob er sie ihr aufschreiben solle. Nein, sagte sie, sie tue es selbst, und holte aus ihrer Handtasche eine Art von zierlichem Portefeuille aus zartgrauem, von Gold eingefaßtem Wildleder hervor, das mit einem Notizbuch verbunden war. Er nannte ihr seine Adresse und Nummer.

Sie entnahm der Brieftasche ein Bild. »Das ist unser Haus«, sagte sie und reichte es ihm, und während er es betrachten sollte, blätterte sie spielerisch im Notizbuch und schrieb, auch wie mit dem Bleistift nur spielend, neben die Adresse einer Monogrammstickerin, die kein Telephon hatte, seine Nummer. Hinter dem Bild versteckt, schielte er von der Seite auf sie nieder, auf ihre Hand und das Blatt des Büchleins.

»Ein prachtvolles Haus!« sagte er laut und gab ihr die Photographie zurück. »Und der Garten muß herrlich sein! Hier, das scheinen ja uralte Bäume zu sein! Und diese Allee!« Als hätte ihn der Anblick des Hauses und des Gartens mit Glück erfüllt, strahlte Licht und Freude aus seinem ganzen vollen und kräftigen Gesicht.

Blanche trat zu ihnen, und er erhob sich, um ihr seinen Stuhl zu überlassen. Endlich, sagte er freundlich, sehe er Blanche aus der Nähe, aber auch ihre Stimme habe er den ganzen Abend über nicht gehört, ob ihr etwas fehle, ob sie vielleicht eine Migräne habe, sie sehe fast so aus. »Ja«, sagte Blanche, »ich habe Kopfschmerzen.« Sie setzte sich nieder, um sich, wie sie es versprochen hatte, mit Frau Leonhardt zu unterhalten. Er wolle nun auch die Hausfrau aus der Nähe sehen, sagte Stievensen und zog sich zurück. Sie bedauere es, begann Blanche das Gespräch, daß sie Frau Leonhardt so wenig gesehen habe, und Frau Leonhardt antwortete, daß es auch ihr sehr leid tue. Wie sie die ganze Zeit hier verbracht habe, fragte Blanche; sie habe sehr viele Besorgungen zu machen gehabt, antwortete die andere. Ob sie auch im Theater und in Konzerten gewesen sei, erkundigte sich Blanche weiter. »Sehr wenig«, sagte Frau Leonhardt. Blanche suchte nach neuen Themen. Jetzt freue sich Frau Leonhardt wohl, meinte sie, wieder nach Hause zu kommen. »Ja«, sagte sie. Ob sie gern dort lebe, in der kleinen Stadt. »Doch!« antwortete sie. Ob sie sich nicht langweile, fragte Blanche, und wie sie all die Zeit dort verbringe, und Frau Leonhardt antwortete: »Ich lese sehr viel, und der Haushalt gibt viel Arbeit.«

Blanche wußte nicht weiter und sah vor sich hin. Bald vergaß sie, nach neuen Gesprächsstoffen zu suchen, und schließlich vergaß sie überhaupt die Anwesenheit der anderen, und die beiden Frauen saßen schweigend nebeneinander.

Endlich begannen alle Gäste, sich zu verabschieden. Da sich auch Feding aus dem tiefen Lehnstuhl, in dem er ganz versunken und versteckt gewesen war, erhob und aufrichtete, wurde man erst eigentlich seiner Existenz gewahr. Riedinger, ohnedies enttäuscht, daß man schon wegging, kam auf ihn zu. »Wirklich«, sagte er wütend, »sehr amüsant warst du heute! Sehr amüsant!«

Feding schüttelte den Kopf und betrachtete ihn staunend einige Sekunden, als dächte er: Was willst du nur? Was willst du nur mit deinem ewigen Lärm? Dann aber legte er ihm freundlich die Hand auf die Schulter. »Nächstens, mein Lieber«, sagte er, »werde ich vielleicht unterhaltender sein. Gute Nacht!« Er ging zu Frau Riedinger hinüber, um auch ihr sein Gute Nacht zu sagen; doch sie hielt ihn auf. »Was sagen Sie nur«, fragte sie, als sie allein waren, zu Blanche?«

»Ja, es ist schrecklich«, antwortete er, »es geht ihr immer alles so ganz an den Nerv, aber die Szene heute mittag war auch gar zu widerlich. Sie sehen, daß sie sogar mich ganz verdrießlich gemacht hat.«

Frau Riedinger schüttelte den Kopf: »Ach nein, das allein kann es doch nicht sein!«

»Sie hat sich«, fuhr er fort, »in die Sache verbissen, und wer ist nicht mißmutig, wenn er eine Niederlage erleidet! Lassen Sie die Affäre abgeschlossen sein, und alles ist gut!«

»Ach nein!« widersprach sie. »Sie wollen mich nur trösten. Ich habe große Sorgen um sie. Der größte Teil des Lebens steht ja noch vor ihr. Mein Gott –!«

»Nun, wir wollen überlegen«, meinte er, »ob wir ihr nicht mit irgendeiner Überraschung oder einem Geschenk eine Freude bereiten könnten, um sie abzulenken. Ich dachte schon daran, ihr ein Geschenk zu machen, indem ich sie einlade, auf meine Kosten eine schöne Reise zu machen.«

»Ein guter Gedanke!« antwortete Frau Riedinger. »Ich habe überlegt, ob es ihr Vergnügen machen würde, wenn wir ihr hier ihr Zimmer neu einrichten, da sie doch jetzt, vorläufig wenigstens, mehr zu Hause sein wird. Es ist ja tatsächlich schon alt und nicht hübsch.«

»Hm. Ich weiß nicht, sie würde es ja doch immer wieder mit ihrem geliebten Atelier vergleichen.«

»Möglich. Mein Gott, es ist schwer. Ich habe große Sorgen. Wie soll sie das Leben zu Ende leben? – Im übrigen, wie wär's, wenn man einen Kunsthändler dazu bringen könnte, ihre Bilder auszustellen? Es würde sie ja doch vielleicht freuen.«

»Nicht schlecht!« antwortete er und lachte leicht auf. »Nicht schlecht! Und dann in die eine oder andere Zeitung eine günstige Kritik lancieren! Nicht schlecht, nicht schlecht! Aber gute Nacht!« Er hatte bemerkt, daß sie schon allein im Zimmer waren. »Wir sprechen morgen weiter darüber! Jetzt gute Nacht! Meine Frau jammert sicherlich schon nach mir!«

Sie gingen in die Halle, wo tatsächlich Frau Feding schon ihren Mann vermißt hatte. Blanche trat zu ihrer Mutter, nach einer Minute aber kam Feding nochmals heran, um sich auch von ihr zu verabschieden. Sie solle schleunigst zu Bett gehen, sagte er, sich ausschlafen, um für die morgige Operation ausgeruht und gerüstet zu sein. Nein, antwortete Blanche, sie könne noch nicht schlafen gehen, denn sie müsse noch weggehen, ins Atelier. »Jetzt?« rief er und sah erstaunt auf sie und dann auf Frau Riedinger. »Ja«, sagte diese, »Blanche hat es mir eben gesagt, daß sie noch ins Atelier gehen muß –.« Blanche fügte hinzu: »Gisela komm hin, mir helfen, damit morgen alles vorbereitet ist.«

»Eine bessere Zeit«, sagte Frau Riedinger ärgerlich, »konnten sich die beiden wohl nicht aussuchen!«

»Gisela«, verteidigte sich Blanche, »hatte heute nicht anders Zeit, und morgen hat sie überhaupt keine!«

»Nun, dann werde ich dich hinbringen«, knurrte Feding, »ich nehme ohnedies einen Wagen. Doch, doch!« beharrte er, als sie widersprechen wollte, aber sie solle erst fünf Minuten nach den anderen hinuntergehen, sie würden ja sonst wer weiß was denken, er werde inzwischen die übrigen Leute losgeworden sein, und sie dann unten erwarten.

