Leopold Kompert
Gottes Annehmerin
Leopold Kompert

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Es fehlten nur noch drei Tage zum Beginne des großen ›Versöhnungstages‹, der diesmal auf einen Mittwoch fiel. Diese ganze Zeit hindurch blieb Chaje auf ihrer Stube; der kleine Gassenladen wurde nicht geöffnet. Sie aß nur zu Mittag, denn der Fall der heiligen Thora legte ihr ein vierzigtägiges Fasten auf. Sonst herrschte in der kleinen Stube ein fast feierliches Stillschweigen. Wenn die alte Annehmerin nicht betete, saß sie in sich gekehrt in dem Lehnstuhl und ihre Augen leuchteten dann in einem unnennbaren Glanze.

Am Vortage der ›Versöhnung‹ fastete Chaje nicht; sie müsse ihre Kräfte für den großen Berg aufrecht erhalten, dessen Besteigung ihr bevorstand, sagte sie. Nachmittag begehrte sie ihre weißen Kleider und eine frisch gewaschene weiße Haube, denn, sagte sie, einmal im Jahre hat man ›Vortritt‹ bei dem König der Könige, und da muß man ganz anständig erscheinen. So saß sie dann, gehüllt in die feierliche weiße Kleidung, lang zuvor, ehe die Feier des furchtbarsten aller Tage begann.

Perlchen mußte mit der sogenannten ›dritten Mahlzeit‹ sich hasten; als sie geendigt, sagte Chaje:

»Und jetzt laß uns gehen, Perlchen.«

»Schon? Man hat ja noch nicht in die Schul' gerufen –«

»Ich habe mit Dir noch früher einen Gang zu machen. Beeil' Dich!«

Perlchen erschrak.

»Was erschrickst du«, sagte die alte Chaje mit merkwürdiger Ruhe. »Noch ehe der Jom Kippur eingeht, sollst Du erfahren haben, wer die Schrift an der Thür Deines Vaters ausgelöscht hat.«

Lautlos schritten dann die Beiden durch die in diesem Augenblicke noch menschenleere Gasse, das junge schreckensbleiche Mädchen neben der alten hageren Frau. Vor einem stattlichen Hause in der Nähe des Ringplatzes blieb Chaje stehen.

»Da wohnt ja Vetter Zender,« flüsterte Perlchen.

Chaje entgegnete nichts, mit festem Tritte schritt sie in das Vorhaus. Von oben herab schlugen lustige Stimmen an ihr Ohr, da schien es, als ob die alte Frau zögere, ihren Gang fortzusetzen. Doch alsbald ermannte sie sich und stieg die Treppe hinan, die in Zender's Wohnung führte.

Zender saß noch inmitten seiner Familie bei der dritten Mahlzeit, als Chaje mit Perlchen in die Stube trat. War es der Anblick der schreckhaften alten Frau in ihren weißen Gewändern, oder etwas Anderes – den Blicken Chaje's entging es nicht, daß eine merkwürdige Veränderung in seinen Zügen vorgegangen war; er war von seinem Stuhle aufgesprungen.

»Chaje«, rief er endlich mit einem mühsamen Lächeln, »wie kommst Du gerade jetzt her?«

Dann gebot er einem seiner Kinder, einen Sessel für Chaje herbeizurücken.

Die alte Frau winkte jedoch abwehrend.

»Laß gut sein, Zender«, sagte sie, »ich bin nicht gekommen, um mich bei Dir niederzusetzen. Ich bin gekommen, um mit Dir im Geheimen ein Wort zu reden.«

Das alles hatte sie mit äußerlicher Ruhe gesprochen; auch nicht ein Muskel in ihrem Antlitze zuckte dabei; sie schien vollkommen unbewegt.

»Jetzt?« meinte Zender, aber seine Linke, die auf den Tisch angelehnt war, zitterte während diese Wortes, wie von einem Krampfe ergriffen.

»Warum nicht jetzt?« sagte Chaje, die grauen scharfen Augen auf ihn richtend. »Du weißt, wir stehen am Eingange des Jom Kippur, da muß man sich eilen, daß man in das Thor kommt, bevor man es schließt. Und gerade, wenn man etwas auf dem Herzen hat, so soll man es sich vor diesem großen Tage herunterreden.«

Zender versuchte etwas zu reden; aber es klang ganz unverständlich. »Komm'«, rief er endlich mühsam, indem er sich erhob. »Mit Dir, das weiß ich noch aus früherer Zeit, muß man ganz besonders umgehen.«

»Perlchen, mein Kind, bleib indessen hier, bis ich mit Deinem Vetter mich ausgeredet habe«, sagte Chaje.

