Leopold Kompert
Die Jahrzeit
Leopold Kompert

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So war der Sommer vergangen und die ›hohen Feiertage‹ nahten heran, die diesmal in den Anfang des Herbstes fielen. Am Vorabend des Neujahrsfestes, als der Gottesdienst eben beendet war, kamen, nach einem alten Brauche in der Gasse, sämmtliche Verwandte zu Jacob Löw, als dem anerkannten Oberhaupt der Familie, um ihm und Esther »ein gesegnetes gutes Jahr« zu wünschen. Auch Maier mit seinen Eltern war gekommen. Da zog Jacob Löw mit einem Lächeln des behaglichsten Wohlwollens, wie es seit dem Tode seiner Knaben nur selten um seine Mundwinkel sich verirrte, unsern Maier auf die Seite.

»Maier Leben«, sagte er, indem er ihn in das Ohr kneipte, »ich hoffe zu Gott, das Jahr wird für uns Alle ein gutes werden, für Dich so gut, wie für mich. Und wenn Du heute über ein Jahr wieder zu mir zum Wünschen kommst, da sollst Du mich nicht mehr Vetter nennen.«

»Vetter, um Gotteswillen!...« rief Maier erschrocken. Aber Jacob Löw schnitt ihm rasch das Wort ab, indem er ihm mit der Hand den Mund verschloß.

»Zum Erschrecken hast Du Zeit«, sagte er lächelnd, »wenn's an der Zeit sein wird. Ich glaube aber, sie ist nicht zum Erschrecken. Da! sieh' Dir sie an!...«

Er wies mit dem Finger auf Blümele hin, die, angestrahlt vom Scheine der vielen Kerzen, im vollen Glanze ihrer Schönheit dasaß. Wer wußte das besser, als eben Maier?

Zehn Tage darauf trat ein Ereigniß ein, so recht angethan, um mit seinem vollsten Lichte die Fügungen eines dunkeln Geschickes zu beleuchten.

Am Versöhnungstage, etwa gegen die zweite Nachmittagsstunde, als sich die Leute im tiefsten Gebete in der großen Synagoge befanden, erscholl plötzlich von der Rathhausglocke das Feuerzeichen. Im ersten Entsetzen rannte Alles zum Hause hinaus, die Männer in ihren Sterbekitteln, die Frauen todtblaß von Schrecken und Fasten, dazwischen die Kinder, die in diesem Augenblicke unbeachtet, heulend nach ihren Eltern suchten. Es brannte im Fabrikgebäude, dichter Dampf wälzte sich über die ganze Gasse. Wenn die Fabrik brannte, war kein Haus sicher. Dahin drängte und flutete nun Alles. Als man auf dem Schauplatze des Brandes ankam, sah man zur innigsten Freude, daß die Hälfte der Rettung bereits geschehen war. Jaques stand auf einem umgestürzten Wasserfasse und leitete mit kräftigem Commando die Löscharbeit, die von den zahlreichen Fabrikleuten pünktlich und gehorsam ausgeführt wurde. Mitten in diesem Thun unterbrach er sich, da er die vielen Männer in ihren Sterbekitteln vor sich sah, und rief von seinem erhöhten Standpunkte lustig herab:

»Nicht wahr, Leute, so was ist am heiligen Versöhnungstage erlaubt, dagegen kann der Talmud nichts einwenden?«

Jacob Löw, der ihm zunächst stand, schaute mißmuthig zu Jaques auf; denn ihn verdroß diese Rede am furchtbarsten Tage des Jahres, wiewohl Jaques anderseits eine wohlberechtigte Frage gethan hatte. Da bemerkte er, daß die glänzenden Lippen des Ungarn ein Geheimniß verriethen... Jaques mußte kurz zuvor, darauf wollte Jacob Löw einen Eidschwur ablegen, gegessen haben! Am heiligen Versöhnungsfeste! An des allmächtigen Gottes furchtbarem Gerichtstage!

