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Drittes Kapitel

I

Das Nachtlokal »La Princesse« liegt in einer stillen, abgeschiedenen Nebenstraße und ist eines jener Etablissements, in denen sich den Genießern und Liebhabern der Nacht die Unnatur offiziell repräsentiert.

Der Raum hat die Gestalt eines breiten Ganges, der im Hintergrund mit einer, meistens unbesetzten, Bar abgeschlossen ist. Entlang der beiden Wände sind die Tische aufgereiht, an deren jedem fünf Personen Platz finden können. Neben der Eingangstür steht der Flügel. Der Klavierspieler ist vor etwa anderthalb Jahren während des Karnevals in einem übermütigen Augenblick auf den Gedanken verfallen, zu dem Smoking, den er trägt, einen grünen Strohhut aufzusetzen und sich eine grüne Krawatte umzubinden. Bei diesem Kostüm ist er seitdem geblieben; das ist aber auch das einzige, bescheidene Zeichen nächtlicher Ausgelassenheit, denn es geht im allgemeinen still hier zu, und auf die Straße tönen nur die unverfänglichen Klänge der Musik. Es ist billig hier, und die Reize, die geboten werden, sind delikater und prickelnder als aller Luxus.

Die Einrichtung besteht aus ungedeckten Marmortischen und alten, schlecht gepolsterten Stühlen. Ampeln aus blau und rot gestreifter Seide geben ein gedämpftes, ein etwas geheimnisvolles und betont stimmungsvolles Licht in der vom Zigarettenrauch erfüllten, grauen Luft.

Hier hatten jene Damen ihr Rendezvous, die einander liebten; aber es war keines jener wilden Amüsierlokale, die Reklame für ihre Perversitäten machen wie manche Gasthäuser für ihre frische Leberwurst, es war keine plumpe Maskerade, kein Schwindelunternehmen, in dem engagierte Figuren ihren Hokuspokus machen; die Akteurinnen, die hier auftraten, waren vielmehr von der Rolle, die sie spielten, wirklich erfüllt und spielten sie aus Überzeugung und Bedürfnis. Deshalb schien es den Zuschauern, die herkamen, daß es sich hier um unverfälschtes, exquisites Laster handle, das man doch so selten zu sehen bekommt, sie fühlten schon den haut-goût des echten Lasters auf der Zunge, und, wie die Entdeckung eines simplen Restaurants mit solider, echter Hausmannskost leise verraten, innerhalb immer weiterer Kreise leise verraten wird, bis es zu seinem stillen Ruhm gelangt ist, so war auch der Name »La Princesse« so lange von einem dem andern zugeflüstert worden, bis die Existenz dieser Unterhaltungsstätte zu jenen Dingen gehörte, die zwar allen bekannt sind, von denen aber doch nur flüsternd gesprochen wird. Es wurde gesagt, daß, wer hier eingeführt sein will, Protektion haben müsse, und man benötigte auch tatsächlich eine von der Besitzerin unterschriebene Legitimation, doch wurde diese fast niemals verweigert, und so mancher Besucher bekam sie erst nachträglich, als er schon saß und trank. Dieses Lokal galt als Sehenswürdigkeit, und die Bewohner der Stadt wurden von den Gästen aus der kleineren Provinz, diesen Kennern der intimen großstädtischen Geheimnisse, oft hierhergeführt.

Im freien Raum zwischen den Tischreihen wurde getanzt. Die Frauen schmiegten sich aneinander, betonten ein wenig die Wollust der Bewegungen, und eine führte jeweils die andere und spielte den Herrn. Manche Person, die sich in Männerkleidung zeigte, stand im Verdacht, daß sie eine Frau sei, und die Habitués ringsum prüften, um ihr Geschlecht festzustellen, ihren Nacken, ihre Hände und Füße. Die Zaungäste, vor allem die weiblichen, die dieses Schauspiel betrachteten, ohne sich an ihm zu beteiligen, schienen dennoch eine gewisse Befriedigung zu empfinden, daß sie wenigstens einen Schritt in diese Sphäre getan hatten. Jene aber, für die das Unternehmen doch eigentlich geschaffen worden war, die weiblichen Stammgäste, fluchten manchmal der Neugierde, die sich herandrängte, und klagten, daß sie nicht ungestört, nicht ganz untereinander blieben. Aber es kann doch kein Zweifel darüber bestehen, daß es einer Gruppe von Menschen möglich sein muß, sich gegen die Welt abzuschließen, wenn ihr wirklich daran liegt, und tatsächlich waren all die Damen, mochten sie es auch selbst nicht eingestehen, nicht unzufrieden, ein Publikum zu finden; denn die Geheimnislosigkeit gehörte zu ihrem Wesen. So manche von ihnen hätte vielleicht so manches, das sie tat, unterlassen, wenn sie gewußt hätte, daß es Geheimnis bleiben wird, ja, in dieser Preisgabe ihrer selbst bestand ihr eigentliches Laster.

Es versammelten sich hier die verschiedensten Arten von Frauen: die Verspielten, die gern experimentieren, die nervös Aufgelockerten, die unglücklich Vereinsamten, jene, die, an der täppischen Plumpheit eines Mannes gescheitert, bei der Sanftheit des eigenen Geschlechts Erholung suchten, einer Sanftheit allerdings, die gerade in diesen Kreisen gar zu leicht in Wildheit umschlagen kann; ferner jene, die mit der Durchtriebenheit des Neurotikers ihre Gewalt über Männer dadurch zu erhalten und zu erringen suchten, daß sie ihnen tragisch, doch mit versteckter Drohung andeuteten, im Grunde hätten sie ja doch nur Neigung für Frauen, ein Verfahren, das eines der vielen erpresserischen Mittel darstellt, Macht auszuüben, und schließlich jene, die gegen die Banalität des Lebens im allgemeinen und die des üblichen Liebeslebens im besonderen ihren Protest und ihren Abscheu an den Tag legen wollten, die, aus Empörung über die Langeweile der Ordnung die Unordnung vorzogen und in ihrer Wut gegen die Bravheit der guten Familie, der sie entstammten, das Bedürfnis hatten, ungezogen zu sein.

Als die kleine Gesellschaft erschien, wurde sie, wie jeder Eintretende, mit neugierigen Blicken empfangen. Blanche, als die größte, mit ihrer ungewöhnlichen Haarfarbe und nun auch noch in ihr pompöses Cape gehüllt, lenkte vor allem die Aufmerksamkeit auf sich, und augenblicklich rief, sobald er ihrer ansichtig geworden war, an einem der Tische, während sich die neuen Gäste noch durch die schmale Tür drängten, ein gutgekleideter und wohlgenährter Herr: »Donnerwetter! Donnerwetter!« Er betrachtete sie und wiederholte: »Donnerwetter! Donnerwetter!« Nachdem er sie aber lange genug und schärfer gemustert hatte, legte er die flache Hand auf den Tisch, reckte sich, um Blanches Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, und sagte: »Aber die kenne ich doch!«

Feding war, nachdem er Riedingers Haus verlassen hatte, mit seiner Frau in ein Auto gestiegen. Passow hatte die Baronin begleitet, Joachim war, Frau Leonhardt neben sich, in seinem kleinen Sportwagen, mit dem Steuer nur spielend, langsam neben Gisela, Blanche und Müller-Erfurt einhergefahren, denn Stadel hatte sich nach einigen Schritten, mit dem Versprechen, nachzukommen, verabschiedet, da er noch eine Verabredung habe, die ihm jetzt erst, zwei Stunden zu spät, wie er sagte, zum Bewußtsein gekommen war. So war es immer: zu jeder Stunde wurde er irgendwo erwartet, zu jeder Tages- und Nachtzeit hatte er irgendein Rendezvous, das er einhielt oder nicht einhielt, das er vergaß oder an das er sich unerwartet, mit einem erschreckten Aufschrei, erinnerte. Immer war er unterwegs, und doch ließ er zugleich an allen Ecken und Enden der Stadt die Leute warten.

Während die Ankömmlinge bei der Tür standen, Joachim sich nach der und jener Richtung verbeugte, Gisela und Müller-Erfurt dahin und dorthin winkten, Frau Leonhardt von allen Seiten prüfend betrachtet und abgeschätzt wurde, brachte man in den schon vollen Raum noch einen Tisch und stellte ihn zwischen die anderen.

Jener Herr, der Donnerwetter! ausgerufen hatte, ein massiver und rotwangiger Herr, schaute immer weiter mit intensiven Blicken auf Blanche. »Aber natürlich!« sagte er. »Natürlich kenne ich sie!« Er saß bei einem Ehepaar, das offenbar lobende oder bewundernde Bemerkungen über ihre wirkungsvolle Erscheinung gemacht hatte. Indem er sich in seinem Sessel aufrichtete, sich streckte und sie fixierte, versuchte er, ihre Blicke auf sich zu lenken. Als es ihm gelungen war, grüßte er sie freundschaftlicher und intimer, als es dem Grad ihrer Bekanntschaft entsprach. Es war Heinzfurth, jener Mann, der vor zwei Jahren, als ihm sein Freund, der Prokurist F. M. Schröder, über seine Entdeckung des abgelegenen, verborgenen Kutscherhäuschens berichtete, augenblicklich den Vorschlag gemacht hatte, es zu ihrem, Schröders und Heinzfurths, gemeinsamen Absteigequartier zu machen. Als dieser Plan fallengelassen worden war, hatte er als erster Blanche, die ein Atelier suchte, auf das kleine, einsame Gebäude aufmerksam gemacht und sie an Schröder gewiesen. Sie war ihm seit jener Zeit nur selten und zufällig begegnet, jedesmal aber war, da sie keinen anderen Gesprächsstoff miteinander hatten und schon aus Gewohnheit, von jenem Dienst die Rede gewesen, den er ihr damals durch seinen Hinweis geleistet hatte. Als sie jetzt an ihm vorüberging, stand er auf, um sie zu begrüßen und ihr mit einigen Schmeicheleien zu sagen, daß er sie im ersten Moment gar nicht wiedererkannt, da er sie bisher immer nur in Straßenkleidung gesehen habe. Er war in angeregter Stimmung, sprach lebhaft, in zutraulicher Herzlichkeit mit ihr und beeilte sich, sie mit dem Ehepaar an seinem Tisch bekannt zu machen, einem englischen Großindustriellen und dessen Frau, die für einige Tage in die Stadt gekommen waren und denen er nun ihr nächtliches Leben vorführte. Er lud Blanche ein, sich zu ihnen zu setzen, wenigstens für einige Augenblicke, und berichtete seinen Freunden in etwas lärmender Scherzhaftigkeit, daß Blanche eine große Malerin sei und er das unsterbliche Verdienst habe, ihrer Kunst ein Asyl verschafft zu haben.

Sogleich in den Trubel des nächtlichen Lebens einbezogen, von einem nicht ganz unbegehrlichen Mann begrüßt, von den Engländern freundlich empfangen, wurde Blanche ein wenig lustiger und ließ sich nötigen, ein Glas Champagner zu trinken. Als Heinzfurth sie aufforderte, zu tanzen, sprang sie auf. »Gern!« rief sie und ließ mit einer schwungvollen Bewegung das Cape, das sie bisher noch nicht abgelegt hatte, von ihren Schultern auf einen Sessel gleiten. Sie warfen sich energisch, temperamentvoll und mit Vergnügen in den Tanz. Als aber die Musik verstummte, fühlte Blanche sich verpflichtet, zu ihren Freunden zurückzukehren, die sich inzwischen längst niedergelassen hatten.

Am Tisch der Freunde herrschte eine gewisse Langeweile. Sie alle saßen da, als sagten sie: Jetzt sind wir hier – und was nun? Die erwartete Lebhaftigkeit oder Lustigkeit wollte nicht recht aufkommen. Gisela war übel gelaunt. Sie ärgerte sich, daß Stadel nicht mitgekommen oder noch nicht nachgekommen war. Zwar war er den ganzen Abend über ihr Gegner gewesen, doch da er nun fehlte, fehlte ihr auch seine Streitlust und der Anreiz, sich mit ihm zu zanken.

Im Mittelraum zwischen den Tischreihen herrschte ein schiebendes Gedränge. Das Scharren und Schleifen der Tanzenden war nahe, die Musik aber war wie in großer Ferne, sie preßte und quetschte sich nur mühsam durch das Stimmengewirr und die Geräusche der vielen Füße hindurch.

»Eigentlich ein blödes Lokal!« sagte Gisela und machte – niemand begriff, wie sie dazu kam – dem völlig unschuldigen Müller-Erfurt Vorwürfe, daß man hergekommen war.

Die Musik verstummte. Joachim erzählte Frau Leonhardt über seine Reisen in Indien, über die Revolution, die sich dort vorbereitete, über seine Unterhaltungen mit ihren zukünftigen Führern, denen er so manchen Rat oder Wink hatte geben können. Zugleich erwähnte er immer wieder eine Nichte des englischen Vizekönigs, in dessen Haus er gern verkehrt habe. Wer wollte, konnte aus seinen Erzählungen folgern oder wenigstens mutmaßen, daß diese Nichte seine Geliebte gewesen sei. Wenn man Frau Leonhardt noch so scharf beobachtet hätte, wäre doch nicht zu erraten gewesen, ob es größeren Eindruck auf sie machte, daß er den indischen Revolutionsführern Ratschläge gegeben habe oder daß er beim englischen Vizekönig aus und ein gegangen sei – oder ob ihr am Ende beides ganz gleichgültig war. Sie saß schweigend da und rührte sich nicht.

Müller-Erfurts Blicke hefteten sich an Blanche, er beugte sich ihr zu, um ihr etwas zuzuflüstern, aber sie bemerkte es nicht und sah, ein wenig gelangweilt, ein wenig neugierig, dahin und dorthin in den Raum. Schließlich traf sie mit ihren Augen auf Heinzfurth, der, an der anderen Längswand, fast am anderen Ende der Diagonale des Saales sitzend, darauf nur gewartet hatte, sich nun aufrichtete und ihr, über alle Köpfe hinweg, mit emporgestrecktem Arm zuwinkte.

»Wer ist eigentlich dieser Luftballon?« fragte Gisela.

Müller-Erfurt wußte Bescheid. »Dieser Luftballon«, sagte er, »heißt Heinzfurth und ist so leicht und fröhlich, nicht weil er mit Gas, sondern weil er durch und durch mit Geld gefüllt ist! Er ist ein sehr reicher Mann.« Dies entsprach auch tatsächlich der Wahrheit. Als der Sohn eines nicht mehr unvermögenden Fabrikanten geboren, war er im Laufe von zwei Jahrzehnten zum Beherrscher eines Besitzes geworden, der für den Außenstehenden nicht mehr zu überblicken war. Die einen behaupteten, er sei ein genialer Organisator, die anderen, er sei ein Dummkopf, der die Umstände für sich gehabt habe, doch ganz und gar unvereinbar ist ja die eine Aussage mit der anderen nicht.

