Leopold Kompert
Gottes Annehmerin
Leopold Kompert

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So mächtig war das Gefühl der tiefsten Entrüstung über sie gekommen, daß ihr selbst das armseligste Wort versagte. Den eigenen Bruder, der im Grabe lag, der Verachtung preisgeben, Schlechtes von dem zu reden, der mit ihm von einer Mutter gesäugt worden war, Denjenigen noch im Andenken zu verkleinern, dem er früher Bruderliebe geheuchelt hatte, das konnte nur Einer, auf dessen Gewissen etwas von einer schweren Schuld lastete.

»Er hat's ausgelöscht«, schrieen gewaltige Stimmen in ihr, »er weiß, was dort geschrieben war, all' sein Reden und Schwören hilft ihm nichts. Er hat's gethan.«

Aber sie sprach diesen Gedankensturm nicht aus; sie konnte den Mann mit ihren scharfen, grauen Augen nur anstarren, aber die Heftigkeit, womit sie das Kind Josel's immer fester an sich drückte, hätte Zender sagen können, was in der alten Frau in diesem Augenblicke vorging.

»Noch Eines meine gute Chaje«, sagte er, und wieder legte sich die Traurigkeit des frühern Lächelns um seine Lippen. »Du nimmst jetzt das Kind zu Dir, und ich mein', es ist bei Dir so gut aufgehoben, wie bei einer wirklichen Mutter. Wenn Du übrigens für das Kind manchmal ein Kleid oder ein paar Schuhe bedarfst, so weißt Du, bei wem Du so was zu holen hast. Gott hat mir zwar sechs Kinder geschenkt, aber wenn man so viele zu bekleiden hat, so wird auch noch Manches für Josel's Kind übrig bleiben. Viel wird es nicht sein, denn du kennst das Sprichwort: Kurz geschorene Haar' sind bald gebürstet.«

Da konnte die alte Annehmerin sich nicht enthalten, mit aller Herbigkeit ihres Wesens auszurufen:

»Ja, Zender, ich werde die Mutter dieses Kindes sein, und wie eine Mutter werde ich darüber wachen. Und wie eine Löwin werde ich dastehen, wenn man da meinem Perlchen ein Unrecht wird anthun wollen. Das aber sag' ich dir, Zender, wer die Thür auf dem Gewissen hat, von der Dein Bruder Josel in seiner letzten Stunde gesprochen hat, dem wird diese Thür ein starkes, eisernes Thor sein mit großen Schlössern und Riegeln daran, und ins ›Gan Eden‹ (Paradies) kommt der nicht hinein.« –

Von diesem Augenblicke an war das Leben der alten Chaje gleichsam von zwei Gewalten, die gegenseitig sich jeden Fußbreit Landes streitig machten, gleichmäßig beherrscht. Haß hieß die eine, Liebe die andere. Was sie von der einen im reichlichsten Maaße auf das Kind übertrug, das gab sie mit gefüllten Scheffeln von dem andern an Zender zurück.

Den Leuten in der ›Gasse‹ kam es übrigens als etwas Selbstverständliches vor, daß Chaje der verlassenen Waise sich angenommen hatte. So hatte sie selbst, urtheilte man, auf ihre alten Tage ein Wesen um sich, dessen sie sich erfreuen konnte. Sonderbar genug erblickte man hie und dort in diesem Schritte der »Annehmerin« den fürchterlichsten Eigennutz. »Sie hat ihren ›Sarwer‹ zu Tode geplagt«, hieß es, »sie wird das Gleiche auch an dem armen Waisenkinde versuchen.«

Aber so sind die Menschen! Dafür, daß ihnen die werkthätige Chaje eine Last abgenommen hatte, nämlich die Sorge für ein hilfloses Kind der Gemeinde, bezeugten sie ihr Lob oder Tadel, je nachdem es in ihrer Stimmung gegen die alte Frau lag; wenn sie aber in geheimnisvollem Tone auf den Gegenstand zu sprechen kam, der ihr seit dem Tode Josel's als ein noch nicht angetretenes Vermächtniß im Gemüthe lag, auf jene Thüre nämlich, dann hatte man für diese ›fixe‹ Idee der alten Frau nur eine mitleidige Miene oder meistentheils ein rohes Gelächter, und bald hieß es nicht mehr, die »Annehmerin«, sondern »Chaje mit der Thür«, als ob die alte Frau nie einen andern Namen getragen hätte!