Jacob Löw fühlte, wie ihm der Grimm zu Kopfe drang; aber er schloß ihn in sich. Die Stunde war nicht danach angethan, um seiner Empörtheit Ausdruck zu geben.

Bald darauf war der Brand erstickt, und die Leute kehrten, da mittlerweile der Abend hereingebrochen war, zum Schlußgebete in die Synagoge zurück.

Beim Nachtmahle jedoch wurde es sogleich klar, daß Jacob Löw des Ungars nicht vergessen hatte. Kaum hatte er einige Speise zu sich genommen, als er den noch vollen Teller weit weg von sich schob.

»Ich mein', es wird zu Gift in mir«, sagte er ingrimmig vor sich hin, »wenn ich noch einen Bissen zu mir nehme.«

Esther fragte verwundert und besorgt zugleich nach der Ursache dieser Rede.

»Ich ärgere mich nur, daß es solche schlechte Menschen giebt, die es nicht einmal über ihr verdorbenes Herz bringen können, dem heiligen Jom Kippur seine Ehre anzuthun. Kann so ein Hergelaufener sich nicht bezwingen und seinen gierigen Magen im Zaum halten an dem einen Tage im Jahre?«

Natürlich fragte Esther, wen er damit meine.

»Den Buchhalter meine ich«, rief er böse, »der in der Fabrik ist und sich ›Jaques‹ heißen läßt. Ist er kein Kind jüdischer Eltern? Hat ihn keine jüdische Mutter geboren? Aber ich habe es gut erkannt mit diesen meinen Augen: der Hergelaufene hat gegessen gehabt, hat sich gesättigt und gelabt, daß ihm von Fett ordentlich die Lippen getrieft haben.«

Esther bemerkte etwas zurückhaltend, man dürfe die Menschen nicht nach dem bloßen Scheine verurtheilen.

»Vertheidige ihn nur!« schrie Jacob Löw dagegen. »Mir aber regt sich die Galle gegen den Fremden, der sich untersteht, ein so schlechtes Beispiel in unserer Gemeinde aufzustellen. Was Allen heilig ist, denke ich, muß auch dem Einzelnen heilig sein! Und dann, Esther«, fuhr er mit immer höher steigender Erregtheit fort, »denke ich noch an ein Zweites. Wem Gottes Gebot nicht heilig ist, wie soll dem im gewöhnlichen Handel und Wandel etwas heilig sein! Meinst Du, wenn ich der Fabrikant bin, ich lasse mir von dem meine Bücher führen? Und doch! was sind Buch und Cassa gegen ein anderes, weit höheres Gut! Meinst Du, es werden sich nicht Eltern finden, gute jüdische Eltern, die auf Treu und Glauben, daß sie sich einen rechtschaffenen Schwiegersohn einsetzen, ihm ihr Kind, vielleicht ihr einziges Kind, anvertrauen werden? So, Esther, mußt du die Sache betrachten und nicht anders. An ein so geopfertes Kind mußt Du denken, wenn Du die ganze Schlechtigkeit dieses Menschen begreifen willst, und an die Kinder mußt du denken, denen er einmal Vater sein soll. Können und werden sie von Gott etwas wissen? – Sein Name soll unter uns nicht genannt werden!«

Ein leiser Schrei unterbrach ihn. Blümele war ohnmächtig geworden. Mit kreideweißen Wangen und geschlossenen Augen, die Arme schlaff herabhängend, hing sie in ihrem Stuhle.

Mit der den Frauen in solchen Fällen eigenthümlichen Geistesgegenwart sprang Esther ihrer Tochter bei. Sie sprengte ihr kaltes Wasser ins Gesicht, so daß Blümele nach einer kurzen Weile die Augen aufschlug.

»Um Gotteswillen!« rief Jacob Löw verzweifelnd, »soll sie uns denn auch krank werden?...«

»Sei ruhig, Jacob Löw!« beschwichtigte ihn Esther, indem sie mit ihrer Hand über die todtkalte Stirne Blümele's fuhr; »es wird nichts sein, das Kind hat sich nur überfastet.«

Es währte noch einige Zeit, bis Blümele zur vollen Besinnung gelangt war. Plötzlich stieß sie die Hand ihrer Mutter mit Gewalt von sich, so daß Esther einige Schritte zurücktaumelte. Mit einem herzzerreißenden Schluchzen sank sie vom Stuhle auf den Erdboden, raffte sich dann auf und stürzte zu Jacob Löw, dessen Knie sie umfaßte.