Der Klavierspieler setzte wieder ein. Joachim wandte sich an Frau Leonhardt. »Tanzen wir?« fragte er, aber sie dankte und lehnte ab. Er neigte sich ihr zu. »Warum nicht?« fragte er und legte mit einer gewissen zärtlich-behutsamen Vertraulichkeit die Hand auf ihren Unterarm, doch sie schüttelte mit kaum merkbaren Bewegungen den Kopf, um diese Berührung abzuwehren, indem sie zugleich für einen vorüberfliegenden Moment die Augen schloß, als ob sie leise bäte: Nicht, nicht! »Ich bin müde«, sagte sie hauchend.

Der Saal füllte sich wiederum rasch mit Tanzlustigen. Jenseits des Mittelraums tauchte Heinzfurth auf, hob schon von weitem den Arm und streckte zwei Finger aus, ein Kind imitierend, das in der Schule sich meldet. Er schlängelte und wand sich zwischen den sich drehenden Paaren hindurch, einmal stehenbleibend, um eines vorüberzulassen, dann wieder schnell zwei Schritte gehend, hier mit den Schultern ausweichend, dort mit den Hüften sich wegbiegend, manchmal sogar zur Seite hüpfend, mit seinem schweren Körper, doch selbstzufrieden, ja, kokett seine Gelenkigkeit zeigend, und er schien in diesen Momenten das Gefühl zu haben, daß er ein geschicktes, geschmeidiges Kätzchen sei, das mit entzückender, bewundernswerter Geschicklichkeit über einen vollbesetzten Tisch springt, ohne Schaden anzurichten. Er steuerte auf Blanche zu, kam mit einem letzten, lustigen Sprung, der seinen Zickzackweg durch den Saal abschloß, aus dem dichten Gewühl gerade vor sie hin und holte sie zum Tanz.

Die beiden waren zwischen all den sich Drehenden, Wiegenden, Schreitenden, das massivste Paar. Er war von voller, fleischiger Statur, und vor der Gefahr, als dick zu erscheinen, bewahrten ihn nur die Größe und sein breiter Knochenbau.

»Eigentlich« sagte er, als sie ihren Tanz begannen, »sind Sie sehr undankbar!«

»Wieso?«

»Nun, Sie verdanken mir Ihr Atelier, und doch haben Sie mich noch nicht einmal eingeladen, es zu besichtigen!«

»Bitte! Kommen Sie! Ich lade Sie ein!«

»Wann?«

»Rufen Sie mich einmal an!«

»Gut! Achtung! Ich rufe an! Hallo!«

»Hallo!« lachte Blanche. »Hier Blanche Riedinger!«

Sie hatten sich bisher in einer Ecke mit kleinen, diskreten Windungen gedreht, behutsam ihre Fußspitzen aufsetzend, nun jedoch, da die Musik zwar nicht in schnelleres Tempo, aber in lebhafteres Temperament mit schärferen Akzenten überging, schoß er mit Blanche, indem er sie mit stärkerem Druck umfaßte und, nachdem seine Schultern für einen Augenblick, wie zum Anlauf, emporgeschnellt waren, mit seinem ausgestreckten Bein weit ausholend, aus ihrem Winkel in den Saal hinein und lenkte sie, sich nun ganz aufrecht haltend, mit großen, betonten, kräftigen Schritten quer durch den Raum, ihre Figur zwischen all den anderen männlich hindurchführend und offenbar stolz auf seine Sicherheit.

Sein dunkelblauer Anzug mit eckigem, doppelreihigem Sakko war neu und stammte wohl von einem teuren Schneider, die Wäsche, die er trug, war dünner und zarter, als es seiner Fülle entsprach. Er roch nach Bädern, Lavendel und Eau de Cologne.

Mit weiten, getragenen Schritten zogen sie wie in feierlichem Marsch durch den Saal, sich ihrem Temperament überlassend und mit lustigem Trotz es noch stachelnd; unvermittelt und überraschend aber hielt er ein, beherrschte seinen Körper wie auf ein Kommando, beherrschte auch den ihren mit festem Griff, und nun kreisten sie, nach einer starren Pause von wenigen Sekunden, mit winzigen Bewegungen der Füße in der Mitte des Raums auf einem Fleck. Als sie aber bald wieder, da er sich launisch seinen wechselnden Impulsen hingab und auch sie sich ihnen bereitwillig fügte, zu größerer Wildheit übersprangen, am Rand des Tanzraums die Tischreihen entlangwirbelten und an Blanches Freunden vorüberstürmten, langte sie mit hastigem Griff nach ihrer Mütze und schleuderte sie mit einem lustigen Hoppla! Gisela zu, warf den Kopf weit zurück und schüttelte ihn, um die nun freigewordenen Haare aufzulockern, die, in Wellen zurückgelegt, im Nacken in Locken übergingen.

Heinzfurth strahlte. Die Bewegung rötete seine Wangen noch mehr, und so traten die gegeneinander sich abhebenden Farben seines Kopfes um so prangender hervor. Er zeigte sich unermüdlich, und Blanche wollte ihm nicht nachstehen. Schon begannen sie, gegen die Musik zu tanzen, nach ihrem eigenen Takt und Tempo, sich ihrer Willkür freuend. Stießen sie da oder dort einmal an, dann rief Heinzfurth mit lachendem Blick auf das angestoßene Paar schnell ein heiteres Pardon!, wie ein Kind, das beim Fangen und Laufen einen Erwachsenen belästigt hat, sich zwar pflichtgemäß entschuldigt, aber wohl weiß, daß man ihm, dem übermütig spielenden, reizenden Kind, gar zu gern verzeiht, und das sorglos weiterrennt.

Sie waren mit ihrer Ausdauer und ihrem zur Schau getragenen Elan manchen der Gäste schon aufgefallen. Auch der Pianist, der dem Saal den Rücken kehrte, drehte ein wenig neugierig seinen Kopf, beobachtete sie und spielte, ohne auf die Tasten zu sehen, diesem Paar zu Ehren oder zu Liebe, länger als sonst. Doch manche der Tänzer und Tänzerinnen ermüdeten, hatten das Bedürfnis, sich auszuruhen, und gingen an ihre Plätze. So hatten die beiden mehr Raum für sich und noch mehr Möglichkeiten, sich zu entfalten. Man hatte nicht nur Gelegenheit, die Bewegungen des Paares zu verfolgen, sondern auch ihre Gestalten zu betrachten und zu begutachten. Blanches Körper, nur mit dünnen, schmiegsamen Stoffen bekleidet, zeigte sich in allen Posen. Man konstatierte, daß sie ziemlich große Füße hatte, man sah ihre kräftigen Beine, die etwas muskulösen Waden, die mächtigen Säulen ihrer Oberschenkel, die fleischigen, rückwärtigen Wölbungen, die zwar ihrer Größe, nicht aber dem Geschmack der Zeit, vor allem nicht dieser Gesellschaftsschicht und dieses Publikums entsprachen.

An Heinzfurths kräftiger, zur Dicke neigender Figur war weniger zu begutachten, um so öfter kehrten alle Blicke zu dem einzigen besonderen Merkmal seiner Erscheinung zurück, einem Merkmal, das nicht jedem augenblicklich auffallen mußte, das aber jetzt, da er sich allen Augen präsentierte, deutlich hervorstach: so stark er nämlich auch gebaut war, sein Rock war doch auf Taille gearbeitet, lag in den Hüften sehr eng an, und so trat denn – und dies eben war es – in gewaltiger Rundung sein Hinterteil in den Raum. Ihm galt jetzt so manche Bemerkung. Wie immer die Mode lief, er wollte das Sakko nur so und niemals anders zugeschnitten haben. Wenn er bei der Anprobe oder bei der Toilette vor dem Spiegel stand und sich und sein ganzes Aussehen studierte, dann prüfte immer sein aufmerksamer Blick, ob der Einschnitt scharf genug sei. Er schien sich eben so am besten zu gefallen, er liebte an sich diese Plastik, diese solide männliche Wölbung, er wollte es nicht anders, ja man kann es nicht anders sagen: er war stolz auf sein pompöses Hinterteil.

Von Zeit zu Zeit die Tanzfiguren wechselnd, schoben sie sich jetzt, zwar weit ausholend und die Füße unmäßig hebend, doch mit zeremoniöser Langsamkeit, mit getragenen, ernst-innigen Bewegungen vorwärts und beschrieben nur hie und da behutsam einen gefühlvollen Kreis, während er sie eng an sich gedrückt hielt. Ihre Oberkörper waren wie aneinander geklebt und ihre Beine ineinander verflochten; an seine Brust gepreßt, wurde ihr Busen flacher, wurde gehoben und drängte sich hinauf in den Ausschnitt des Kleides. Nun aber lockerte sich sein Griff, seine linke Hand ließ ihre rechte fahren, so daß ihre Gestalten, nur durch den Arm verbunden, der ihre Hüfte umfaßt hielt, sich voneinander lösten, auseinander kamen und fast nur im rechten Winkel zueinander standen. Sie begannen, sich schneller zu drehen, und drehten sich, während die beiden freien Arme gleichsam jubelnd durch den Raum flatterten, in immer kleineren Kreisen, immer wirbelnder, immer jagender, bis es ihr schwindelte und er sie nun wiederum mit energischem Ruck an sich riß und jetzt beide, tapfer zu einer anderen Form übergehend, in großem feierlichem Marsch, die Körper heftig und taktmäßig hebend und senkend, die Schuhe hart auf das Parkett schlagend, in der Diagonale quer durch den Saal schritten.

Stumm, doch mit bösem Gesicht, mit grimmigen Blicken verfolgte Gisela diese Vorgänge. Sie schien sich für ihre Freundin zu schämen.

Blanche ging die Luft aus, ihre Nüstern weiteten sich, sie begann zu keuchen und zu schwitzen. Heinzfurths Gesicht glänzte, es war wie eingeölt, das Schwarz, das Rot, das Weiß seines Kopfes strahlten sich aus. Sich ganz, wie er es fühlen mochte, dem Sturm seines eigenwilligen Temperaments überlassend, sah er mit siegesbewußtem Stolz rings um sich auf die Menge der Fremden, die alle ihm zusahen, dann, mit dem Versuch, seine Blicke in ihre zu versenken, auf Blanche, dann aber wieder, süßeren Passagen des Tanzes hingegeben, traumversunken auf seine Fußspitzen, die sich zärtlich und lyrisch bogen und wanden. Kein Zweifel, er war zufrieden mit dem Augenblick, mit dieser Nacht, mit dieser Tänzerin und mit sich selbst. Er wußte die Welt zu nehmen, vor allem die Frauen, und war ein Künstler im Genießen – dies alles sagte oft er selbst. Viele großartige, fröhliche Jahre lagen hinter ihm, viele noch vor ihm. Er schwamm munter im trüben Gewässer des Daseins, doch er selbst schien zu glauben, daß er eine Forelle im Gebirgsbach sei.

Sie flogen immer weiter dahin, als hätten sie nun den Ehrgeiz, einen Rekord aufzustellen. Mit ihnen bewegte sich nur noch ein einziges Paar, zwei kleine Mädchen, doch sie mochten sich neben dieser losgelösten Wildheit als zwei armselig hopsende Flöhe fühlen, zogen sich zurück und überließen den beiden allein den ganzen Tanzraum. Von allen Seiten, von allen Tischen sah man auf sie hin, durchaus nicht mit freundlichen Blicken. Der Pianist hieb nur noch mit zurückgebogenem Kopf auf seine Tasten. Sie hatten schneller getanzt, als er gespielt hatte, jetzt holte er sie ein, überholte sie, jagte sie, und sie ließen sich gern jagen. Ohne Übergang sprang er von einem Rhythmus, von einem Tempo, von einem Tanz zum andern, vom Shimmy zum Walzer, zum Foxtrott, zur Rumba, dann wieder, wie im Spaß, zum Ländler und zur Gavotte, wobei sie die ihnen unbekannten Tänze mit kühnen oder scherzhaften Phantasiefiguren ausfüllten. Sie waren wie Marionetten an den Fäden der Musik; einmal waren sie wie von einer Peitsche getrieben, dann wieder wie von einem Blütenzweig zärtlich gelenkt und bewunderten dieses Spiel. Sie schritten, marschierten, wiegten sich, wanden sich, schwangen sich, schleiften, schoben sich aneinandergeschmiegt, hüpften mit Gliedern, die wie im Schüttelfrost schlotterten, oder bewegten, mit steifen Armen ihre Körper voneinander haltend, in sanften Drehungen ihre Füße, die Köpfe hinuntergebeugt, ihre eigenen delikaten Schritte auskostend, die Evolutionen ihrer Beine schwelgerisch genießend. Der Pianist begann, eine Polka zu hacken, sie versuchten, zu springen, doch es wollte ihnen nicht recht gelingen, und so gaben sie es wieder auf. Hie und dort lachte man über dieses mißlungene Experiment. Sie nahmen es heiterer, als es gemeint war, und wie in freundlichem Einverständnis lachten sie mit.

Müller-Erfurt sah verbissen vor sich hin, als ob er sich blamiert oder hintergangen fühlte, und blickte nur hie und da mit einem verlegen-ironischen Lächeln auf das Paar. Wie hätte sich Richelieu oder der Marquis de la Robe in diesem Augenblick und an seiner Stelle verhalten?

Der Hauch des Pianissimo lag über dem Saal, wie im Falsett sangen die beiden Körper ihre Lieder.

Die Eingangstür öffnete sich, und mit großem Schwung in den Türrahmen tretend, erschien Stadel. Zu seiner ganzen Größe emporgereckt, den Hut in weitem Bogen schwingend, gewohnt, mit großem Hallo begrüßt zu werden, blieb er dort stehen, die ganze Gestalt, die ganze Haltung ein einziger Ruf: Hier bin ich!, doch er spürte die Stille, blickte sich um und sah, was vorging. Mit breitem Grinsen schaute er zu, dann bahnte er sich zwischen den Tischen den Weg zu seinen Freunden, indem er auf den Fußspitzen schlich, sich mit übertriebenen Bewegungen duckte und einen Finger vor den Mund legte, als ob er sagen wollte: Ich verstehe, ich verstehe! Ich will nicht stören!

Der Pianist machte sein Instrument zur Geige, zur Flöte, zur Harfe und ließ es singen, dudeln und zirpen. Er wandte sein Gesicht gar nicht mehr dem Flügel zu und sah nur lachend, mit zusammengekniffenen Augen auf die Tanzenden, als ob nun auch er einen Rekord aufstellen und fragen wollte: Wer wird's länger aushalten?