In der Halle gab's ein gewisses Gedränge, und jetzt zum Schluß wurde es lebhafter, und die Stimmen schallten. Riedinger klagte, daß man schon aufbreche, es sei noch sehr früh. »Sehr früh?« wiederholte Klodius, während er den Mantel anzog. »Wissen Sie, da gibt es eine der schönsten und geistreichsten Geschichten. Als einmal Plato Gäste hatte –«, doch seine Tochter rief dazwischen: »Ach, jetzt kommen wieder die Griechen oder die Mythologie!«, und er brach ab.

»Lassen Sie doch Ihren Vater erzählen!« sagte Frau Riedinger, und ihr Ton war nicht weit davon entfernt, die Höflichkeit zu verletzen.

Da ertönte Stievensens volle, ungedämpfte Stimme, und er rief befehlend: »Erzähle eine Geschichte!« Ja, rief man von allen Seiten, er solle erzählen, und sogar Frau Fedings zarte und schüchterne Stimme war zu hören, als sie sagte: »Erzählen Sie doch, Herr Professor!«

Nach vielem Lärm und Hin und Her sah Klodius, unbeirrt in seiner Freundlichkeit, lachend ein, daß er wenigstens halbwegs werde nachgeben müssen. Nein, nein, sagte er, seine Tochter habe ganz recht, es sei eintönig, immer nur über die Griechen zu sprechen, er habe es ja schon zur Genüge getan, da man ihn aber nun einmal hören wolle, schlage er einen Kompromiß vor: man solle ihm erlauben, etwas anderes zu erzählen, obwohl er bei allen Göttern schwöre, daß er nicht wisse, was es sein könnte. Gut, rief man, und Stievensen – seit seinem letzten Gespräch mit Frau Leonhardt war eine strahlende Laune über ihn gekommen, und er hatte etwas von einem glücklichen übermütigen Kind, das sich austoben muß –, er donnerte, daß es dröhnte: »Erzähle! oder ich fange an, bitterlich zu weinen!«

Man lachte über ihn und sah Klodius neugierig an. Wahrscheinlich erwartete der oder jener, daß er nun etwas Beziehungsreiches, irgend etwas irgendwohin Zielendes zum besten geben würde, aber er sah nur in die Luft und wartete tatsächlich, was ihm einfallen würde, und wirklich, plötzlich leuchtete er auf, sein Gesicht erstrahlte, und er war schon entschieden: »Ja, es ist gestern etwas passiert, es ist eine Winzigkeit, weder antik noch modern, ohne jede Pointe, ein winziges Sternchen, das Ganze sozusagen nur mit der Lupe zu sehen, aber ich hoffe, Sie werden einsehen, wie entzückend es ist. Ich weiß nicht, ob Sie wissen, daß ich eine Katze habe, ja, eine Siamesin. Kennen Sie siamesische Katzen? Sie sind beige bis braun, mit weißem Hals, schwarzer Maske, schwarzen Ohren, schwarzem Schwanz, schwarzen Füßen wie schwarze Pantöffelchen und mit hellblauen Augen. Sie ist das wildeste und zugleich zärtlichste und liebebedürftigste Tier. Nun also, gestern abend war ich allein zu Haus, meine Tochter war in ihrem Verein, um einen Vortrag zu halten, und das Mädchen hatte Ausgang. So habe ich selbst mein Abendessen aus der Küche geholt und mir bei der Gelegenheit noch ein Ei hart gekocht, das dort vorbereitet war. Die Katze saß neben mir auf dem Fußboden und wartete, denn sie weiß, daß sie von meinem Abendessen immer etwas abbekommt. Aber gerade in dem Augenblick, da ich das Ei aus dem Wasser hebe, läutet im Zimmer das Telephon. Ich wußte nicht, wohin mit dem heißen Ei, und lege es in der Eile auf einen Sessel, der neben dem Herd steht, und laufe ins Zimmer. Ich habe ziemlich lange gesprochen, wie ich dann aber in die Küche zurückkomme, sehe ich zuerst das Ei nicht, ich suche es, wo habe ich es denn hingetan? denke ich – dann aber, was, glauben Sie, sehe ich? Die Katze liegt auf dem Stuhl, preßt mit den beiden Vorderpfötchen das warme Ei an ihre Brust, schaut mich aus ihren großen blauen Augen an – und schnurrt! War das ein Bild! Ist das nicht reizend?«

Ja, das müsse reizend gewesen sein, rief man, lachte, war zufrieden und freute sich über sein Entzücken, das bei der Erinnerung wieder über ihn gekommen war.

»Ich kenne die Bestie!« rief Stievensen. »Sie ist tatsächlich das charmanteste aller mörderischen Ungeheuer und –«, doch er unterbrach sich, denn er hatte, während er sich umsah, mit einem Mal den schmächtigen Theokopullos neben sich entdeckt, und schon neigte er sich mit wild gerunzelter Stirn zu ihm. »Entscheiden Sie sich!« drohte er ihm und zielte mit dem Finger nach seiner Brust: »Apoll oder Dionysos?« Theokopullos hob den Zeigefinger und antwortete belehrend und offenbar sehr stolz auf seinen Gedanken: »Gemischt!« Er wandte sich aber sofort an Sonja und fragte sie: »Nicht? Goldenes Mitte –?« Sie antwortete auch, und dadurch wurden alle Blicke auf sie gelenkt, aber man hörte ihr nicht zu, sondern schaute sie nur an, Frau Riedinger runzelte frappiert die Stirn. Frau Fedings Gesicht erstarrte für eine Sekunde mit offenem Mund, und Stievensen schaute fassungslos auf sie herab. Inzwischen nämlich hatte Sonja ihre Mütze aufgesetzt, tatsächlich ein erschreckendes Ding aus blauem Tuch, rund, flach und platt wie ein Teller, aber vom Umfang einer Schüssel, mit einem roten Wollknäuel oder -kügelchen auf dem Scheitel, eine Kopfbedeckung, die mit ihrer Kindlichkeit in horrendem Gegensatz zu der großen Hornbrille mit den dicken Gläsern stand und über ihrem runden Gesicht geradezu grotesk und lächerlich wirkte. Es war unmöglich, über sie hinwegzusehen, und von dieser Mütze, die Sonja keineswegs als erste, beste gekauft haben dürfte, die sie vielmehr ausdrücklich gesucht haben mußte, da sie, außerhalb aller Mode, weder in einer Auslage gelegen, noch auch ein Verkäufer sich getraut haben konnte, sie ihr anzubieten, von dieser Mütze also, diesem Ungeheuer, ausgehend, könnte man eine ganze Psychologie aufbauen, doch es würde zu weit führen, denn zuerst müßte die Frage geklärt sein, ob Sonja sie schön fand oder ob Theokopullos Sonja schöner fand, wenn dieser Kuchen auf ihren Kopf geklatscht war, oder aber ob am Ende, wenn weder dies noch jenes zutraf, das Bekenntnis zur Häßlichkeit zu ihrer Weltanschauung gehörte.

Riedinger klagte, jetzt, wo es so recht lustig werde, laufe man davon, es sei doch wirklich noch sehr früh. Sehr früh! lachte man auf, das sei ja das Stichwort für Klodius' ursprüngliche, nicht erzählte Geschichte von Plato gewesen, er solle auch sie noch erzählen. »Genug, genug!« lachte er. »Nächstens, nächstens!«, schüttelte schnell den Hausleuten nochmals die Hand und floh. Nach ihm gingen auch die anderen, aus dem Hausflur drang noch Stievensens Stimme: »Erzähl die Geschichte von Plato oder ich ermorde dich«, und so endete die Gesellschaft schließlich doch mit einer gewissen Heiterkeit.

Feding beeilte sich, den anderen zuvorzukommen; er wußte es so einzurichten, daß er ohne Begleitung blieb, ging mit seiner Frau zum nächsten Autostandplatz und fuhr zurück, um Blanche abzuholen.