»Vater, Vater!« stöhnte sie aus der Tiefe ihrer Seele, »verstoß' mich nicht!«

Jacob Löw beugte sich liebevoll zu seinem Kinde herab; sein Herz war voll Traurigkeit; schon dünkte es ihn, die schwarzen Fittige jenes Engels über seinem Haupte rauschen zu hören, der fünfmal gekommen war, um die Blüthen seines Hauses zu brechen. War es noch nicht genug?

Esther selbst war seltsam bewegt; sie bemühte sich, Blümele vom Boden aufzurichten, und sprach ihr mit linden Worten zu, sich zu Bett zu begeben, um ihren aufgejagten Nerven Ruhe zu gönnen. Aber während Jacob Löw, der in dieser krankhaften Erregtheit nur die Anzeichen der nahenden Gefahr erblickte, ein Gleiches versuchte, schüttelte Esther bedenklich den Kopf Blümele brachte unter Schluchzen und Weinen nichts mehr als die Worte hervor:

»Vater, Vater Leben! verstoß' mich nicht!«

Endlich gelang es den Anstrengungen beider Eltern, ihr Kind insoweit zu beruhigen, daß es sich willig von der Mutter aufrichten und in die Kammer geleiten ließ. –

In der Nacht, die diesem Auftritte folgte, mochte etwas Entsetzliches in dem Hause Jacob Löw's vorgefallen sein! Keine lebende Seele ahnte es, keiner wurde es jemals ganz klar, welch' ein Verhängniß sich dort erfüllt hatte...

Früh Morgens, als der Gemeindediener seinen Gang durch die Gasse machte, um mit dem Klopfen seines Hammers das übliche Zeichen zum Morgengottesdienst zu geben, fand er schon Jacob Löw in heftigster Bewegung vor seinem Hause auf- und niedergehen. Es war ein kalter Morgen und ein grauer Nebel wollte durch die Lüfte. Niemals, so erzählte später der Gemeindediener, könne er sich erinnern, daß ihn ein menschliches Antlitz mehr erschreckt habe, als das Jacob Löws um diese Stunde! Er habe doch viel schon mit Todten zu thun gehabt... so aber habe noch Keiner ausgesehen. Jacob Löw war in der einen Nacht ein alter Mann geworden. Auf die Frage, warum er so frühe sich um seine Ruhe gebracht, da er bis zum Beginne des Gebets noch eine halbe Stunde Zeit habe, hätte Jacob Löw ihn mit einem seltsamen Blicke angestarrt und dann gesagt: »Könnt Ihr mir nicht sagen, Wolf, ob der Fabrikbuchhalter Jaques schon aufgestanden ist?« worauf der Gemeindediener geantwortet: »Er wisse es nicht, und glaube es auch nicht, denn Jaques sei keiner von denen, die sich das Gebot zu Herzen nehmen, daß man am Tage nach Jom Kippur wegen des lieben Satans früher als sonst sich ›in Schul‹ begeben müsse.« Da hätte Jacob Löw die Hände über das Gesicht geschlagen und herzzerbrechend ausgerufen:

»Nicht einmal ein Kadisch ist mir geblieben!« –

Einige Tage darauf verbreitete sich ein seltsames, fast abenteuerliches Gerücht in der Gasse. Jaques, der Fabrikbuchhalter, und Blümele, Jacob Löws Tochter, waren Brautleute. Nicht einmal die nächsten Verwandten waren zur Verlobung geladen worden; sie war in aller Stille, mit einer gewissen Unheimlichkeit, vor sich gegangen.