Blanches Frisur war vom Sturm der Bewegungen längst zerstört worden, und einzelne Strähnen fielen über Stirn und Augen. Sie versuchte, sie zu verscheuchen, indem sie, die Unterlippe vorstreckend, die Luft nach oben ausblies, doch sie flatterten zwar auf, fielen aber gleich wieder zurück; so griff sie denn immer von neuem mit hastigem Griff nach den Haaren und warf sie über den Kopf. Hie und da wischte sie mit einem Taschentuch, das sie zusammengeknüllt in der Hand hielt, den Schweiß von ihrem Gesicht, und wer zusah, konnte geradezu fühlen, wie sich die Wäsche an ihre Haut kleben mochte. Ihre vollen Wangen hingen jetzt wie Backentaschen herab, die Nase war gebläht, die Augen verschwommen, und ihr Gesicht zerfiel bei ihrer Müdigkeit und Atemlosigkeit. Der runde, starke, wohlgeformte Busen hob und senkte sich, seine Ansätze, und mehr noch, wurden sichtbar und verschwanden wieder im Kleid, er preßte sich, flacher werdend, an Heinzfurths Figur, entfaltete, rundete sich wieder und war selbst wie ein Paar lebendiger, tanzender Tiere.

Von Zeit zu Zeit zuckte schon Giselas Arm, um sich zu heben, und ihre Lippen öffneten sich, als ob sie Blanche zurufen wollte, ein Ende zu machen, doch Stadel hatte seine Freude und seinen Spaß an diesem Schauspiel und hielt sie mit boshaftem Lachen zurück; aber ihre Blicke gingen immer wieder über Blanches derangierte Kleidung, unter der auch der Körper schon derangiert zu sein schien, und blieben schließlich auf ihrem sich zerstörenden Gesicht. Sie hütete sich, ringsherum auf die Fremden zu sehen, und unter der wachsenden Wut verbitterte sich ihr Gesicht.

Noch immer säuselte der Flügel, die beiden Körper mußten gehorchen, und mit all ihren Teilen und Gliedern säuselten sie träumerisch mit; doch endlich war's genug der Tyrannei, Heinzfurth setzte dem Tyrannen seine Individualität entgegen, mit einem lustigen Justament sprang er aus dieser winselnden Zärtlichkeit und brachte sich mit einem kühnen Schwung neben Blanche, legte seinen Arm um ihre Hüfte und hüpfte im Zweivierteltakt gegen die Musik.

Abgehetzt, hatten sie zwar meistens geschwiegen, hie und da aber doch einige Sätze gewechselt. »Hallo!« rief er jetzt, sie waren nämlich die ganze Zeit über bei diesem Scherz geblieben, der Heinzfurth sehr zu gefallen schien.

»Hallo! Ich rufe an!« – »Hallo! Hier Blanche Riedinger!« – »Wann darf ich kommen?« – »Wann Sie wollen!« – »Heute!« »Heute?« – »Jetzt!« – »Nein!«

Dies letzte Wort war lauter als die anderen lachend hervorgestoßen worden und überall vernehmbar gewesen. Wer es hörte, konnte erraten, worauf es sich, im allgemeinen, bezog. Keiner der Gäste aber zweifelte, daß diese Nacht ja doch in ihrem Atelier enden würde, am wenigsten zweifelte wohl Heinzfurth selbst, doch sowohl er als auch das ganze Publikum konnten sich täuschen, denn Blanche war lange schon von solch schnellen Entschlüssen abgekommen.

Nach einem vorwärts und im Kreis stürmenden Tanz verlangsamten sie ihre Schritte, diese wurden gemessener und bedächtiger, zarter und kürzer, sie kamen kaum mehr vorwärts, die Bewegung erstarb, die Hände, die einander hielten, ließen voneinander, sein Arm fiel von ihrer Hüfte, ihr Arm glitt von seiner Schulter – was sollte jetzt werden? Sie waren gar nicht mehr verbunden, aber es sollte der Höhepunkt ihrer Vorführungen, der Höhepunkt ihrer Gefühle und ihres Raffinements werden, die vier Arme nämlich erhoben sich wieder und streckten sich seitlich nach links und nach rechts, so daß sie parallel zueinander standen, und nun, dicht voreinander, Auge in Auge, einander beinahe berührend, ohne einander wirklich zu berühren, bewegten die beiden in weichen, krümmenden, lyrischen Windungen ihre kräftigen Beine, ihre starken Arme, ihre massiven Oberkörper. Aus einer Ecke des Saales kam ein Kichern, und Gisela wandte ihre Blicke von dem Paar.

Der Flügel gab ein hauchendes Pianissimo von sich und schien unter seiner eigenen schmelzenden Süße zerfließen zu wollen, doch plötzlich, ohne Übergang, ohne Warnung, sprang er, sich überstürzend, in kolossalen Lärm und in rasende Schnelligkeit um; Heinzfurth ließ sich nicht lumpen und riß Blanche an sich. Sie erschrak und rief ein Wort, das man nicht verstand, ein wenig rauh, ein wenig schrill, überraschend und fremdartig, und sie tobten im Galopp entlang den Wänden.

Die Blicke ringsherum versuchten gar nicht mehr zu verbergen, daß sie höhnisch sein sollten, das Lächeln nicht, daß es ironisch war. Wer in diesem Raum an die eigene Dämonie glaubte, wer seine eigene Verruchtheit liebte, der fühlte, daß durch dieses Paar alle Dämonie in Verruf geraten müsse, fühlte alle Verruchtheit in Mißkredit gebracht.

Endlich verlor Gisela die Geduld. »Blanche!« rief sie laut, »Blanche! Genug!«

Blanche konnte zwar aus diesem Ruf nicht die Wut heraushören, die in ihm war, aber immerhin drang er zu ihr, und atemlos, zerfallend, abgehetzt, wie sie war, nahm sie ihn zum Anlaß, ein Ende zu machen. Heinzfurth widerstrebte noch, es kam zu einem kleinen spaßigen Kampf, in dem er Gewalt anzuwenden, sie ihm Gewalt entgegenzusetzen drohte, schließlich aber mochte er fühlen, daß ihr Körper schon alle Kraft verloren hatte, er fügte sich, und mitten im Wirbel an ihrem Tisch einhaltend, gab er sie endlich frei, so daß sie sich mit lautem, aber heiserem Ah! auf ihren Stuhl niederfallen lassen konnte, während er sich zum Abschluß, als letzten Scherz, übertrieben tief vor ihr verbeugte, wozu der Klavierspieler mit weit zurückgelegtem Oberkörper und gestreckten, steifen Armen ein donnerndes Finale in die Tasten drosch.

Heinzfurth ging, seine Atemnot verbergend, so gut es ihm gelingen wollte, in siegesbewußter Fröhlichkeit, leuchtend an seinen Tisch zurück, während sich Gisela schon mit bösem Blick an Blanche wandte: »Nun, war es herrlich?« fragte sie mit wütender Ironie. »Bist du befriedigt?« Doch Blanche hörte nicht auf sie oder hörte sie überhaupt nicht, denn in ihren Ohren war noch das Dröhnen der Musik, vor ihren schwindelnden Blicken der sich drehende Saal, in ihrem ganzen erzitternden Körper die Schwäche. Den zurückgelegten Kopf auf den oberen Rand der Lehne gelegt, den Sitz des Stuhls nur knapp berührend, lag sie eher quer über ihm, als daß sie auf ihm gesessen hätte. Die Arme baumelten kraftlos abwärts, sie keuchte, blies die Backen auf und fauchte die Luft aus.

Gisela betrachtete diese häßliche Stellung. »Nun, bist du befriedigt?« wiederholte sie. »Noch einmal? Ja? Noch einmal?«

»Was denn, was denn?« brachte Blanche mühsam hervor, »laß mich doch!«

Sie hob den Blick und traf auf Müller-Erfurts verkniffen-beleidigtes Gesicht, doch dann auf Stadels breites, zweideutiges Lachen, das sie wohl nicht recht verstand, denn sie lächelte zurück.

Joachim hatte mit seinem ganzen Verhalten betont, daß es ihn gar nichts angehe, was ich dort, in der Mitte des Saals, abspielte, und war nur an Frau Leonhardt gewandt gewesen. Sie hielt, fast stumm, immer die gleiche Balance, ließ seine männliche, freundliche, fast schmeichlerisch an sie gewandte Stimme über sich hingehen und hob nur in manchen Momenten ihren etwas verlegenen, verschleierten Blick.

»Ich denke, wir gehen nach Hause!« sagte Gisela böse und bissig. »Es ist ohnedies langweilig und scheußlich hier! Kellner! Zahlen!« Und da es nun einmal ihre Art war, sofort und ohne Rücksicht durchzuführen, was sie wollte, und wenn es darauf ankam, ihrer Umgebung mit einer gewissen Tyrannei ihren Willen aufzuzwingen, drängte sie ungeduldig und grimmig zum Aufbruch. Niemand widersprach. Sie zahlte, wachte darüber, daß es auch die andern taten, ließ die Mäntel bringen, und bevor Blanche, die atemlos Keuchende, noch recht wußte, was um sie vorging, standen schon alle und waren bereit, zu gehen. »Los, los!« rief ihr Gisela zu, und ob sie nun wollte oder nicht, sie mußte sich das ihr schon hingehaltene Cape um die Schultern legen lassen.

Heinzfurth beobachtete dies alles von weitem und konnte sich's offenbar nicht recht deuten. Er vollführte große Gesten herüber, mit denen er fragen wollte, warum denn Blanche nicht noch bleibe, und ließ seinen abwärts gewandten Zeigefinger kreiselnde Bewegungen machen, um auf diese Art anzudeuten, daß sie doch noch miteinander tanzen müßten. Sie antwortete, indem sie achselzuckend auf Gisela als die Anstifterin dieses schnellen Aufbruchs hinwies. Es war ihm, wie man von seinem verdutzten und enttäuschten Gesicht ablesen konnte, nicht recht behaglich zumut, aber der gutmütige Engländer an seinem Tisch tröstete ihn, die Dame scheine ja, sagte er lachend, gehörige Angst vor ihm, vor Heinzfurth, zu haben. »Das sieht ja nach Flucht aus!« Und da wurde Heinzfurth wieder zufrieden, lächelte geschmeichelt und ließ mit diskreten, aber nicht undeutlichen Bemerkungen durchblicken, daß es bei dieser Flucht keineswegs sein Bewenden haben würde, er werde das fliehende Wild noch zu treffen wissen.

Auf der Straße trennte sich vor allem Joachim von den übrigen, da er Frau Leonhardt nach Hause zu bringen hatte. Während der Fahrt in seinem Wagen schwiegen sie. Die Strecke war nicht lang. Als sie vor dem Hotel anlangten, stürzte auch schon der Portier übereifrig an die Tür, um diesen distinguierten Gast nicht eine Sekunde länger als nötig auf der Straße warten zu lassen. »Ich hoffe«, sagte sie, sich verabschiedend, »daß ich Sie noch sehen werde, solange ich hier bin«, und damit geschah es im Lauf des Abends und der Nacht zum erstenmal, daß sie es war, die selbständig und auf eigene Faust ein Thema anschlug.

Sie sei ihm zuvorgekommen, antwortete er, er werde es sich nicht nehmen lassen, seinen offiziellen Besuch bei ihr zu machen; da sie ja bald wieder wegfahre, werde er es sogar sehr bald tun. »Wer weiß«, fügte er hinzu und sah in ihre Augen, über denen sich allerdings die Lider schnell wieder senkten. »Vielleicht erscheine ich schon morgen!« –

»Gut!« sagte sie. »Auf Wiedersehen!« und verschwand durch die Drehtür.

II

Vor dem Tanzlokal hatte inzwischen Gisela mit schroffen Befehlen das Kommando übernommen. »Schließ dein prächtiges Gewand!« fuhr sie gegen Blanche los. »Du bist ja noch erhitzt! – Ich fahre nach Hause«, wandte sie sich an Müller-Erfurt, »und nehme dich ein Stück mit!«

Das Barett in der Hand, die Haare zerflattert, das Cape ein wenig schief um die Schultern gelegt und mit noch schwer wogender Brust stand Blanche unsicher auf der Straße. »Aber ich will doch noch gar nicht schlafen gehen!« rief sie kläglich aus.

»Du kannst getrost schlafen gehen«, antwortete ihr Gisela.

Stadel stand grinsend dabei und musterte Blanche mit lüsterner Neugierde. Schon mochte ihm der Gedanke durch den Kopf geschossen sein, daß man vielleicht Profit aus ihrem aufgelockerten Gemütszustand, aus dieser wilden Laune ziehen könnte. »Aber laß Blanche doch tun, was sie will!« rief er Gisela zu. Er breitete die Arme aus und deklamierte: »Schmal ist die Gasse des Glücks, breit ist die Straße des Leids!«

»Allerdings!« gab ihm Gisela zurück. »Allerdings! Und dein Geschrei ist ein Teil dieses schrecklichen Leids!«

Man schwieg und hütete sich, Gisela zu reizen. Sogar Stadel unterdrückte eine Antwort, denn man kannte sie und wußte, daß sie fähig gewesen wäre, hier auf offener Straße einen so wilden Skandal zu schlagen, daß alle Gäste des Tanzlokals herausgestürzt und alle Polizeipatrouillen des Bezirks im Laufschritt herangestürmt wären. Im übrigen könne Blanche selbstverständlich tun, was sie wolle, fügte Gisela hinzu, während sie aber dies noch sagte, trat sie auch schon auf einen der hier wartenden Wagen zu und öffnete für Blanche mit einer Geste den Schlag, die weniger eine Höflichkeit oder Einladung als einen Befehl darstellte. »Hopp, hopp!« sagte sie, und ehe Blanche noch recht wußte, was mit ihr geschah, fuhr sie schon davon, nachdem sie, unter dem Einfluß von Giselas Energie, fast nur mechanisch ihre Adresse angegeben hatte.

»Komm!« rief Gisela Müller-Erfurt zu, stieg in ein zweites Auto, und er folgte ihr wie ein geprügeltes Hündchen.

Stadel blieb allein und sah den nach verschiedenen Richtungen abfahrenden Wagen nach, doch dann begann er zu schreien: »Blanche, Blanche!« und setzte sich in Trab, um ihr nachzulaufen, doch das Auto bog um eine Ecke, und er hatte keine Aussicht mehr, es einzuholen. Unentschlossen blieb er stehen. Einer der Chauffeure, die die Szene beobachtet hatten, bot ihm von weitem an, der Dame nachzufahren, doch er schüttelte den Kopf, ging weiter und in die Nebengasse, wo er in die Tasche griff, um sein Geld hervorzuholen und es zu zählen. Er setzte eine kurze Weile langsam, mit unzufriedener Grübelei, seinen Weg fort, dann blieb er von neuem stehen und schien einen Einfall zu haben: er schaute auf die Uhr, warf den Kopf zurück, lachte und kniff ein Auge zu. »Genial!« sagte er laut vor sich hin und ließ die Finger schnippen. Er änderte die Richtung und schlug den Weg zu Blanches Atelier ein. Nach einer halben Stunde mußte er dort sein. Sein Gedankengang ist leicht zu erraten: entweder ist sie nicht im Atelier, dann weiß auch kein Mensch, daß ich sie gesucht habe – oder aber, sie ist dort, dann habe ich wieder einmal auf geniale Weise die Situation erfaßt! Genial, genial! – Mit beschwingten Schritten eilte er durch die Nacht.