Die Fahrt verlief trübe. Frau Fedings Versuche, eine Unterhaltung zu führen, die wenigstens die Zeit hätte ausfüllen können, schlugen nicht an, und zaghafte Bemühungen ihres Mannes, hier und da mit einem Scherz die Stimmung zu beleben, wurden gar nicht zur Kenntnis genommen und übergangen. Da der Wagen in der schmalen Gasse, in der die Gartenpforte zum Atelier lag, nicht hätte wenden können, hielt er nur an ihrem Eingang. »Soll ich dich hinbringen?« fragte Feding, als sich Blanche hastig aus dem Wagen drängte.

»Aber warum denn!« fragte sie unwillig und fast erschrocken zurück, ob sie denn die wenigen Schritte nicht allein tun könne. Frau Feding fragte noch: »Ob Gisela wohl schon hier ist?«

»Sicher wartet sie schon!« rief Blanche und hielt ein, dann fügte sie schnell hinzu: »Glücklicherweise muß sie nicht auf der Straße warten. Sie hat auch einen Schlüssel!« Sie streckte nur blindlings die Hand ins Innere des dunkelen Wagens, so daß die beiden nach ihr tasten mußten, um sie zu fassen, und eilte davon, schattenhaft im schmalen, finsteren Gäßchen und schnell verschwindend, aber ihre laufenden Schritte hallten noch zurück, als sie selbst schon in der Dunkelheit zwischen den von Zweigen und Laubwerk überhangenen Mauern unsichtbar geworden war. Feding und seine Frau horchten ihr nach, in die Schwärze der schmalen Schlucht, bis die Schritte einhielten, weil sie bei der Pforte angelangt war.

Ob er schon jemals, rief Frau Feding, als sie weiterfuhren, ob er schon jemals so etwas Närrisches gesehen habe, ob sich denn die beiden, Blanche und Gisela, wirklich keine bessere Zeit hätten aussuchen können. Ja, knurrte er ärgerlich, er liebe auch nicht diese Extravaganzen, aber es sei eben so, erklärte er ihr, daß heute Gisela nur jetzt in der Nacht Zeit übrig habe, und morgen würde sie überhaupt keine haben. Sie fuhren schweigend nach Haus. Aber sie finde, begann dann Frau Feding von neuem, sie finde es nicht schön von Gisela, daß sie in diesen zwei Tagen, wenn schon Blanche in solch entsetzlicher Stimmung sei, nicht mehr Zeit für ihre Freundin habe, und vor allem nicht eine vernünftigere Zeit. Allerdings, antwortete er, das finde er auch, übrigens, fuhr er dann fort, es sei ein scheußlicher Abend gewesen, trotz Stievensen und Klodius, die er beide gern habe. Ja, stimmte sie zu, es habe ihr auch gar nicht gefallen.

Als sie zu Hause angelangt waren, kündigte Feding seiner Frau an, daß er noch ein Glas Wein trinken werde, er denke gar nicht daran, in dieser Laune schlafen zu gehen. »Schon wieder?« fragte sie vorwurfsvoll, und tatsächlich, vor vier Tagen war es eine gewisse Nervosität, vor drei Tagen seine enorme Wachheit gewesen, die ihn zwang, sich noch mit einer Flasche Wein zurückzuziehen, und, nach einer Pause von einem Tag, gestern seine ausnehmend gute Laune und heute die schlechte. Er erriet ihre Gedanken, und trotz dieser schlechten Laune lächelte er angesichts ihres schüchternen Entsetzens, das sich in ihren Mienen spiegelte, wie immer seit Jahr und Tag und seit Jahrzehnten, sooft er sich in sein Arbeitszimmer zurückzog, um nach der Tagesarbeit und -unruhe allein in der Nacht noch ein Glas Wein zu trinken.

So ging er denn auch heute an seine Vorbereitungen, während sie verzweifelt den Kopf über diesen ihren Mann schüttelte und ihn dabei zärtlich beobachtete, an diese Vorbereitungen, die nach einem ganz bestimmten System, in einer ganz bestimmten Reihenfolge und nach einem schon traditionellen Ritus vor sich gingen, den zu beschreiben ein eigenes Zeremonienbuch erfordern würde. Nun, er holte die Flasche herauf, füllte den Eimer mit Eis, schnitt in der Küche ein Stück Schwarzbrot vom Laib, legte es auf einen Teller und ging, mit all dem beladen, durch die ganze Wohnung, um es mit Glas und Zigarrenkiste, Aschenbecher und Streichholzschachtel auf dem Tisch und neben ihm anzuordnen, im Winkel jenes nach dem Hof gehenden Hinterzimmers, das, mit seinem Schreibtisch und seinen von juristischen Werken angefüllten Regalen, für den Fall, daß er gewisse Akten zum Studium nach Hause brächte, als Arbeitszimmer eingerichtet war. In Wirklichkeit studierte und bearbeitete er die Akten, wenn er sie aus der Kanzlei hertrug, in einem der vorderen Zimmer, und dieses hier war längst aus einem stillen Arbeitszimmer zu einem stillen Trinkzimmer geworden, in dem er einen Teil vieler Nächte verbrachte, ohne sich zu rühren, wenn er nicht gerade die Asche abstreifte oder nach dem Glase griff.

Da der Geist nicht so unbewegt bleiben kann wie der Körper, mußte er sich regen und regte sich, und Feding ließ ihn gehen und schweifen, wohin er wollte, nachdem er am Tag in Arbeit, Entscheidungen und Verantwortlichkeit eingespannt gewesen war. Verirrte er sich aber, wie es geschehen mochte, später in der Nacht auf kleine Abwege, indem ihm die festgegründeten Tatsachen, Formen und Gestalten zu schwanken und sich aufzulösen begannen, verlor er ein wenig die Logik und Konsequenz, um zu neuer, anderer Logik und Konsequenz zu kommen, verlor er sich gar, wie es auch vorkam, in Phantasien ohne Vernunft und Schwergewicht, nun, so war es auch recht, und Feding begnügte sich, wenn er plötzlich erwachte und sich besann, die vor seinem inneren Auge entstandenen fremdartigen Bilder mit vorwurfsvoll gerunzelter Stirn zu betrachten, dann aber die gar zu belebte Vorstellungskraft mit einem neuen Glas Wein zu besänftigen – kein Zweifel, eine anfechtbare Kur.

Zuerst allerdings drängte sich, noch in seinem eigenen kühlen Licht, der vergangene Tag auf, mit dem und jenem, das er gebracht, seinen kleinen Vorfällen, seinen kleinen Überraschungen, über die man noch nachträglich den Kopf zu schütteln, mit seinen ungelösten Problemen, denen man noch einige Gedanken zu widmen hatte, und heute natürlich mußten, als Feding den ersten Schluck vom ersten Glas genippt, es wieder abgestellt, sich zurückgelehnt hatte, die Zigarre in der über die Lehne des Fauteuils herabhängenden Hand, und so seine Nacht begann, heute mußten, als Fragmente und Fetzen des Tages, Erinnerungen an den eben vergangenen Abend auftauchen, etwa Stievensen mit seinem im Stiegenhaus hallenden Ruf: Erzähl die Geschichte von Plato oder ich ermorde dich! Klodius mit seinen ebenen Erzählungen, verliebt in den mit lebenden Vögeln behangenen Verbrecher, in seine Katze und in Zeus, Sonja mit der phantastischen Tellermütze über den rundlichen, käsigen Wangen und den dicken Gläsern in der riesigen Hornbrille, Stadel mit seiner Hakennase im ausgemergelten Gesicht und den in öligen Strähnen über die Schläfen fallenden Haaren, und dazwischen immer wieder, ob er wollte oder nicht, Blanche mit ihrer schweigsamen, erstarrten Gestalt und ihren leblosen Zügen, aus denen nichts abzulesen war als trübe Düsterkeit. Mein Gott, wie oft hatte er über sie nachgedacht, wie oft mit seiner Frau, mit ihrer Mutter über sie diskutiert, wie hatte er sich bemüht, sie zu verstehen und zu erraten, und vielleicht war es ihm auch halbwegs gelungen, so weit so etwas auch nur halbwegs gelingen kann – es war nichts mehr zu denken, es war wichtiger, sich mit dem Nächstliegenden zu befassen: wie man sie in eine bessere Zeit hinüberbringen könnte, indem man ihr zuerst einmal eine Freude bereitete. Er ließ die Vorschläge der Frau Riedinger und seine eigenen Einfälle an sich vorübergehen: eine Ausstellung der Bilder, eine neue Einrichtung für ihr Zimmer, eine Reise – eigentlich hätte er ihr schon heute abend, sagte er sich, verraten können, was er für Pläne mit ihr habe, daß er ein großes Geschenk für sie sozusagen schon in der Hand bereithalte; aber nein, widersprach er sich selbst, es hätte keinen Zweck gehabt bei der Laune, in der sie war, es hätte ihr keine Freude bereitet, heute hätte ihr nichts Freude bereitet. Immerhin, ihre Affäre ist erledigt, das ist gut, mag hinter ihr stecken, was immer, sie ist erledigt. Daß ihre Stimmung aber auch gar nicht aufzuheitern war, nicht für einen einzigen Moment, allerdings, man mußte zugeben, der Abend war nicht angetan, irgendeines natürlichen und vernünftigen Menschen Stimmung aufzuheitern. Diese Sonja zum Beispiel – wie ist das nur, wenn man eine solche Tochter hat?

