Leopold Kompert
Der Dorfgeher
Leopold Kompert

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Unmöglich können wir unsern ›Gast‹ auch am folgenden Tag, der der eigentliche Sabbath ist, aus dem Ghetto ziehen lassen. Wie wollte Emanuel das auch anstellen? War er unsichtbar um aus der Schlafstube, sein Gepäck auf dem Rücken, den Wanderstab in der Hand, mitten aus dem drohenden Knäuel dieser Bettler mit heiler Haut zu kommen? Zudem war auch heute Benjamin's Verhör; er mußte doch wissen, ob sich der Knabe das ›Grafenröckl‹ verdient hatte.

Früh Morgens, am Sabbath, als Emanuel durch die schmutzigen Fensterscheiben seiner Schlafstube blickte, sah er seinen Vater in Begleitung Benjamin's zur Synagoge wandeln. Der Knabe ging hinten drein, und trug unter einem Arme die Bibel, unter dem andern den weißen Talar, in den man sich beim Gebete hüllt. Mit dem Auge eines Sohnes freute er sich, wie stattlich der Vater, so ganz anders, als gestern unter der Last des Waarenpackes, sich heute ausnahm. Auch den beinahe 30jährigen Hochzeitsfrack, der jetzt der Sabbathfeier dienen mußte, erkannte er.

Wehmüthiger machte ihn schon Benjamin's Anblick. Hier sah er seine zweite Jugend, den lebendigen Abglanz seiner Kindheit vor sich. So wie Benjamin, trug auch er einst seinem Vater, wenn er ihn in die Synagoge begleitete, die Bibel nach; so wie Benjamins Antlitz leuchtete auch das seinige in gerechtem Stolze, wenn er sich unter der Last des schweren Buches, das Jahrtausenden zur Stütze gedient, abmühen konnte. Und Jahre werden kommen, und wieder vergehen, dachte er bei sich, da wird von dieser glaubensstarken, ehernen Burg nur ein Schutthaufen Dich gemahnen, daß nicht einmal die Gedanken unsterblich sind, da wird dieser Knabe Benjamin sein, was sein Bruder Emanuel geworden ist. Dafür behüte ihn aber der Himmel!

Fast um sich des aufsteigenden Gewitters seiner Seele zu entladen, trat er hinaus auf die Gasse, und folgte schattengleich den Beiden bis zur Synagoge nach.

In der Synagoge nahm er den bescheidensten Platz draußen in der Vorhalle ein; er konnte von dort aus in das dichte Gedränge der betenden Versammlung und darunter Vater und Bruder erblicken. Sonderbar! wie sehr auch Emanuels Seele und Gemüth jeder Erregung offen stand, wie gleichsam an jedem Gefühle die Erinnerung als Glöckner stand, um alle Glocken der Kindheit zu läuten, so, wir müssen es gestehen, machte der Sabbathgottesdienst doch keinen Eindruck auf ihn: seine Regellosigkeit, das ungebundene, in aller Freiheit aufschreiende Gebet der Anwesenden, traf seine Seele sogar verletzend – dennoch beschäftigte ihn ein Gedanke, den er bei der Rückkehr seiner Clara mittheilen wollte, und den wir um Emanuels Willen hersetzen müssen:

Willst Du wissen, Clara, gedachte er ihr zu sagen, warum die Juden im Leben gewöhnlich so selbständig auftreten? Nicht angeborner Speculationsgeist ist es, nicht höhere Begabung, nicht unter äußerem Drucke elastisch gewordene Intelligenz. Tritt einmal in eine Synagoge, verlache da mit Recht nach der Sitte der Deinigen dieses athemlose, unmelodiöse Geplärre, dieses pagodenhafte Bücken und Beugen, und Du hast den Schlüssel zu meinem Räthsel gefunden. Es wird Dir vor Allem die Selbständigkeit in den Gefühlsäußerungen der Beter auffallen; ein Jeder schreit, ein Jeder bewegt sich, ein Jeder drängt sich gleichsam wie in einem Audienzsaal vor Gott, um gehört zu werden. Wenn Ihr Heilige habt, die als Vermittler in der Mitte der Leitern stehen, die Ihr an den Himmel anlegt, während Ihr unten in jammervoller Demuth hinanseht, wie sie Euere Opfergaben hintragen, so hat der Jude die Unmittelbarkeit seines Gebetes voraus. Wer aber schon zu seinem Gott in so offenem Verhältnisse steht, sollte der vor Menschen Scheu haben? Ihr habt zu viel Andere, die für Euch beten, bitten und handeln.

