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I.

Jawohl, alles an Bord schritt, ohne Geschwätz und Streit, weiter vorwärts!

Freilich!

Ja!

Aber es währte nicht lange, bis Luschinskij entdeckte, daß jetzt, wo die Bogduroffs sozusagen ihre Rangabzeichen abgerissen und sich selbst so weit degradiert hatten, daß sie andere dazu verlockten, sie zu beleidigen, nur um sich dadurch Zutritt zur Mehrzahl erkaufen zu können:

jetzt gingen ihm selber, wie auch allen anderen, niederträchtiger denn je zuvor die Augen dafür auf, wie verkehrt das Ganze sein mußte.

Auf Grund einer instinktiven Vorahnung dieser massiven Konsequenz war es ja auch gerade, daß alle Praxins ihrer Zeit einstimmig, ohne irgendeiner besonderen Verabredung untereinander zu bedürfen, sich mit aller Macht den Anstrengungen der Bogduroffs, ihren Sonderstandpunkt aufzugeben, widersetzt hatten. Natürlich! Man wollte zu allerletzt Teil daran haben, sich selbst dieses armseligen Trostes zu berauben, nicht wahr: daß doch noch eine kleine Schar von Offizieren an Bord war, die sowohl Vertrauen zu dem Schicksal wie auch eine unerschütterliche Ruhe dessen Wechselfällen gegenüber besaß, Gott sei's geklagt!

Aber gerade daher war es also die natürlichste Sache von der Welt, daß da diese erhabenen Wesen nun doch trotz aller Abweisungen, oder vielleicht gerade infolge davon, wirklich den Zusammenschluß mit List durchgeführt hatten: jetzt war das Ergebnis selbstverständlich nur dies: daß beide Parteien, die Praxins wie die anderen, sich alle miteinander noch verhungerter, noch asthmatischer, noch herzentzündeter fühlten, als vorher. – – –

Bis zur Evidenz erwarb sich Luschinskij die mehr nach innen gewendeten und privaten Beweise von der Wahrhaftigkeit von diesem allen, jetzt, in der letzten Hälfte der Epoche an den Nordküsten von Madagaskar – zu Anfang des Monat März, mit anderen Worten, einige zwanzig Wochen, nachdem das Geschwader von Libau ausgegangen war.

Die Kameraden konnten – in dieser Zeit, wo der Vergleich zwischen den Gruppen gute vierzehn Tage alt, und infolgedessen schon längst ein veralteter Stoff war – hin und wieder in vertraulichen Unterhaltungen, oder wenn sie ein klein wenig berauscht waren, sich zuweilen greulich verplappern.

Sie schlossen gleichsam eine Klappe auf, in ihren Uniformröcken, in ihren Unterjacken und in der Brusthaut: so daß man zwischen den Rippen einige fingertiefe Kloaklöcher da drinnen erblickte: Spuren von allen den Mikrobenschlachten und Bazillenaufständen, die sich in ihnen etabliert hatten, allmählich, nachdem die verschiedenen Katastrophen, jede auf ihrem Felde, sie darüber belehrt hatten, wie hoffnungslos und besudelt und kadaverhaft die ganze Fahrt war:

»Von Courage – reden sie,« bemerkte Oberleutnant Bogduroff, der Neubekehrte, solchermaßen eines Tages, und fing auf einmal, während er die Zwiebelomelette auf seinem Teller unten am Frühstückstisch zu Labskaus zerrührte, zu schreien an, »von unserer unüberwindlichen Tapferkeit – haben wir Russen aller Welt gegenüber stets ein kolossales Geheul gemacht!

Well! Ich protestiere selbstverständlich nicht: Mut ist großartig; und Mut haben wir natürlich, ké!

Aber, à propos, sagen Sie mir doch die Lösung von diesem Logogriph: was, zum Teufel, bedeutet es eigentlich, mutig sein zu sollen – wenn man einzig und allein stirbt, um dem Feind ein Vergnügen zu bereiten; oder nur, um sich selbst ein klein wenig zu ärgern!

Nicht wahr!?

Oder wie urteilt unser teurer Kommandant, Herr Gregorow, über eine Tapferkeit, die jeden Tag und jede Nacht, die Gott werden ließ, sechs herrliche Monate lang, hervorgeholt und tüchtig benutzt ist – ohne daß da im übrigen das geringste gewesen wäre, dem gegenüber man hätte mutig sein können! Kähä! Die Sache erscheint mir höchst scherzhaft – oder sarkastisch!

Dr. Nakinskij, höchstgeehrter Herr Gelehrsamkeit, seien Sie so freundlich, mir eine Abhandlung darüber zu schreiben, was Mut eigentlich ist!

Ich glaube nämlich, Gott verdamm' mich, daß ich gerade im Begriff bin, meine Knabenkenntnisse zu vergessen!

Wie beliebt?

Hehé!

Ehé!

Ja!« – und im selben Augenblick schlug er plötzlich und humoristisch seinen Arm um Graf Praxins Hals, bog als weiteres Bonmot seinen Kopf auf dessen Schulter hinab, und lachte laut in seinen Cheviot hinein, so daß ihm ein paar große und weiße Glasblasen aus den Mundwinkeln segelten ...

Oder da waren – in diesen Minutenzeiten, wo man immer und ewig auf sein eigenes Ende wartete: entweder plötzlich in Torpedogestalt aus dem Meere aufsausend, oder auf einmal aus den Wolken herabplumpsend als Brisantgranate, oder peu à peu in Bakterienform vom Lande her brausend, oder sich langsam aber sicher zu Überfall und Lynchmord aus dem flennenden Haß und der bissigen Verzweiflung desperater Untergebener konzentrierend –: da waren Abende, wo man zu Zweien in die Kammern hinabging.

Man saß, stundenlang, Hand in Hand, ganz hintenübergelehnt gegen die Rücken des Sofas, mit langen Pausen zwischen jedem Wort, und flüsterte stotternd sein intimstes Sehnen heraus:

Man ersann ergreifende Aphorismen über seinen ewigen Brand nach nur dem geringsten Strahl von Hoffnung, wieder mit Ehren oder mit dem Leben in die Heimat zurückkehren zu können, zu Verwandten und Freunden und ehelicher Gemeinschaft: Ja, ihre Frauen! Oh, liebster Peter Romanowitsch, du weißt nicht, was es heißt, verheiratet zu sein! Ihr bei Tische gegenüber zu sitzen, und ihr in die Augen zu sehen, die lachen und träumen und sagen, daß man glücklich ist! Ihr des Abends, wenn die Kammerjungfer aus dem Zimmer geschickt ist, behilflich zu sein, ihr Kleid hinten im Rücken aufzuhaken, so daß man ihre weiße Haut berührt, die atmet und nach unserem Munde leise schreit, durch den berauschenden Puder hindurch! Oh, mein Freund: aber du kennst das ja nicht! Oder nur so eine Einzelheit, daß die Hände meiner Frau mich niemals loslassen, des Nachts, wenn ich daheim bei ihr bin: während wir einschlafen, hält sie mich fest, und noch am Morgen hat sie mich nicht losgelassen: schlafend, mein teurer Kamerad: selbst im Traum verläßt mich ihre Hand nicht eine einzige Minute! Oh, meine Welt, mein Weib mit den breiten Lenden und den sanften Augen, wann werde ich doch wieder bei dir sein! ...

Oder sie holten längst vergessene Photographien wieder hervor; von ihren Kindern. Sie hielten sie mit beiden Fäusten unter den Lampenschein und weichten sie zu Beulen auf mit ihrem langsamen und stummen Augenwasser: Sehen Sie, können Sie sehen, wie er mir ähnlich ist, der Junge! Ich will Ihnen sagen, seine Hände sind so klein – und immer warm! Wenn er seinen Arm rund um meinen Hals legt, so ist es, als ob das Leben selbst sich an mich schmiegte, ich erzähle Ihnen das ganz offen! Hören Sie, nicht wahr, Sie, der Sie selbst keine Kinder haben: ich versichere Sie, ewig und unsterblich habe ich mich jedesmal gefühlt, wenn Tatjas kleine Finger um meinen Nacken gelegen haben! Aber soll ich ihn denn nie wieder sehen? ihn nie mehr flüstern und stammeln hören: »Vate'« nennt er mich: »Vate', tommst du nich deich wiede'?« – so sagt' er zu mi', den letz' Ta' ... é, é, é, mein gellliebter Sohn, mein ei – einziger ...

Sie tränigten honigsüße Idyllen, daß man sich wegschleichen wollte, die erste, beste Nacht; entweder von einem der Feste drinnen bei Monsieur de Robigny, oder aus Herrn Suturus Teehaus in Majunga, oder vielleicht ganz einfach von hier aus: an Land schwimmen, durch das versilberte und lauwarme Nachtwasser, bis an die Sümpfe, deren Gestank mit dem Landwind bis hier hinausgetragen wurde; oder sie wollten in die ungeheuren Wälder hineinkriechen, die aussahen wie über den Rücken der wilden Küsten gebreitete blaue und seltsame Tierfelle, und sich dort verstecken wie eine Laus; oder nach Nosi Bés Ecken und Winkel und Hintertreppen und seinen kreolischen Dämmerungsfrauenzimmern – oder nach den fernen Hospitälern der französischen Legionäre bei Camp d'Ambre! Dann wollten sie gestohlene Zivilkleidung anlegen, und versuchen, sich wieder heimzukrabbeln, nach der seligen Erde: o Rußland, hörst du, mein geliebter Freund: die unvergängliche und heilige Russia! Oh, die wehmütige Braunheit der großen Weiden, der dunkle Teppich der Steppen, der sich von dem roten Osten nach dem goldenen Westen spannt! Oh, das langsame Wasser der breiten Flüsse, das zur Abendzeit glasweiß ist! Und die schönen Villen der Petrowskij-Insel, mit den Gärten, die vom Winde lodern und nach Sonne duften! Und Eudoxias weiße und geaderte Blumenbrüste! Oh, mein Freund und Kamerad, mein Bruder im Tode – werden wir denn das lebensglückliche Rußland nie wieder sehen?! ...