Chaje nämlich ruhte nicht; sie forschte und fragte, und wo ihr irgendwo ein Licht erschien, das ihr auf die Spur des Zusammenhanges der Thüre mit den letzten Worten Josel's verhelfen konnte, darauf ging sie mit einem Eifer zu, den selbst die Jahre nicht zu ermatten im Stande waren. Bald vorsichtig, bald leidenschaftlich verfolgte sie ihr Ziel, das aber, je näher sie ihm zu kommen glaubte, schattengleich schwand. Und ein Schatten von einem Schatten war es, wenn sie die Leute fragte, ob sie nicht wüßten, daß Josel irgend ein Vermögen hinterlassen habe, ob sie nicht erfahren hätten, daß ihm jemand etwas schuldig geblieben?

»Was fragst Du mich?« hieß es dann gewöhnlich, »frag' doch lieber seinen Bruder Zender, der muß Dir die beste Auskunft geben können.«

»Zender weiß von nichts«, bemerkte sie dann mit einer gewissen lauernden Miene, »und er selbst ist ein armer Mann.«

Seltsam! Die Überzeugung im Herzen hegend, daß der Bruder Josel's eine Gewissensschuld in sich trage, hatte ihr Mund doch Scheu, den Verdacht auszusprechen, der lichterloh in ihrer Seele brannte.

Einmal entfesselt, wußte sie, ließ sich die Flamme nicht mehr bändigen; sie ergriff Alles, was ihr im Wege stand, und das konnte und durfte sie um des »göttlichen Namens« willen nicht zugeben; die Sünde wäre dann auf ihr Haupt zurückgefallen!

»Wenn Du also auch dieser Meinung bist«, entgegnete man ihr, »was willst Du dann? Zender ist ein frommer Mann; wäre der im Stande, seines Bruders Waise ein Unrecht anzuthun? Die Sache ist, daß ein Mann mit sechs Kindern ein armer Mann ist, und Du siehst es ja mit Deinen eigenen Augen, wie er sich plagt und abmüht, um Brod für seine Familie ins Haus zu schaffen. Thut das Einer, wenn ihn nicht die Noth dazu zwingt?«

Ja! das sah die alte Annehmerin freilich mit ihren eigenen Augen! An jedem Freitag Nachmittag, wenn sie selbst draußen vor ihrem Laden stand, kam Zender vorüber, einen schweren Pack auf dem Rücken, dessen Wucht ihn bis zum Boden niederzubeugen schien, und wischte sich vor ihrem Angesichte den Schweiß von der Stirne. Wie kummervoll er aussah! Das ganze Elend eines ›Dorfgehers‹, der oft die ganze Woche keinen warmen Bissen zu sich nahm, stand dann lebendig vor ihr. Wenn Chaje das sah, dann flüchtete sie sich in das Innere ihres Ladens, dann schlug ihr das Herz vor stürmischer Aufregung, und oft saß sie da, ihr Antlitz mit den Händen bedeckend, und mußte bitterlich weinen.

»Und er hat's doch ausgelöscht!« riefen dann die unversöhnlichen Geister in ihr, »und er hat's doch gethan und kein Anderer, denn er hat seinen Bruder im Grabe beschimpft.« –

Eines Tages kam das kleine Perlchen aus der Schule und fragte sie:

»Warum heißen sie Dich: Chaje mit der Thür?«

»Wer hat mich so geheißen?«

»Vetter Zender's Marianne, die neben mir sitzt.«

»Also in Deines Vetters Haus nennt man mich auch so?«

Mehr sagte Chaje nicht; aber als sie in der Nacht das Kind zur Ruhe gebracht und mit ihm das Schlafgebet gesagt hatte, blieb sie gegen ihre Gewohnheit am Bette sitzen, anscheinend in tiefe Gedanken versunken.

Plötzlich sagte sie:

»Perlchen, ich habe noch mit Dir etwas zu reden. Schlaf' nicht ein.«

Die Stimme der alten Chaje zitterte vor innerer Bewegung, die sonst so sicher und muthig klang.

»Soll ich Dir sagen, Perlchen, warum sie mich ›Chaje mit der Thür‹ heißen?«

Das Kind öffnete trotz seiner Schlaftrunkenheit die großen, glänzenden Augen und richtete sie fragend auf das Antlitz der Pflegemutter.

»Ich will Dir das jetzt sagen, Perlchen«, fuhr sie fort, »und ich glaube auch, Du wirst mich verstehen. Dein Vater, mit dem der Friede sei, war ein armer Mann; aber einmal hat er etwas gefunden, ich glaube, es war ein Stück Gold, und damit er es nicht wieder verliere, hat er es irgendwo an einem versteckten Orte aufgehoben; auch hat er mit Kreide auf die Thüre geschrieben, wo es zu finden sein wird, wenn er den Ort einmal vergessen sollte. Weißt Du noch, Perlchen, die Stube, wo Du früher gewohnt hast, und die Thür dort?...«

Das Kind nickte bejahend mit dem Kopfe.

