Leopold Kompert
Der Dorfgeher
Leopold Kompert

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Emanuel war, ohne daran zu denken, wie weit ihn seine Füße trugen, tief in den Sabbath-Nachmittag hineingegangen. Die Qualen eines ruhelosen, zwischen Gegensätzen auf und niederwogenden Herzens trieben ihn so weit. Das Ghetto lag schon in dämmernder Ferne hinter ihm, als es ihm einfiel, daß er beinahe unwillkührlich das Versprechen, das er Clara gegeben: nur noch die Eine Nacht im Banne seiner Eltern zu bleiben und dann zu flüchten, wirklich erfüllt habe. Er war geflohen – und er freute sich darüber. Er schrieb das dem Geist der Liebe zu, der mächtiger sei als alle andern Bande, sie mögen Eltern oder Geschwister heißen. Oft sah er Klara neben sich gehen, sie hielt ihre Arme um seinen Hals geschlungen, und beseligt fühlte er an seinen Wangen ihrer Nähe beglückenden Athem!

Dennoch dachte er einen Augenblick darauf mit Schauder daran, was wohl seine Eltern dazu gesagt hatten, daß er nicht zum Mittagessen gekommen war, und was es für einen Eindruck auf Benjamin machen mußte, wenn er in die ›Schlafstube‹ kam, und ihm da die Kunde ward: der von ihm so ahnungsvoll geliebte Bettler sei am heiligen Sabbath verschwunden! Wenn dieses Kind ein finsterer Menschenverächter wird, war sein Gedanke, so trägst du die Schuld daran; wie den Kelch einer Blume neigte es seine junge Seele der deinen entgegen, aber statt Sonnenlicht läßt du nur Gifttropfen in ihr zurück, statt der Freundesgestalt stehst du vor ihm als Religionsfeind und Sabbathverräther. Das Kind mußte ihn für sein ganzes Leben hassen.

Nun wäre er beinahe wieder umgekehrt –, und er that es auch, ohne zu merken, daß er heimwärts ging. Erschrocken, aber dennoch mehr erfreut, fand er sich in später Nacht wieder vor der Schlafstube; er wankte wie im Traume hinein. Hier erfuhr er von den übrigen Bettlern, daß ihn Benjamin wirklich gesucht, und wegen seines Ausbleibens vom Mittagsessen besorgt sich geäußert habe. Es fehlte auch nicht an spöttischen Fragen und Witzen der ›Gäste‹, die an seinen staubigen Kleidern den Sabbathverächter erkannten.

»Wo habt Ihr zu Abend gebetet?« fragte ihn Einer anmaßend, der ihn vom Scheitel bis zur Fußzehe mit den Augen maß.

Selbst das polnische Weib, dessen Augen ihn so lebhaft an Clara gemahnten, hielt den Spott nicht zurück und meinte: er hätte den Weg verfehlt, und darüber sei er dem Sabbath aus dem Wege gekommen.

Emanuel würdigte die Gäste keiner Antwort; er warf sich müde auf eine der Holzbänke; seine Seele kam ihm höchst erbarmenswerth vor. Was hatte sie gelitten seit den wenigen Stunden, da er im Ghetto war! Und des Leides war doch kein Ende, selbst wenn er ging! Da ließ er einen Benjamin zurück, dessen herrliches Gemüth er vergiftet, den er gleichsam entweiht hatte. Heute und morgen mußte sich die Lüge offenbaren mit der er vor seine Eltern getreten, der Verrath an seinem alten, die Lüge an seinem neuen Glauben mußte kund werden, aber er erschrack nicht so davor, als vor dem Verrath an Benjamins Seele! Vor dem Kinde wäre er gerne rein gestanden, er meinte nicht fortgehen zu können, wenn er sich vor ihm nicht entschuldigt hätte. Einige Male stand er sogar vor seines Vaters Wohnung, noch brannte Licht darin; er sah die Gestalten seiner Mutter, Benjamins und Röseles auf und nieder schweben; – er segnete sie, aber so oft er die Thürklinke zur Hand nahm, mußte sie ihm entsinken. Es war bestimmt, daß er als Religionsfeind, Sabbathverächter und Seelenvergifter aus der Heimath scheiden sollte!

Wir finden am anderen Tage unsern Emanuel in wirklicher Flucht begriffen, die Straße wandelnd die zu einem benachbarten Städtchen führt, wo er Postpferde nehmen wollte. Wir sehen ihn, blassen Antlitzes, auf das die Sorge und das Nachtwachen ihre leserlichen Züge geschrieben, so gedankenvoll dahin schreiten, daß seinem Auge ein auf derselben Straße wandelnder Mensch entging, auf dessen Rücken er eine Last bemerkt und in welchem er nach genauerm Hinblick seinen eigenen Vater erkannt hätte. Erst zehn Schritte von ihm vernahm er ein lautgesprochenes hebräisches Gebet – er blickte auf und that einen lauten Schreckensschrei.