Feding nahm einen neuen Schluck und lehnte sich entschlossen zurück, als habe er nun den Gegenstand und das Problem gefunden, mit dem er sich zuerst einmal ein wenig abgeben werde. Er zog gedankenversunken an seiner Zigarre. Wie ist das nur, wenn ein unglücklicher Mann eine solche Tochter hat wie Sonja? Es ist natürlich nicht anders möglich, als daß zum Beispiel der kluge Klodius bemerkt, wahrnimmt und erkennt, was ihm da für ein Balg in die Welt gesetzt worden ist. Wie mag Sonjas Mutter gewesen sein? Wie ist das, hat man auch als Vater Humor genug, solch ein Wesen als komisches Instrument zu betrachten? Doch genaugenommen, ist sie ja gar nicht so recht komisch, nein, nur die Mütze war niederschmetternd, ein Zirkusclown-Effekt – im übrigen, Blanche vermag auf diesem Gebiet auch einiges Erschreckende zu leisten, wie oft hat nicht ihre eigene Mutter darüber geklagt! Wie sie sich zum Beispiel heute wieder hergerichtet hatte! Schauderhaft! Nun ja, heute war ein elender Tag, heute war ohnedies alles vernachlässigt und häßlich, einschließlich des Pakets, das sie heute mittag aus dem Haus trug, gerade als ich kam, und das sie dann wieder zurücktrug und dort nochmals einsperrte. Das häßliche braune Packpapier war ihm aufgefallen, der haarige Bindfaden und die nachlässige Art, mit der es verschnürt war, aber sie drückte es an ihre Brust, als ob es wer weiß was für ein Schatz wäre, und das eben war der merkwürdige Gegensatz. Ja, dieser Gegensatz war's.

Nun denn, wie ist es also, wenn man eine solche Tochter wie Sonja hat? Da hat man etwa so wie ich ein Jahrzehnt darauf gewartet, Vater zu werden, und weitere Jahrzehnte den größeren Kummer der Frau mitgelitten, weil man vergebens gewartet hat – nun? Und? Würde man glücklicher gewesen sein, wenn man so ein Karnickel zur Tochter bekommen hätte? Wäre die Frau glücklicher gewesen? Würde man wirklich sein ganzes Leben lang widerstehen können, ihr einen Knebel in den Mund zu stopfen? Ein ganzes langes Leben lang widerstehen, sie eines Tages ohne ersichtlichen Grund auf barbarische Weise durchzuprügeln, indem der angeschwollene Zorn endlich platzt? Schrecklich, das eigene Fleisch und Blut so zu mißhandeln! Wenn sie aber fragt: warum hast du mich geschlagen, Vater? Nun, weil du so gescheit bist! Diese Antwort, würde sie erwidern und über den ihr auftauchenden Problemen den körperlichen Schmerz vergessen, diese Antwort ist unlogisch, wenn sie auch einesteils andererseits ist, und dein Gedankengang enthält eine Fehlerquelle, denn Gescheitheit ist, wenn auch nur in relativem Sinn absolut, eine positive Qualität, wenn auch selbstverständlich andererseits die Quantität –.

Mein Gott, mein Gott, wie ist das nur? Diese Art von dummer Gescheitheit scheint unlöslich verknüpft zu sein mit vollkommener Abwesenheit jeglichen Charmes. Ja, das ist es. Kein Gott hat gelächelt, als sie gezeugt, kein Stern geleuchtet, als sie geboren wurde. Und doch hat sie einen Kerl gefunden. Wahrlich, er hält das Rattern ihres Gehirnmaschinchens für den ehern hallenden Schritt des unsterblichen Geistes! Wahrlich, eine horrende Verwechslung! Gut, er ist ja auch nur das Fragment von einem Mann, so ein Endchen von einem Mann, immerhin, ich wäre sehr zufrieden, wenn ich wüßte, daß Blanche mich heute angelogen hat, daß gar nicht Gisela zu ihr ins Atelier kommt, sondern nur so ein Stückchen von einem Mann, aber nein, es kommt keiner. Wirklich, es ist nicht freundschaftlich von Gisela, daß sie Blanche nicht eine vernünftigere Zeit zur Verfügung stellen konnte als diese nächtliche Stunde. Merkwürdig! Und hätten wir Blanche als Tochter, wären wir glücklicher? Nun ja, es ist ja wahr, halb und halb ist sie meine Tochter.

Er schloß für einen Moment die Augen, öffnete sie wieder und starrte vor sich hin. Er erinnerte sich des Tages, da sie geboren wurde, kein Zweifel, es war damals ein wenig Neid in ihm, wenn er das Glück ihrer Mutter sah, denn er hatte in diesen Tagen seine Frau überrascht, wie sie weinte. Aber es hatte sich schließlich alles verwandelt, in Liebe und Zärtlichkeit für das Kind.

In der herabhängenden Hand verlöschte die Zigarre, er zog nicht an ihr und trank nicht vom Wein. Es gingen die Jahre und Jahrzehnte Schritt für Schritt an ihm vorbei. Reizend, reizend, hatte er damals gesagt, als ihm das neugeborene Wesen gezeigt wurde, aber in Wirklichkeit fand er den Anblick nur peinlich, und der Neid verging ihm. Bis er eines Tages im Ausstrecken des kleinen Arms nach einem blinkenden Gegenstand, im unartikulierten Aufjauchzen, im Lächeln des Mundes mit den ersten Zähnen, in all diesem Winzigen, Spielerischen, Puppenhaften etwas Unbegreifliches und Erschütterndes fand, in diesem Wachstum etwas Unheimliches, in diesen Regungen und Bewegungen etwas Verehrungswürdiges, in dieser Verwandlung zu einem Menschen etwas Atemberaubendes.

Von einem fernen Turm schlug die Glocke. Er horchte hin. Wie lange saß er schon da? Es blieb bei einem Schlag. Es war ein Uhr. Der Wein im Glas war warm geworden, er trank ihn schnell und unzufrieden aus und füllte das Glas von neuem, doch in der Flasche wiederum war er zu kalt geworden, und so hob er sie aus dem Eis. Dann sank er wieder in seine frühere Lage zurück.