Es mag wohl selten einen traurigeren Brautstand gegeben haben, als den zwischen Blümele und ihrem Jaques. Die Braut war fast niemals sichtbar; wenn sie erschien, versuchte sie wohl heiter und glücklich zu scheinen, aber ihre Augen verriethen gerade das Gegentheil. Auch Esther war nicht zu sehen; die Leute, die zur ›Gratulation‹ zu ihr kamen, wurden mit dem Bedeuten abgewiesen, die Frau leide fürchterliche Schmerzen. Selbst Jaques, der glückliche und von allen jungen beneidete Jaques, schlich trübselig einher; es schien wie Blei auf den Schwingen seiner sonstigen Lustigkeit zu liegen. Nur am Abend ging er in das Haus seines zukünftigen Schwiegervaters; aber dieser entfernte sich regelmäßig ohne Gruß und Gegenrede, sobald Jaques in die Stube getreten war.

Das Haus Jakob Löw's war von einem grauenhaften Banne umfangen.

Drei Monate darauf fand die Hochzeit statt.

Jacob Löw hatte die Vorbereitungen dazu mit einer an Wahnsinn grenzenden Hast getroffen. Die nöthige ›Heirathbewilligung‹ war vom Gubernium in Prag mit einer in jener Zeit fast wunderbaren Schnelligkeit herabgelangt, denn damals geschah es nicht selten, daß ein Brautpaar, das mit braunen Haaren den Verlobungsact unterschrieben, mit ergrauten unter den Trauhimmel trat. Aber Jacob Löw kannte Wege und Mittel, um an sein Ziel zu gelangen; er ebnete Berge von Schwierigkeiten und blies mit dem Hauche seiner riesigen Thatkraft alle ihm entgegenstehenden Hindernisse wie Kartenblätter um.

»Und wenn ich bis zum Kaiser nach Wien gehen müßte«, sagte er zuweilen, wenn er überhaupt sprach, zu Esther, »so fahre ich am heiligen Sabbat nach Wien. Die Räuber müssen mir aus dem Hause, die Diebe, die mir meinen einzigen Kadisch gestohlen haben.«

In dieser Stimmung brach der Hochzeitstag an.

Jaques mußte nach dem ausdrücklichen Willen Jacob Löw's vorher erklären, nach Ungarn heimzukehren. Die reiche Mitgift gab ihm die Mittel an die Hand, sich dort ein ›Geschäft‹ zu gründen.

Nicht in der Gemeinde, sondern draußen in einem benachbarten Dorfe wurde die Hochzeit gefeiert. Jacob Löw lud gleichsam nur als Zeugen zehn der ärmsten Leute, nebst einigen frommen Weibern dazu; die Verwandtschaft überging er ganz. Aller Prunk und Schmuck war ausgeschlossen; die Musik war abbestellt worden...

Ein grauenhaftes Bild gramvoller Schönheit bildete Blümele. Als kurz vor der Trauung das ›Bedecken‹ erfolgte, wie jene Ceremonie heißt, wenn der Rabbiner der Braut die goldene Spitzenhaube, als Zeichen, daß von nun diese Kopfbedeckung ihr Haar decken müsse, umwirft, sollte Blümele ihre Eltern um Verzeihung bitten, wie dies eine alte Sitte vorschreibt. Da ergab sich eine Scene, wie sie den anwesenden Leuten nachher nie aus dem Gedächtnisse schwand. Wie eine Rasende, heulend und weinend stürzte sie auf ihren Vater zu und stammelte zu seinen Füßen unverständliche Worte.

Jacob Löw stand aber unbeweglich da, nicht ein Muskel in seinem Antlitze regte sich, während Esther, den Tod im Gesicht, neben ihm saß und still vor sich hinweinte.