Sein Vater wandte sich darauf um und winkte ihm mit der Hand, daß er ihn im Gebete nicht unterbrechen sollte. Er hatte die Gebetriemen noch an und ging so, singend und seinen Herrn lobpreisend unter freiem Himmel. Emanuel hatte indessen Zeit, sich auf die bevorstehende Scene vorzubereiten.

»Warum seid Ihr nicht zum Essen gekommen, Gast«, begann der Dorfgeher nach Beendigung des Morgengebetes, indem er langsam die herabgenommenen Gebetriemen zusammenlegte, »hat Euch meines Weibes Kost nicht zugesagt?«

»In meinem Leben hab' ich keine bessere gehabt,« entgegnete Emanuel schüchtern auf die mit leisem Spott vorgelegte Frage seines Vaters.

»Und doch weggeblieben? – Meinem Benjamin habt Ihr die ganze Freud' verdorben; er hat nichts essen wollen, und wie ihm Nachmittag die Mutter, weil er mit dem Talmud so Gotteswunder ist bestanden, hat ein Geschichtchen erzählen wollen, hat er's nicht angehört, weil Ihr nicht dabei wart. Was sagt Ihr nur zu dem Kind?«

»Was ist das für eine Geschichte?« fragte Emanuel, der in dieser Ableitung des Gespräches ein vortreffliches Mittel fand, dem Thema über sein gestriges Wegbleiben auszuweichen.

»Mein Weib hält Stücke darauf und nimmt nicht Gold dafür. Das Geschichtchen ist einmal in unserer eigenen Familie vorgegangen, und wenn Channe einem Kind Freud' machen will, so erzählt sie's ihm. Gestern hat's Benjamin hören sollen.«

»Kommt nicht ein Getaufter drin vor?«

»Wie wißt Ihr das?«

»Ich hab' davon etwas läuten gehört.«

Emanuel sprach keine Unwahrheit. Die Mutter hatte ihm das Familienmährchen in seiner Kindheit erzählt.

Nach diesem ersten Beginn gingen Vater und Sohn stillschweigend neben einander; ersterer war es, der wieder anfing:

»Wo geht Ihr eigentlich hin, Gast? Vielleicht wißt Ihr's aber selbst nicht.«

»Ihr könnt Recht haben, Rebb Schimme«, sagte Emanuel mit trübem Lächeln.

»Und schickt sich das für so einen jungen Menschen, wie Ihr seid?« fuhr der Dorfgeher auf. »Jeder Mensch, und besonders ein Jüdenkind, muß etwas vorhaben, dem was er nachgeht.«

»Wenn ich Euch aber sage, daß ich etwas vorhatte –«

»Das brauch' ich nicht zu wissen. Ich weiß übrigens selbst nicht, warum ich Euch so frage. Was geht Ihr mich an? Ich hab' das auch meinem Weibe gesagt, sie hat mir aber nicht folgen wollen.«

»Warum?«

»Sie kann Euch gar nicht vergessen, sie und Benjamin haben den ganzen Tag von Euch geredt, es ist nur, daß sie nicht geweint hat, wie Ihr nicht gekommen seid. Bis spät in der Nacht hat sie auf Euch gewart' und hat nicht wollen schlafen gehen, Benjamin auch. ›Narrele‹, hab' ich gerufen, ›was liegt dir an dem Bettler auf? Hast Du noch keinen bei Dir gesehen?‹ ›Schimme‹, hat sie gesagt, ›Du weißt gar nicht, wie mich das verdrießt, daß der Fremde nicht kommt! Hat ihn Einer beleidigt?‹ Da hat Benjamin zu weinen angefangen.«

Trotz der tiefen Erregung begriff Emanuel recht wohl den Unterschied, den Vater und Mutter zwischen ihm machten, der Vater sah einen Bettler in ihm, die Mutter nur einen Fremden.

»Mich hat Niemand beleidigt«, warf er wie halbgesprochen hin.

»Aber im Ernst, Gast«, setzte der Dorfgeher weiter, »auf wohin wollt Ihr denn eigentlich? Ich seh's gern, wenn Ihr noch ein Stück mit mir geht. Bis zum ersten Dorf könnt Ihr noch mit mir gehen.«

»So weit Ihr wollt«, sagte Emanuel unvorsichtig.