Woran habe ich gedacht? Ja, der Charme. Er ist ebenso göttlich wie die Schönheit, noch weniger meßbar und zerlegbar. Eine häßliche charmante Frau, eine schöne ohne Charme. Hm, Charme verschönt und ist immer lebendig. Oder Bum. Auch dies kann geschehen, daß man solch einen Sohn hat. Er wächst und gedeiht, ein hübsches Kind, er spielt gern, ißt gern Süßigkeiten, er wird größer, ein hübscher Bub, er beginnt, Indianergeschichten zu lesen, und geht in den Zirkus, lernt brav in der Schule, steigt auf von Klasse zu Klasse, allmählich wächst er heran, allmählich zeigt sich schon der Erwachsene in ihm, hier, komm her, mein lieber guter Junge, ich erhöhe mit der Bezeugung meines aufrichtigen Respekts hiermit dein Taschengeld aufs Doppelte, denn ich habe heute den ersten Flaum auf deinen Lippen gesehen, aber im Ernst, mein Junge, jetzt wird bald die Zeit da sein, da wir durchaus zwei Gleichgestellte sind, ich nichts anderes bin, als dein bester Freund – und wann kommt der schauderhafte Augenblick, da man, nach vielen traurigen Ahnungen, nach vielen Zweifeln und Widerständen, nicht mehr anders kann als festzustellen, daß man da etwas ganz Sonderbares in die Welt gesetzt und aufgezogen hat, halb Mensch und halb leere Schachtel, ein Ungeheuer, ein Nichts, die große Leere, das unbedingte Nichts. Ja, sehr gut, nichts, nihil, das ist der wahre Nihilismus, die wahre Anarchie. Sieh an, sieh an, wie man doch immer von allem falsche Vorstellungen hat! Da hat man vielleicht in seiner Naivität gedacht, der Anarchist ist ein wilder, funkensprühender, unrasierter Bombenschmeißer, aber nein, da schreitet er heran, mit leisen Schritten, kommt mit einer höflichen Verbeugung, verhältnismäßig gut erzogen, solange er nicht gereizt ist, kommt daher als frischer, hübscher, harmloser Junge, Student der Medizin. Interessant, interessant! Oder ist er gar nicht so harmlos? Das Etwas haßt das Nichts, doch noch mehr haßt das Nichts das Etwas. Ja, und zum Schluß besteht das Leben dieses Nichts in seinem Haß. Das wäre mein Sohn. Danke schön!

Miserabel, jetzt ist der Wein wieder zu warm geworden. Soll ich schlafen gehen? Nein, ich bin zu wach, unangenehm wach. Es dürfte halb zwei sein. Sicherlich ist Blanche noch dort und kramt in ihren Habseligkeiten, verstaut sie in Schachteln, Köfferchen, Kisten – wieso hat sie eigentlich nichts von zu Hause zum Verpacken mitgenommen? Hat sie es am Nachmittag hinschaffen lassen? Ich habe nichts davon gehört. Man könnte wetten, daß die beiden Frauenzimmer jetzt dort stehen und jammern, weil sie nichts haben, worein sie die Köstlichkeiten packen könnten. Und wie will sie die Bilder fortschaffen? Danke schön, morgen wird's ein schönes Durcheinander geben, ich will jedenfalls hinsehen, früher aus der Kanzlei gehen und hinschauen. Irgend etwas allerdings hat sie jetzt hingetragen, ja, sie hat im Auto etwas auf dem Schoß gehalten, ja, ein Paket, war's nicht dasselbe, das sie mittags von dort wegtragen wollte und dann doch wieder versperrt hat? Richtig, es ist mir aufgefallen, es kam mir gleich bekannt vor. Gott weiß es, was sie da durch die Welt spazieren führt! Sie wird es am Nachmittag nach Hause gebracht haben, und jetzt bringt sie es wieder zurück. Und morgen wieder zurück in die Wohnung? Warum, weshalb das Hin-und-her? Wer kennt sich aus!

Feding saß unbewegt, die Unterarme mit den gespreizten Händen auf die breite Lehne des Fauteuils gelegt. Die Blicke der Augen stachen in die Luft, und der Schnurrbart wölbte sich in weitem Bogen über die etwas vorgeschobenen Lippen. Die Stille ging durchs Zimmer, durch die Wohnung und schien durch die ganze Welt zu gehen. Wie für alle Ewigkeiten hergezaubert, standen die Dinge unterm gleichmäßig fließenden Licht, der alte Schreibtisch, der halbkreisförmige Sessel davor, die seitlich hingelegten Bücher, die Regale, die hohe Vase mit den Blumen, der Teller und das Stück Brot. Alles schien festgebannt und unveränderlich zu sein, mitsamt dem alten Mann, der vor dem kleinen runden Tisch regungslos zurückgelehnt saß. Das Zimmer ging nach dem Hof, so drang kein Laut herein, und nur über die Dächer hinweg erinnerte mit ihren Stundenschlägen die Turmglocke an Zeit und Welt.

Wie hat jener Mann, der als erster, mit seiner aufgereckten männlichen Gestalt, oben auf der Spitze des leukadischen Felsens stand, im Unglück zerfließend im fließenden Äther, sich schon auflösend und schon dem Tod hingegeben – wie hat er als Kind ausgesehen, wenn er die Arme nach der hölzernen Klapper ausstreckte? Und der Verbrecher, der einige Jahrhunderte später als Opfer hinuntergestürzt wurde, dieser Straßenräuber und Frauenvergewaltiger – wie klang seine Kinderstimme, wenn er sich freute, daß seine Mutter ihn auf den Arm nahm? Die Knospe läßt die Blüte ahnen, der schon im Spiel beißende und kratzende kleine Löwe läßt den großen ausgewachsenen Löwen ahnen, ach, es ist ja im Grunde dasselbe, aber das aufjauchzende Kind, das vor dem Weihnachtsbaum strahlende Kind, das kleine Mädchen, das sich streckt, um in meine Manteltasche zu greifen und zu suchen, was ich ihm mitgebracht habe, das Kind, das sich hinter einer Schrankecke versteckt, um mir aufzulauern und mich mit einem Hu! zu erschrecken, aber sich schon in meine Arme wirft, um sich in die Höhe heben zu lassen, nein, das läßt den Menschen nicht ahnen. Heute wäre Blanche, wenn sie auf jener Insel lebte, auch fähig, sich auf jenen Felsen zu stellen. Ihre Mutter hat ganz recht – wie soll sie ihr Leben zu Ende leben? Nun, zuerst einmal wollen wir sie über die nächste Zeit hinwegbringen. Eine Reise wäre gut. Ich werde es ihr morgen vorschlagen, ich will ja ohnedies morgen mittag hinschauen.

Es schlug zwei Uhr. Als wunderte sich Feding, daß die Zeit so schnell verging, zog er auch seine Uhr. Wie alt war sie damals, als sie auf einen Schemel stieg und von dort auf einen Sessel kletterte, um in die Brusttasche meines Mantels langen zu können, weil dort etwas für sie steckte? Warum jubelt das Kind auf, wenn der Hampelmann seine Arme und Beine von sich wirft? Undurchsichtig, undurchdringlich. Es jubelt auf. Dabei war's nur so ein Hampelmann aus Pappe, im Vorübergehen auf der Straße gekauft. Wenn man plötzlich und stark an der Schnur zog, berührten seine Füße die Schultern. Und das jubelnde Kind war sie. Und heute abend, die dort saß, das war sie auch. Unheimlich. Klodius' Kätzchen freut sich auch, wenn sich etwas bewegt, und will damit spielen, aber es wird zur Katze. Doch das Kind, ein Stück Natur, seiner unbewußt, in Harmonie mit sich selbst – ach, diese Verwandlung! Diese Verwandlung: eine Mensch werdende Blüte, ein Mensch werdendes junges Tier. Unheimlich. Ein Hampelmann. Ein kleiner Hampelmann aus Pappe.

Der ausgebreitete Flügel der Nacht lag über der Welt, und es waren nur die Pulse schlafender Menschen, die schlugen. Vor sich hinblickend, saß Feding regungslos, seine Gestalt schon wie verwachsen mit dem Stuhl, sein Kopf wie aus Stein. Im Zimmer lag das Licht wie erstarrt, alles stand festgewurzelt, kein Stäubchen flog durch die Luft, über den Wein im Glas ging kein Hauch. Endlich verriet sich doch das Leben, dort im Winkel, endlich regte sich doch etwas, lautlos und mit winziger Bewegung: Feding zog die Brauen zusammen, und seine Stirne runzelte sich. Dann geschah wieder für lange Zeit nichts.