Oder sie knöpften, plötzlich schluchzend und lachend, mit verschämten und barschen jungfräulichen Manieren ihre Röcke auf und zeigten ihren Busen, an dem die Rippen aussahen wie gebogene Gitter, und dessen Haut war grau. Sie streiften ihre Beinkleider herab, so daß sie wie Säcke um jeden Fuß saßen, verbunden durch das gelblich gefleckte Futter im Schritt; und den anderen mit ihren langen Fingern beim Arm packend, sich vorüberbeugend, starrend, zeigten sie ihm ihre Beine, aus denen die Muskeln geschwunden waren, so daß man die flache Hand wagerecht ganz oben zwischen die Schenkel hineinlegen konnte: Starck, siehst du es nicht?! Und meine Frau, die jeden Abend meine Beine zwischen die ihren nahm, die Arme um meinen Hals schlang und vor Glück nicht sprechen konnte! Meine Geliebte, die vor Seligkeit schluchzte und jammerte, wenn sie fühlte, wie die Muskeln in meinen Schenkeln ihrer Haut entgegenschwollen! Hörst du, Simoff, du wirst mich verstehen: und in ihren Briefen gesteht sie mir lächelnd, daß sie krank und schwindlig ist, daß sie jede Nacht weint, vor Sehnsucht mich nahe zu fühlen! ...

Oj, ja, ja, von dieser Qualität war der größeste Teil der Sirupsgeschichten, die man sich abharzte, in dieser allzu warmen Zeit!

Und es war merkwürdig, daß das Gedächtnis sämtlicher Offiziere, Verplapperungen dieser Art gegenüber, überraschend getreu war. Es war einem sozusagen völlig unmöglich, zu vergessen, was man verraten hatte:

»Sehr wohl! Und seien Sie nun so comme il faut, aufzufassen, was ich Ihnen über diese Materie erzähle!« sagte Dr. Nakinskij, der in der letzten Zeit angefangen hatte, allein auf dem Schiff umherzuwanken, brütend und kohlschwarz, mit Wissen angefüllter als sonst jemand, und ewiglich in stundenlangen Selbstgesprächen:

»Krrmmm! Lieber Freund. Lieber Freund! Erst jetzt, während des Krieges, habe ich das Ganze eingesehen! In diesen letzten Tagen, ehem, habe ich die unmörderliche Seele des Menschen entdeckt!

Was sagen Sie dazu?!

Beweise für die unsterbliche Seele des Menschen – jawohl, ganz einfach, ich habe diese Beweise gefunden!

Hier sehen Sie mein Taschenbuch, nicht wahr:

Wohlan, Seite für Seite ist es mit Argumenten angefüllt!

Verstehen Sie!

Oder sollte es (um in wenigen Worten nur einen einzigen von den tausend Fingerzeigen zu nennen, die ich ausfindig gemacht habe!) zufälligerweise möglich sein, daß Sie noch nicht über folgende, höchst sonderbare Tatsache gestutzt haben: daß niemand von euch es zu vergessen vermag, wenn Ihr einander eure Intimitäten verraten habt?!

Meine Herren!: Es ist ganz einfach unsere Seele, sage ich Ihnen – unsere Seele, die sich nie berauschen, die niemals schlummern kann – sie ist es, die sich zu allen Zeiten der Dinge erinnert, die unser schnarchendes oder wirres Gehirn in seiner Umnebelung und seinem Fieber ausgeplaudert hat!

Denn dergestalt, messieurs, dergestalt rächt sich die Seele in Ewigkeit dafür, wenn Männer zu Sklaven geworden sind!

Hier haben Sie die Erklärung für das Ganze, nicht wahr? – – –

Ja, meine hochwohlgeborenen Kameraden: der unvergessende Geist des Menschen!

Hé!

Denken Sie zunächst an dieses Schiff, an dieses Geschwader, das verschleimt ist von Milliarden von Sklavenbazillen!

Die sehnsuchtsvolle Seele des Menschen, daß sich Gott erbarm' – in einem Ozean von Mikroben röchelnd!

Und dann führen wir trotzdem Krieg, obwohl wir wissen, daß wir alle eine unsterbliche und liebende Seele besitzen, meine angebeteten und maritimen Kollegen: führen noch Krieg in dem zwanzigsten und aufgeklärten Jahrhundert!« ...

Freilich, ja!

Vielleicht hatte Nakinskij recht in einem Teil von all diesem Bakteriengefasel!

Tatsächlich aber war es nur, daß man alles wirklich vergessen konnte, an Bord dieser Armada – aber bis an sein Lebensende erinnerte man sich, weiß Gott, wenn man sich in bezug auf sich selbst und seine internen Geheimnisse versprochen hatte!

Und daher wurden dergleichen Enthüllungen selbstverständlich zu ganzen Wolgas von Höllenfeuer, zwischen einem jeden, der sie ausgesprochen hatte – und demjenigen, der sie anhörte.

Man konnte – während man zugleich ganz und gar nicht imstande war, den Mund zu halten, und so wieder und wieder seine Inwendigkeiten preisgab, die eine immer noch intimer als die andere – noch während man so saß und mitten im Erzählen war, konnte man merken, wie sich einem die Finger gleichsam gekrümmt in die Höhe hoben, vor Sehnsucht, mit einem schnellen Griff und einer Drehung sich für alle Zukunft ernstlichst dagegen zu sichern, daß die Verplapperung weiter herumgebracht wurde.

Da war zum Beispiel der große, schulige Gorkin, und da war Oremyckin (dieser darmförmige Herr, weich und weiß wie ein Wurm überall) und viele andere – die entwickelten sich allmählich so weitgehend in bezug auf diese Selbstenthüllungen, daß sie hin und wieder, bei den Trinkgelagen unten in der Messe, wo es süßsauer stank nach altem Tabakqualm, und wo sich der Weindampf von zahllosen Abenden einem wie Zahnbürstenhaare im Halse festsetzte: da nahmen sie plötzlich diesen oder jenen von den Kameraden beiseite, zogen einen dicken Brief mit großen Siegeln aus der Brusttasche:

»Hier!« sagten sie und lachten wieder, als sei das Ganze keineswegs irgend etwas anderes als ein verteufelt guter Kalauer, den sie ausgeheckt hatten. Mitten in ihrem Gesicht saßen ihre Augen und glotzten wie rote Ofentüren:

»Ach, seien Sie so gut, Verehrtester, bitte schön, und heben Sie dies hier für mich auf. Und liefern Sie es eventuell an die richtige Adresse daheim in Rußland ab: für den Fall nämlich, daß ich mir möglicherweise meine Grabkapelle hier unten auf diesen breiten Graden erwerben sollte! Wie? Hahaha!

Der Umschlag enthält, wie Sie sehen, ausnahmsweise ein paar Worte an meine Braut!

Und ein wenig darüber, was meinem Wunsche gemäß, mit der Restpartie meines väterlichen Erbes, kéhé, geschehen soll!

Mein Testament, mit anderen Worten – und dergleichen!

Yes, Sir?

Nicht wahr: es kann ja nie schaden, an die Zukunft zu denken, für ein einzelnes Mal! Wohl dem, der eine Schnur an seinen Schaft gebunden hat, ehe er die Peitsche gebrauchen muß! hahaha! habe ich nicht völlig recht hierin?! Und ... wer weiß?!« – und dann grinsten sie von neuem und bekamen ein pfeifendes Hicksen, während sie sich einem gleichsam in dem Ärmel festsogen, die Steinbeißer:

»Kéhirr! Kéhé! Mein vertrautester Freund unter der Sonne! Meine letzte Zuflucht!

Ich danke Ihnen: und verwahren Sie die Papiere nur gut; sie gehen ja niemand sonst etwas an!

Und wenn ich also von diesem Schauplatz verschwinden sollte, während Sie zurückbleiben: so denken Sie daran, alles richtig abzuliefern! Die Adresse steht hier außen darauf!

Nicht wahr?« ...

Dies konnte ja nun indessen immerhin das sein, was es war.

Aber bei einzelnen von diesen Testamentsschreibern – zu denen natürlich auch der Hüne, Herr Leonid Gorkin, gehörte – entdeckte Luschinskij, weiß Gott, obendrein, daß sie genau dasselbe Manöver mehreren gegenüber vornahmen; zwei, drei oder vier von ihren Kameraden bekamen jeder einen strotzenden Brief anvertraut, genau so einer, wie er auch ihm überantwortet war.

Und dies verletzte ihn sowohl hoch als tief; selbstverständlich: es war ja buchstäblich, als wenn die Betreffenden damit andeuten wollten, die giftigen Viecher, daß er, Peter Romanowitsch, gewiß nicht wohlbehalten dieser Fahrt entrinnen würde:

Es war also, mit unzweideutigen Worten, im Grunde eine Gemeinheit von ihnen!

Etwas ganz Ähnliches, als wenn man ihn als Nummer dreizehn zu Tische lüde!

Ein hinterlistiger Überfall, ganz einfach!

Ein Meuchelmord!

Danke sehr!

Wahrscheinlich hatten diese Herren, kurz und gut, die Absicht, persönlich ihn daran zu verhindern, mit dem Leben davon zu kommen! Die Kerle, wie, hahaha! Kéhirr! Wie beliebt? Jaja: niemand konnte, weiß Gott, sicher davor sein, was zurzeit ausgeheckt würde! Und auf alle Fälle durfte ein solches Benehmen einem Kameraden gegenüber nie und nimmer ungestraft hingehen! Im Gegenteil! Und also handelte es sich nun darum, eine passende Vergeltung zu ersinnen – eine, die sowohl warm, als auch energisch genug war, im Vergleich zu der Beleidigung, und die einem selber außerdem so viel Genugtuung und Vergnügen schaffte, wie nur möglich, habe ich nicht recht? ...

Auch der Himmel und andere gute Mächte waren offenbar ganz derselben Ansicht in bezug auf diese Sache, wie Peter Romanowitsch.