»Da dafür will ich euch im Dorf ein Haus zeigen, wie Ihr noch keines in der Welt angetroffen habt, ich will Euch zu Rebb Schmul Randar führen, da bekommt Ihr gewiß ein gut Stück Geld auf den Weg und noch ein Anbeißen dazu. Ganz feine Leute wohnen da drin; kommen auch hundert Bettler gegangen, es kriegt jeder etwas, und tausend Segen kleben an dem Haus. Der Jud', der hat ein Herz, bei den Bauern bekommt Ihr so nichts.«

»Ich habe doch immer gehört, die Bauern seien gastfreundlich, sie bewirthen gern«, verbesserte Emanuel den etwas unverständlichen ersten Ausdruck.

»Probirt's nur und geht zu einem hinein, da werdet Ihr das selbst sehen; da werdet Ihr hören, wie der Bauer oder die Bäuerin zu Euch sagt: Wir haben nichts, geht nur zum Juden hinüber, der Jud' ist reicher als wir, der Jud' hat unser Geld! Wenn sie Euch nicht das sagen, so heiß' ich nicht Schimme Prager. Der Jud' kann aber Allen geben, der Jud' besinnt sich nicht, wenn er thut geben, und das kommt daher, weil der Jud' ein Herz hat.«

Emanuel schaute nach diesen starken Worten seinem Vater in's Gesicht; es lag eine schöne Röthe darauf, des Zornes oder des Spottes: er hätte sie gern seiner Clara gezeigt. –

Des Interessanten vernahm er übrigens gar Manches, als er so mit seinem Vater dahinzog. Trotz aller Beschränktheit und Vorurtheile, die dem Sohne zuweilen ein Lächeln entlockten, mußte er über das volle Bewußtsein und den klaren Verstand des Dorfgehers erstaunt sein. Er hätte das hinter der gekrümmten, keuchenden Gestalt nicht gesucht. So verblendet war Emanuel durch seine Lage, so verwirrt durch den Zwiespalt seiner Seele geworden, daß er oft das natürliche Verhältniß zu seinem Vater vergaß und eine bloß fremde Person vor sich sah, deren geheimnisvolles Wesen er erforschen und durchwühlen mußte, um interessante Bemerkungen für seine Clara zu bereiten!

Dieser unselige Wahn täuschte ihn noch öfters, aber jedes Erwachen war mit schmerzlichem Kampfe verbunden. Wenn er sich an der Seelenentfaltung des Dorfgehers, an seinen Fragen und Antworten ergötzte, wenn er ihn in seinem Zorn und Spott, in seinem Glauben und Aberglauben sah, und ihm dann jedesmal einfiel: das ist dein Vater – dann blutete er aus allen Wunden. Schwer läßt sich die Stimmung Emanuels während dieser Wanderung neben seinem Vater schildern; sie wechselte wie Regen und Sonnenschein ab, bald lind, und weich, und im nächsten Augenblicke darauf wild und gereizt. Es war dies die nothwendige Folge eines in seinen tiefsten Lebenswurzeln bedrohten Gemüthes, an das so mannigfache Erschütterungen unausgesetzt ihre Axt legten.

»Heut' weiß ich, werd' ich nichts lösen«, sagte der Dorfgeher, als sie die Häuser des Dorfes vor sich sahen.

»Wie könnt Ihr das wissen?«

»Weil heut' Sonntag ist, an dem Tag verdien' ich nichts. Wo hat der Bauer heute Zeit, mir etwas abzukaufen?

Jetzt läuten sie mit der Glock' in die Kirche, hernach essen sie, und Nachmittags führt der Bauer seine Bäuerin in's Wirthshaus, da tanzen sie und trinken sie. Wie soll ich da etwas lösen?«

»Und warum soll der Bauer seinen Sonntag nicht genießen können?« rief Emanuel sich selbstvergessend aus, »habt Ihr nicht Euern Sabbath?«

»Kurios redet ihr, mein lieber Gast«, sagte der Dorfgeher verdrießlich, »wie könnt Ihr unsern heiligen Schabbes mit Sonntag vergleichen? und mein ich denn, der Bauer soll keinen Tag haben, wo er sich ausruhen und auf der Ofenbank ausstrecken kann? Wer braucht denn nicht den Sonntag? Der Bauer und der Handwerker; und wer kann das besser einsehen, als der Jud'? Der hat dafür seinen Schabbes.«

»Alles wahr, mein lieber Rebb Schimme«, rief Emanuel mit immer mehr gereizter Stimmung, »wenn Ihr aber das wißt, warum bleibt Ihr am Sonntag nicht lieber zu Haus? was stört Ihr den Sabbath der Bauern?«

»Das heißt geredt!« schrie dagegen der Vater, »das heißt gered't! Soll ich zwei Tage in der Woche verlieren?«