Plötzlich richtete sich Feding entschlossen auf, trank Wein und zündete wieder die Zigarre an, die ihm so oft schon ausgegangen war. Er schien mit neuem Aufschwung seine Gedanken abschütteln und diese seine Stunden zwingen zu wollen, ungestört und unbeschwert zu bleiben, gegen alle Widerstände und Stimmungen. Es zog sogar wie ein Hauch des Lächelns über sein Gesicht. Sonja erklärt Theokopullos, was vom alten Griechentum neu belebt zu werden hat und was am jetzigen Zustand seiner Heimat reformbedürftig sei – sie nimmt die Zügel in die Hand, bringt neuen Schwung ins Land und führt eine Renaissance des Griechentums herauf. Sonja und die Sphinx. Sonja redet, die Sphinx schweigt. Sonja am Fuß der Pyramide. Verzweifelt bohrt sich die Pyramide in ihren Kopf, um ihre Logik abzustellen, aber vergebens, die Pyramide wird von den Rädern ihres Gehirnmaschinchens zermahlen und rieselt als Staub aus ihrem Mund. Aber was wollen Sie, mein Herr, sie ist ein glücklicher Mensch, Blanche aber – ob sie noch immer dort kramt? Oder ob Gisela sie schon nach Hause gejagt hat? Es konnten Briefe in dem Paket gewesen sein. Nun, es ist ihr Geheimnis. Warum sollte der Mensch nicht sein Geheimnis haben? Oder ein Tagebuch? Aber warum hat sie es vorhin zurückgebracht? Im Wagen hatte sie es in ihren Händen. Genug davon! Es beginnt, mich zu tyrannisieren. Aber das kommt von ihrem Gesicht. Es war heute abend kein Kummer in ihrem Gesicht, eigentlich überhaupt kein Gefühl, sondern – nichts. Eine Leere. Es war kein Leben in diesem Gesicht oder ein undurchsichtiges Leben, ein Leben, das sich nicht enträtseln ließ. Es hatte schon seinen Grund, daß ich erschrocken bin, als ich hörte, daß sie noch weggehen will. Aber Gisela, das ist gut, Gisela ist stark und lebenskräftig. Hoffentlich ist sie wirklich gekommen. Sie ist unzuverlässig, sie wäre fähig, Blanche dort allein warten zu lassen. Aber, mein Gott, wer kann's denn wissen, am Ende wäre Blanche gar nicht unzufrieden, wenn Gisela nicht käme.

Da ging etwas mit Feding vor – mit einem Schlag veränderte er sich, er hielt den Atem an, sein Mund war halb geöffnet, sein Blick erstarrte, er schien nicht mehr zu denken, sondern zu warten und zu horchen, nur eine Sekunde lang. So geht es eben, der Verstand tastet und schleicht um ein Ding, doch plötzlich scheint er zu gefrieren, er denkt nicht mehr, es denkt in ihm, und unter einem Donnerschlag der Stille steigen unverhüllt die Dinge selbst aus der Tiefe herauf, erheben sich aus dem Nebel des menschlichen Fragens und Suchens, um sich vor uns hinzustellen, eindeutig und nackt. Feding erhob sich, indem er sich auf seine zitternden Hände stützte, und sagte mit leiser, heiserer Stimme vor sich hin: »Sie hat gelogen, Gisela kommt gar nicht hin.«

Er ging einmal, schnell und keuchend, auf und ab, in seinem Gesicht alle Zeichen des Schreckens, doch zugleich war schon die Entschlossenheit über ihn gekommen; er verließ den Raum, in mühsamem Kampf zwischen seiner stürzenden Eile und der Rücksicht auf seine Frau, die er mit seinem Lärm nicht erschrecken wollte. Sie war aber schon halb erwacht, und bei seinem Anblick erwachte sie ganz. Er gehe weg, sagte er, nur kümmerlich einen gewissen Gleichmut spielend. Der Gedanke, dort Blanche allein zu wissen, sei ihm quälend, er wolle sie nach Hause bringen, eine Ahnung sage ihm, daß Gisela bei ihrer Unzuverlässigkeit gar nicht hingekommen sei. Als sie ihn ansah, verstand sie ihn und sprang aus dem Bett. »Geh!« sagte sie, begleitete ihn in den Vorraum und drängte ihm für die kühle Nacht den Mantel auf. Sie solle Krau anrufen, bat er sie, er solle an der Ecke zur Gasse auf ihn warten. »Und ich rufe dich an!« rief er zurück und lief schon die Treppe hinunter und, mit der unbeholfenen Eile der alten Glieder, die Straße entlang. Die hetzenden Schritte vernehmend und unter der Suggestion des heranhastenden, schon atemlosen alten Mannes, sprang ein neben seinem Wagen stehender Chauffeur auf seinen Sitz, ließ, ohne erst ein antreibendes Wort abzuwarten, den Motor an, löste die Bremse und raste durch die nächtlichen Straßen.

Die Nacht war hell und ohne einen Hauch. Als Feding den schmalen Eingangspfad des Gartens entlanglief, starrten die Sträucher reglos neben ihm, streckten sich stumm die Zweige aus. Der Mond, fast im Zenit, verbreitete so stark sein weißliches Licht, daß in großem Umkreis keine Sterne standen. Jenseits der Hecke lag schweigend der milchige Rasen, ragten unbewegt die alten Bäume, und die Stille wurde nur durch zwei hetzende Geräusche aufgestört: durch seine im Sand knirschenden Schritte und sein atemloses Keuchen. Als er ans Ende des Wegs gekommen war und einbog, lag das kleine Haus vor ihm, ebenso stumm wie Baum und Gras und Hecke, doch durch all seine Fenster, auf den runden Platz mit seinem Rasen, seinen blumeneingefaßten Wegen, seinem Kreis von Ulmen, wie aus fünf Augen, wie aus fünf Mündern Licht hinauswerfend.

Feding horchte nach einer Stimme, einem Laut, einer Bewegung, aber das stumme Licht war gespenstischer als Dunkelheit und Finsternis, und er stürmte vorwärts, als ob er die Tür einrennen müßte. Aber sie war offen. Die unteren Zimmer waren leer. Es bleibt nicht mehr viel zu sagen. Oben im Kabinett neben dem Atelier, das für den Fall eingerichtet worden war, daß Blanche einmal Lust haben sollte, hier zu übernachten, auf jener Couch, auf der sie niemals zur Nacht geschlafen hatte, auf der sie nur sehr oft träumend gesessen hatte, fand Feding sie, auf den Rücken ausgestreckt, schon ohne alle Farbe und nur noch mit schwachen Lauten eines schnarchenden Röchelns.

Als wäre ihm tatsächlich alles schon offenbar gewesen, und als hätte er sich während der Fahrt für diesen Augenblick vorbereitet, stürzte er, ohne alle Überlegung, davon, zum Wagen, den er hatte warten lassen, fuhr zurück, fragte einen Schutzmann, wo der nächste Arzt wohne, und nahm einen späten Passanten auf, der sich erbot, ihn hinzuführen. Ins Bild gesetzt, um welche Gefahr es sich handele, nahm der Arzt die nötigen Gegenmittel und Geräte mit sich. Als sie zurückfuhren, kam auch Krau an, und wenige Minuten, nachdem Feding weggestürzt war, betraten die drei Männer das Haus. Bei Blanches Anblick ahnten die Ärzte und wiederum einige Minuten später wußten sie, daß sie keine Hilfe mehr bringen konnten.