Denn schon am Tage, nachdem Luschinskij diesen Schlingelstreich Gorkins beobachtet hatte – nämlich, daß er sein Testament auch einem anderen als ihm anvertraute – und während er vorläufig nur noch voll blinder Wut umherging, und sich geschwollen brütete, was, zum Teufel, er ausfindig machen sollte, um sich zu rächen: da bot sich ihm, Gott sei Dank, eine ebenso unerwartete wie gratis Gelegenheit, das Gewünschte auszuführen; und Peter Romanowitsch war natürlich nicht faul, es sich zunutze zu machen.

Es war unten am Frühstückstisch, wo sämtliche Kameraden zugegen waren.

Timon Lwow – der gerade dieser andere war, dem Herr Leonid Ssemenowitsch Gorkin ebenfalls seine Papiere übergeben – hatte eben, zitternd vor Munterkeit und Wohlsein seinen kleinen Bericht über den Ausfall des Kriegsgerichts abgestattet, vor das er heute morgen gestellt war: in Sachen seines Burschen Mikael, dem er vorgestern »versehentlich« vier bis sechs Rippen in die linke Lunge getreten hatte, »infolge eines bedauerlichen, aber völlig unverschuldeten und reuelosen Zufalles«, hatte das Gericht vorhin erklärt, kéhé, kéhirr!:

»Kann man wohl mehr verlangen in bezug auf kameradschaftliche Nachsicht, wie?!

Und nun liegt also Mikael da unten im Lazarett ohne Revanche, das faule und rebellische Vieh! Dr. Nakinskij erzählte mir obendrein vor kurzem, daß der Bursche nicht einmal Nahrung zu sich nehmen mag, er spuckt Blut aus reiner und purer mißglückter Schadenfreude, haben Sie etwas Ähnliches in bezug auf Gemeinheit und kurzsichtigem Neid gehört?!

Wenn er aber doch nur bald wieder gesund werden wollte – denn dann würde ich augenblicklich den ›bedauerlichen Unglücksfall‹ wiederholen, um ihn für seine Leckerheit der medizinischen Kost unseres geliebten Arztes gegenüber zu strafen!

Wie?

Hahaha!« – schloß Lwow und warf den Nacken zwischen seine Schulterblätter, einen feuerroten Leuchtturm auf jedem Backenknochen.

Alle die anderen lachten ebenfalls – ohne es eigentlich zu wollen, indem sie nach Kommandant Gregorows Tischende hinuntersahen, und übertäubend dem gar zu eifrigen Helden des Augenblicks zutranken –, Gorkin aber focht mit seinem Messer in der Luft herum und dachte nur daran, witzig zu sein:

»Hören Sie einmal! Ja, ja, lieber Timon Wladimirowitsch! Hören Sie!« sagte er, mit seiner widerlichen riesengroßen Hals- und Schleimstimme glucksend. »Seien Sie nur, ja, seien Sie nur lieber froh darüber, bester Lwow, daß Ihr Bursche da unten im Hospital nicht essen will!: denn wenn er aufkäme, so kämen Sie sicher nieder! Ki! Sie kehren, weiß Gott, nie lebendig in die Heimat zurück, falls Mikael Sie jemals in die Finger bekommt! Wie? Nie und nimmer! Ké! Ha!

Als Ihr Freund suche ich Ihr Leben zu bewahren – darum gebe ich Ihnen, nicht wahr, darum gebe ich Ihnen diesen Rat!

Wie beliebt?

Höhöhö!

Bei meiner Seligkeit – können Sie den stechen?!«

Lwow holte sein Gesicht so schnell wie möglich aus dem Rücken herauf. Seine heißen Kohlenaugen glühten sich in einem Nu gasblau, sein Mund krempelte sich rot um, und er war offenbar im Begriff, eine feurige Antwort auf diese Gemeinheiten Gorkins geben zu wollen – währenddes aber hatte Luschinskij den Plan zu seiner Rehabilitierung ausfindig gemacht: und er führte ihn spornstreichs aus, unfähig, länger zu warten:

»Ei, ei, liebster Leonid Ssemenowitsch, wie vorbedacht von Ihnen, sich so sehr um Timons Leben zu sorgen!« bemerkte er, indem er sich zu Gorkin hinüberbeugte und ihn mit seiner Gabel in das violette und gepickelte Halsfleisch gerade über dem Kragen prickelte, so daß es einen famosen Ruck durch die mächtige Person des ganzen Hünen gab. Und dann flüsterte Peter Romanowitsch weiter, auf diskrete Theatermanier, so daß jeder Außenstehende alles hören konnte, was er sagte:

»Ich verstehe natürlich sehr wohl den intimen Grund Ihrer Fürsorge für Timon Wladimirowitsch: Sie denken an Ihre Dokumente, von denen Sie auch ihm ein Duplikat gegeben haben! Seien Sie aber nicht bange! Schwamm drüber, wie es Lwow an und für sich geht: mich haben Sie ja immer noch als Testator und Postillon! Verlassen Sie sich also auf mich!

Auf mich, in aller Welt!

Ich habe Ihre Papiere verwahrt: das Testament selbst; die tränendurchnäßte Beichte an Ihre, infolge ihres Lebenswandels überall haarlose Mutter in der Provinz; wie auch den überbeküßten Brief an die Geliebte!

Alles in bester Ordnung!

Seien Sie nur ruhig!

Ihre schluchzende Bewegtheit vorgestern, als Sie mir den Umschlag anvertrauten, hat mich unvergeßlich gerührt! Ké!

Verlassen Sie sich, ergo, offen heraus, ganz auf mich! Ein zuverlässiger und diskreter Freund ist das beste von allem in diesem Leben – das sagten Sie ja selbst bei dieser selben Gelegenheit, indem Sie meine Rechte klemmten, bis sie brannte! Sie, mein Allerherzenskampfgenosse und Kamerad! Ki! Prost! Warum haben Sie aufgehört, zu essen, Mann! Bedürfen Sie jetzt etwa, so wie ich vorhin – eines kleinen Aufkratzens, aus irgendeiner wehmütigen Veranlassung, dann nur heraus damit!

Und damit: Vielen Dank für Ihre Güte neulich, sind wir nun quitt?!«

Gorkin erwiderte selbstverständlich nicht einen Muck auf diese sorgfältige Bemerkung.

Und er bemühte sich, in ebenso hohem Grade das Kichern zu überhören, das Bjelostskij und Graf Praxin, Arm in Arm, die Schläfen gegeneinander gestützt, augenblicklich über das Tischtuch ausschütteten.

»Verdammt und verflucht!« rief Starck gleichzeitig. Auch er hatte nämlich vor ein paar Tagen einige Dokumente abgeliefert, und glaubte offenbar aus diesem Grunde besonders befähigt zu sein, einen sachlichen Beitrag zu der Heiterkeit spenden zu können. »Zum Teufel auch, Gorkin, was höre ich da von Ihnen? Sie haben also ein Testament geschrieben? Sie fühlen sich doch wohl nicht krank, wie: ist es Dysenterie oder Malaria? Füllen Sie sich mit Chinin voll: das ist das einzige, was auch keine Spur nützt, éhé! Oder sind Sie nur ein wenig hypochonder?

Hahaha! So ein Jüngferlein, wie Sie geworden sind!

Eine, die ihr ganzes Leben dazu gebraucht, ihren tränenfeuchten ›letzten Willen‹ zu kritzeln!

Und ich, der ich naiv genug war, zu glauben, daß Sie ganz einfach ein Krieger wären und ein Mann – wie wir anderen!?

Kéhéhé!«

Auch diese Worte schien Gorkin sich nicht zu notieren; nur ganz langsam drehte er seinen Donnerkopf nach Peter Romanowitsch um, sein Messer hagelte auf den Rand seines Tellers, und nichts konnte darüber im Zweifel lassen, was sein Blick bedeutete, mit dem er umständlich, mittels seiner Meteoraugen, Luschinskij von Kopf zu Fuß versengte:

»So – so! Hoa!« sagte Peter Romanowitsch deswegen und fing – sozusagen in einer Vorahnung großen, kommenden Amüsements – an, von neuem unter seinem roten Bart zu knistern. »Nur ruhig, mein Lieber!

Still, mein köstlicher Freund!

Ich habe doch wohl Ihr feines Kameradschaftsgefühl nicht verletzt, durch meine Analyse Ihrer Sorgfalt für Timon Wladimirowitsch, wie?

Kssss!« – aber im selben Augenblick hatte er ein Gefühl, als wenn etwas Ähnliches wie ein mächtiger Gasofen mit einem Puff inwendig in ihm angezündet würde, und das Blut spritzte wie ein siedendes Sturzbad auf und nieder durch seinen Körper:

»Da Sie jedoch meine unschuldige Bemerkung auf diese Weise auffassen, Leonid Ssemenowitsch: meinetwegen gern! Aber dann sollen Sie, weiß Gott, auch den Rest und die Fortsetzung hören, verstehen Sie:

Alle Papiere!« rief er himmelhoch, indem er sich vorüber beugte, in Gorkins schwefelnde Blicke gerade hineinstarrte und seine Gabel schwang, »hören Sie, Leonid: das Testament und der tränenblanke Brief und die ganze Prostmahlzeit! ›Yes, Sir!‹

Sie!

Wer ist eigentlich der in seinem Freundschaftsgefühl am tiefsten Beleidigte, glauben Sie – Sie oder ich?

Eh!!« ...

Den ganzen Rest des Tages ging Luschinskij mit einem Gefühl umher, als steige ihm etwas Dickes in Mund und Stirn auf, sobald er in Gorkins Nähe kam: diese breitschulterige Gemeinheit, die sich nicht einmal schämte, einen Kameraden geradezu meuchlings zu morden durch seine schmutzigen Dokumentpfuschereien!

Und dann schwelgte Peter Romanowitsch regelmäßig in einer kleinen Tour dieses seligen und knitternden Kicherns, das sozusagen wie Dampf aus seinem Halse sprudelte und ihn inwendig überleicht und sprühend und jugendlich geräumig machte.