Dieses und noch Manches Andere, was Clara nicht sobald von einem Andern und noch viel weniger aus einem Buche hören konnte, gedachte er ihr bei seiner Rückkehr mitzutheilen. Einstweilen mußte er es aber dulden, daß er von jedem, der zur Synagoge Hinausgehendem mit dem traulichen ›Salem Alechem‹ und dem brüderlichen Händedruck begrüßt wurde, er, der verlassene, auf Sabbathkost genommene Bettler! Selbst den reichen Joseph Brandeis, zu dessen Schätzen er als Kind schwindelnd hinangeblickt, sah er auf sich zukommen. Sein Vater und Benjamin kamen vorüber, Letzterer mit von Furcht und banger Erwartung angegriffenen Zügen des holden Antlitzes. Athemlos rief sogleich der Knabe, indem er die Hand nach ihm ausstreckte:

»Kommt mit zum Verhör, Ihr müßt dabei sein.«

»Darf ich?« fragte Emanuel mit einem Blick auf seinen Vater.

»Benjamin möcht' sich gern die ganze Gemeinde zusammenrufen«, entgegnete der Vater, beinahe Besorgniß über den Erfolg seines Kindes in der Stimme kundgebend, »weiß ich aber, ob er etwas können wird? Ein Blatt Talmud ist kein Spaß, Benjamin, und vier Augen sind genug, wenn man Schand' soll erleben.«

»Kommt nur«, bat Benjamin.

Zum Vetter Rebb Jaikew hatten sie nicht weit zu gehen; er wohnte im Synagogengäßchen. Emanuel fielen die Sabbathe seiner Kindheit ein, an denen er gebangt und gezittert, wenn er die finstere Stiege zum Verhör beim Vetter Rebb Jaikew hinaufsteigen mußte, und die finstere Gestalt dieses Verwandten, der in seiner Familie ein an Anbetung grenzendes Ansehen genoß, tauchte vor ihm auf. Damals war der Vetter noch jung, dennoch fürchtete man sich ihn anzusehen. Wie mußte dieses bleiche, von Furchen tiefer Erkenntniß gezeichnete Antlitz, wie mußten diese buschigen Brauen über den grauen Augen erst jetzt erschrecken! Dennoch erinnerte er sich der Seligkeit, wenn der Vetter mit ihm zufrieden, seinem Weibe zurief, ein Sabbathobst für Elije bereit zu halten, und er des Nachmittags kam, um es abzuholen.

»Fürchtest Du dich, mein Benjamin?« fragte er deßhalb den Knaben, als sie die Treppe hinanstiegen.

»Nicht ein Bissele«, entgegnete das Kind; aber die zitternde Hand beschuldigte es der Lüge.

Der Vetter saß gerade vor einem dicken Buche, aus dem er ›lernte‹ als sie eintraten; er hatte sich in der That während Emanuels Abwesenheit wenig verschont.

»Guten Schabbes, Vetter«, grüßte schüchtern der Vater.

»Gegrüßt sei der Angekommene!« klang es dumpf zurück; der Vetter blickte vom Buche kaum auf.

»Nu, sag's ihm«, flüsterte der Vater Benjamin zu, »geh hin und bitt' ihn.«

Ein Todesbangen lag auf dem holden Antlitz des Knaben; seine Seele war scheu in die tiefsten Werkstätten ihrer Thätigkeit geflüchtet, es war nur ein von Furcht beseelter Körper.

»Ich möcht' mich verhören lassen, Vetter Rebb Jaikew«, stotterte fast unvernehmbar der Knabe.

»Verhören, aus was?« fragte der Vetter klanglos trocken.

»Aus dem ersten Blatt Talmud«, war die Antwort Benjamin's.

Ein steinernes Lächeln glitt über die Züge des Vetters, aber es verschwand sogleich, als wenn es zu lange dort geweilt hätte. »Narrele«, sprach er langsam, »dort im Winkel hab' ich einen Kasten stehen, der ist voll mit Büchern. Kann ich wissen, von welchem Du gelernt hast?« – »Das erste Blatt« – Benjamin erröthete – »Von Baba Mezieh« verbesserte er seinen Fehler.

Ein neues Lächeln, noch kälter wie das frühere, warf ein flüchtiges Wetterleuchten über den Gelehrten. »Wie alt bist Du?« frug er nach einer Pause. »Auf Neujahr werd' ich elf Jahr alt.« »Und das erste Blatt Talmud?« Er that diesen Ausdruck in so dumpfer, klangloser Weise, daß man kaum unterschied, war er in Spott oder Verwunderung gemeint. Mit dem Finger deutete er hierauf auf eine Stelle des Kastens, wo Benjamin den betreffenden Folianten finden sollte.