Wie sich Blanche beim Einsteigen hatte niederfallen lassen, so blieb sie, zu erschöpft, um sich überhaupt nur zu rühren: die linke Hand neben sich auf den Sitz gestützt, mit der rechten Hand, die zugleich die Mütze hielt, das Cape vorn zusammenraffend; sie saß nur halb und in schiefer Stellung auf der schmalen Polsterbank, das linke Bein eingezogen und das andere seitlich nach rechts ausgestreckt. Es war alles sehr schnell gegangen, und seitdem sie die übertriebene und mühsame Tanzerei beendet, waren erst wenige Minuten vergangen. Das Auto fuhr geradeaus, um eine Ecke, um eine andere und wieder geradeaus. Sie schaute, ohne sich zu bewegen, durchs Fenster auf die Straße, stieß hörbar die Luft aus, und wenn sie den Atem wieder einzog, blähten sich ihre Nasenflügel. Ihre Haare waren zerflattert, ihr Gesicht war von der unmäßigen Anstrengung noch gerötet, auf Stirn und Nase standen die Schweißtropfen. Die vorüberblitzenden Wagen, die gehenden Menschen, die Häuserfronten, alles glitt, wie das Licht der einzelnen Laternen mit dem Schatten zwischen ihnen abwechselte, in ununterbrochener, gleichbleibender Schnelligkeit in ihr Gesichtsfeld und entglitt ihm wieder. Sie hätte kaum sagen können, wie lange sie schon fuhr, plötzlich aber erschrak sie, schnellte vor, klopfte an die Scheibe und rief: »Halten Sie! Halten Sie!« Sie war in ihre heimatliche Gasse eingebogen, sah die ihr wohlbekannten Häuser und war schon im Vorhof des Zuhause. »Halten Sie!« rief sie ungeduldig, während der Chauffeur doch schon die Bremse trat, aber sie war in Angst, ja, wie in einer Panik, daß sie sich nun in ihr Zimmer sperren sollte, das ihr jetzt wie ein Gefängnis erscheinen mochte. »Wir fahren anderswohin«, sagte sie, als der Wagen stand, und überlegte einen Augenblick. »Ins Atelier!« rief sie.

»Wie heißt's?« fragte der Chauffeur, der offenbar meinte, daß ein anderes Lokal so heiße, und sie gab ihm die Adresse an. Sie atmete erleichtert auf, die Fesseln, die man ihr übergeworfen hatte, lösten sich, es wäre unerträglich gewesen, jetzt in der nächtlichen Wohnung der Eltern eingeschlossen und zwischen den Wänden wie eingeklemmt zu sein.

Blanche war zwar oft schon in der Nacht, doch selten zu so später Stunde hergekommen. Die Pforte war wie immer unverschlossen. Als sie ausgestiegen war und den Garten betreten hatte, kühlte der Wind ihre heiße Haut. Nachdem sie die Fahrten hin und her im Kasten des Wagens eingesperrt gewesen war, begrüßte sie mit einem lauten Ah! die Freiheit.

Um sie waren die leise bewegten Bäume und die nur vibrierenden Zweige der Hecken. Oben am Himmel war Sturm. Die Märzwinde jagten über das niedrige, zerrissene Gewölbe Wolken und Wölkchen in allen Höhen und Schichten, in allen Farben und Tönungen zwischen weißlichem Grau und finsterem Schwarz, in schnell sich verändernden, zerschmelzenden Formen und ineinanderfließenden Gestalten. Ohne Unterlaß wechselte der Mond seinen Anblick, trat mit seiner ganzen Gestalt in bläulicher Helligkeit hervor, schien zu fliegen, zu rollen, war hinter einer dunklen Wand verborgen, dann, wieder erscheinend, von einem Schleier bedeckt oder von einem vorüberfliegenden Fetzen zerschnitten. Hie und da erblinkte, wenn sich in diesem dunklen Treiben eine wolkenlose Insel bildete, weit hinten im tiefen Blau, wie an einem anderen, ferneren Himmel, ein einsamer Stern, unnahbar und unverrückbar.

Unten über der Erde war nur ein leises Rauschen. Wenn Blanche sich nicht auf den wenigen Wegen so ausgekannt hätte wie zu Hause in ihrem Zimmer zwischen Tisch und Schrank und wenn sie hier nicht auch an die Dunkelheit gewöhnt gewesen wäre, hätte sie vor den bedrohlichen Figuren der Bäume, den Geräuschen des Windes und dem nächtlichen Antlitz des Gartens Angst haben können, aber sie sah gar nicht um sich, ging furchtlos weiter, eilig und schnell, als hätte sich ihr Körper noch nicht der Schnelligkeit und Heftigkeit entwöhnt. Sie sang vor sich hin, ging zum Spaß im Zickzack und hüpfte übermütig über Steine und Erdwölbungen auf ihrem Weg. Nur einmal blieb sie stehen, von einem schmalen, dünnen Schatten überrascht, der sich ihr mitten in den Weg legte, gerade auf jene Stelle, auf die zu treten sie eben im Begriff war. Der Fetzen einer Wolke, der den Mond verhüllt hatte, war verflogen, und die freigewordenen Strahlen hatten ihr nun plötzlich mit dem volleren Licht auch diesen Schatten vor die Füße geworfen. Sie sah auf ihn nieder, suchte und spähte, woher er kam, und fand an einem Strauch den vorstehenden Zweig, der ihn bildete. Als sie nach dem schlanken Ast griff und ihn durch die Finger gleiten ließ, fühlte sie auch eine kleine Ausbuchtung an ihm, ein Knöpfchen, die winzige Knospe eines jungen Blattes. Sie stand noch einen Augenblick, den Blick zu Boden gesenkt. Ein Windhauch kam, und leise wiegte sich der Schatten. Schließlich raffte sie sich auf und ging trällernd weiter.

Da das Haus vor ihr war, hielt sie ein. Es bot ein überraschendes Bild, da es vom Dach bis zur Erde schräg in zwei Hälften geschnitten war, deren eine in den Strahlen des Mondes, deren andere im Finstern lag. Doch das Dunkel wich mit der weichenden Wolke, und das kleine Gebäude stand schließlich weiß und leuchtend vor ihr. Als es soweit war, ging sie entschlossen vorwärts, holte unter der Matte den Schlüssel hervor und sperrte auf.

Die Birne im Vorraum, zu groß für seine Maße, flammte auf, Blanche kniff vor dem grellen Schein die Augen zu, eilte ins Biedermeierzimmer, machte Licht, ging ins andre, das kleinere Zimmer und drehte auch hier den Schalter an.

Endlich konnte sie sich ausruhen, und ohne erst, wie es sonst ihre Gewohnheit war, wenn sie hierher zurückkam, durchs Haus zu streichen, um nach der Ordnung zu sehen, ging sie geradewegs auf den Sekretär zu und ließ sich mit einem lauten, noch immer heiseren Ah!, in dem die Müdigkeit, doch auch noch der Übermut war, in den bequemen Schreibtischsessel fallen. Ihre Haut war noch feucht, auf der Stirn stand der letzte Schweißtropfen. Mit schief umgehängtem und offenstehendem Cape, im verdrückten Kleid und mit zerworfenen Haaren saß sie dort und sah vor sich hin. Ihre Blicke waren unbeweglich auf die Tischplatte geheftet, während die Finger auf dem Holz einen lustigen Rhythmus trommelten. Doch der Rhythmus verlangsamte sich, die Finger trommelten leiser, wurden still, und schon hob Blanche wie mit mechanischer Bewegung, wie aus Gewohnheit den Arm, zog ein Fach hervor, entnahm ihm einen Briefbogen, breitete ihn vor sich aus, langte nach der Feder im Behälter und legte sie neben das Papier. Tat sie dies alles nur aus alter Übung? Ahnte oder wußte sie, daß sie die Schreibutensilien noch im Laufe der Nacht würde benützen wollen? Oder wollte sie am Ende jetzt schon schreiben, den Mantel noch um die Schultern, mit kaum beruhigtem Atem, mit noch schneller gehendem Herzen? Hatte sie das Bedürfnis, auch noch mit Worten in Raserei zu verfallen, die Bacchantin?

Die Zeit verging. Blanches Blicke erstarrten, längst ruhten die Finger, ein sanfterer Flügelschlag der Stille rauschte durch den Raum. Blanche rührte sich zum zweitenmal, und wirklich, sie hob abermals den Arm, griff nach der Feder, schraubte sie auf und schrieb: ›Daß ich Worte hätte! mein Freund, daß ich Worte hätte! Daß ich singen könnte, nach all dem! Eben habe ich das Sanfteste, das Zarteste gesehen, das Gott geschaffen haben kann. Als ich jetzt herging, von der Pforte zum Haus, hat der Mond geschienen, und ein länglicher Schatten lag vor mir, wie ein Stab, es war ein Knopf an ihm, fast nur ein Pünktchen. Ich habe ihn betrachtet und gesucht, woher er kam, und weißt Du, was es war? Es war der Schatten von einem Zweig, aber an ihm der Schatten einer winzigen, jungen, einen Tag alten Knospe! Kaum mit der Hand zu fühlen! Denk nur, dieses Kind von einer Knospe! Heute erst hervorgebrochen und wirft schon einen Schatten! Kann es etwas Lieblicheres geben als den Schatten, den das sanfte blaue Mondlicht von einem eben hervorbrechenden Blättchen wirft? Wenn Du wüßtest, wie sanft ich heute bin! Ein Windhauch kam, und der Zweig wiegte die Knospe wie sein Kind. Noch nie habe ich so die Zartheit der Nacht gefühlt, die Zartheit, die Güte die Freundlichkeit der Welt! Ach, mein Freund, wenn Du hier wärest! Ich war schon fast zu Hause, und dann bin ich umgekehrt, um herzufahren, ich hätte ja doch noch nicht schlafen können, aber jetzt weiß ich, daß ich nur hergekommen bin um Deinetwillen, um Dir zu schreiben! Alles andere ist ja nichts! Wenn Du hier wärst, wenn Du hier wärst, ach, wenn Du hier wärst!‹

In diesem Augenblick wurde von außen ans Fenster des Nebenzimmers geklopft.

Blanche hob den Kopf und lauschte für einen Moment hinaus, mit angehaltenem Atem, mit leise sich öffnendem Mund und größer werdenden, träumenden Augen, als sänge ihr die Welt ein schönes Lied. Für die Ewigkeit einer zeitlosen Sekunde horchte sie ins Freie, und dann erst erschrak sie.

Sie sprang auf. Da ihr der Atem aussetzte, verkümmerte ihr ein Schrei zu einem heiseren Aufstöhnen, einem leise krächzenden Laut. Sie schluckte, kämpfte vergebens gegen die eigene Lähmung und blieb gebannt. Draußen in der Nacht war ein Tappen und Tasten, das Knirschen des Sandes unter menschlichen Füßen zu hören. »Um Gottes willen!« hauchte sie, und ihre Hände flatterten über den Tisch, als ob sie eine Waffe suchten, doch ehe sie etwas gefunden hatte, das sie hätte ergreifen können, lief sie, um zu entfliehen, zur Tür, die ins Nebenzimmer führte, von wo sie doch wenigstens hätte ins Haus kommen können, aber sie hatte erst zwei Schritte getan, und es klopfte zum zweitenmal. Dieser in der nächtlichen Stille ertönende, stärker, dringlicher gewordene Klang nahm ihr alle Kraft. Sie lief nicht weiter, stand ratlos in fliegender Angst, dann aber rannte sie zurück, drückte sich in eine Ecke, als könnte sie dort Schutz finden, und als dränge das Ungeheuer schon auf sie ein, streckte sie die Hände mit gekrümmten Fingern von sich, bereit, zu beißen, zu kratzen und ihre Nägel ins Gesicht des Feindes zu krallen; doch da erscholl auch schon eine Stimme: »Hallo, Blanche!«

Noch rührte sie sich nicht, nur ein hauchender Seufzer der Befreiung, und ihre Arme sanken langsam abwärts.

»Hallo! Blanche! Hallo!« hörte sie wieder, und sie erkannte, daß es Stadels Stimme war. Sie zögerte, machte einige Schritte dahin und dorthin, versteckte den begonnenen Brief in einer Lade und warf den Mantel ab; dann strich sie über ihr Kleid und eilte, erleichtert aufatmend, ins andere Zimmer, zum Fenster, und öffnete es. Stadel stand draußen im Schein des Lichts, das aus der Wohnung in die Finsternis drang. »Hallo! Hallo!« rief er. »Endlich! Ich wollte schon weggehen! Was sagen Sie dazu, daß ich hier bin?«

»Stadel –? Sie sind's –?« fragte sie, während sie für ihre erstickte Stimme noch mühsam Atem holen mußte.

»Natürlich! Wer denn sonst?« Ob sie vielleicht jemand anderen erwartete, fragte er übermütig.

»Nein«, antwortete sie. »Was gibt's denn? Ich bin sehr erschrocken!«

»Oh!« machte er, mit übertrieben langgezogenem Ton, ein Bedauern imitierend, doch er hielt sich nicht lange dabei auf und fuhr lärmend los: was sie dazu sage, daß er erraten habe, wo sie sei; ob das nicht genial sei, fragte er; dabei habe er doch gehört, daß sie dem Chauffeur die andere Adresse angegeben habe. Er habe eben gewußt, daß sie hier sein würde, ob das nicht großartig, ob es nicht genial sei. Sie mußte noch jedes Wort gegen ihre eigene Schwäche erkämpfen und sprach stockend und leise: »Ja, aber was gibt's denn?« Er lachte auf: was es gäbe? Er hoffe, daß es eine Tasse Kaffee oder ein Glas Kognak geben würde.

»Jetzt –? Sie sind aber doch –!«

»Was denn, was denn?« schrie er. »Ist das der Dank dafür, daß ich Ihnen nachlaufe, daß ich errate, wo Sie sind? Ist das der Dank dafür«, und er ironisierte mit seinem Tonfall das Pathos seiner Worte, »daß mein Herz ahnt, wo Sie weilen?«

In Wirklichkeit noch in den Armen des Schreckens, zwang sie sich dennoch zu lachen. Sie hatte weder die Besinnung noch nahm sie sich die Zeit zu überlegen, was zu tun sei. »Warten Sie!« sagte sie. »Warten Sie! Ich sperre auf!«

Vom Stolz auf sein Ahnungsvermögen in die beste Laune versetzt, betrat Stadel lachend und lärmend den Vorraum. »Was sagen Sie dazu? Was sagen Sie dazu?« rief er immer wieder, und ehe sie noch begriffen hatte, was vorging, schloß er sie schon in seine Arme. Sie entzog sich ihm, doch schien sie die Situation, den Sinn seines nächtlichen Besuches noch nicht zu erfassen.