Einmal, oben auf Deck, konnte er sich durchaus nicht bezwingen, sondern rief plötzlich wieder, gerade als Gorkin fünf, sechs Schritte von ihm entfernt war:

»Halloh! Leonid Ssemenowitsch! Antiker Freund: vergiß auch ja nicht, du Lieber, daß ich schon acht auf die Papiere geben werde! Du brauchst wahrhaftig nicht auch noch andere zu bemühen mit deinen süßen Geheimnissen!

Nicht wahr?« – und um sich selbst eine rechte Freude zu bereiten, zog er den Mund schief und äffte Gorkins einzige Erinnerung aus den Dienstjahren bei der englischen Marine nach:

»›Yes, Sir!‹

Wie beliebt?

Kéhirr!« – und damit duckte sich Peter Romanowitsch in einem Nu zusammen, schlüpfte unter den Schatten der Kommandobrücke und verschwand. Auf dem Wege aber nach der Messeleiter hinab konnte er noch gerade hören, wie Gorkins Riesenfäuste nach ihm auslangten, aber statt dessen das Geländer trafen und es dröhnen machten, wie ein Gong ...

Auf diese seltsame Weise verstrich der Tag wunderbar schnell und pomphaft-glückseliger fast als irgendeiner der anderen Tage während dieser ganzen herrlichen Fahrt.

Stunde für Stunde schwand in Wonne und Lachen dahin.

Formidabler Beifall bei allen – ausgenommen bei Herrn Gorkin, ké – ernteten Luschinskij selber und einige seiner Kameraden, indem sie sich hin und wieder in Leonid Ssemenowitsch' Nähe aufstellten, flüsternd, zischend und tuschelnd, die Münder einander an die Ohren haltend, zu Gorkin hinübersehend, um sich den Anschein zu geben, als wenn sie sich faktisch über ihn und seine Privatangelegenheiten freuten! Und um dies so recht zu pointieren, fuhren sie selbstverständlich mit einem Geheul und mit diskreten Gebärden auseinander, sobald er, mit blutdickem Schädel vor Wut und Horcherei, sich nicht mehr zu bezwingen vermochte und sich wirklich in Hörweite locken ließ!

Nicht geringeren Beifall fand Peter Romanowitsch' anderer Einfall: er verschaffte sich vier, fünf gelbe Umschläge, genau so wie derjenige, in dem Gorkins Testament lag; mit Hilfe großer Sorgfalt und eines Stückchen Pauspapiers gelang es ihm, diese Kuverts mit einer Aufschrift zu versehen, die nach jeder Richtung eine getreue Kopie von Leonids dicken Krähenfüßen war, und dann wurden diese Umschläge einzeln, in zerrissenem und entleertem Zustand, ringsumher über das Schiff zerstreut, genau an den Stellen, die Gorkin, wie man wußte, passieren mußte; so daß dieser tölpelhafte Herr, der sich natürlich wieder und wieder düpieren ließ, einmal nach dem anderen anfing, vor Schrecken und Haß zu brüllen und zu schäumen, éhé, was sagen Sie zu einer so raffinierten Revanche und Retorsion, mein Liebster: oder versuchen Sie nur, sich seine Gefühle vorzustellen, wenn er nun ehrlich und redlich daran glaubte, daß seine intimen Todesbemerkungen – ausschließlich an seine Mutter und seine Verlobte adressiert, und unter Eid und Ehrenwort den Händen eines Kollegen anvertraut – jetzt von Kameraden wie von Untergebenen gelesen und kommentiert seien, ki!

Oder was sagen Sie zu folgendem Witz – der ebenfalls Peter Romanowitsch' hochtemperiertem Treibhausgehirn entstammte: daß nämlich Praxin, Simoff und Lwow, einer nach dem anderen, von Zeit zu Zeit an Gorkin herantrippelten, die Brauen hoch in die Stirn hinaufgezogen vor Geheimniskrämerei, aus Diskretion auf den Fußspitzen gehend, und ihn baten, ihnen doch ins Ohr zu flüstern, ob er nicht so gut sein wolle, auch einen kleinen Brief von ihnen in sein, milde gesprochen, weltberühmtes »Letzte-Willen-Kuvert« einzuschließen; sagen Sie bitte nicht nein, mein Geliebter, niemand weiß, welch ungeheure Freude es für mich sein würde, meine wichtigen Papiere in denselben überzuverlässigen Händen zu wissen, wie die Ihren: denn, nicht wahr, es kann doch nicht Ihr Testament in einem gelben Umschlag gewesen sein, mit dem ich ein paar Matrosen dastehen und sich totlachen sah, vorhin, neben dem Kompaßhäuschen? Wie?

Und wenn dann Leonid Ssemenowitsch, vor Wut explodierend, seine Kanonenkugeln von Händen vor ihrem Gesicht schüttelte, und sie stotternd aufforderte, sich zur Hölle zu scheren – dann schoben sie ihre Lippen zu bezauberndem Trutmund vor und konnten, weiß Gott, nicht begreifen, wie ihn eine so unschuldige Bitte beleidigen konnte! Und sagen Sie mir doch gleich, liebster Gorkin, ist es wirklich wahr, was Peter Romanowitsch erzählt, daß Sie fortwährend die gräßlichsten Drohungen gegen ihn, den prächtigen Menschen, ausstoßen, und daß Sie schon mehrmals mit den sonderbarsten Mienen zu ihm gesagt haben, er solle sich nur »bis heute abend gedulden«, was in aller Welt denken Sie sich eigentlich dabei, so zu einem Kameraden zu sprechen? Schämen Sie sich doch, Leonid Ssemenowitsch, ksss, Sie mein teuerstes kleines Freundlein! ...

Hahaha! Wie beliebt, kurz, eine geniale Art und Weise, sich energisch zu rächen, und gleichzeitig mit herrlicher Kurzweil sich selbst aufzumuntern und die Stunden schwinden zu machen!

Es wurde Mittag, und es wurde gleich darauf Abend – buchstäblich zu geschwind –, während dieses beständigen Austausches zärtlicher und witziger Anspielungen auf das Ereignis des Tages von Seiten Peter Romanowitsch' und wenigstens ebenso offenherziger Zukunftsverheißungen von Seiten Gorkins.

Luschinskij fühlte sich daher auch, gelinde gesprochen, ein wenig zurückgesetzt – als er schließlich, kurz nach dem Abendbrot, entdeckte, daß Leonid Ssemenowitsch wohl schon in die Koje gegangen war, das große und zügellose Murmel- und Raubtier!? Auf alle Fälle war er wenigstens plötzlich hier aus der Messe verschwunden!

Die Ferne hatte ihn genommen!

Er war weg! ...

Ein paar Minuten blieb Peter Romanowitsch doch noch da unten sitzen, mit einem leeren und verlassenen Gefühl in seinem Innern, und versuchte, aus vollem Halse gähnend, dem zu lauschen, worüber sich die anderen Herren unterhielten.

Aber an dem einen Ende des Raumes hielt Praxin – blauweiß im Schein der Nernst-Lampe – einen der ganz Jungen fest, und war offenbar im Begriff, ihm schöne und pädagogische Sachen zu erzählen, nach dem Flüstern zu urteilen, mit dem der Graf selber sprach, wie auch nach dem aufgedunsenen Gesicht mit den geilen Augen, die der Kadett angelegt hatte.

Jawohl, natürlich, dachte Luschinskij: jetzt hatte Praxin ja die großtuerische Unberührtheit der Bogduroffs überwunden. Er war damit der Einigkeit, die erforderlich war, ehe man im ganzen Geschwader den Streik proklamieren und Roschdestvenskij zur Umkehr zwingen konnte, einen wichtigen Schritt nähergerückt – und nun war er natürlich mit der nächsten Stufe im Gange; mit dem Versuch, nach derselben Richtung hin auf die allerjüngsten Offiziere einzuwirken!

Ja, ganz sicher!

Herr Praxin war keineswegs der Mann, der irgend etwas vergaß oder übersah!

Ach, wären da doch nur zwanzigmal so viele von seiner Art hier auf dieser Humbug-Armada gewesen, nicht wahr?

Hahaha! ...

Nun:

Und mitten in der Messe hatte sich Dr. Nakinskij etabliert, hinter einem Stuhl, und dozierte eine dieser splinterneuen Philosophien, die er im Laufe des Tages ausbrütete, unter seiner Malaria-warmen und Dysenterie-gerippten Brust:

»Überall!« hörte Luschinskij den Arzt sagen, indem er jeden Augenblick in seiner Rede inne hielt, und mit seinen langen Händen vor sich hinfächelte, an denen die Nägel – als zehn Erinnerungen an all das Besudelte, das man erlebt hatte – außen an den Spitzen der dünnen Finger saßen. »Überall, sage ich Ihnen,« fuhr Nakinskij fort, seine schwarzen Brauen oben an der Stirn wie ein Spalt:

»Auf jedem einzelnen Schiff: ganz so wie hier!

Meine hochwohlgeborenen Kameraden, ich gebe Ihnen mein Ehrenwort: überall ist die Situation genau so wie bei uns!

Jedesmal, wenn wir unsere rühmlichen Flottengelage auf dieser Fahrt gefeiert haben, habe ich das Mikroskop gebraucht! Bei den Neujahrsfesten, verstehen Sie, wie auch neulich, als sämtliche Leutnants der Armada einen gemeinsamen Rausch veranstalteten, kéhé: bei jeder Gelegenheit habe ich das Vergrößerungsglas angewendet, um nach Begeisterung und Kampfeifer zu suchen! Kä!

Ich habe, mit einem Wort, den Herzschlag der ganzen Welt auf unserem Geschwader auskultiert – um auch nur eine Andeutung von dem zu entdecken ... was ich als Mut bezeichnen würde! Nur einen Dezimalbruch von hoher Männer bewußter Kühnheit, nicht wahr?

Aber nirgends habe ich auch nur irgend etwas davon gefunden!

Nicht das geringste!

Keine Spur!

Ach, meine Herren, denn die Sache ist ja ganz einfach die, daß Mut heutzutage gleichbedeutend mit Genie ist!

Glauben Sie mir, ich habe das Ganze während dieser Wochen genau ausgerechnet – auf Grund meines neuerdings erworbenen Wissens über die Unteilbarkeit der Seele, die Unsterblichkeit der Seele, die Ewigkeit der Seele!