»Jetzt heb' an«, sprach er, nachdem Benjamin die erste Blattseite des Buches vor sich aufgeschlagen hatte. Jetzt erst trat der Vater, der bis dahin in ehrfurchtsvoller Scheu zurückgestanden, vor, zog die Brille an, seinen Kopf über Benjamin's Schultern streckend, damit ihm vom Verhöre auch nicht das Geringste entgehe. Benjamin begann erst schwankend, dann immer sicherer und fester. Es war für den Dorfgeher ein ganz eigenthümliches Gefühl, dem wir unmöglich Worte leihen können, als er sein Kind den schweren Sinn des Talmud's verdeutschend, und dabei in jenem singenden Tone des Lernens, mit allen Geberden und Bewegungen, wie er ihn den Daumen umstülpen, dann wieder bei einer Schlußfolgerung aufheben und kämpfen sah. Nein, guter Rebb Schimme, wir wollen leise, ganz leise an den Freuden dieses Augenblickes vorüberhuschen, kein Wörtchen soll uns entkommen. Zuweilen war aber auf seinem Gesichte Sorge und Furcht zu gewahren; das geschah, wenn der Vetter dem Knaben eine jener Querfragen vorlegte, die im Buche nicht standen. Dann legte sich die Stirne des holden Knaben in Falten; er sann nach, bis ein flüchtiges Aufblitzen seiner Augen, gleichsam eine Offenbarung seines Antlitzes verrieth, daß er den Vetter verstanden. Und wie eine Frühlingsblume blühte dann an den Lippen des Dorfgehers ein väterlich mildes Lächeln, wenn er den Vetter kopfnickend, sich den Bart streichen sah, und Benjamin, weil er die Frage beantwortet, fortfahren durfte.

Das Verhör war endlich zu Ende. Schweiß stand auf der Stirne des Knaben, sein Antlitz glühte, eine erwartungsvolle Stille lagerte sich über die Stube; der Vetter sah starr vor sich hin. »Das Jüngel«, wandte er sich hierauf zum Vater, »das Jüngel hat einen eisernen Kopf, wenn er Acht gibt, kann etwas Großes aus ihm werden.« Darauf seinen Kopf nach rückwärts zur offenen Thüre gewandt, rief er: »Zirl, Zirl, komm' ein Bissele heraus.«

Auf der Schwelle erschien sein Eheweib, die Muhme Zirl. »Du sollst wissen, Zirl«, sprach er zu ihr, »heut' Nachmittags um 3 Uhr, da wird das Jüngel Benjamin zu dir kommen, dem wirst du geben zwei kleine Äpfel, nicht mehr und nicht weniger. Hörst Du gut? Aber Huzeln... so viel Du willst, ich will Dir nichts vorschreiben. Und jetzt ist gut.« Damit stand der Vetter auf, als wollte er die Gäste schon verabschiedet wissen, und trat mit dem Talmud an den Bücherkasten, woraus ihn Benjamin geholt. Der Dorfgeher aber nahm den Knaben bei der Hand und rief. »Soll ich leben, Benjamin Leben, Du hast mir viel Freud' gemacht, morgen gehst Du mit der Mutter zu Rebb Maier Tuchhändler.« Dann wünschte er dem Vetter Jaikew einen guten Schabbes und »wohl bekomm's«, und wollte mit Benjamin der Thüre zu; da rief ihn des Vetters Stimme wieder zurück.

»Rebb Schimme«, sagte er, »ich trag' Dir's auf, gib auf das Jüngel Acht, auf dem ruht der Geist, daß es Dir mit ihm nicht geht wie mit deinem Elije. Was hörst Du von dem?«

»Nichts, gar nichts«, entgegnete der Vater, nach so vieler Freude wieder traurig werdend.

»Was hat der Elije nicht für einen Kopf gehabt«, fuhr der Vetter fort, »und was ist aus ihm geworden? Nach' seinen Verstand und Klugheit hätt' er können Landrabbiner werden. Und was ist aus ihm geworden? Nicht einmal wißt Ihr, wo er sich aufhält! Kann der ein guter Jud' geblieben sein? Für den Elije ist Schad', groß Schad', aus dem hätt' was Großes können hervorgehen – und jetzt, vielleicht hat er sich –«

»Gott sei davor«, rief erschrocken der Dorfgeher, der den Vetter wohl verstanden, und griff mit dem hastigen Rufe »Gut Schabbes«, schnell zur Thürklinke.

Draußen aber überkam es unsern Emanuel mit Sturmesgewalt, wie er so neben dem Vater und Benjamin einherschreiten könne; er schien sich neben ihnen so schuldvoll, als hätte er seine Hände soeben in Blut gewaschen. Ein Augenblick sinnverwirrender, dunkler Eingebung war es wohl, daß er sich bei einer Biegung der Gasse von Benjamin losriß und ohne Abschiedswort davon eilte.

 


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