»Sie wollen Kaffee trinken? Gut! Sofort! In drei Minuten!« rief sie lustiger. Wahrscheinlich versuchte sie so, die Angst, die noch in ihr nachzittern mochte, zu verbergen. Sie sprang zum Verschlag, der unter der hinaufführenden Treppe eingebaut war und in dem ihre Speisevorräte, die Kochgefäße, die mannigfachen Geräte und Apparate aufgestapelt waren.

Stadel folgte ihr mit tastenden und tätschelnden Händen, doch schien sie es nur so weit zu spüren oder zur Kenntnis zu nehmen, als sie es in ihrer Tätigkeit störte. Sie schickte ihn weg, ja, sie wurde ärgerlich, und schließlich ließ er sich dazu bringen, vorläufig allein in die Zimmer zu gehen. »Gut! Bitte sehr!« sagte er, während er hineinging. »Ich kann warten!«, und ließ es dahingestellt, was es sei, worauf er warten könne.

Blanche, die nun von ihm befreit war, stand auf der Schwelle zur Kammer, die mit Regalen fast ausgefüllt und zu klein war, als daß auch noch ein Mensch sich hätte in ihr bewegen können. Obwohl hier alles so ineinandergefügt und ineinandergeschachtelt war, daß zwischen den Brettern kaum so viel Luft sein konnte, wie ein Fingerhut faßt, holte Blanche doch aus dem scheinbar unübersichtlichen Gewirr und Gedränge blindlings alles hervor, was sie brauchte.

Schon stand der Kocher auf dem Tisch, das Wasser war abgemessen, der Kessel auf dem Kocher, der Zucker eingeschüttet, schon brannte der Spiritus, und das Wasser wärmte sich, während die Mühle sich drehte und die Bohnen zerrieb. Als der Kaffee bereitet war, hob Blanche die Kannen und Dosen, die Tassen und Teller vom Tablett, brachte sie auf dem Tisch in die gehörige Position, entzündete die Kerze im Kaffeewärmer, richtete alles nochmals aus und setzte sich schließlich aufs Sofa, indem sie mit einer Handbewegung Stadel einlud, sich auf dem Sessel an der Querseite des Tisches neben ihr niederzulassen.

Als Blanche den Deckel abgehoben hatte, verbreitete der aus dem Kessel aufwallende Dampf seinen angenehmen, kräftigen Duft, und als sie eingegossen, beugte sich auch schon Stadel, ohne die Tasse zu ergreifen, tief über den Tisch und schlürfte, wegen der Hitze des Getränks nur vorsichtig und langsam, doch mit einem um so längeren, ziehenden Schluck den Kaffee in sich ein.

»Nun?« fragte Blanche, kaum daß er angesetzt hatte, voll Ehrgeiz.

»Ausgezeichnet! ausgezeichnet!« sagte er, indem er sich behaglich zurücklehnte und die Füße von sich streckte. »Ausgezeichnet!«, doch dann begann er mit neuem Tonfall das neue Gespräch: »Sagen Sie«, fragte er, »warum sind Sie eigentlich nicht dort geblieben?«

»Wo?«

»Dort! Im La Princesse! Bei diesem Herrn mit dem dicken Hintern! Ist dieses Hinterteil sehr reizvoll? Nun ja, der Geschmack eines Menschen ist der undefinierbarste und geheimste Teil seiner Individualität! Und gar in diesen Dingen! Mir hat einmal eine Frau gesagt, sie liebe an mir, daß ich so ungepflegt und dreckig bin! Dabei ist es gar nicht wahr, daß ich es bin! Aber das Interessanteste, wissen Sie, was es für eine Art von Frau war?«

»Nein, und ich will es auch gar nicht wissen!«

»Ein kleines, süßes, zartes Geschöpf! Eine etwas müde und dekadente Aristokratin, sie wusch sich vom Morgen bis zum Abend, eine Reinlichkeitsfanatikerin, denken Sie, und dann versetzt sie der Dreck in einen besinnungslosen Rausch! Was soll man dazu sagen! Dabei, ich schwöre es Ihnen, bin ich gar nicht dreckig! Sie brauchen sich nicht zu fürchten! Die kleine süße Person hat mich nur idealisiert!«

Blanche tastete den Kessel ab, um zu fühlen, wie heiß er noch sei. »Trinken Sie den Kaffee, bevor er auskühlt!«

»Aber ja, aber ja! Vergessen Sie endlich den verfluchten Kaffee! Er ist ja noch heiß!« und er trank mit wenigen hastigen Zügen aus. Dann stand er auf, ging einmal auf und ab durch die Länge des Zimmers; zum Tisch zurückgekehrt aber setzte er sich, indem er sein ganzes Gewicht niederfallen ließ, energisch und voll Sicherheit aufs Sofa neben sie, wie ein Mensch, der entschlossen ist, die Angelegenheit, um die es sich nun einmal handelt, in Angriff zu nehmen.

Blanche hob den Kessel vom Gestell, um nochmals nachzugießen, und eben da er, von ihrer Hand am Holzstiel hochgehalten, über der alten Spitzendecke schwebte, legte Stadel den Arm um ihren Nacken und versuchte, sie zu sich zu ziehen. Mit einem erschreckten Aufschrei lachte Blanche auf und war vor allem darauf bedacht, das Töpfchen wieder abzustellen, um zu verhindern, daß der Kaffee verspritze. Stadel aber achtete weder dieser Absicht noch ihrer Gegenwehr und verdoppelte seine Bemühungen, die beiden Köpfe und Münder einander zu nähern. Sie beeilte sich um so mehr, den Kaffee in Sicherheit zu bringen und auch die andere Hand freizubekommen, um sich verteidigen zu können; kaum aber war es ihr gelungen, nahm er auch schon seinen andern Arm zu Hilfe. Sie drückte ihre Fäuste gegen seine Brust, er tat aber alles, dies Hemmnis ihrer gestreckten Arme aus dem Weg zu schaffen. Mit rotem Kopf und die Zähne zusammenbeißend, verwendete sie mehr Kraft, und auch er verstärkte seine Gewalt.

Ohne alle Einleitung und Vorbereitung hatte der Kampf überraschend und mit Heftigkeit eingesetzt. Nun stieg er schnell an und steigerte sich. Nach ihr tastend und greifend, versuchte Stadel, sich Lust zu verschaffen und ihre Lust anzuregen, und so entwickelte sich, mit schnelleren, abgehackten Bewegungen, ein wilderes Tempo, ein gewalttätiger Rhythmus. Hie und da stieß sie atemlos ein Wort oder eine Silbe hervor, er aber blieb bei seinen Absichten, denn er hatte nun einmal das Gefühl, zu seinem Vergnügen hergekommen zu sein, die trotzige Absicht, es zu verwirklichen, und offenbar die Überzeugung, daß ihr Widerstand nur einen Rest von Konvention, nur Spiel und ein Vorspiel darstelle. Er stieß und streckte seinen Kopf vor, um ihr Gesicht, ihren Körper zu erreichen, er ließ nicht ab, sein eigener Körper wurde dringlicher, versuchte, sich an den ihren heranzudrängen, und seine Hände waren bemüht, sie zu verführen. Das Achselband ihres Kleides war von der Schulter auf ihren Arm geglitten, dies schien ihn anzuspornen, er haschte nach dem Band der Wäsche, um auch dieses herunterzureißen, und haschte zugleich mit seinen Lippen nach jenen Stellen, die sich entblößt hatten. Es war ihm gelungen, sich sehr nahe an sie heranzubringen, die vier Arme waren ineinanderverflochten, die Anordnung der Gliedmaßen unübersichtlich, es war ein Getümmel, und in der Stille des Raums waren nur die gedämpften Laute des Ringkampfs vernehmbar, der Atem der beiden, das Rascheln des Kleides, das Knacken des Sofas und das Knarren des Parketts.

Draußen war der Sturm für Augenblicke vom Himmel zur Erde niedergebraust, ließ die Bäume in gewaltigem Pathos rauschen, strich singend entlang der Mauer und stieß rüttelnd gegen die Fenster; im Zimmer aber ging's weiter, mit Biegungen, Windungen, Drehungen aller Glieder, mit Sich-nähern und Sich-entfernen, mit Gewalt, mit Listen und Kniffen, mit Keuchen, Fauchen und wütenden Lauten – unversehens aber stieß einer der vier Füße gegen das Bein des Tisches, so daß dieser erzitterte und alles in Bewegung kam, der Kessel auf seinem Gestell ins Schwanken geriet, das Tablett klapperte, der silberne Korken ins Kullern kam und gegen die Vase anschlug, Glas und Flasche, dicht beieinander, miteinander klingelten und die Löffel auf den Untertassen schepperten; alles wackelte, bebte, klimperte und trillerte. Die Scharniere des offenen Zigarettenkastens quietschten und zwitscherten, sein Deckel neigte sich, wie in Unentschlossenheit, vor und zurück, schließlich aber fiel er doch, erschreckend und wuchtig, mit hartem Knall nieder. Mit diesem kleinen, zarten Konzert und seinem schlagenden Finale meldete sich die Außenwelt und drang irritierend auf das Schlachtfeld. Wäre es Stadel wahrscheinlich auch ganz gleichgültig gewesen, wenn der ganze Tisch umgefallen, alles in Scherben zersplittert, ja, das ganze Haus eingestürzt wäre, so mochte er doch für einen Augenblick in seinen konzentrierten Bemühungen aufgestört worden sein, Blanche aber setzte zu einer letzten, verbissenen Abwehr ein, stemmte und preßte die Hände gegen seine Brust, streckte und steifte die Arme, so daß sie ihn von sich abhielt; und nun mußte er spüren, daß ihre Verteidigung weder Spiel noch Vorspiel darstellte, zwar versuchte er weiter und nochmals, sie zu erreichen, sie aber verkrampfte sich in ihrer Haltung, er machte noch einige hilflose Bewegungen, dann gab er es auf, und das Durcheinander der keuchenden Körper hatte sich gelöst, es waren wieder zwei voneinander getrennte Leiber, und die kurze, in ihrer Gewöhnlichkeit unpersönliche und triviale, aber intensive Szene war abgeschlossen. Vor drei Minuten erst war Blanche, mit dem Tablett auf den Händen, in der Tür erschienen, der Kampf mochte nicht länger als eine Minute gedauert haben, zwei Minuten aber, nachdem er geendet hatte, saß Stadel wieder an der Querseite des Tisches, vor sich die frisch gefüllte Tasse.

»Wissen Sie, Blanche«, sagte er, sich breit zurücklehnend, »daß ich Ihnen eigentlich gar nicht böse bin?«

Blanche hatte die kurze Zeit dazu benützt, die Haare zurückzustreichen, ihr Kleid zu glätten und die erloschene Kerze im Kaffeewärmer wieder anzuzünden. Es war noch nicht gesprochen worden, da beide hatten Atem schöpfen müssen. Im übrigen wäre es Blanche wohl am liebsten gewesen, über den häßlichen Vorgang mit Stillschweigen hinwegzugehen; es entsprach aber nicht Stadels Art, einer Sache durch Schweigen wenigstens den Scheintod zu geben. »Ja, wirklich!« fuhr er fort. »Ich bin Ihnen nicht böse! Und wissen Sie, warum? Weil ich Sie ganz genau und bis in die letzte Faser kenne und verstehe! Ah, Sie träumen von der großen Liebe, ich weiß es, leugnen Sie es nicht! Bitte sehr, ich begreife es, ich respektiere es! Und weil Sie so sind, deshalb sind Sie allen gelegentlichen, schnell arrangierten Vergnügungen abgeneigt, mögen sie«, und er tippte auf seine Brust, um auf sich selbst zu deuten, »mögen sie auch noch so reizvoll sein! Sie sehen, ich verstehe Sie! Ah, ich kenne Sie, ich kenne Sie!«

Durch Blanches Züge flackerte Spott. Vielleicht hatte sie Lust, ihn zu fragen, warum er denn nicht im voraus aus der profunden Kenntnis ihrer Person die Konsequenzen gezogen habe.

»Sagen Sie nichts!« sprach er weiter. »Sie müssen nichts erklären! Sie müssen sich nicht entschuldigen! Ich weiß es selbst zu gut, daß Ihr Widerstand nicht meiner Person gilt, sondern nur, ganz allgemein, als Ausdruck Ihres Wesens zu nehmen ist! Sehen Sie«, und er erhob sich mit einem Ruck, um die Hände in den Hosentaschen, den Kopf gesenkt, mit langen Schritten auf und ab zu gehen. Schon verfiel er ins Reden. »Sehen Sie, es ist ein Jammer, daß Sie mir heute abend nicht recht zugehört haben! Leugnen Sie es nicht! Ich habe es bemerkt! Sie hätten manches lernen können! Meine Überzeugungen hätten Sie gefreut, ich habe nämlich Propaganda für die große Liebe gemacht! Sind Sie erstaunt darüber? Wenn Sie es sind, so nur deshalb, weil Sie mir nicht zugehört haben! Gott mag es wissen, warum es Ihnen nicht wichtig genug war, mir zuzuhören! Ich kann Ihnen jetzt nicht alles wiederholen, was ich am Abend gesagt habe, aber jedes Falles glaube auch ich an die große Liebe, ja ich glaube an die Idee der Liebe als an die größte aller Ideen!«

Da Blanche nun einmal eine Frau war, mochte es ihr durchaus gleichgültig sein, ob jemand an die Liebe wie an ein fernes, jenseitiges Ding glaubt, ja, es war ihr wahrscheinlich gar nicht recht begreiflich, was es zu bedeuten hat, an die Liebe als an eine Idee zu glauben. Sie hatte die Arme seitlich ausgestreckt, die Hände rechts und links neben sich aufs Sofa gelegt und den Kopf so weit zurückgebeugt, daß er über der Lehne die Wand berührte. Sie schaute zu, wie er, weit ausschreitend, in seinen eigenen, eben beginnenden Vortrag versunken war.