»Also wie Dein Vater, mit dem der Friede sei, im Sterben war, da hat er nur mir allein anvertraut, daß dort auf derselben Thüre aufgeschrieben steht, wo er sein Stück Gold aufgehoben hat. Wie ich aber zu der Thüre hingehe und will nachsehen, was Dein Vater dort hat aufgeschrieben gehabt, was meinst Du, Perlchen, habe ich dort gefunden? Nichts, gar nichts; alles war ausgelöscht, und darüber ist Dein Vater gestorben.«

Der märchenhafte Charakter, in den sie die Wirklichkeit zu kleiden verstanden hatte, ergriff die Aufmerksamkeit des Kindes mit bannender Gewalt.

»Und weil ich jetzt forsche und nachsuche, ob ich denn doch nicht das Versteck finde, wo Dein Vater seinen Fund aufgehoben hat, und weil ich die Leute auf und ab frage, ob sie mir nicht sagen können, was auf der Thüre aufgeschrieben gewesen ist, und weil mir mein Herz darob bricht, und weil alle meine Gedanken bei den letzten Worten Deines Vaters Josel stehen geblieben sind – darum heißen sie mich: ›Chaje mit der Thür‹. Und jetzt weißt Du, wie es mit mir steht.«

»Weiter!« meinte das Kind, weil ihm das Ende des Märchens noch nicht gekommen schien.

»Das Geschichtchen ist aus!« sagte die alte Chaje tonlos, denn mehr als je war die Erfolglosigkeit ihres bisherigen Thuns an sie herangetreten.

Nach einer Weile aber rief sie mit großer Heftigkeit:

»Perlchen, schlaf' noch nicht ein, ich habe Dir noch etwas zu sagen.«

Das Kind horchte wieder auf

»Wer hat mich zu Dir ›Chaje mit der Thür‹ geheißen?«

»Vetter Zender's Marianne, die neben mir in der Schul' sitzt.«

»Von nun an wirst Du bei Deines Vetter Zender's Marianne nicht mehr sitzen, und wirst kein Wort mit ihr reden, und wenn sie mich in Deiner Gegenwart so heißt, so kannst Du die Hand gegen sie aufheben und sie schlagen... Nein, nein, schlage sie nicht, es ist schon Einer da, und der heißt Gott im siebenten Himmel, und der wird eines Tages mich auch ›Chaje mit der Thür‹ heißen, aber da wird meine Seele lachen und wird sagen: Ich habe doch Recht gehabt, und ich habe Dein Kind angenommen, denn ist nicht eine Waise Dein liebstes Kind?«

Helle Thränen rannen über das hagere Antlitz der alten Annehmerin. Das Kind aber, erschreckt durch die dunkeln Worte und die Leidenschaftlichkeit seiner Pflegemutter, versteckte sein Köpfchen hinter die Kissen, bis Chaje nach einer geraumen Weile sagte: »Perlchen, schlaf' noch nicht ein!«

Das Kind hub gehorsam seinen Kopf aus den Kissen.

»Hast Du Vetter Zender's Marianne gern?«

»Wie mich selbst!«

»Ich kann Dir nicht helfen, Perlchen, mein Gold, Du mußt Dir das aus dem Herzen herausreißen, und wenn es Dir auch weh thut. Du hast Deinen Vater, mit dem der Friede sei, nicht gehört, wie er gerufen hat: die Thür, die Thür... Und wenn sie Dich blutrünstig schlägt, so geh' Du still zur Seite und rede nichts! Es wird schon eine Zeit kommen; für jetzt müssen wir aber alle Beide schweigen!« –

Seit dieser nächtlichen Besprechung mit dem Kinde Josel's waren fünf Jahre verflossen. Für Chaje war diese Zeit schattengleich entwichen, kaum daß sie bemerkte, daß die Waise indessen aus einem verkümmerten Wesen eine Blüthe geworden war, auf der die Augen der Gasse mit Behagen ruhten. Noch immer ging Zender an jedem Freitag Nachmittage mit dem schweren Packe des ›Dorfgehers‹ an ihrem Laden vorüber, noch immer war seine Miene tiefbekümmert; nichts in seinem Wesen verrieth, daß eine günstige Änderung seiner Lage eingetreten war, die sich auch äußerlich kundgeben mußte. Namentlich an solchen Tagen fuhr es ihr oft wild durch den Kopf: war sie im Recht, war sie im Unrecht? Der Bau der sittlichen Weltordnung schien dieser alten Frau auf unsicheren Grundlagen zu ruhen, der Ausklang ihres müde gewordenen Lebens schien ihr nur von der Lösung der Frage abzuhängen: wer hatte die Schrift des armen Mannes von der Thüre weggelöscht? War es Zender? Und wenn er es war, warum zögerte das Verhängniß, über denjenigen hereinzubrechen, der auf seinem Gewissen Flecken trug, schwärzer als die finstere Nacht?