Jetzt erst hob Zender seine Augen auf und richtete sie auf das junge Mädchen, das sittsam an der Thüre stehen geblieben war.

Eine Leichenblässe bedeckte sein Antlitz. –

In einer dritten Stube angelangt, fragte Zender:

»Was willst Du Chaje?«

»Verriegle erst die Thüre!« gebot die alte Annehmerin.

Wieder verirrte sich ein mühsames Lächeln auf die dünnen Lippen Zenders.

»So überaus wichtig ist das, was Du mir mitzutheilen hast?«

»Ich habe nur eine Frage an Dich, Zender,« sagte Chaje, indem sie sich niedersetzte, »und die muß vor Jom Kippur beantwortet werden.«

»So rede!« sagte Zender, schwer aufathmend.

Chaje schwieg eine geraume Weile.

»Ich will Dich nur fragen, Zender«, sagte sie dann, mit feierlichem Nachdrucke jedes ihrer Worte betonend, »ob Du mir nicht erklären kannst, warum dem alten Rebbe am vorigen Sabbath die heilige Thora aus den Händen gefallen ist?«

»Mich fragst Du um das? Der Rebbe wird alt und schwach, da ist ihm das Unglück widerfahren«, meinte Zender mit mehr Sicherheit in der Stimme.

Chaje schüttelte den Kopf

»Das ist es nicht, Zender!« sagte sie, indem sie aufstand und hart an ihn hintrat. »Ich will Dir's erklären. Die Thora ist darum in den Staub gefallen, weil es in dieser Gasse eine Thür giebt, und auf dieser Thüre ist vor vierzehn Jahren eine Schrift gestanden, und diese Schrift hat Einer ausgelöscht...«

»Die alte Narrethei«, murmelte Zender zwischen den Zähnen.

»Um Gottes Willen, Zender«, sagte Chaje, die sich plötzlich von ihren Kräften verlassen fühlte, »Du nennst das Narrethei? Draußen warten Deine sechs Kinder, sie werden Dich um ›Verzeihung‹ bitten wollen, ehe Du in die ›Schul‹ gehst; sie werden zu Dir sagen: Vater, vergieb uns, daß wir gegen Dich ungehorsam gewesen sind in diesem Jahre, und Dich gekränkt haben, leg' uns eine Buße auf, welche Du willst, wir werden sie ertragen, aber verzeih' uns, wie ein Vater seinen Kindern verzeiht...«

Die Stimme der alten Frau brach vor innerer Erschöpfung.

»Ich versteh' Dich noch nicht, Chaje,« sagte Zender, dem die Schweißtropfen auf der Stirne standen.

»Noch nicht?« rief die alte Annehmerin, in schmerzlichem Zorne sich wieder aufrichtend. »So sieh' mir ins Gesicht, und beantworte mir die Frage: Wer hat die Schrift an Josel's Thüre ausgelöscht?«

»Chaje!«

Es war der Aufschrei eines Todtwunden, den eine rauhe Hand an der feinsten Stelle seines Leidens gefaßt hat.

»Gott schrei an, und nicht mich,« sagte die unerbittliche Frau. »Ich aber sage Dir, Zender, der die Schrift ausgelöscht hat, der geheuchelt und betrogen hat, der ein Waisenkind um sein kleines Habe gebracht, der Schuld daran trägt, daß einem achtundsiebzigjährigen Manne die heilige Thora aus der Hand fällt, der steht jetzt vor mir!« –

»Schweig', um Gottes Willen schweig'!« stöhnte Zender, die Hände vor sein Gesicht drückend.

»Schweigen!« rief Chaje mit fast übermenschlichem Tone, »ich hab' also noch nicht lange genug geschwiegen? Vierzehn Jahre des blutigsten Schweigens sind nicht genug? Nein, Zender, und wenn ich mich an Deine Füße anklammern müßte, wie ein wildes Thier, das Dich im Walde überfällt, jetzt halt ich Dich, jetzt muß ich reden.«

Zender vermochte nicht zu sprechen; ein krampfhaftes Zucken flog über seine Lippen.

»Soll ich Dir sagen, warum ich so lange verschwiegen habe, was mir mein Herz schon am Sterbebette Deines Bruders Josel verrathen hat? Weil ich den Namen Gottes nicht habe entweihen wollen, weil ich nicht gewollt habe, daß man mit Fingern auf den möchte hinweisen, der solches gethan hat...«

»Martere mich nicht, Chaje«, bat Zender, die Hände wie bittend emporhebend.