Er wanderte weiter vom Fenster zur Tür, von der Tür zum Fenster und sprach: »Sehen Sie, es ist doch so: wir Männer haben immer schon den Harem bevorzugt, eventuell mit einer Hauptfrau. Sie aber wehren sich dagegen, sind sich selbst zu gut dazu, nur eine Amüsiermaschine zu sein, ein Triebableitungsapparat für sich und den Partner, eine hygienische Einrichtung für den Mann und für sich selbst. Bravo, bravo, mein Kind, ich stehe Ihnen bei, ich stehe Ihnen zur Seite! Ich nehme gegen mich selbst und für Sie Partei, und sehen Sie, diese unbestechliche Gerechtigkeit, die mit meiner ideellen Denkungsweise zusammenhängt, ist das Großartige! Ich bin ein Schwein! – und weiß es! Ihre Freundin Gisela hat mir allerdings einmal gesagt: du glaubst, weil dir bewußt ist, ein Schwein zu sein, daß du deshalb schon ein Edelschwein bist, nein, hat sie gesagt, du bist ein Doppelschwein! – Ausgezeichnet!«

Er blieb stehen und lachte laut auf, indem er den Kopf zurückwarf, doch ohne auf Blanche zu sehen, und er lachte in die Luft. Dann nahm er seinen Weg hin und her wieder auf, vertiefte sich immer mehr in seine Reden, sah überhaupt nicht mehr auf und sprach mit gewaltigen Gestikulationen immer schneller vor sich hin und war wie eine Maschine, die in immer rascheren Schwung kommt. »Ausgezeichnet! ausgezeichnet! Nun ist es aber eine schwere Frage: wird der Mensch, der einsieht, daß er ein Lump ist, durch diese Einsicht besser? Oder wird er, weil er trotz dieser Einsicht einer bleibt, schlechter? Eine Frage, die nur von Fall zu Fall und individuell zu beantworten ist! Aber darüber wollte ich gar nicht sprechen, sondern –: hören Sie zu! Die Liebe! Wie würde die Welt ohne Liebe aussehen? Sie ist ja ohne Liebe! – so fühlen Sie es, nicht wahr? Gut, aber wie würde sie ganz und gar ohne Liebe, ohne die Reste von Liebe aussehen? Und auf diese Frage antworte ich Ihnen: gar nicht so schlecht, gar nicht so schlecht! Denn wir wollen voraussetzungslos sein und eingestehen, daß sie sich von manchen anderen Ideen sehr wohl ernähren, aus manchen Ideen heraus gestalten könnte, ja, ich gebe es zu, es wäre eine geistige Welt denkbar ohne die Liebe, aber nur denkbar, nur in der Theorie, tatsächlich aber nicht vorstellbar, allerdings nicht aus jenem banalen Grund, den Sie jetzt im Kopf haben mögen, denn auch eine Fortpflanzung ohne Liebe ist möglich, wie uns die Tier- und Pflanzenwelt lehrt, wenn wir allerdings nicht schon jede Form der Anziehung Liebe nennen, und das dürfen wir nicht, denn sonst kämen wir schließlich dazu, zu behaupten, daß der Stein, der von der Erde angezogen wird, die Erde liebt, aber aus einem anderen, rein geistigen, rein ideellen Grund ist die Welt ohne Liebe nicht vorstellbar! Es ist nämlich so, hören Sie gut zu, es ist nämlich so, das ist der Kniff! Ah!« rief er plötzlich und blieb stehen, schleuderte mit Leidenschaft den Kopf in den Nacken, warf die Arme in die Höhe und schüttelte sie in einer Art von entzückter Ekstase. »Ah! Ich weiß es ganz genau!« rief er. »Wenn ich eines Tages sterben werde, dann werde ich vor Gott hintreten und ihm sagen: Hör zu, o Herr, hör mir gut zu! Ich will dir deine Welt erklären und dir beweisen, daß du bist!

Ja, so würde ich zu Gott sprechen«, schloß er, »und er würde von seinem Thron aufstehen und sagen: ich danke dir, mein Sohn Stadel, ich danke dir, jetzt verstehe ich meine Welt! – Aber wo war ich stehengeblieben, bevor ich diese Rede an Gott begonnen habe? Ah, ich weiß es! Warum ist also die Welt ohne Liebe zwar denkbar, aber nicht vorstellbar? Hören Sie gut zu!«

Endlich rührte sich Blanche und unterbrach ihn. »Verzeihen Sie«, sagte sie lachend und mit gutmütig-freundlicher Ironie. »Verzeihen Sie, daß ich Ihren Vortrag störe! Er wird gewiß sehr lehrreich sein, und Sie werden nachher Gelegenheit haben, ihn fortzusetzen! Jetzt aber muß ich eine gewichtige Frage stellen!«

»Ja –? und –?«

»Sie sind sehr blaß! Haben Sie nicht Hunger?«

»Aber nein! aber nein! lassen Sie doch!« rief er ärgerlich und setzte sich mißmutig nieder, weil er aus dem Zusammenhang gebracht worden war. »Hören Sie lieber zu!«

Doch sie ließ sich nun nicht mehr abhalten und legte die Hand auf seinen Unterarm. »Schweigen Sie einen Augenblick! Schreien Sie nicht! Seien Sie nur selbst einen Augenblick still und hören Sie auf ihren Magen!«

Er hob den Zeigefinger, als ob er Stille! kommandieren wollte, verzog sein Gesicht zu einer Grimasse und neigte seitlich-abwärts den Kopf, als ob er in seinen Bauch hineinhorchte. »Hm«, machte er, »er flüstert mir zu, daß er heute abend sehr wenig zu sich genommen hat!«

»Sehen Sie!« rief sie triumphierend, »warten Sie«, und sie eilte schon hinaus und rief ihm von der Schwelle aus nur noch zu, daß sie ihm eine Kleinigkeit bringen werde.

Ehe Stadel noch Zeit gehabt hatte, sich im Zimmer genau umzusehen, war Blanche schon vor der Tür und rief: »Öffnen Sie! öffnen Sie!«

Als er geöffnet hatte, stand sie draußen, auf den gespreizten Fingern jeder Hand ein riesiges Tablett balancierend. Sie drängte sich seitlich ins Zimmer und brachte mühsam die schwankende Last bis zum Tisch.

»Sehr gut, mein Kind, sehr gut!« rief er und ging die wenigen Schritte neben ihr, mit gierigen und neugierigen Augen die Schüsseln musternd. »Sehr gut! Ich habe inzwischen tatsächlich großen Hunger bekommen! Ausgezeichnet! Stellen Sie's nur her!«

Es mußte ihm wirklich zum Bewußtsein gekommen sein, wie ausgehungert er war, und er mochte sich schwach fühlen, denn er war noch blasser als vorher.

Blanche brauchte die ganze Fläche des Tisches. Als sie alles abgestellt und angeordnet hatte, war er mit den Tassen, Tellern, Gläsern und vor allem mit den vielen Schüsseln und Schüsselchen ringsum bis an den Rand bedeckt. Stadel setzte sich nieder. »Sehr nett, mein Kind, sehr nett!« sagte er und begann zu essen.

Die beiden Eier, die als erstes vor ihm lagen, verschwanden wie ein Nichts und stellten nur den ersten kleinen Bissen einer Mahlzeit dar. Stadel zog die Schüssel mit der Krabbenmayonnaise an sich heran, es war ja keine große Portion, da Blanche von allem nur die kleinsten Dosen vorrätig hatte, immerhin, die Krabben verschwanden in dem großen Mund als der zweite kleine Bissen einer Mahlzeit. Er nahm ein ganzes Bündel der langen dünnen Käsestangen in die Faust. Sie waren ein Häppchen zwischen zwei Bissen. »Was jetzt? Sardinen?«, fragte Blanche. »Nein! Das dort!« antwortete er und wies auf die Platte, auf der die Scheiben der Würste, des Schinkens und des Specks, liebevoll geschichtet, übereinander lagen, der Menge nach ein kräftiges Abendessen. Schnitte um Schnitte glitt in Stadels Schlund, nicht erst zerschnitten, sondern zusammengelegt oder gerollt und kaum zerbissen. Wie sein aufgerissener Mund die großen Worte von sich gab, so nahm er auch die großen Fetzen auf. Allmählich kam er zu Kräften. Blanche sah ihm zu und war befriedigt. Die Platte war schon fast geleert.

»Die Idee der Liebe!«, sagte er mahlend und kauend und vom letzten Stück Speck die Backen aufgequollen, »ist deshalb die größte aller Ideen, weil sie –«

»Essen Sie, essen Sie!« rief sie ihm zu.

»Gut! Ich werde es Ihnen nachher auseinandersetzen!«

Nun holte er auch die letzte Schnitte des Schinkens heran, und da nichts mehr auf dieser Platte war, fragte sie wieder: »Und was jetzt?«

»Jetzt erst, mein Kind, kommen die Sardinen an die Reihe!«

Blanche schob ihm die Fische zu. Sie begann zu staunen, als aus der ersten Schachtel ein Fisch um den andern so schnell und leicht verschwand wie Brosamen um Brosamen im Schnabel eines pickenden Vogels. Die erste Dose war geleert, Blanche schob sie beiseite und rückte die zweite näher heran. »Makrelen«, sagte sie. Auch die Makrelen gingen denselben Weg, so eilig, so hastig, als ob sie, lebendig und tot, im Meer und in der Dose, ihr ganzes Dasein hindurch nur darauf gezittert hätten, in Stadels Magen zu kommen. Blanche stellte auch diese Dose weg, sobald nichts mehr in ihr war, und schob eine andere an seinen Teller. »Heringe«, sagte sie.

»Nein, mein Kind, jetzt ein Apfel! Ich habe meine ganz persönliche und individuelle Reihenfolge und Einteilung!«

Und als er ihn in wenigen großen Stücken geschluckt hatte: »So, mein Kind, und jetzt erst die Heringe!«

Wer hätte gemeint, wer hätte gewagt, zu meinen, daß Blanche übertrieb, als sie dies alles in so großer Menge herrichtete?

»Was ist denn das dort hinten? Auch Fische?«

»Ja, Thunfische.«

»In Tomaten?«

»Nein. Auch in Öl.«

»Nichts in Tomaten?«

»Nein. Leider nicht.«

»Schade! Merken Sie sich's, mein Kind: Stadel ißt gern Fische in Tomaten! Aber natürlich, in der Not –« und er aß weiter.

Es folgten noch Äpfel und irgendein bunter Salat, Feigen, Gebäck und einige Stückchen Konfekt. Wie von der saugenden Luft einer Pumpe wurde alles in Mund und Kehle und Bauch gezogen. So schnell und hastig Blanche alles zubereitet hatte, so schnell hatte er es verzehrt, alles war geschluckt und hinuntergewürgt, die Dosen, Schachteln, Büchsen, Schüsseln waren leer, alles war vorüber, und Stadel lehnte sich, überwältigt von dem plötzlichen Einbruch der Speisen in seinen Körper, aufatmend und mit gerötetem Gesicht zurück.

»Was soll ich noch holen?« fragte Blanche.

»Nichts, nichts! Es ist genug!« sagte er, und es bleibe unbeachtet, was jetzt in den Organen seines Unterleibs vorgehen mochte. – Sie schwiegen, und er überließ sich ganz und gar seiner Sattheit.

»Warum hat sich Gisela eigentlich geärgert?« fragte Blanche, wohl nur, um etwas zu sagen und die etwas beklemmende Ruhe zu durchbrechen. In seinem dumpfen Zustand lachte er nur kurz und mühsam auf: »Das wissen Sie nicht?«

»Nein. Warum –? Meinetwegen –? Weil ich getanzt habe?« Er sah sie an und grinste. Sie verstand die Zweideutigkeit seines Lachens und seiner Mienen. »Ach so –!« machte sie wegwerfend. »Mein Gott –!«

Er lag in träger Lässigkeit in seinem Sessel, und von neuem trat die lastende Stille ein. Dann fragte er: »Malen Sie eigentlich noch?«

»Natürlich! Was für eine Frage!«

»Hm. Wieso haben Sie mich noch nicht porträtiert? Jeder Maler, der mich sieht, ist darauf versessen!«

»Ich auch, ich auch!« warf sie scherzend ein, doch er überhörte es schon, war schon anderswo mit seinen träge schweifenden Gedanken.

Nach einer Weile begann er wiederum: »Diese Frau Leonhardt ist hübsch, wie?«

»Ja. Bildhübsch und sehr elegant.«

»Ja, hübsch wie ein Bild und dumm wie ein Kolossalgemälde!« Blanche zuckte die Achseln und wußte nichts zu sagen.

Nach einiger Zeit setzte er abermals an: »Übrigens, der Müller-Erfurt –«

So schnappte er in seiner Verdauungsmüdigkeit nach dem und jenem Thema wie ein faul daliegender Hund nach einer vorübersummenden Fliege schnappt, sie aber dann das Weite suchen läßt.

»Der Müller-Erfurt war gekränkt. Er hat's doch auf Sie abgesehen! Aber er wird es auch bei Ihnen zu gar nichts bringen, dieser sitzengebliebene Don Juan, dieser Hurenverführer, dieser – nun, sagen wir: dieser Träumer! – Donnerwetter, bin ich satt!«

Geraume Zeit verging. »Jetzt schläft schon«, begann er dann wieder, »der Joachim bei dieser bildhübschen Frau Leonhardt!« Und da sie eine staunende Bewegung machte: »Nein? Sie glauben es nicht? Gut! Also wird er es morgen tun! – Donnerwetter, bin ich satt!«

Er streckte sich und gähnte. Sie schwiegen. »Gehen wir schlafen!« sagte er dann, indem er sich räkelte. »Gehen wir schlafen! – Im Grunde, Blanche, lieben Sie mich doch, nicht wahr?« fragte er und stand schwerfällig auf.

»Natürlich, natürlich!« rief sie, zum Scherz übertreibend, und erhob sich.

Im Garten schlug ihnen, da sie miteinander weggingen, der nächtliche Wind seine Kälte ins Gesicht. Stadel fröstelte, aber eben dadurch wurde er auch wieder aufgeweckt. Er schüttelte sich, schob seinen Arm unter den ihren und drängte sich an sie. Sie sah sich um. Die Zweige neigten und bogen sich, die Stämme knirschten, und der Mond sandte sein schnell sich veränderndes Licht.

»Ich komme bald wieder zu Ihnen!« sagte Stadel, als er am Gitter stand und wartete, bis sie geöffnet haben würde.

»Gut! Melden Sie sich an!«

»Und dann wollen wir fortsetzen! Und dann muß ich auch meinen Vortrag zu Ende bringen, damit Sie etwas lernen!« Sie lachte auf. »Warum lachen Sie? Sie glauben wohl, wir Männer verstehen nichts von diesen Dingen? Ah, Blanche, wenn Sie wüßten, wenn Sie wüßten, wie genau, wie ganz genau ich Sie kenne!«

Mit dieser, nicht zum erstenmal in aufrichtiger Überzeugung hervorgestoßenen Versicherung mochte er nicht einmal ganz unrecht haben, er mochte sie wirklich in ihren großen Umrissen kennen, aber er gehörte eben zu jenen Männern, die glauben, einen Menschen zu durchschauen, wenn sie ein Schlagwort für seine Seele gefunden, die glauben, alles über eine Frau zu wissen, wenn sie sie ungefähr und im ganzen begriffen haben; sie vergessen eben, daß auch jeder ihrer Augenblicke, jede ihrer Empfindungen, jede ihrer durchlebten Situationen als Ganzes für sich dasteht; sie wissen von einem Menschen nicht mehr, als man von einem Buch weiß, wenn man nur dessen Fabel kennt.