Mut – das bedeutet auf gut russisch: die Seele erhaben darüber, Frechheiten oder Dummheiten von seiten des Körpers zu lauschen!

Kein Zweifel darüber!

Oder glauben die Herren etwa, daß Sie mehr Verständnis für die freie und empfindliche Kühnheit des Geistes haben als ich, Ihr chirurgischer Arzt, wissenschaftlicher Anatom und Mikroskopist?!

Sicher nicht!

Meine Herren: ich fordere Sie keineswegs auf, selbständig über das Phänomen zu denken! Aber es fehlt uns also an Genie in dieser Flotte: an Manngenies, Kampfgenies, an führenden Genies, wie Sie wollen!

Ich mache Ihnen nicht die geringsten Vorwürfe, aber ich habe recht!

Wir haben nicht ein einziges Genie unter uns hier auf dieser Armada – und darum gebricht es uns an Mut von der richtigen Art, uns allen miteinander! Oder warum glauben Sie, daß Friedrichs des Großen und Napoleons Soldaten unüberwindlich waren – während wir, in dieser Flottille, längst dazu bestimmt sind, alle möglichen Niederlagen und Schmähungen zu erleiden!

Die Sache ist deutlich genug!

Teuflisch schlecht ist das Ganze – und zum Teufel damit!

Hahaha!

Aber ich garantiere Ihnen, daß ich einmal, wenn ich wieder heimkehre, ein Werk darüber schreiben will, was in alten Zeiten Mut war! Ehe noch die Nerven der Seele gegenüber so viel Wind in die Segel bekommen hatten, wie das jetzt der Fall ist! Jetzt, in unseren Zeiten, wo sie – dank des Hochmuts der Menschen, darüber, daß ein paar Genies Eisenbahnen und Telegraphen gemacht haben – sich ganz und gar einbilden, daß wir einzig und allein nur ihretwillen existieren! Ké! Ich sage: versuchen Sie das Kolossal-Lächerliche einzusehen, das darin liegt: daß uns die Nerven wirklich so weit gebracht haben, zu vergessen, daß wir auch eine Seele besitzen! Eine unmörderliche Seele! Eine, aus diesem Grunde ewig tapfer und ewig gefühlvolle Seele!

Kéhé!

Herr Bjelostskij, à propos, ich versichere Sie: daß mein Buch über Mut also etwas ganz anderes besagen wird, als was Sie kennen – oder wovon Sie uns neulich bezüglich Ihrer Matrosenprügeleien erzählten! Hahaha! Pardon! Ich zweifle ja nicht im geringsten an Ihrem körperlichen Mut! Im Gegenteil! davon haben wir, in Rußland, immer mehr als genug gehabt! Es ist ganz einfach das, woran wir alle zusammen sterben, Anarchisten, wie Monarchisten – und alle anderen, die ihr einziges Leben hingeben in dem törichten Glauben: daß Ideale durch Mord oder Totschlag oder Selbstmord zu erreichen sind! Ki! Ganz derselbe Standpunkt, den die Indianer, die Armenier und Australier haben, diese Viecher, die spurlos und resultatlos gen Himmel fahren, auf Grund einer reinen und puren fleischlichen Tapferkeit! Nur der Seele Werk ist ewiges Werk!

Prost, lieber Freund! Ihnen fehlt persönlich nur eine einzige, winzige Kleinigkeit: nämlich hinreichender Verkehr mit Ihrer eigenen Seele! Sie besitzen sozusagen eine ausgesuchte Sammlung von adenoiden Vegetationen in Ihren geistigen Nasenlöchern, voilà tout; Ihre Seele näselt daher so niederträchtig, daß Ihr kleines, nettes Gehirn nie einen Muck von den Impulsen versteht, die ihm von selbiger Seele zugeflüstert werden!

Hahaha! Nicht wahr? Sie verstehen! Scherz bis zum Innersten!

Und gestatten die Herren im übrigen, daß ich mich mit diesen wenigen Worten eiligst in meine Koje und zu meinen Schwitzmatratzen zurückziehe! die werden sonst verdammt feucht vor Sehnsucht nach mir, kähä?

Gute Nacht, ich leere meinen Becher auf eine baldige Heimkehr für uns alle – nämlich in die Hölle!

Hahaha!

Danke sehr!

Schlafen Sie wohl!«

Ehem! dachte Luschinskij und warf seinen Zigarettenstummel in die Fußspuren des Arztes: selbstverständlich! Reden können wir alle und Frechheit ist jeden Mannes Gebiet! Aber natürlich mußte man ja an und für sich Dr. Nakinskij einräumen, daß Bjelostskijs Kühnheit wahrscheinlich mehr in seinen Muskeln saß, so ein Mastodon wie er war, als anders wo! Aber Scherz beiseite, Ernst weg, und laßt uns die Sach' an sich betrachten! Und dann mußte man ja freilich gestehen, daß eine sonderliche Ermunterung oder frohe Belehrung, weiß Gott, niemals aus Dr. Nakinskijs Äußerungen zu entlehnen war! Nein, bei meiner Seligkeit, da war es im Grunde fast weniger langweilig, seinerzeit, das, worauf der Arzt so respektlos anspielte: wenn Herr Bjelostskij selbst davon erzählte, wie er die Matrosen, die ihn überfielen, übel zurichtete! Hahaha! Bjelostskij-Goliath, dieser Kraftkerl mit seinen Sauschneideknien, die sozusagen demjenigen, der ihm zu nahe kam, jede Kopeke aus dem Beutel stießen! Pfui Deubel! Seinem Nächsten eine solche Behandlung widerfahren zu lassen! Wie pflegte er doch übrigens diesen Bubenstreich auszuführen: Tschu, und dann knallte er seine Kniescheibe bis auf den Grund ihrer Intimitäten und ihrer Gesundheit hinein! Jawohl! Pfui Teufel, wie roh und gemein! ...

Peter Romanowitsch gähnte noch einmal.

Er fühlte, daß seine Augen schlapp wurden, aus Mangel an Gorkin, und entschloß sich plötzlich zu Bett zu gehen.

Er wippte seinen Stuhl auf alle vier Beine hinunter, nahm eine Zigarette aus seinem Etui hervor, klemmte das Mundstück zweimal flach – winkelrecht gegeneinander, zündete sie an, erhob sich und klapste Lwow auf die Schulter. Der saß dicht neben ihm, umgeben von jungen Leutnants, denen er ununterbrochen davon erzählte, was das Kriegsgericht in Sachen Mikael dekretiert hatte:

»Gute Nacht, Timon Wladimirowitsch!« sagte Luschinskij, plötzlich lachend. »Geh jetzt zu Bett, mein Junge, und träume von deinem Burschen – dann ruhst du süß, ohne zu offenmündig zu sein!

Aber bilde dir nur ja nicht ein, daß es dir besser oder munterer ergeht – als es mir in zehn Minuten oder so ergehen wird!

Hahaha!

Und was meinst du denn, was meiner Gutes in dieser Nacht harrt?

Kannst du es erraten?

Hahaha!«

Ja, dachte er dann weiter, indem er, Praxin und ein paar anderen zunickend, aus der Messe hinausschlenderte: jawohl, nun wollte er, was ja ganz erklärlich war, direkt in seine Kammer hinabtrollen und spornstreichs wunderbar in der Koje dahinschmelzen: Morgen mußte er früh auf, denn der Admiral war ja so liebevoll gewesen, ihm eine Sonderaufgabe zuzuerteilen, jetzt während dieser neuen, idiotischen Ausgabe der gewöhnlichen Übungsfahrten, mit der man schon heute begonnen hatte!

Selbstverständlich, nun marschierte er, weiß Gott, geradeswegs in seine Kajüte hinab, und würde in zehn Minuten oder so eingeschlummert sein: und das war, mit anderen Worten, die Annehmlichkeit, auf die man Lwow gegenüber oben angespielt hatte, nicht wahr: was sollte er sonst auch wohl gemeint haben: denn Gorkin war ja gar nicht mehr hier!? ...

Aber während sich Luschinskij also endgültig und entscheidend entschloß, zu Bett zu gehen – stieg er gleichzeitig, sich völlig im klaren darüber: daß er nun ja das direkt Entgegengesetzte von dem unternahm, woran er dachte, langsam die Treppe hinauf, und gelangte auf das Batteriedeck. Eine runde Laterne hing in einiger Entfernung und spielte Mond zwischen den schwarzen Kanonen.

Er ging die zwanzig Schritte weiter bis an die Leiter, die weiter hinauf führte, und gelangte auf das oberste Deck.

Aber als er dann gleich darauf – auf dem Wege nach Achtern, an dem Panzerturm vorüber – plötzlich das Geräusch ganz leiser Schritte hinter sich hörte ... Tip ... tip ... da begriff er auf einmal: daß er ja während der ganzen Zeit da unten gewußt hatte, daß Herr Leonid Ssemenowitsch selbstverständlich irgendwo auf der Lauer liegen und ihm aufpassen würde, wenn er aus der Messe kam!

Einzig und allein deswegen hatte dieser geriebene Herr sich also den Anschein gegeben, als wenn er längst in die Koje gewandert sei!

Kähä!

Dieser Mordbrenner und Schlingel!

Dieser Bauchredner, der seine allerinwendigsten Testamente an Gott und jedermann ausschrie! ...

Die Luft war kühl, hier oben, wo Fahrt und Wind vorbeistrichen.

Draußen über dem Wasser war es nach allen Seiten hin stockdunkel.

Ein Stück voraus, rechts, sah man die Laternen des Vordermanns.

Peter Romanowitsch wurde ein klein wenig kühl um die Lunge, er atmete ein bißchen kürzer. Seine Beine kabriolierten sonderbar unter ihm.

Die Schritte hinter ihm folgten getreulich.

Plipp ... Plipp ... Plipp ...

Es lautete, als wenn der Schatten, den er warf, jetzt, wo er einen schmalen Lichtstreif passierte, der über dem Deck lag, auch eine dunkle Wiederholung von seinen Schritten hervorrief.