Aber die alte unerbittliche Annehmerin fuhr fort:

»Was brauchst Du Dir heute Deinen Sterbekittel anzuziehen und Dein Sterbehäubel, und Dich vor alle Leute hinzustellen, und an die Brust zu schlagen, damit sie Dein Sündenbekenntniß hören? Denk' Dir, Du stehst schon vor Gott und der ›Jom Kippur‹ hat schon angefangen! Wie heißt es doch in dem Sündenbekenntniß? Wir haben Arges ersonnen in Lug und Trug, Spott und Hohn, wir haben uns empört gegen das göttliche Wort, wir haben es verleugnet und gelästert, uns dagegen aufgelehnt und sind der Schuld und Sünde verfallen...«

»Laß mich jetzt reden, Chaje«, rief Zender mit einer gewaltsamen Anstrengung. Sein Zustand bot in diesem Momente einen erschütternden Anblick. Die Augen weit offen, mit keuchender Brust, rieselnde Schweißtropfen auf der Stirn, so saß er da, den schrecklichen Augen der alten Annehmerin ausgesetzt.

Eine drückende Stille wob in der Stube. Hörbar war nur das schwere Athemholen Zender's, das den furchtbaren Kampf seines Innern verrieth. Endlich fuhr Zender mit der Hand über das Angesicht; als er sie zurückzog, sah Chaje, daß er weinte.

»Ich hab's gethan!« rief er schluchzend, »ich habe die Schrift ausgelöscht!«

»Weine Dich erst aus, Zender«, sagte Chaje ruhig.

Aber Zender rief, das Antlitz von Thränen überströmt:

»Laß mich reden, Du Gerechte, die Du etwas von Gott in Dir hast, laß mich reden, damit meine Seele wieder frei wird.«

»So red' denn«, sagte Chaje, über deren Züge sich ein wunderbares Schimmern und Leuchten, wie ein Abglanz siegreichen Sonnenunterganges gelegt hatte.

Noch einmal sprach er das Bekenntniß seiner Schuld aus; es schien ihm wohlzuthun, es zu wiederholen.

»Willst Du wissen, wie Alles gekommen ist?« rief er. »Aus meinem Stolz ist Alles gekommen, der hat mich zu dem gemacht, was Du in mir siehst.«

Dann brach er wieder in lautes Schluchzen aus, und erzählte hierauf in abgebrochenen, von Schmerzensrufen durchzitterten Worten:

»Du weißt, Chaje, mein und Josel's Vater ist einmal ein reicher Mann gewesen; wie er aber gestorben, da war nicht so viel übrig, daß wir die Mutter hätten ernähren können. Da haben wir Alles verkauft, was uns noch aus der guten Zeit geblieben war, das Haus und die Betstätte der Mutter droben in der Weiberschul. Besonders daß wir die Betstätte haben verkaufen müssen, das hat uns Brüder schwer gekränkt, denn sie hat uns an den einmaligen Glanz unserer Familie erinnert, wie unsere Mutter noch vorn am Gitter in der Weiberschul unter den reichen Frauen gesessen ist, und jetzt war ihr Standpunkt ganz unten an der Thüre neben dem Weibe des Schuldieners und neben den Schnorrer's Frauen, die man aus Mitleid über Sabbath beherbergt. Das hat uns Brüdern das Herz abgedruckt, und der Mutter auch. Sie ist aus lauter Kränkung darüber gestorben, wir haben fortleben müssen.«

Nach einer Weile fuhr er fort:

»Seitdem ist mein und Josel's Sinnen und Trachten auf nichts anders gerichtet gewesen, als wie wir die Betstätte unserer guten Mutter wieder an uns bringen könnten. Und es muß etwas Gutes gewesen sein an diesem Sinnen und Trachten, denn das Glück hat sich uns Brüdern wieder zugewendet und es war Segen in dem, was wir unternommen haben. Die Leute in der ›Gasse‹ haben nichts davon bemerkt, denn erst wenn es uns geglückt wäre, die Betstätte der Mutter zurückzukaufen, da haben wir hervortreten wollen und sagen: Seht, das kann Zender und sein Bruder Josel.«

Er mußte wieder inne halten, seine Stimme war zu leisem Weinen herabgesunken.

»Die Ersparnisse meines Bruders habe ich in Aufbewahrung gehabt; kein Mensch und kein Buch hat darum gewußt, nur seine Thüre... Darauf hat er meine Schuld an ihn mit Kreide aufgeschrieben. Du weißt, wie es ihm, zur Buße gesagt, ergangen ist. Mit zerschmetterten Gliedern, aber noch lebend, haben sie ihn nach Hause gebracht, den guten treuen Bruder.«

Seine Augen irrten in diesem Augenblicke angstvoll in der Stube umher; er war an den Wendepunkt seines schweren Bekenntnisses gelangt.