Als er schon in der Gasse stand, sie aber noch bei der Tür war und so tat, als ob sie Mühe mit Schloß und Riegel hätte, wurde er ungeduldig. »Aber warten Sie doch nicht auf mich!« sagte sie. »Wir haben ja doch nicht denselben Weg! Gehen Sie nur! Dort ist ein Wagen!« und sie wies in die einige Häuser entfernte Straße, die den großen Park entlang dahinlief. »Und Sie?« fragte er.

»Sorgen Sie sich nur nicht um mich! Hier fahren die ganze Nacht Wagen! Gehen Sie nur.«

So reichte er ihr die Hand, schwenkte den Hut und ging schnell davon. Sie blieb, bewegungslos wartend, vor der kleinen Gittertür stehen, die Hand auf die Klinke gelegt, den Kopf Stadel nachgewandt, und sobald sie sah, daß er um die Ecke bog, öffnete sie schnell die kleine Pforte zu einem Spalt, schlüpfte wieder in den Garten und lief den schmalen Weg zwischen den Büschen und Sträuchern zurück. Sie eilte nach Haus, durchschweifte die Räume, strich von einem zum andern, rückte da und dort ein Möbelstück an seine Stelle, schließlich aber nahm sie ihren Weg zum Sekretär, und nachdem sie einen andern Briefbogen hervorgezogen, die Feder ergriffen hatte, schrieb sie, ohne zu zögern, wie in einem einzigen Zug mit fliegender Hand: ›Nochmals bin ich zurückgekehrt! Ich habe überraschenden Besuch bekommen –, ach, mein Freund, es war nur widerlich! Aber nun bin ich bei Dir! Ah, ich könnte Dir über den heutigen Abend erzählen – wärest Du eifersüchtig gewesen? Ich habe getanzt und getanzt, Gisela war voller Wut, und Stadel hat gegrinst, ach, ich habe getanzt und getobt –! Warum nicht? warum nicht? wie? – warum nicht?‹

Sie unterbrach sich und lehnte sich zurück. Zwei unsichtbare Finger schlossen ihre Augen, es war, als ob gewisse peinigende Vorstellungen über sie kämen, denn ihre Stirn kräuselte sich, als ob ein kurzer Windstoß über sie gegangen wäre, die Augen öffneten sich wieder, ein vorüberfliegender Hauch verzerrte ihren Mund wie unter Ekel und Qual. »Warum nicht?« murmelte sie verächtlich, dann seufzte sie auf, beugte sich wieder vor und schrieb weiter: ›Wenn nur die Häßlichkeit nicht wäre! Daß man sich dem Unglück still in die Arme betten könnte! dem Kummer ergeben und hingeben! unter den Fittichen der Melancholie liegen und weinen! wenn nur die Häßlichkeit nicht wäre, die Fratze und Grimasse! wie groß ist der Tod und wie scheußlich der Todeskrampf! wie tief kann die Einsamkeit sein, wie erhaben die Sehnsucht, aber wie heiser kann der Schrei aus der Höhle der Einsamkeit klingen, wie krächzend der Ruf aus der Tiefe der Sehnsucht!

Aber was ist's mit mir! ich bin doch bei Dir! wie habe ich denn diesen Brief begonnen! ganz anders, als ich wollte! Als ich jetzt hierher zurückging, sind mir nur Träume durch den Kopf gegangen, und ich wollte sie Dir erzählen, dann allerdings habe ich wieder gedacht: nein, ich will nicht von den Träumen, ich will von etwas anderem sprechen, dieser Brief soll kein Liebesbrief werden! Ich habe mich nämlich erinnert, daß ich Dir einmal schrieb: ich habe das Bedürfnis, Dir zu erzählen, was mein Leben war, worin es bestand, was es enthielt, bevor Du kamst – nun also, ich will alles vor Dir ausbreiten! Mein eigenes Schicksal ist mir heute in Erinnerung gekommen, weil sich ein anderes Schicksal, das meiner Freundin Carola, beinahe ganz und gar erfüllt hätte. Ich habe es heute erfahren, es waren nämlich am Abend Gäste bei meinen Eltern – ah, was wurde gesprochen und gesprochen! Ich habe ja kaum hingehört, aber was reden die Männer, was reden sie! Wenn ich sie so disputieren höre, dann glaube ich immer, daß sie sehr klug sind, aber wenn ich dann allein bin, dann weiß ich, daß sie sehr dumm sind und daß ich alles besser weiß – allerdings, ich weiß es nur besser, wenn ich allein bin! Wenn ich Dich umarme, begreife ich die ganze Welt! Alle Rätsel lösen sich. Sieh doch, alles ist Schatten, die Menschen sind Gespenster, aber Du, den ich umarme, Du bist kein Schatten, da ich Dich liebe, weiß ich, daß Du kein Gespenst, daß Du ein Mensch bist, schöner, besser, liebenswerter als ich, sieh Dich um, sieh die Welt an, sie sprechen über die Welt und klagen über sie, ja, ich weiß es, sie ist voller Gemeinheit, Niedertracht, Bosheit, Haß und Grausamkeit, von wie häßlichen Leidenschaften ist sie heimgesucht! aber eine Welt, in der der Mond den Schatten von einer eben aufbrechenden Knospe dem Menschen vor die Füße wirft und in der der Mensch von diesem Schatten dieses jüngsten Frühlingskindes, nur von diesem Schatten, ergriffen ist, als ob er das ganze All hätte singen hören, eine Welt, in der man einander umarmt und Kinder an die Brust drückt – in eine solche Welt, wie gerät denn Haß und Grausamkeit in sie? Wie gehört denn eines zum andern? Ist denn der Mensch nur wie die Natur: vielfältig und grausam? Ich bin es nicht, nicht dies und nicht jenes! Ah, ich weiß, was sie sagen würden, wenn sie mich hörten: sie ist eine Frau und begreift alles nur von der Liebe her! – aber das ist's, was ich weiß und was ich mir niemals nehmen lassen werde: wer lieben kann, der weiß, daß der andere kein Schatten und kein Gespenst ist, wer lieben kann – und sei es auch nur einen einzigen Menschen auf der Welt – der wird nicht mehr grausam und niedrig sein können, denn der Friede ist in ihm, wer ein Kind auf den Armen hält und es der Zukunft entgegentragen will, der will nichts von Rache und Feindschaft und Bosheit hören – aber was ist's mit mir?

Was ist mit mir? Hast Du's bemerkt, ich schreibe gar nicht mehr von Dir und mir, ich schreibe schon von der Welt! Ja, ja, ja, ich bin eine Frau und begreife alles nur von der Liebe her, ja, ja, von jener Liebe, die die große Ordnung ist! Ich fühle mich wachsen und wage schon zu denken: es wäre gut, wenn sie von mir lernen wollten! – Aber es sind immer nur die Einsamen, die alles von der Liebe wissen! Ach, mein Freund, ich muß aufhören, für einen Augenblick nur, um mich auszuruhen! – Es sind immer die Liebenden, die sterben! Ja, ich weiß, man sagt, um zu leben, muß man Maß halten können, man hat recht, aber es sind eben die Liebenden, die sterben, die Sehnsüchtigen, die Übervollen – aber warum denke ich denn plötzlich an den Tod? Wie schrecklich! Ich habe mich verloren! Lassen wir's, lassen wir's! Ich will nüchtern bleiben und vom Alltag sprechen. Für morgen Nachmittag habe ich den Gärtner bestellt. Wie vernachlässigt ist der Garten! Ich hatte bisher so viel mit dem Haus zu tun, daß ich ihn vergessen habe. Nun aber muß er herrlich werden! Ich werde die Wege ebnen, neue Sträucher setzen, neue Blumen säen lassen, alles soll blühen und duften! Und in zwei Monaten, in drei Monaten, im Sommer, warte nur! wenn sich alles geöffnet haben wird und wenn Du dann von der Gittertür hierhergehst, dann wirst Du neue Blüten, neue Farben sehen und neuen Duft spüren! Warte nur! es wird ein Duft- und Farbenweg, ein Blütenweg sein, vor dem Haus der Platz ein feierlicher Ehrenhof, täglich und stündlich ein leidenschaftlicher Empfang für Dich! – Es durchschauert mich, wenn ich es mir vorstelle, wie Du so durch den Garten gehst – ich stehe in der Tür und sehe Dir entgegen – die Blüten stehen so dicht, es ist alles so sehr verwachsen, daß Du Dich durchschlagen mußt, alles umrankt Dich, umhüllt Dich, umschlingt Dich, es ist mir, als würden die Farben auf Dich fallen und auf Dir haften bleiben, als würde der Duft auf Dich übergehen, Du wächst und wirst wie einer der Bäume, Du kommst auf mich zu, so kommst Du näher, ein ungeheuerer Blütenmensch, und wenn Du über die Schwelle trittst – ach, mein Freund! – – Ich wollte nüchtern bleiben, es sollte kein Liebesbrief werden – und was ist's geworden! Immer verliere ich mich! Siehst Du, so geht es mir! Nun, ich schließe! und meine Beichte? meine Vergangenheit? die Erzählung, die ich Dir versprochen habe? Wie sollte ich's jetzt noch können! Ich bin müde. Lassen wir's! Genügt's Dir nicht, wenn ich Dir mit wenigen Worten sage, was mein Leben enthalten hat, bevor Du gekommen bist –: Die eine große Enttäuschung und die vielen kleinen Enttäuschungen! Leb wohl! Blanche.‹

 

Sie blieb noch eine halbe Stunde im Atelier. Nachdem sie sich, ein wenig träumend, von der Hast des Schreibens ausgeruht hatte, trat sie einen Gang durchs Haus an, als ob sie es inspizieren müßte, wie ein Wächter, der nach dem Rechten sieht, wie ein Detektiv, der bis in die letzten Winkel späht, wie eine Kinderfrau, die sich um ihre Schützlinge sorgt, sie schritt durch die unteren Räume, durch den Vorraum und über die Stiegen ins erste Stockwerk, überall, wo sie vorüberkam, die Lampen anzündend, an der Treppenwand den Leuchter mit den drei Porzellankerzen, im winzigen Vorzimmerchen oben die winzige Ampel, im Atelier die von Drahtgeflecht umgebenen, nackten Birnen und schließlich die Nachttischlampe und die Seidenampel nebenan im Kabinett. Hier endete ihr Weg. Das ganze Gebäude war nun in die Nacht hinaus illuminiert und schickte durch seine fünf Fenster den fünffachen Schein in die windbewegte Finsternis.

Nach rechts und links und überall ihre Blicke werfend, kehrte Blanche, wie sie gekommen war, zurück, und unten angelangt, stürzte sie sich wie auf einen Feind auf alles, was überhaupt nicht hergehörte: auf die Tabletts, das Geschirr, das Glas, das Porzellan, und trug es hinaus.

Da es getan war, stellte sie sich auf die Schwelle zwischen die beiden Räume und blickte sich um wie in einer Landschaft nach dem Sturm, der alles gebogen und gebeugt, doch nichts gebrochen hat, und schien zufrieden zu sein. Sie sperrte den Brief ins Geheimfach, und nun ging sie nochmals durch die Zimmer und über die Stiegen, diesmal mit sanfterem, beruhigtem Schritt, diesmal, um überall die Lichter zu löschen, Fenster um Fenster verdunkelte sich, und schließlich stand, einsam in der Finsternis und im Kreis der Ulmen, einmal im Licht des Mondes, dann wieder unter den Schatten der Wolken, das ganze verlassene Haus als kleines Nacht- und Traumgebäude da.

Blanche fuhr nach Hause. Im Wagen schloß schon die Müdigkeit ihre Augen. Mühsam schleppte sie sich ins Haus und zur Wohnung, doch als sie aufgesperrt hatte, mußte sie nochmals erschrecken, denn es kam ihr, jetzt in tiefster Nacht, mit eiligen, leisen Schritten, ganz und gar so angezogen, wie sie es am Abend gewesen war, ihre Mutter entgegen.

III

Als Frau Riedinger die Gäste entlassen hatte und in den Salon zurückgekehrt war, der nun mit seinen hin- und hergeschobenen Sesseln, den beschmutzten Tellern und Gläsern, den zerdrückten Kissen, den faltigen Decken und Teppichen in wildbewegter Unordnung und doch öde vor ihr lag, als sie also zurückgekehrt war, ihren Mann aber nicht im Zimmer erblickt, schon aber, während sie noch staunte, dumpfe, grunzende Laute gehört und mit fliegendem Blick gesucht hatte, woher sie kämen, hatte sie ihn endlich mit sich bäumendem Körper, mit verkrampften Gliedern und schrecklich verzerrtem Gesicht, hinterm großen Tisch fast ganz verborgen, auf dem Sofa hingestreckt gefunden. Er lallte mit brummenden Lauten in den leeren Raum vor sich hin. Nur hie und da waren einzelne, immer dieselben, Worte verständlich: »Der Tod! Der Tod!«, und dann wieder: »Keinen Arzt! Keinen Arzt!« Bevor Frau Riedinger noch den Gedanken fassen konnte, Hilfe herbeizuholen, wehrte er sich schon dagegen, aus seiner in solchen Stunden immer wirkenden Angst, daß der Arzt, wenn er auch nicht geradezu den Tod mitbringe, dennoch das Zeichen für Gefahr und also doch vielleicht auch für den Tod sei. Sie gab ihm auch nach, weil sie aus alter Übung wußte, was zur Linderung zu tun sei, und weil sie ihn und sein sich verkrampfendes Herz nicht noch durch Widerspruch reizen wollte, solange es nicht eine noch gefährlichere Notwendigkeit erforderte. Doch sie blieb auf dem Sprung, ans Telephon zu stürzen, indem sie seinen Zustand und dessen Schwankungen beobachtete, wie ein Arzt, der zusieht und abwartet, wann er sich zu einem Eingriff entschließen muß.

Den Kopf abwärts in die Kissen stoßend, die Füße aufgestemmt, krümmte sich sein Leib zu einem Bogen, und seine Hände vollführten zuckende Bewegungen, als ob sie etwas aus der Luft herausholen wollten. Er kämpfte und verteidigte sich gegen den Tod, der zwei Schritte vor ihm stand, ihn anhauchte, packte, seinen Hals umklammerte, aus seinen Lungen die Luft zog, dem Herzen die Bewegung nahm, daß es schauerlich still stand, die Angst auch noch den letzten Atem verscheuchte, vor seinen betäubten Sinnen alles wankte, zerbarst und zerbrach und es nichts auf der Welt gab außer Furcht und Schmerz. Noch ein Schritt, noch ein Griff, und das ganze Leben wäre von der fremden Faust zerdrückt und erstickt worden, hätte sich in einem letzten schmerzlichen Stöhnen ins Nichts verströmt.