Und er beobachtete gleich darauf, daß mit seinen Augen wohl irgend etwas Seltsames los sein müsse – oder war es etwa eine Sonderbarkeit der ihn umgebenden Finsternis. Buchstäblich, als sei er inwendig noch blinder als nach außen hin.

Er dachte plötzlich daran, daß es im Grunde ja auch gräßlich töricht von ihm sei, hier achtern hinauszugehen, allein, mit Herrn Gorkin im Rücken! Denn dies war absolut nichts, was mit Scherz oder Paradoxen zu tun hatte! Dies war ganz einfach vollständiger Ernst! Es bedeutete sowohl Hinterhalt, wie Überfall und Prügelei! Es war, offen gestanden, genau dasselbe, als wenn man, eine infam große Zigarre rauchend, seinen Kopf geradeswegs in ein offenes Pulverfaß hineinsteckte! Kéhé! Und wenn man dann wenigstens noch die Übung im Gebrauch seiner Muskeln und den körperlichen Mut gehabt hätte, den zum Beispiel Bjelostskij besaß! Oder wie hatte Nakinskij doch noch gesagt? Dieser Bjelostskij-Goliath mit samt seinem gemeinen Kniegestoße! ...

Im selben Augenblick war Luschinskij ganz nach achtern hinausgelangt. Er stellte sich dort auf, indem er seine Lenden gegen die Reeling stützte.

Er entdeckte, daß da offenbar allerlei Gegenstände inwendig in ihm tanzten: denn das Geländer klirrte in seinen senkrechten Stangen, als wenn sein Rücken Melodien darauf spielte.

Das Schraubenwasser lärmte dicht hinter ihm, tief unten. Er fühlte die spitzen, aufspritzenden Tropfen in seinem Nacken. Dann blitzte es jedesmal inwendig in ihm auf. Er vergaß sich selbst, sozusagen, in einem Nu und war auf einmal ein völlig anderer; ganz auf dieselbe Weise, an und für sich, und doch das direkt Entgegengesetzte – erinnerte er sich auf einmal – von dem, was er zu empfinden pflegte, wenn er in alten Zeiten in der Oper saß, wo das Licht jäh ausgelöscht wurde, es ward stockdunkel und lautlos, und dann fing die Ouvertüre an, eisig erschauernd über die Balustrade hervorzukriechen ...

In diesem Moment fühlte er indessen, wie gesagt, diese Teilung in sich, auf eine ganz konträre Fasson vor sich gehen: als wenn es sein wirkliches, innerstes Wesen war, das ohnmächtig wurde und auf einmal gänzlich dahinschwand – und was in ihm zurückblieb, war nur irgendeine aufflammende und explosive Muskelkraft!

Ja, ja, und während jener eigentliche, hellhörige Teil von ihm auf diese Weise also genug damit zu tun hatte, in den obenerwähnten Musik- und Orchestererinnerungen hinzuschwinden: sprangen gleichzeitig die anderen, mehr körperlichen Partien von ihm gierig auf den Ausguck nach handgreiflicher Kurzweil, hüpfend vor Spannung und Bataillenlust.

Alle seine Nerven strafften sich in einer Sekunde:

Er war sich auf einmal klar darüber, daß Gorkin selbstredend mehr im Sinne hatte, als sich ganz vulgär mit einer Prügelei begnügen zu wollen.

Jawohl, freilich!

Gerade das war ja auch der Grund, weshalb er selbst hierher, nach achtern, hinausgegangen war.

Zum Teufel auch, sich so weit hinauszubemühen, um nur eine Ohrfeige oder einen Nasenstüber zu bekommen! Das fehlte auch noch! Man war doch, Gott sei Dank, über die Zeiten hinaus, wo unschuldige und harmlose Knabenstreiche, wo das allergeringste bißchen Risiko imstande war, einen zu locken, zu unterhalten und zu zerstreuen! Kä! Man bedurfte, weiß Gott, heutzutage ernsterer Verhaltungsmaßregeln! Zu Bjelostskijschen Geschichten oder zu Lwowschen »bedauerlichen Zufälligkeiten«, zu dergleichen mehr war man jetzt aufgelegt! Kkk! Kksss! Sssss! ...

Bipp ... bipp – sagte es dort im Dunkeln auf der anderen Seite des Panzerturms.

Ah!

Jetzt also mußte der Augenblick da sein. Jetzt mußte ... jetzt wollte ... jetzt soll ...

Peter Romanowitsch sah eine längliche Kohlschwarzheit plötzlich in die Höhe schießen, ein paar Schritte von ihm.

Sie schwoll in einem Nu an.

Lautlos.

Gerade auf ihn zu.

Und dann hatte er ein Paar Klemmschrauben um seinen Hals.

»Höw – höw!« vernahm er. Als beulte sich der Laut durch eine Nase heraus. Oder als trommelte er inwendig in seinen eigenen Ohren.

Er fühlte die Fäuste des anderen; sie kneteten ihn in die Kehle, stießen von innen gegen seine Augen, wühlten sich ganz in ihn hinein, quetschten seine Lungen und seinen Magensack zusammen wie einen Lappen.

Eine Lahmheit fiel durch ihn hinab. Seine Arme zerschmolzen weich und verloren ihre Hände. Sämtliche Knochen und Muskeln in ihm wurden in einem Nu zu Brei.

Etwas Schwarzes quoll ihm in der Speiseröhre in die Höhe:

»Hörrö – höw!« sagte er wieder. Er fühlte, wie er hintenüber geknickt wurde, über die Reeling hinaus, ohne ein Glied rühren zu können: Hilfe!

Mord!

Hilll ... üll ... ll ...

Das aufspritzende Wasser machte ihn eiskalt im Nacken.

Feuerspiralen sprangen aus der Finsternis auf:

Hillllf ...

Und plötzlich erinnerte er sich Bjelostskijs und seiner Prügeleiberichte.

Sein rechtes Knie hieb sich mit einem Brüllen zwischen Gorkins Beine hinein. Er vernahm, wie seine Kniescheibe in etwas Weiches hineinschmatzte, hörte einen wunderlichen, langen Heullaut, und einen dumpfen Fall. Fühlte seinen Adamsapfel mit einem Schwupp frei werden ... und atmete tief auf.

Dann hatte er eine Empfindung, als wenn ein feuchter Fleck an seinem Knie entstanden sei – oder war es vielleicht ein kaltes Gefühl, eine Folge davon, daß er auf dem Grunde des Stoßes gegen irgendeine harte Knochenkante getroffen hatte.

Und im selben Augenblick begriff er, was er Gorkin angetan hatte.

Er schlug mit beiden Armen nach den Seiten aus, knackte sich mit einem Ruck vornüber in den Lenden. Sein Magen kehrte sich jäh um, wurde flach, und spritzte ihm einen bitteren und weichklumpigen Strahl durch die Speiseröhre in den Mund ...

Ein wenig nach diesem Erbrechen war er – auf den Füßen schwankend, mit dröhnendem Kopf, die Zähne groß und rauh vor Bitterkeit – gleichsam mit einem Schritt auf das zweitoberste Deck gelangt, mitten in den tiefen und breiten Gang mit einer Laterne ganz hinten, der zu seiner Kammer führte. Und auf einmal erinnerte er sich, eine Sekunde, ohne zu wissen weshalb, des blitzkurzen Momentes eines Abends auf der Straße einst, vor Jahrhunderten – so schien es ihm: wie er als ganz junger Mensch auf dem Heimwege von einer Oper war, und wie es plötzlich angefangen hatte, inwendig in seiner Brust und in seinem Halse sich zu krampfen und zu schluchzen, weil er selbst weder spielen, noch singen konnte, obwohl er Musik über alles in der Welt liebte ... kkö, höww-höww, kkö ...

 

Am nächsten Morgen, als Iwan auf seinen verdammten Turnschuhen in die Kammer hineingeschlürft kam und ihn weckte, entdeckte Luschinskij – mit einem Ruck in die Höhe fahrend, als habe er einen Faustschlag in die Magengrube bekommen: daß er in vollem Anzuge hier auf dem Bett lag! Er hatte wohl vergessen, sich zu entkleiden, ehe er in der Nacht in die Koje ging! ...

Als weiterer Beweis hierfür saßen ihm die Kleider wie in Bündeln am Leibe und wogen über seinem Brustkasten Millionen Pud.

Im übrigen waren seine Lippen sonderbar glasiert: und diese Erscheinungen zusammen machten ihn augenblicklich alles erinnern, was sich gestern abend ereignet hatte:

Kä, wie!

Dieser Kerl, dieser gedungene Bandit von Leonid Ssemenowitsch, der wie ein Dieb seine Kameraden beschlich, um sie meuchlings zu morden – an und für sich also ganz so wie Iwan, der einen immer auf diese hinterlistige und verräterische Manier weckte, der Mörder!

Peter Romanowitsch erhob sich langsam aus seiner Koje – ohne zu reden, die Augen aber fest auf die gedunsene und zierliche, über alle Maßen heuchlerische Fratze des Burschen geheftet: aha, vielleicht hatte Gorkin sogar geradezu von Iwan gelernt, auf diese Hyänenmanier zu gehen: oben auf den Fußspitzen, die Zehen nach innen gewendet, bei jedem Schritt in den Knien knixend vor Lautlosigkeit! Sehr wohl, sieht man das! Eh! Ei, ei! Also Leonid Ssemenowitsch hatte sich von Iwan belehren lassen, zur Scham und Schaden für Peter Romanowitsch Luschinskij! Gar nicht übel, insofern; aber ob man denn nicht selbst, vice versa, etwas gegen Iwan von Herrn Gorkin lernen konnte, wie beliebt? ...

Und dann kam es Luschinskij wirklich vor, als ob da plötzlich irgend etwas sei, wozu er eine Idee bekommen hatte! Etwas, worüber er nachdenken mußte: etwas, das sicher hauptsächlich von dem Erlebnis mit Gorkin stammte, teilweise aber wohl auch von Lwows Geschichte mit Mikael: eine Art Plan oder Absicht, die ganz zweifellos darauf hinausging, einem eine formidable Rache zu verschaffen, über all den Ärger, den man in der letzten Zeit mit diesem Schwein von Iwan gehabt hatte! Kähähä!