»O!« rief Emanuel überquellend aus, »weil Ihr einen Tag nicht wollt verlieren, darum muß der Bauer in seinem Sonntag gestört werden? Weil Ihr Euern Pack mit alten Westen und Schnupftüchern nicht wollt müßig im Winkel liegen lassen, darum darf der Bauer nicht wissen, daß er Sonntag hat?«

»Trinken und tanzen und juchezen kann er, nicht wahr?« meinte der Dorfgeher mit Bitterkeit, »und ich verstör' ihm seinen Sonntag, wenn ich ihm eine alte Weste oder Schnupftuch aus meinem Pack, wie Ihr sagt, thu' verkaufen? Ich komm' doch immer auf mein Sprüchwort zurück: Wer sich am wehesten thut, das ist der Jüd' selbst.«

»Wie meint Ihr das?« fragte Emanuel, betroffen durch den wehmüthig bitteren Ausdruck seines Vaters.

Der Dorfgeher behauptete aber ein hartnäckiges Stillschweigen. Emanuel fühlte, daß er seinem Vater durch die tiefliegendsten Fasern seines Wesens geschnitten habe.

»Seid Ihr noch ein Jüd', Gast!« rief er plötzlich, indem er vor Emanuel stehen blieb.

»Was heißt das?« fragte Emanuel erschrocken, »bin ich denn keiner?«

»Ansehen thut man's Euch nicht, wenn man Euch so reden hört. Welcher Jud' wird dem Bauer Recht geben und sich selbst Unrecht? Aber so sind wir leider Gottes Alle. Warum sagt Ihr nicht lieber gleich: was soll mir der ganze Sabbath? warum hab' ich mit dem Bauer und mit dem Handwerksmann nicht zu gleicher Zeit meinen Schabbes? Da braucht' ich mit meinen alten Westen und Schnupftücheln nicht herumzugehen, da könnt' ich einen Tag in der Woche einstecken und mehr Geld verdienen. Und habt ihr nicht dadrauf kommen wollen? Ihr meint, Gast, ich weiß nicht, was in der Welt vorgeht? daß man umgeht, den Schabbes abzuschaffen. Sagt, habt Ihr nicht da drauf kommen wollen?«

»Und wenn?« entgegnete Emanuel stockend, der sich übrigens freute, den Vater auf einem allgemeinen Standpunkte des Streites zu finden. Milder, als wohl zu erwarten stand, sprach der Dorfgeher:

»Nicht Ihr, nicht ich können da etwas sagen, Gott allein kann das entscheiden. Gott aber hat gesagt: Am siebenten Tag sollst Du ausruhen von aller Deiner Arbeit – (er sagte den hebräischen Text aus der Schöpfungsgeschichte) – hat er da gewollt haben, daß ich am Schabbes mit alten Westen und Schnupftücheln soll hausiren gehen? Hätt' er da nicht gleich gesagt: Schimme Prager, Du kannst Dir, wenn Du willst, aus dem siebenten Tag der Woche auch den ersten machen, an dem Tag werden Peter und Pawel im Wirthshaus sitzen und werden da trinken und tanzen und juchezen, da kannst Du auch hingehen und Dich hinsetzen! Oder umgekehrt: hätt' er nicht gleich gesagt: Schimme Prager, ich weiß, Du bist ein armer Mann und brauchst den Kreuzer Geld, ich will Dir 52 Tag im Jahre zugeben, da kannst Du mehr Geld verdienen. Ich sag' Euch, Gast, will Gott, daß ich etwas soll lösen, so schickt er mir's in den fünf Tagen der Woch' auch zu. Die 52 Tage im Jahre sollen das ausmachen? Das kann ich nicht glauben!«

Sie hatten bei diesen Worten gerade das Dorf erreicht. Und war es ein nachzitternder Groll oder seine erhöhte Stimmung? – der Dorfgeher vergaß, seinem Sohn den Weg in den Randarhof zu zeigen, wo er doch ein so bedeutendes Almosen erhalten hätte! Aber war das noch der Vater, war das noch das nämliche, vom Feuer inneren Glaubenslebens erglühte Wesen, das da vor den Häusern der Bauern dahinschlich und sein langgezogenes »Kauft, Kauft, Kauft!« ertönen ließ? Mit beinahe traumhafter Verwunderung blickte Emanuel dem Treiben seines Vaters zu; als er ihn aber einer unter dem Hausthore stehenden Bauerndirne unter das Kinn greifen sah, fühlte er, wie sich ihm alles Blut nach dem Kopfe drängte. War das wirklich die nämliche Gestalt? Kopfschüttelnd ging Emanuel zum Dorfe hinaus, es litt ihn nicht drinn. Draußen auf der Straße wollte er seinen Vater erwarten.

 


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