Der fremde Arzt entfernte sich mit dem Versprechen, die ersten Formalitäten zu übernehmen und die Behörde von dem offenbar unnatürlichen Todesfall zu verständigen. Krau und Feding blieben im Atelier zurück, neben der Staffelei, auf der ein zugedecktes Bild lehnte. Einige Schritte von ihnen war die offene Tür zum Kabinett, durch die sie die Couch in ihrer ganzen Länge und Breite gesehen haben würden, wenn sie es gewagt hätten, den Kopf hinzuwenden. Man hörte nur ihren schweren Atem. Sie sahen einander an und fürchteten sich vor dem ersten Wort. Endlich öffnete Krau den Mund, doch noch war er um die Sprache gebracht, und es kamen nur stöhnende, schluchzende Laute aus seiner Kehle. Feding faßte seinen Arm und zog ihn zum Fenster, als fürchte er den magischen Zwang, einen Blick durch die offene Tür werfen zu müssen. »Und ich selbst«, flüsterte er, indem er den Kopf vorschob und aus aufgerissenen Augen Krau anstarrte, »ich habe sie eigens hergebracht, heute nacht, und habe sie eigens abgesetzt, vor einigen Stunden!« Krau begriff ihn nicht, und noch umnebelt und betäubt, versuchte Feding, Krau über den heutigen Abend aufzuklären, indem er fast hauchend abgehackte Worte und halbe Sätze sprach.

So vergingen die ersten Minuten, noch wie im Traum und ohne Besinnung – plötzlich aber riß der Nebel, die Betäubung wich, und es kam über ihn. Er packte Krau bei den Schultern und schüttelte ihn. »Merken Sie sich's, Sie junger Mensch, Sie Arzt, Sie –« stieß er in keuchendem Zorn hervor. »Merken Sie sich's: der Mensch ist ein Vieh! Ein stumpfer fauler Idiot, nicht wert des Stücks Brot, das er frißt! Wir wollen sehen, was sich tun läßt, vielleicht eine Reise, ich werde es ihr morgen vorschlagen, ich will ja ohnedies morgen mittag hinschauen – während hier –! Wie soll sie ihr Leben zu Ende leben? sagt mir ihre Mutter, und ich gehe nach Haus und wiederhole es mir: Wie soll sie ihr Leben zu Ende leben? Während hier –!«

Er schwieg, dann setzte er von neuem an, gedämpfter, als wollte er sich zur Selbstbeherrschung zwingen, und doch wieder, je mehr ihm das Bewußtsein kam, mit wachsendem Grimm: »Schauen Sie mich an! Bin ich ein böser Mensch? Nein, ich bin kein böser Mensch, man sagt das Gegenteil – Und? was hat's geholfen? Bin ich ein dummer Mensch? Nein, ich bin Jurist, ich kann denken, und auch sonst – und? Was hat's geholfen? Bin ich verständnislos, ohne Erfahrung, ohne Menschenkenntnis? Nein! Und? Was hat's geholfen? Und war mir Blanche etwa gleichgültig? Nein, sie war fast meine Tochter! Und? Was hat's geholfen? War ich hilfsbereit? Ja! Und? Was hat's geholfen? Nun! Ist der Mensch ein Vieh, ein armes, hilfloses, verlorenes Tier? Schauen Sie mich an! Schauen Sie mich an, sage ich! Zum Donnerwetter, heben Sie den Kopf und schauen Sie mich an, sonst –!« Krau mußte ihm ins Gesicht sehen. »Was sehen Sie? Sie sehen einen gütigen, verständnisvollen, klugen, hilfsbereiten, alten Mann! Und? Was hilft's? Ist der Mensch ein Vieh? Antworten Sie, antworten Sie!« Krau gab einen gurgelnden Laut von sich. »Sie sehen einen alten Mann, der von seiner Höhe gütig und lächelnd auf das Menschengetriebe herabsieht, verständnisvoll, verstehen Sie, verständnisvoll sieht er herab! Und jetzt rollt er von seinem Thron, der gütige Klotz, der klobige Lächler!«

Er flüsterte stöhnend auf Krau ein, die Gestalt vorgebeugt, sich mit den Händen auf den andern stützend, als müßte er sonst vornüberstürzen, das Gesicht zerfallen und zerfetzt. Krau war nicht fähig, ihn zu unterbrechen oder auch nur für den Augenblick seinen Ausbruch zu besänftigen, und starrte ihn ängstlich an, als fürchte er, der alte Mann könnte im nächsten Augenblick tot niederfallen.

»Geben Sie dem Bettler ein Almosen und Schluß!« keuchte Feding. »Wenn sich jemand ein Bein bricht, legen Sie ihm einen Verband an und Schluß! Und schicken Sie keine zu hohen Rechnungen und Schluß! Denn wozu hat der Mensch seine Teilnahme, seine Klugheit, seine Güte, seine Übersicht, sein Verständnis, seine Hilfsbereitschaft, seine Freundschaft, seine Liebe? Merken Sie sich's, junger Mann: nicht, um dem andern zu helfen! Wozu er sie hat? Ich weiß es nicht! Dem Bettler ein Almosen und keine zu hohen Rechnungen und basta! Gisela kommt hin ins Atelier, ich hab's geglaubt, und diese Papierwand hat mich von der Wahrheit getrennt! Nun! Was ist der Mensch?« Plötzlich sprach er in anderem Ton und verzog sein Gesicht zu einer Grimasse des Lächelns, offenbar in der Absicht, sich selbst zu karikieren und zu verhöhnen: »Ja, ja, sie hat den großen Traum von der großen Liebe, ja, ja, wie werde ich denn das nicht verstehen, ich bin ja so verständnisvoll, ach ja, ach ja, die lieben jungen Leute, wie lächelt man freundlich über sie! Wir wollen das gute Kind jetzt auf eine Reise schicken, während hier –! Ich denke noch gar nicht daran, in dieser Laune schlafen zu gehen, her mit einem Gläschen Wein, man lehnt sich behaglich zurück«, und er bog tatsächlich seinen Oberkörper nach hinten, als stütze er den Rücken gegen eine Lehne, und während die eine Hand sich an Kraus Arm festhalten mußte, führte er die andere mit großer Geste zum Mund und wieder weg vom Mund, als rauche er genießerisch eine Zigarre, dann strich er mit breiten Bewegungen seinen Bart, dann trank er aus einem Glas. »Gemütlich sitzt es sich hier, wie hat wohl der Selbstmörder vom leukadischen Felsen als Kind ausgesehen? Und wie reformiert Sonja Griechenland? Sonja und die Sphinx und die Pyramiden und Bum –«

Krau hatte die schreckliche Komödie, die Feding ihm aufführte, hilflos verfolgt und mochte ohnedies den Zusammenhang der hervorgestoßenen Worte kaum begriffen haben. Jetzt aber, da er den alten Mann von der Sphinx, von den Pyramiden und von Bum sprechen hörte, stockte ihm der Atem, er versuchte, zurückzuweichen, denn zu seinem ganzen Entsetzen über das Geschehene kam die Angst, ja, die Überzeugung, einen wahnsinnig Gewordenen vor sich zu haben. Nun faßte er seinerseits Fedings Arm, verkrampfte sich in ihn, und sein Gesicht verzerrte sich zu einer Fratze des herzerstarrenden Schreckens. Vielleicht fühlte es Feding, vielleicht war's der krampfige Griff, der ihn weckte, er brach ab und knickte ein. Immer mehr in sich zusammensinkend, wartete er, bis sein keuchender Atem zur Ruhe gekommen war, dann aber richtete er sich wieder langsam auf und führte Krau in die unteren Zimmer.

Der Amtsarzt kam mit anderen fremden Personen, Feding gab die nötigen Auskünfte, es lag kein Grund vor, Mißtrauen zu hegen, und der Totenschein wurde ausgestellt. Damit war das Außerordentliche des Todesfalls abgetan, und die Alltäglichkeit des Todes setzte ein, jene Reihenfolge, die mit der Überlegung beginnt, wie man die Angehörigen am schonungsvollsten vom Geschehenen verständigt, und mit dem Gepolter endet, mit dem die letzte Schaufel Erde auf den Sarg niederfällt.