Gewiß!

Und was für eine Sache konnte das also sein?

Etwa irgend etwas Direktes von übernacht? Bekam er wohl Lust, genau dasselbe bei Iwan zu machen, was er vor ein paar Stunden mit so unerhörtem Erfolg bei Leonid Ssemenowitsch ge ...

Im selben Augenblick fühlte Peter Romanowitsch indessen wieder diesen gleichsam kühlen Fleck auf seinem linken Knie. Er vergaß in einem Nu seine Gedanken gegen den Burschen, und machte sich dahingegen daran, seine Beinkleider mit Blitzeseile abzustreifen, um so schnell wie möglich ein Paar andere anzubekommen.

Während dann der Matrose das Bett machte, so daß einem die Luft weiß und dicklich im Gaumen wurde, und dadurch die Übelkeit vermehrte, die noch von dem dunklen Abenteuer zurückgeblieben war: währenddes stand Luschinskij schlingernd vor seinem Spiegel, leckte sich unablässig um den Mund, und zog den Hemdbund mit der linken Hand nieder: Jawohl, Gorkin war, weiß Gott, kein Kind, das konnte man deutlich sehen! Und Damenfinger würden wahrlich auch keine so umfangreiche und blauschwarze Fußspuren hinterlassen haben! Kä! Nein, aber nun hatte dieser selbe Herr ja zu wissen bekommen, wozu es führt, wenn man einen Kameraden im Stockdunklen überfällt – wo doch Gorkin selbst und alle seine Freunde im voraus den Betreffenden mit ihren ungeschminkten und gemeinen Berichten darüber angefüllt hatten, wie man sich gegen eine Übermacht wehren muß! Ke! Und was diesen unsagbaren Burschen Iwan und seine ausdruckslose Verbrechervisage betraf – die einen übrigens in widerlicher Weise an irgend etwas aus alten Zeiten erinnerte, an etwas, das gewiß mit einer Feuersbrunst oder ähnlichem in Verbindung stand, wie, das Vieh: ja, in bezug auf Iwan, so war es wohl bald an der Zeit, daß man anfing, einige beredtere Verfahren ihm gegenüber zu ersinnen! Nicht wahr? Ein wenig mehr Bjelostskijsche Methoden!

Wie?

Hahaha!

Nun! Nicht deswegen! Aber im übrigen hatte man ja gar keine Zeit, hier zu stehen und ...

Damit nahm Luschinskij also seinen Dolch und seine Handschuhe, nickte Iwan verheißungsvoll zu und wanderte nach der Messe, um sein Morgengetränk einzunehmen.

Schon hier am Teetisch bekam er dann zu hören, daß der Becher jetzt, bei Gott, bald voll sei, mit diesem Geschwader, frikassier mich der Teufel, so war es: und zu welchem Zweck etablierte man eigentlich diese ewigen Kriegsgerichte, die doch niemals den Schuldigen ausfindig machen konnten!?

Oder sehen Sie jetzt her, Peter Romanowitsch, und lauschen Sie meinen Worten: einmal in dieser Nacht hatte der wachthabende Offizier, der wohlgeborene Herr Orloff, ganz einfach Oberleutnant Leonid Ssemenowitsch Gorkin, diesen holden Friedensapostel, sozusagen, oben auf Deck, achtern, im Blut, Erbrechen und dergleichen mehr schwimmend gefunden, niederträchtig schweinehaft zugerichtet im Schritt, selbstredend von irgendeiner verfluchten Matrosenschar, vielleicht von einem ganzen Dutzend auf einmal, überfallen!

Ach, Herrgott, und nun war also allerdings schon ein Kriegsverhör mit Kapitän Alexej Nikiewitsch als Vorsitzenden zusammenberufen: aber was hilft das Gorkin an und für sich, dem armen guten Kerl! Erstens findet man, weiß Gott, nie im Leben die Banditen, nein, nimmer, nimmer – und denken Sie dann an Leonid Ssemenowitsch selbst: jetzt liegt er da unten im Lazarett, den Unterleib in Bandagen eingewickelt, das Bett ausfüllend, wie eine Dame, die viel zu guter Hoffnung ist, bei Christus!

Kéhé!

Ohnmächtig und bewußtlos, der Ärmste!

Haben Sie je so was gehört?!

Wenn doch Roschdjestwenskij, der ja gottlob weder sich noch andere Leute schonte, diesmal ein wenig mehr Erfolg damit haben wollte, als sonst, die Übeltäter möglichst schleunig zu fassen, um eines seiner allerspritzendst roten Exempel an ihnen zu statuieren, an diesen Schlingeln! Dr. Nakinskij hat sogar folgende Äußerungen gemacht, vor kurzem, sage ich Ihnen, lieber Luschinskij, so wahr mein Name Starck ist; daß Leonid Ssemenowitsch dies nie im Leben überstehen wird – auf alle Fälle nicht so, daß er wird ... heiraten können, ké, und wenn er auch hundert Jahre alt wird, das Wurm!

Kssss!

Was sagen Sie dazu, verdammt und verflucht! ...

»Pfui!« antwortete Peter Romanowitsch, und drehte seinen Hals im Uniformkragen um. Er mußte fast die Hälfte seines holländischen Zwiebacks in den Mund pfropfen, so daß ihm die krassen Krumen den Gaumen kratzten, wie Branntwein. »Pfui Teufel! Häßlich zugerichtet, sagen Sie? Nie heiraten? Aber ich bitte Sie! Kkk!

Ach Satan!

Erklären Sie sich ein wenig eingehender!

Der arme Kerl!

Wie meinen Sie das?

Und denken Sie nur: ich selbst habe mich in dieser selbigen Nacht in so abschreckender Weise erkältet! Ganz, als hätte ich die Mitternachtsstunden damit zugebracht, achtern im Zugwinde zu stehen, zusammen mit Herrn Gorkin, statt zu schlafen! Welche Sympathie! Wie? Hehe! Sie sehen, ich habe den ganzen Hals einpacken müssen!

Ja, ja! So geht es: der eine bekommt sein Teil – der andere anderes! Zum Beispiel Iwan, mein humbler Bursche, der bis dato reineweg wie das Gelbe im Ei behandelt worden ist, aber jetzt sollen, weiß Gott, auch andere Saiten aufgezogen werden ...

Hahaha! ...

Herr du mein Gott! Also unserem friedlichen Sauschneider haben sie derart mitgespielt! Und wissen Sie wohl noch, wie scherzhaft beleidigt er gestern den ganzen Tag auf mich war?!

Wissen Sie das noch?

Nicht wahr?

Sollte man nicht glauben, daß das, was ihm über Nacht zugestoßen ist, bedeutet: daß ihn entweder die Vorsehung oder ich selbst für sein Benehmen gestern hätte strafen wollen?

Kähä!

Ach-ach, Herr Jemine, der Ärmste!« Und damit schüttelte Luschinskij verblüfft und mitfühlend den Kopf, sah verstohlen zu Praxin hinüber, der ihm heute gegenüber saß, trank einen Schluck von dem siedendheißen Tee, der seine entzündete und zusammengequetschte Speiseröhre besänftigte, holte sein Etui aus der Hintertasche der Hose heraus und streckte die Füße weit unterm Tische aus, um diese eine Papyros zu genießen, ehe Geschäfte und Übungsfahrt ihn der weiteren Gelegenheit dazu beraubten.

»Wohl haben Sie recht, liebster Peter Romanowitsch, mit Ihrem Bedauern!« äußerte währenddes der Graf, mit beiden Ellenbogen auf dem Tischtuch wühlend, die Zigarette fest in den linken Mundwinkel geklemmt. Er fuhr sich über die Lippen, als wolle er geradezu auf das ganz schwache, lautlose Kichern hinzeigen, das sich zwischen jedem Wort einstellte; und er blinzelte langsam mit den Augen:

»Höchst betrüblich, weiß Gott, cher, daß es dem witzigen Herrn Gorkin so ergehen mußte ...

Und niemand versteht gerade Ihren Schmerz in dieser Angelegenheit besser als ich! Selbstverständlich! Kkss!!« fuhr Praxin fort und berührte zum Überfluß noch ganz im geheimen Luschinskijs rechte Hand mit seinem kleinen Finger, während er so tat, als strecke er nur den Arm nach der flachen, goldenen Schachtel mit den Schwefelhölzern aus:

»Ich meine also: daß wir uns hier ja gestern abend alle zusammen, offen gestanden, in Ihrer Stelle freuten!

Das taten wir wirklich!

Parbleu:

Seht doch diese beiden unschätzbaren Menschen – dachten wir: seht doch, wie Leonid Ssemenowitsch und Peter Romanowitsch sich köstlich miteinander amüsieren! Seht, wie geschickt sie es anfangen, alle ihre kleinen düstern Sorgen und Ärgernisse zu vergessen, indem sie sich scherzend gegenseitig ihr Leben bedrohen (wenn wir anderen doch alle zusammen ebenso klug wären, wünschten wir, bei Gott!). Seht, wie heiter ihre Stimmen werden, und ihre Augen strahlen ja förmlich vor Interesse und Spannung über das kleine Ballett, das sie aufführen! Wie?

Nicht wahr?

Habe ich nicht recht mit meinen sämtlichen Insinuationen?

Oder sagen Sie mir doch, Monsieur Starcké! ...« – und der Graf drehte sich plötzlich, mit seinem gewöhnlichen Ruck, nach Starck um und tippte ihm mit seinem goldenen Futteral auf die Schulter:

»Erzählen Sie mir doch: erinnern Sie sich wohl noch, wie reizend wir alle miteinander in alten Zeiten lebten, damals, als Sie, mein Lieber, zusammen mit Bogduroff und mehreren anderen, Ihre großartigen, wenn auch naiven Selbstbelustigungen mit Bade-Niederspringen, Pistolen-Ab-fin-gern und Haifisch-Beleidigungen arrangierten!