»Chaje«, rief er scheu und bedeckte wieder sein Antlitz, »noch heute weiß ich nicht, wie die schwarze Stunde über mich Herr geworden ist. Aber wie ich so dagesessen bin ich am Krankenlager Josel's, da ist mir der Gedanke vor und nachgekrochen wie ein böses Gewürm: Josel hat sechshundert Gulden bei Dir, gerade so viel, als die Betstätte der guten Mutter kosten möchte! Kein Mensch weiß um das Geld als die weiße Kreide auf der stummen Thür. Der Gedanke ist von mir nicht mehr gewichen; von Minute zu Minute ist er in mir gewachsen, er hat meine ganze Seele ausgefüllt, daß nichts mehr Platz darin gefunden hat. Und einmal, wie mein armer Bruder im Schlafe da gelegen ist, gegen die Wand gekehrt, da bin ich hingegangen zur Thüre und habe meine Schuld ausgelöscht...«

»Wein' Dich erst aus«, sagte die alte Frau, »und red' erst, wenn es Dir möglich ist.«

»Nein! Laß mich nur weiter reden. Als Du zu mir gekommen bist, mich zu fragen, was mit Josel's Kinde zu geschehen habe, da war ich schon auf alles vorbereitet; denn wenn Einen die Sünde schon gefaßt, dann ist man, als wären in der Seele hundert Lichter angezündet worden, wo früher nur eins gebrannt hat. Im Voraus habe ich jedes meiner Worte und mein Benehmen gegen Dich zurecht gelegt, wie ein Kaufmann, der seine schlechte Waare an den Kunden bringen will. So habe ich gelogen und betrogen, geheuchelt und falsche Thränen vergossen, und habe doch im Innersten meines Lebens die Überzeugung gehabt, daß mich Dein Auge durchsieht. Um Dich und die Welt irre zu führen, habe ich mich Jahre lang als ein armer Mann gestellt, Jahre lang habe ich meine Ungeduld hingehalten und habe die Betstätte der guten Mutter nicht gekauft, und doch war merkwürdiger Weise ein Segen in all meinem Thun und Gebaren, als wäre nicht das geschehen, was geschehen war.... Meinst Du, ich hätte der Waise indessen nicht zurückzahlen können, was ich ihr schuldig war? Aber ich habe mich vor Dir gefürchtet, Du Annehmerin Gottes, und so ist Alles gekommen...«

»Du bist fertig, Zender«, sagte Chaje, während er für eine Weile inne hielt.

»Fertig? Daß Gott erbarm! wie ich fertig bin!« stöhnte Zender.

Da stand die alte Annehmerin auf, hoch aufgerichteten Leibes schritt sie zur Thür hin und schob den Riegel daran zurück.

»Ich will das Kind rufen –«

»Welches Kind?«

»Deines Bruder's Kind.«

»Ich kann ihr nicht in's Auge sehen, Chaje«, schrie Zender.

»Du mußt das Kind um Verzeihung bitten, ehe der Jom Kippur eingeht.«

Noch einmal zuckte es wie ein fahler Blitz über die Gesichtszüge Zenders; es war das letzte Aufbäumen seiner Natur.

»So laß sie kommen!« rief er tonlos.

Die alte Chaje durchschritt die zwei vorderen Stuben und rief nach Perlchen.

»Da hast Du Josel's Kind«, sagte Chaje, indem sie mit Perlchen an der Hand in der Thüre erschien.

Kaum war Zender ihrer ansichtig geworden, rief er mit erstickter Stimme:

»Mein Kind! verzeih' mir, mein Kind!« und gebrochen im innersten Wesen, fast ohnmächtig, sank er vor den Füßen Perlchen's zu Boden. –

 

Der alte Rabbiner überlebte nicht lange den Fall der Thora. Noch ehe vierzig Tage vergangen waren, hatte ihn, ohne daß eigentlich eine Krankheit ihn heimgesucht hatte, der Tod ereilt. Man erzählte sich, daß die alte Chaje, als sie die Nachricht erhielt, er liege im Sterben, einen der Vorsteher der ›heiligen Bruderschaft‹ zu sich bat, und ihn beauftragte, dem alten Rabbiner Folgendes zu sagen: »Er könne ruhig sterben, Chaje mit der Thür, die Gottes-Annehmerin, lasse ihm das sagen, die Thora habe sich wieder aus dem Staube erhoben!« –

Aber noch in demselben Jahre trug man auch sie auf den ›guten Ort‹ hinaus.

Einige Zeit darauf ward in der Gasse eine große Hochzeit gefeiert. Zender's ältester Sohn und Perlchen waren das Brautpaar.

Zender selbst ist bis an sein Lebensende ein stiller gedrückter Mann geblieben.


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