»Lebendiger Gott!« rief sie zuweilen in der Angst ihres Gemüthes, von Schauern überflogen, »hast Du mich darum zu Deiner Annehmerin gemacht, daß ich jetzt auf meine alten Tage wie eine Trunkene umherwandeln muß, die nicht weiß, was Wahrheit ist und was Lüge? Warum läßt Du mich in solcher Finsterniß gehen? Hätte ich vielleicht nicht auf Josel's letzte Worte hören sollen?...«

An einem Sabbathmorgen kam Chaje sehr früh in die Weiberschul'. Der Gottesdienst hatte kaum begonnen, und darum waren die meisten Sitze noch leer. Allmälig füllte sich der Raum mit festtäglich geschmückten Frauen, die geschäftig plaudernd und geräuschvoll eintraten und sich noch Manches mitzutheilen hatten, ehe sie die Gebetbücher aufschlugen. Hie und da schlug die Frage: »Wo hält man?« an Chaje's Ohren, und mitten in ihrer Andacht konnte sie sich nicht enthalten, darüber grollend nachzudenken, wie verdorben die heutige Welt sei, die nicht mehr verstehe, aus einem angefangenen Worte die Gebetstelle zu errathen, die von dem Vorbeter unten bei den Männern gerade angestimmt wurde. Zu ihrer Zeit war das anders gewesen. – Da rauschte eine in Seide gehüllte Gestalt an ihr vorüber.

»Wer war das?« fragte Chaje ihre Nachbarin, da gerade das »Leinen« oder der Vortrag des Wochenabschnittes aus den fünf Büchern Moses beginnen sollte.

»Kennst Du die nicht?« lautete die Antwort. »Das war Zender's Frau.«

»Die in einem seidenen Kleide?«

Alles Blut drängte sich ihr zu Kopfe. Sie sollte in dieser Stunde noch mehr erfahren.

Sie sah, wie Zender's Frau, rauschend in ihrem seidenen Kleide, sich durch die Betplätze drängte und endlich in der vordersten Reihe, hart am Gitter, da wo die vornehmsten und reichsten Frauen der Gasse saßen, sich niederließ.

»Wie kommt die auf diesen Platz?« fragte Chaje wieder.

»Chaje, wie kommst Du mir nur vor?« meinte die Nachbarin achselzuckend, »Du redest, als kämst Du aus Amerikum! Weißt Du denn nicht, daß Zender den Sitz um baare sechshundert Gulden gekauft hat? Er hat früher seiner Mutter gehört; jetzt hat er ihn für seine Frau erworben.«

»Ist er's denn im Stande, zu thun?«

»Wie fragst Du nur, Chaje? man sagt, Zender wird nächstens ein großes Gewölbe auf dem ›Ring‹ aufmachen.«

Plötzlich stieß die Nachbarin, die so gesprochen hatte, einen schrillenden Schrei aus: die Frau die neben ihr saß, war in Ohnmacht gesunken; es war unsere alte Chaje.

Die Frauen drängten sich herbei; eine von ihnen trug ein wohlriechendes Wasser bei sich, womit man die Ohnmächtige besprengte. Als sie wieder die Augen aufschlug, lauteten ihre ersten Worte:

»Die Thür', die Thür'!«

»Soll Einer nur sagen«, flüsterte eine der jungen umherstehenden Frauen, »wie sie zu dieser fixen Idee gekommen ist?«

»Narrele«, bemerkte ihr eine ältere mit der Miene tiefer Erfahrung, »kannst Du mir sagen, woher überhaupt eine Krankheit kommt? Es ist eine Krankheit, wie jede andere.«

Als Chaje sich einigermaßen erholte hatte, begehrte sie, nach Hause geführt zu werden. Es litt sie nicht mehr an einem Ort, und war es selbst der ihrem Gott geweihte, die Luft mit Zender's Frau zu athmen, die in einem Kleide sich blähte, das nicht ihr gehörte, und einen Sitz einnahm, der mit dem blutigen Erbtheile einer Waise gekauft ward.


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