»Was willst du noch jetzt von mir?« sprach er mit anscheinender Ruhe. »Habe ich für Dich nicht gethan, was nur ein Vater thun kann... und noch mehr? Jetzt bist Du mein Kind nicht mehr, ich nicht Dein Vater. Der Markt ist zu Ende, die Rechnung ist abgeschlossen. Meinst Du, es wird mir so schwer fallen, Dich zu vergessen, wie Du Deine Eltern, vor Allem... Dich selbst vergessen hast? Ich könnte dir meinen Fluch auf den Weg mitgeben, aber ich thue es nicht. Wenn es Dir einmal schlecht geht, sollst Du nicht sagen können: Es geht mir schlecht, weil mich mein Vater verflucht hat. Segnen kann ich Dich auch nicht... man segnet die nicht, die das Haar ihres Vaters mit Schande bedeckt hat...«

Diese letztern Worte hatte er schon so leise gesprochen, daß sie nur Blümele's Ohr berührten. Es war das letzte Aufflackern einer Liebe, die das grauenhafte Geheimniß seines Hauses selbst jetzt noch, wo es fast offenkundig vor Aller Augen lag, nicht preisgeben wollte. Mit einem lauten Schrei stürzte Blümele von ihm fort und klammerte sich an Jaques, wie hilfesuchend.

»Und nun zur Chuppe (Trauung), Ihr Leute!« herrschte Jacob Löw.

Der Hochzeitszug setzte sich in Bewegung; die Trauung selbst fand in der angrenzenden Stube statt, wo der Trauhimmel aufgerichtet stand.

Bei dem darauf folgenden Hochzeitsmahle ging es still und einsilbig zu. Weder Jacob und Esther, noch das junge Ehepaar rührten eine der Speisen an; dagegen erwiesen die eingeladenen zehn armen Leute und die frommen Weiber den Genüssen der Tafel alle Ehre.

Nachdem abgespeist und das Tischgebet verrichtet worden war, stand Jacob Löw rasch auf und gab damit das Zeichen zum allgemeinen Aufbruch.

Da nahte sich ihm Jaques, seine junge Frau im Arme.

»Vater«, rief er, und es schien ihm Ernst, was er sprach, »haben Sie Erbarmen mit uns... Ich will ja Alles wieder gut machen...«

»Gut machen?« rief Jacob Löw mit furchtbarem Hohne, ohne den Schwiegersohn eines Blickes zu würdigen. »Ihr Kind wird für mich doch keinen Kadisch sagen.«

Dann ergriff er Esther's Arm...

»Komm', Esther, mein Kind!« sagte er, und seine gebrochene Stimme offenbarte erst jetzt, daß seine bisherige Fassung nur eine erkünstelte war. »Komm', lass' uns in unser stilles Haus zurückkehren. Was haben wir noch zu erwarten? Fünf Kinder haben wir bereits begraben, das sechste folgt ihm jetzt nach! Denk' Dir schon jetzt, daß wir Zweie einsam sterben werden, und Niemand wird dabei sein, als höchstens ein frommes Weib oder Einer von der heiligen Brüderschaft! Was braucht Dir aber daran zu liegen? Mit unserem Gelde werden wir eine Stiftung begründen, und da wird sich schon ein armes Waisenkind herbeischaffen lassen, das uns an unserer Jahrzeit Kadisch nachsagen wird... Und jetzt komm', Esther!...«

Er konnte es nicht verhindern, daß sich Esther von ihm loßriß.

»Blümele!« rief sie.

Minutenlang hielten sich die beiden Frauen umfangen; keine schien von der Andern lassen zu können. Endlich löste Esther die Umarmung. – – –

Eine Stunde später fuhr Blümele mit ihrem Manne in dem mit ihrer Ausstattung beladenen Wagen die Straße, die gegen Prag führt. Vom Riesengebirge her pfiff ein kalter Wind, rings dehnte sich die weite, schneebedeckte Landschaft. Die Bäume an der Straße schauerten in ihrer weißen Bekleidung, die ihnen der Winter, wie ein mitleidiger Räuber, statt des geraubten grünen Blättergewandes zugeworfen hatte. Als sie in die Nähe der steinernen Straßenpyramide kamen, wo die Wege sich kreuzen, da der eine ins nördliche Böhmen, gegen Sachsen, der andere nach Prag führt, sah Blümele dort eine Gestalt stehen, die im Zwielichtdunkel des Abends vom weißen Hintergrunde des Schnees eigenthümlich abstach. Sie schien Blümele zu winken, lange, endlose Arme gegen sie auszustrecken...