In den kurzen Pausen, während derer die Drohung zurückgetreten oder wenigstens milder war, lag er, gleichsam im Tal der gnädigen Ruhe, regungslos mit geschlossenen Augen auf dem Rücken, gerade dann einem Toten am ähnlichsten, und flüsterte von Zeit zu Zeit, rauh in all seiner Mattigkeit: »Besser! Besser!«, und dann immer wieder: »Es ist nur nervös! – es ist nur nervös!« Mit der immerwährenden Wiederholung dieser tröstenden Worte, sowohl in solchen Stunden, als auch in den Wochen der scheinbaren Gesundheit, verschaffte er sich selbst den halben Glauben, nicht wirklich krank zu sein, und mit dem halben Glauben vielleicht gar die Verlängerung seines Lebens für eine kurze abgemessene Zeit. Mit diesem Auf und Ab vergingen die Stunden.

Er hatte sich ins Bett schaffen lassen, und nachdem die Minuten der Ruhe öfter wiedergekehrt, länger geworden und allmählich in einen Zustand des Friedens übergegangen waren, fiel er in einen ohnmachtsartigen Schlaf der Schwäche, aus dem er erst nach geraumer Zeit, erleichtert aufatmend, erwachte. Der Tod hatte sich verzogen und einen zwar Lebendigen, aber wahrhaft zu Tode Ermatteten zurückgelassen.

Kurz nachher kam Blanche nach Hause. Ihre Mutter eilte ihr entgegen, um ihr zu berichten, was geschehen war, und sie zur Stille zu mahnen. »So schlimm war es noch nie!« flüsterte sie. »Nein, so schlimm war es noch nie! Jetzt scheint es vorbei zu sein. Geh schlafen!« Blanche wollte in ihr Zimmer schleichen, aber Riedinger hatte die Geräusche ihrer Heimkehr gehört und verlangte nach ihr. Trotz aller Mahnungen seiner Frau, blieb er dabei, daß er sie noch sehen müsse.

Mit ihren zerstobenen Haaren, in ihrem hellblauen Abendkleid, das von Fest- und Lebensfreude sprach, kam sie in das nur von einer schwachen Lampe dämmrig erleuchtete Zimmer und trat, eine beklommene Genießerin der Nacht, wie mit schlechtem Gewissen und mit der Empfindung, daß ihre Erscheinung schlecht zum düsteren Thema dieser Stunde passe, mit schüchternen Schritten ans Bett ihres Vaters und blickte auf sein von Qual und Schmerz gezeichnetes Gesicht, auf seine vernichtete Gestalt herab. Er sah ihr, soweit sich überhaupt in seinen fast gebrochenen Augen eine Empfindung äußern konnte, schon wartend entgegen. »Setz dich her!« sagte er so leise, daß man seine Worte nur erraten konnte, aber doch mit der ganzen ihm zur Verfügung stehenden Energie.

»Gern, aber solltest du nicht zu schlafen versuchen?«

»Setz dich!« knurrte er.

»Laß sie doch gehen! Du sollst schlafen!« mahnte Frau Riedinger.

Seine Stirn versuchte, sich unter einem aufwallenden Unmut zusammenzuziehen: »Setz dich!« hauchte er nochmals mit einer armseligen Bemühung, zu befehlen. Blanche holte also einen Stuhl ans Bett, nachdem die beiden Frauen eingesehen hatten, daß sie nachgeben mußten, ließ sich nieder und sah, nun ihrerseits wartend, auf ihren Vater.

»Näher!« brummte er. »Näher! – noch näher!« Blanche schob und zog den Stuhl immer weiter vor, bis der Sitz neben seinem Kopf war.

»Hat es nicht bis morgen Zeit, Vater?« fragte sie eingeschüchtert, aber er schüttelte mit winzigen Bewegungen den Kopf. Frau Riedinger, die, sich vorbeugend, ihre verschränkten Arme auf die Fußwand des Bettes gelegt hatte, beobachtete unzufrieden die Szene. Mit Spannung blickten Mutter und Tochter auf ihn nieder, voll Angst, was kommen werde. Sie waren offenbar auf eine peinigende Aussprache gefaßt, zu der ihn diese Stunde veranlassen mochte, vielleicht über sein Testament, über ihre materiellen Verhältnisse, vielleicht auf die Verkündigung seines letzten Willens, vielleicht eine Aussprache über Blanches Zukunft, am Ende gar Mahnungen an seine Tochter, Abschiedsworte, entscheidende Lebensworte, die ihm die Nähe des Todes eingegeben haben könnte. Sie wechselten ratlos besorgte Blicke, die zu sagen schienen: Schrecklich, schrecklich! Aber was sollen wir tun!

»Also!« knurrte Riedinger. »Los!«

»Was denn, Vater?« fragte sie.

»Los! wie war's! Wo wart ihr? Erzähl mir!«

Sie setzte an, um aufzulachen, und war befreit. »Ich werde es dir morgen erzählen!«

Während sich sein gefällter, von der Schwäche gefesselter Körper nicht regen konnte, verdüsterte sich abermals sein Gesicht unter ohnmächtigem Ärger. Sie sah es und fiel schnell ein: »Was soll ich dir denn erzählen?«

»Alles!« brummte er. »Wo wart ihr?«

»Im La Princesse.«

Er versuchte zu nicken, genießerisch und zustimmend, als ob er sagen wollte! Ah! das ist das schönste, das interessanteste Lokal! »Mit wem warst du, wer war dort?« Sie zählte ihm, wenn's auch nicht recht aus ihrer Kehle wollte, die Namen der Leute auf, mit denen sie gewesen war, und berichtete ihm, welche Bekannten sie gesehen hatte.

»War's lustig?« fragte er.

»Nun ja, wie es immer dort ist.«

»Hat der Klavierspieler noch seinen grünen Hut?«

»Ja, den grünen Hut und die grüne Krawatte.«

»Und die Frau Amerong?«

»Wer? Ach ja, so heißt ja die Besitzerin! Was du alles weißt, Vater! Sie hatte auch ein grünes Kleid, von derselben Farbe wie seine Krawatte.«

Er wollte offenbar lachen, denn seine Lippen verzerrten sich, doch es wurde fast nur ein Grinsen. In seinen Augen blinkte es freudig auf. »Hat sie gesoffen?« fragte er mit der Tonlosigkeit des um alle Kräfte gebrachten Körpers.

»Ja. Wie immer«, antwortete sie.

Es entstand eine Stille. Er sah ungeduldig wartend zu ihr auf, es zuckte in seinen Zügen, und er kämpfte, um Kraft aus sich herauszuholen. »Sprich doch!« flüsterte er wütend.

»So sprich doch, Blanche!« sagte Frau Riedinger mit kalter Stimme. »Wenn schon der Vater das alles hören will!«

Blanche raffte sich auf. »Ja, die Amerong ist von Tisch zu Tisch gegangen«, sagte sie, »und an jedem hat sie getrunken. Sie ist ein tolles Frauenzimmer.« Allmählich ihre Stimme befreiend, berichtete sie und kam in Fluß, da sie die Befriedigung, ja, die Gier wahrnahm, mit der ihr Vater zuhörte. Ja, Frau Amerong sei von Tisch zu Tisch gegangen, und an jedem habe sie ein Glas getrunken, und wenn es habe sein müssen, auch ihrer zwei, und zwar an jedem etwas anderes, denn was man ihr anbiete, das trinke sie auch, dazu habe sie sich nun ein für allemal verpflichtet.

»Großartig!« knurrte Riedinger. »Die bleibt immer jung! Großartig!« So manche Gesellschaft, fuhr Blanche fort, habe eigens ein entsetzenerregendes Gemisch zusammengestellt, etwa aus Absinth, Malaga und Whisky, aber auch dieses schauderhafte Gebräu habe sie hinuntergegossen, entweder mit einem Ruck, einem gräßlich brutalen Kippen des Glases, oder langsam, Schluck für Schluck, ganz wie man es von ihr verlangt habe. So habe sie sich durchs Lokal gebracht, habe ihren schon berühmten Rundgang durchgeführt und wieder einmal einen ihrer tollen Rekorde aufgestellt.

Riedinger hatte mit gespanntem Gesicht alles aufgenommen. Jetzt wollte er lachen, aber es kam in seinem zerknitterten Gesicht nur eine Verzerrung zustande. »Und der Pianist?« fragte er. Der habe, erzählte Blanche, heute noch toller gespielt als sonst, einmal habe er wie ein Rasender gejagt, dann aber unvermittelt eingehalten und sei wie ein Lahmer dahingeschlichen, so habe er die Tanzenden geneckt und sich noch jedesmal mit einem frechen Lachen umgedreht, um die Überraschung des Publikums zu genießen; eigentlich sei er ein frecher und widerlicher Kerl.

Riedinger schüttelte den Kopf, als ob er widersprechen und den Klavierspieler verteidigen wollte. In seinem, einer Bewegung nicht fähigen Gesicht war jenes grinsende Lachen erstarrt und stehengeblieben. »Und sie, die Amerong, ist seine Geliebte, was?« Ja, das habe Blanche auch gehört. »War sie besoffen?« fragte er weiter. Nun, man habe es nicht bemerken können, nachher allerdings solle sie immer den Klavierspieler verprügeln. Sie halte sich aufrecht, solange die Gäste dort seien, wenn sie dann aber allein bleibe, komme die ganze Wirkung des Alkohols zum Vorschein, meistens in Form von Wutanfällen, die sich in schrecklichen Schlägen auf den armen Pianisten entlüden.

Riedingers Gesicht hellte sich auf, sein regungsloser Körper wurde von winzigen Stößen geschüttelt, er wollte auflachen, seine Lippen schoben sich schon auseinander, diese Geschichte schien ihm ganz besonders gut zu gefallen, er wollte etwas sagen, einen Scherz oder Witz, aber es war ihm nicht vergönnt, denn es kam wieder über ihn, ein Stoß in seinem Innern, er faßte nach seinem Herzen, das sich im Krampf zusammenzog, er schloß die Augen und öffnete den Mund, als wollte er ihn der Luft darbieten, daß sie einströme, die Ballen der Füße stemmten sich gegen die Matratzen, und der Körper hob sich zu einem gelinden Bogen, so blieb er einige Sekunden unbeweglich, in seinen Zügen erstarrte der Ausdruck des Schmerzes, ein kurzer herausgeschleuderter Laut, doch dann ein leichterer Seufzer, sein Leib fiel in seine natürliche Lage, und es war wieder vorbei, er atmete tief und befreit auf, es war nur noch ein letzter kleiner Angriff gewesen, eine drohende Geste seines Feindes, eine Mahnung und Erinnerung.

»Schon vorbei! Schon vorbei!« hauchte er. »Es ist nur nervös! Weiter! Sprich weiter!« Blanche konnte sich noch nicht entschließen fortzufahren, aber er gab tiefe, brummende Laute von sich, die man nicht enträtseln konnte, doch ließ sich vermuten, daß er seine Aufforderung wiederholen wollte. Unlängst, fuhr also Blanche notgedrungen fort, an einem der letzten Abende, sei er ganz grün und blau geschlagen gewesen, und wenn er gefragt worden sei, was denn mit ihm geschehen sei, habe er grinsend auf Frau Amerong gewiesen und geantwortet: Prügel, Prügel!

Riedinger schüttelte den Kopf, als ob er ausrufen wollte: Nein, so etwas! nein, so etwas! Sie schwiegen. Riedinger sah bewegungslos zur Decke. »Und sonst?« begann er von neuem. »Du? hast du getanzt?«

»Ja.«

»Mit wem?«

»Mit Heinzfurth.« Er schob die Lippen vor und nickte anerkennend.

Ihr fiel nichts mehr ein, was sie ihm hätte erzählen können, und es entstand eine Stille, während derer er ermüdet die Augen schloß. »Nun, weiter«, sagte er, als er sie wieder geöffnet hatte. »Erzähl doch!« Sie dachte nach, löffelte in ihrer Erinnerung und holte heraus, was sie finden konnte. Sie sprach von Müller-Erfurt, der, man wisse nicht, warum, beleidigt gewesen sei, weil sie getanzt habe, und von Stadel, der erst später gekommen sei. »Und Frau Leonhardt?« fragte er. Ja, sie sei auch dort gewesen, schweigsam wie immer, um so ausdauernder habe Joachim zu ihr gesprochen, die beiden schienen überhaupt einander näher gekommen zu sein. Er kniff genießerisch die Augen zu. »Ich hab's bemerkt«, flüsterte er. »Immer jung sein, immer jung sein!«

Immer öfter und für immer längere Zeit fielen ihm die Lider zu, wenn sie sich aber wieder hoben, sah er jedesmal auf Blanche, wartend, daß sie spreche. Monoton erzählte sie weiter. »Und die Frau Amerong?« fragte er. »Sie hat doch sicher auch eine Freundin?« Ja, das habe sie auch gehört, sie habe überhaupt die abenteuerlichsten Geschichten gehört, der eigentliche Betrieb beginne erst nach der offiziellen Schließung des Lokals, wie ihr Stadel gesagt habe. Er knurrte bei geschlossenen Augen, und von seinen kurzen Blicken aufgemuntert, die er ihr mühsam aus seinen nur zu einem Spalt geöffneten Augen zuwarf, sprach sie weiter und erzählte und erwähnte, was ihr in den Sinn kam: Stadel habe vermutet, daß Frau Leonhardt und Joachim schon die heutige Nacht miteinander verbringen würden; Gisela sei miserabel gelaunt gewesen, übrigens sei Linde wieder in der Stadt, ihr früherer Geliebter, der von ihr die Ohrfeigen bekommen und sie dann durchgeprügelt habe. Riedinger brummte nur noch wie aus dem Traum. Schließlich kam Blanche wieder auf das Lokal zu sprechen, auf den Pianisten und die Frau Amerong. Mit einer unendlich schwachen Bewegung, nur mit dem Hauch einer Bewegung, versuchte Riedinger zu lächeln. An jenem Abend, fuhr Blanche fort, habe sich der Klavierspieler, um zu zeigen, was für Schläge er von ihr bekommen habe, angesichts des ganzen Publikums ausziehen wollen; unter allgemeinem Hallo hatte er schon Rock und Weste abgelegt, das Hemd schon aufgeknöpft, da sei Frau Amerong, die für einen Augenblick verschwunden gewesen sei, schon mit einem Rohrstock in der Hand zurückgekommen, man wußte nicht, ob deshalb, um ihn mit dieser Drohung von der Entkleidungsszene abzuhalten oder um ihn gleich nochmals durchzuprügeln, wenn er schon ausgezogen sein würde. Dabei allerdings habe es dann sein Bewenden gehabt. Unter regelmäßigen Atemzügen hob und senkte sich Riedingers Brust, auf seinem Gesicht lag der ferne Abglanz eines Lächelns, und wie von schönen Märchen in den Schlaf erzählt, rührte und regte er sich nicht mehr.

 


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