Geschwächt und niedergebeugt, hatte sich Feding doch von seinem Zornanfall erholt, hatte eher Übersicht als der ganz und gar apathisch gewordene Krau und konnte die ersten Anordnungen treffen. Frau Riedinger und ihren Mann werde man erst, bestimmte er, wenn der Tag gekommen sei, mit der Unglücksnachricht heimsuchen, denn jetzt, in der Nacht, dürfe man nicht mit ihr ins Haus einbrechen – es könnte, bei dem Zustand seines Herzens, Riedingers Tod sein. Krau solle jetzt gehen und seine, Fedings, Frau anrufen, sie sitze wahrscheinlich ohnedies neben dem Apparat und werde schnell begreifen, aber sie solle nicht herkommen, sondern auf einen zweiten Anruf warten; dann müsse Krau zu Gisela fahren und sie herbringen, man werde einen jungen und gesunden Menschen brauchen, denn sie selbst, Feding und Krau, seien ja doch zu nichts gut. Als Krau sich zu wehren versuchte, Feding hier allein zurückzulassen, beharrte dieser bei seinem Entschluß. Er wisse schon, sagte er, was er wolle, Krau könne getrost gehen, er werde ihn nicht anders wiederfinden, als er ihn jetzt verlasse.

Feding hatte die verschwommene Erinnerung, oben auf dem Tischchen neben der Couch, zwischen der kleinen Standuhr, der kleinen Vase und dem leeren Wasserglas, jenes braune Paket gesehen zu haben, ja, es war ihm, als habe er im Nebel vor seinem trüben Blick seinen Namen gesehen, als er zum zweitenmal, mit den Ärzten, in die Tür des Kabinetts getreten war. Da er nun allein war, stieg er langsam und mit schweren Tritten, doch unbeirrt, hinauf, betrat mit eingefallenem, starrem Gesicht den winzigen Raum und fand tatsächlich dort das Paket und einen unter den Bindfaden geschobenen, an ihn gerichteten Brief, in dem er in wenigen, mit riesigen Lettern geschriebenen Worten gebeten wurde, es sofort und uneröffnet zu verbrennen.

Er war nicht überrascht und ging sofort an die Arbeit, um sie getan zu haben, ehe jemand käme. Sein Blick fiel auf den kleinen eisernen Ofen hinten in dem Winkel, der von der langen Türwand und jener Breitseite gebildet wurde, die der Tür zum Kabinett gegenüberlag. Er legte behutsam seine Last auf einen Hocker und ging daran, den Ofen zu untersuchen, indem er die Klappen und Türen öffnete, die Züge hin- und herschob und so zu erraten suchte, wie der Mechanismus zu handhaben sei. Der Ofen war nicht aufgeräumt worden, und der Rost war voller Asche. Nach großer Mühe und nur mit Gewalt gelang es Feding, die eingeklemmte Innentür aufzustoßen, und nun rüttelte er geduldig den Rost, bis er frei wurde und Luft durchlassen konnte. Er erhob sich, holte das Paket und legte es, wie es war, in den Ofen; als er aber seine Taschen abtastete, fand er kein Streichholz und auch keines im Atelier. So mußte er denn die schmale Wendeltreppe ins Erdgeschoß hinuntersteigen, langsam und Schritt für Schritt, sich mit der gespreizten Hand gegen die Mauer stützend. In den Zimmern stand alles in der alten Ordnung. Er zwang sich zur ruhigen Besonnenheit und blickte langsam um sich, und tatsächlich, auf dem Bord zwischen zwei Porzellanleuchtern entdeckte er eine brokat'ne Streichholzschachtel, stellte fest, daß sie gefüllt war, und kämpfte sich wieder hinauf.

Oben kniete er zum zweitenmal nieder und hielt das Flämmchen an den dicken, zusammengepreßten Stoß von Papieren; kaum aber war es im Ofen, verlöschte es, und so ein zweites, ein drittes. Nur ein Eckchen der braunen Hülle war angeschwärzt, und bald lag ein Häufchen abgebrannter Streichhölzer neben ihm auf der Erde. Er versuchte es mit Öffnen und Schließen, Aus- und Zuschieben der Klappen und Türen. Vertieft in seine Arbeit und entschlossen, sie zu Ende zu bringen, seufzte er leise auf. Schließlich sah er ein, daß dieser ganze festgedrückte Packen niemals Feuer fangen werde, und es blieb ihm nichts anderes übrig, als ihn zu öffnen. Mit abgewandtem Kopf, um ja kein Wort zu erhaschen, vor allem aber, um die Schrift nicht zu erkennen und so das Geheimnis auch vor sich selbst zu wahren, legte er zuerst das Packpapier in den Ofen, entzündete es und warf dann Blatt um Blatt, zu einem losen Ballen geknüllt, in die Flamme. Der Ofen hatte lange unbenutzt gestanden, und durch seine Ritzen, aus dem undichten Rohr und aus den offengebliebenen Türen kam der Rauch und drang, Fedings Blick trübend und seine Kehle reizend, auf ihn ein. Doch es blieb ihm nichts anderes übrig, vertieft und in unbeirrter Ruhe erfüllte er seine Pflicht, nun auch wegen des beißenden Qualms den Kopf zur Seite wendend; wenn er ihn aber ins Zimmer drehte, ging sein Blick ins Kabinett, so mußte er ihn nach der anderen Seite halten, wo dicht vor seinen Augen nur die Mauer war. Der Rauch zog in grauen Schwaden durch den Raum, ins Kabinett, wo das Fenster geöffnet worden war, er ging über Blanche hinweg, und die ziehende Luft bewegte sanft die kurzen Härchen an ihren Schläfen.

Es dauerte geraume Zeit, doch endlich war's getan. Feding wartete, bis das letzte Fetzchen Papier zu Asche geworden war, dann schloß er die Klappen und Türchen. Nachdem er so lange gekniet hatte, waren seine Glieder steif, seine Muskeln verkrampft, und er hatte große Mühe, sich zu erheben und aufzurichten. Seine geröteten Augen tränten, seine Hände waren grau und schwarz von der Asche und vom verkohlten Papier, und über seine Stirn, Nase und Wangen waren Schmutzflecke verstreut. Zur Erde sehend, um nicht verführt zu werden, ins Kabinett zu blicken, trat er zu einem der Fenster und öffnete es. Da erst nahm er die Tageshelligkeit des Himmels wahr. Dann stieg er zum zweitenmal hinunter, fand in der Kammer unter der Stiege eine Gelegenheit, sich zu säubern, und als Krau und Gisela kamen, war's nicht zu erkennen, welche Arbeit er hinter sich hatte, und das Geheimnis war so sehr gewahrt, daß niemand auch nur ahnte, es habe hier überhaupt ein Geheimnis gegeben.

Es war Tag, und Feding machte sich auf den Weg. Er lehnte alle Begleitung ab und ging im erwachenden Leben des Frühlingsmorgens langsam entlang der Häusermauern durch die Straßen, denn er hatte Zeit, er wollte Riedingers Haus erst betreten, sobald die Bewegung des Tages gekommen sein würde. Unterwegs rief er seine Frau an und bat sie, nach einer halben Stunde hinzukommen.

Frau Riedinger war nach einer unruhigen Nacht, die sie nur aus Rücksicht auf ihren im Schlaf stöhnenden Mann, um ihn nicht zu wecken und zu erschrecken, geduldig an seiner Seite zugebracht hatte, schließlich doch früher aufgestanden als sonst und hatte festgestellt, daß ihre Tochter nicht nach Hause gekommen war. Sie hatte sich eben entschlossen, ins Atelier zu fahren, und begonnen, sich anzukleiden. Als es jedoch klingelte, sie zur Tür stürzte und Feding vor sich sah, stumm, gebeugt und ganz und gar verwandelt, starrte sie ihn nur einen kurzen Augenblick an, dann aber wußte sie, was geschehen war.

 


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