Der Wagen schoß aber rasch vorbei, da der Weg dort eine bedeutende Senkung macht.

 

Überschreiten wir einen Zeitraum von nahe sieben Jahren!

Es ist ohnehin in der engen Umfriedung unserer Geschichte nichts Anderes vorgefallen, als daß man eine arme Mutter indeß bei ihren vorausgegangenen Knaben zur Ruhe bestattet hat, daß Jacob Löw ein alter, einsamer und hartherziger Mann geworden – und daß Blümele verschollen geblieben ist!

Esther war einige Monate nach der Heirat ihrer Tochter gestorben. War es der Gram um den unheilbar zerstörten Frieden ihres Hauses, oder die nie zu stillende Sehnsucht nach der verlorenen Tochter – seit jener grauenvollen Nacht, die dem Versöhnungstage gefolgt, war sie in ihrem innersten Wesen gebrochen, das Leben in ihr fand keine Quelle mehr, aus der es neue Erstarkung sog. Als sie ihre letzte Stunde herannahen fühlte, hieß sie die ›frommen Weiber‹, die bei ihr schon mehrere Tage gewacht hatten, da ihrer Auflösung stündlich entgegengesehen wurde, aus dem Zimmer sich entfernen, und winkte ihren Mann zu sich.

»Jacob Löw!« sagte sie, sich mühsam erhebend, seine Hand mit ihrer bereits erkälteten berührend, »thue mir den letzten Gefallen...«

»Ich weiß, was Du reden willst, Esther«, sagte er tief traurig , »rede darum lieber nichts.«

»Verzeih' ihr, Jacob Löw! Verzeih' ihr!« rief sie, und ein leuchtendes Roth höherer Erregtheit flog vorübergehend über ihre blassen Züge.

»Red' nicht weiter, Esther!« brachte Jacob Löw mühsam hervor. »Soll ich Dir eine Lüge als Wegzehrung in die jenseitige Welt mitgeben? Das Kind hat mir zu viel angethan!«

»Merkwürdig, merkwürdig!« meinte Esther nach einer guten Weile, während sie die zu einem längern Sprechen nöthige Kraft erlangt zu haben schien... »Daß doch gerade solche Eltern am meisten böse auf ihre Kinder sind... wenn sie selbst die Schuld haben, daß diese Kinder nicht gerathen sind.«

»Esther!« rief Jacob Löw.

»Lass' mich reden, Mann! Es ist ohnehin mein Letztes. Ich bleibe bei dem, was ich gesagt habe. Du hast sie verdorben, indem Du sie zu plötzlich und unvorbereitet auf den Weg des Eitlen und Nichtigen geführt hast... und ich, Jacob Löw... ich war ein Weib! Mir hat es nicht recht geschienen, daß unser Blümele einen Mann bekommen soll, über den man lacht... und so habe ich geschwiegen... und verschwiegen, was ich nicht hätte sehen sollen! Mein Herz ist auch daran gebrochen... Was willst Du aber von dem Kinde?... Verzeihe ihr, Jacob Löw, verzeih' ihr!«

»Ich kann nicht, Esther!« rief Jacob Löw weich, aber trotzdem unbeugsam.

Plötzlich sagte Esther schwach:

»Jacob Löw! Sag' mir jetzt, was zu sagen ist... es dauert nicht mehr lange... Lass' mir aber die frommen Weiber nicht herein!... Ich will nichts Fremdes um mich...«

Jacob Löw schauerte auf; er begann das: »Höre, o Israel! Der Gott, unser Gott, ist ein einiger Gott!« was Esther mit flüsternden Lippen nachsprach. Als die frommen Weiber, die in der angrenzenden Stube diesen Ausruf vernommen hatten, darauf hereintraten, legte sich soeben die Ruhe des ausgerungenen Erdenkampfes über Esther's Antlitz! –


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