Das alles waren ja sozusagen die kindlichen Einleitungen: sowohl zu Lwows reichlich viel genannter Scherzhaftigkeit mit Mikael, der jetzt mit seinen vier nach innen zusammengebogenen Rippen zum Himmel hinaufgeklettert – wie ebenfalls auch zu Herrn Leonid Ssemenowitsch' großem Drama gestern abend, das also seinen entsprechenden Abschluß in dieser Nacht gefunden hat!

Hahaha!

Oder wünschen Sie etwa, Starck, den Versuch zu machen, diese meine Bonmots bezüglich des Darwinschen und naturnotwendigen Entwicklungsganges der Situation zu widerlegen!?

Mein Wahlspruch lautet – à propos dieser ganzen Angelegenheit –: lieber hineinspringen, als kriechen!

Lwow und Gorkin haben uns den einzigen Weg gezeigt, der zu gediegenen und unserer würdigen Aufmunterungen führt!

Wohl dem, der ihrem Beispiel folgt!

Wie?

Für jeden Freund, der hier auf dem Schiff totgeschlagen wird, haben wir einen Feind weniger! Und vermehrte Aussicht, baldmöglichst mit dem ganzen Geschwader umkehren zu müssen! Hahaha!

Können die Herren noch einen so überaus mutwilligen Witz wie diesen verstehen, der aus einer schuldlosen Niere und einem zufriedenen Herzen, wie das meine, stammt?«

Sehr vernünftig – dachte Luschinskij, indem er sich erhob und seine Serviette in den silbernen Ring schob: natürlich war es höchst wahrscheinlich, daß Praxin mit diesen beiden Behauptungen recht hatte: sowohl in bezug darauf, daß Timon Wladimirowitsch' und Gorkins Roheiten schließlich nur eine Art übertriebener Fortsetzung und Entwicklung der intensiven Annäherungen der Bogduroffs seinerzeit waren; wie auch, daß alle diese Erscheinungen ohne Ausnahme in erster Linie den Zweck hatten, die Betreffenden ihre persönlichen Unannehmlichkeiten während dieses schmutzigen Zuges vergessen zu machen! Ganz sicher!

Ja, und unfaßlich schlau war es von dem Grafen, all dies greulich Unmilitärische gerade unter der Form eines Witzes zu sagen: erstens die einzig mögliche Art und Weise, wie eine solche mehr als aufrührerische Bemerkung überhaupt zu äußern möglich war – und zweitens die Fasson, deren sich jeder, der sie hörte, am besten erinnern würde, nicht wahr?!

Hahaha!

Und beinahe sicher war es ja auch, daß, just weil Praxin in diesen Auslegungen recht hatte, es eben deswegen etwas so unsagbar Betrübliches war, das, was Herr Leonid Ssemenowitsch gestern abend begangen hatte, als er so unökonomisch und verschwenderisch war: mit diesem einen einzigen Mal sozusagen alle seine Möglichkeiten des Entzückens zu verpuffen – statt sie über mehrere Tage oder Wochen zu verbreiten!

Ké! Ja, allerdings: wahrscheinlich und schlau und beinahe sicher war dies alles hier ... ja, hä, aber eine einfache Tatsache war es dahingegen, daß er selbst ganz und gar keine Zeit hatte, hier zu sitzen und alle diese Philosophien mit anzuhören!

Die Arbeit rief ihn, der Teufel hole sie!

Ehé!

Dienstliche Angelegenheiten ... und möglicherweise auch ganz andere Affären warteten seiner!

 

Peter Romanowitsch' Abteilung des Geschwaders war während dieser Übungsfahrt die funkelnagelneue und gewaltig interessante Aufgabe zuerteilt worden: den Feind – die andere Hälfte der Armada – aufzustöbern und festzuhalten, von dem man die wertvolle Nachricht besaß, daß er vor vierundzwanzig Stunden da und da gesehen war, mit der und der Fahrt und dem und dem Kurs.

Außerdem hatte indessen Luschinskij selbst speziell obendrein folgenden Auftrag erhalten: er sollte dem Divisionsadmiral einen genauen Bericht, éhé, über den Gang der Übung einsenden; mit besonderer Berücksichtigung der Artillerierapports von sämtlichen Schiffen seiner eigenen Partei; mit beigefügten Skizzen, graphischen Darstellungen und Schemata, ganz einfach!

Also marschierte er, gleich nach der Morgenzigarette – den Kopf voll von einer Menge von Sätzen aus Praxins philosophischen Witzeleien über Lwow, Gorkin und die Bogduroffs –, in seine hermetische Stinkkammer hinunter. Er holte Zeichenbesteck, Tusche, Pausleinwand, Tintenlineale und Schreibpapier heraus, breitete einen Haufen Seekarten auf der Klappe aus, die er zwischen seinen Tisch und eine Stuhllehne legte, und war so gerüstet, Stunden und Ewigkeiten auf die Arbeit verwenden zu können, nicht wahr?!

Aber selbstverständlich wurde ihm leider, sobald er nur eine Viertelstunde dagestanden und seinen Rücken über die Karten krumm gebeugt hatte, schwindlig und bleiern in der Stirn; teils von allen diesen wichtigen und intimen Geschichten, die fortfuhren, in seinem Schädel herumzukreisen, mehr aber noch von den Milliarden von winzig kleinen, roten Tiefenzahlen und von den unzähligen blauen und gewundenen Kurven, mit denen das Atlasblatt bedeckt war, und die es so verwirrend und selbstbeweglich aussehen machten, wie ein Farbenkaleidoskop.

Ja, Luschinskijs brillanter Kopf wurde, weiß Gott, schwer und müde von dem Mißbrauch, hier stehen und diese spiralende Regenbogen-Wasserkarte anglotzen zu müssen – und obendrein erhielt er, regelmäßig jede dritte Stunde, durch den Adjutanten des Parteiführers, Oberleutnant Boris Andrejewitsch Twer, unüberkommbare Mengen von Meldungen und Detailnachrichten aus der ganzen Welt: und die mußten abgeschrieben, verglichen, sozusagen addiert, subtrahiert, multipliziert und mit Fazit, Randbemerkungen und Überschlag versehen werden! Und das obendrein, wo persönliche Ideen und Kampfpläne zu Dutzenden in dem eigenen Busen ausgeheckt wurden! Wie? Hahaha!

Na ja.

Übrigens.

Gott sei Dank: Etwas Wirkliches gemacht wurde ganz einfach nicht aus allen diesen Dienstkolossalitäten!

Man wußte ja ebensogut wie alle anderen: daß der Admiral offiziell das eine forderte – während das, was er in Wirklichkeit und privatim zu erreichen wünschte, etwas ganz anderes war! ...

Darum ergriff Peter Romanowitsch, ergo, wie es korrekt und verständig war, die Partei, so schnell wie möglich Feder und Reißfeder hinzulegen, und dann, die Zigarette im Mundwinkel, sich selbst, seine arglistigen Erinnerungen und die Vorsätze, die daraus resultieren konnten, auf sein Sofa zu placieren.

Er hatte das Bullauge, oben links in der Bordwand, geöffnet und die kleine, hellgelbe Gardine davorgezogen.

Es wehte ein wenig Wind herein – selbstredend war er an und für sich viel zu schwül und versengt, das Jux; aber schon allein die Tatsache, daß da etwas fortwährend über einen hinrieselte, erzeugte fast ein Gefühl von Kühlung in den Hautdaunen.

Er ließ seine Finger vorsichtig an den aufgeschwollenen Streifen am Halse entlang gleiten, und es flackerte eine anziehende und dicke Wonne in ihm auf – als wenn diese Angeschwollenheit im Grunde irgendeine Art Schwangerschaft sei, die ihm bald gute Ideen zeitigen würde.

Er erinnerte sich – ganz schwach kichernd, so daß der Tabaksrauch, fast bis zur Unsichtbarkeit verdünnt, tief in den Sonnenstreifen hinein vor ihm stand: er rief sich ins Gedächtnis zurück, wie Gorkin offenbar klipp und klar die Absicht gehabt hatte, ihn gestern abend über Bord zu schmeißen, ihn zunicht zu werfen, direkt hinein in die höllenmäßig herumwirbelnden Schraubenflügel, in das mörderische und brüllende Kielwasser, dieser Schurke: Alles nur zu seinem persönlichen Vergnügen, so wie Praxin es gesagt hatte, da unten am Teetisch!

Jawohl, wahrhaftig, der Graf hatte recht gehabt in seinen darauf bezüglichen Erklärungen!

Sicherlich!

Es war in alle Ewigkeit wahr, was Praxin bemerkt hatte!

Welch eine wunderbare Glückseligkeit hatte nicht Peter Romanowitsch selbst gestern empfunden, während dieses Angriffes von Seiten Gorkins!?

Wie betörend hatte er nicht, mit einem Schlage, alle seine intimen Widerwärtigkeiten vergessen: alle Sorgen in bezug auf die Gegenwart, und all seine herben Vorahnungen, die fast Gewißheit waren, all das abscheuliche und sonst unvergeßliche Wissen über diese unbrauchbaren Schiffe, voll von den Ekelhaftigkeiten aller Welt!

Wie lächelnd war ihm nicht geworden in jedem Nerv, in jedem Muskel!

Oh, welche schwellenden und wogenden Entzückungen hatten ihn nicht vom Scheitel bis zur Sohle durchschauert – Minute auf Minute, Stunde auf Stunde, gleich seit dem Beginn des Streites gestern vormittag beim Frühstück!

Krr! Wie? Kéhé!

Und nun galt es also, gerade herausgesagt, von neuem Mittel zu ersinnen, wieder und wieder dasselbe zu erleben!

Selbstredend war es das, um was sich die Sache drehte!

Aber: wie sollte man das erreichen?

Wem seine Reihe war es nun, ihm diese Allerweltswonne zu verschaffen? Denn Gorkin hatte ja leider durch seine Unbesonnenheit und seinen Mangel an Überblick und Sparsamkeit, ganz und gar jede Aussicht, selbst wieder benutzt zu werden, vermöbelt!

Aber wer dann?

Müßte es denn übrigens überhaupt einer von den Kameraden sein?

Konnte man sich nicht statt dessen – so wie Timon Wladimirowitsch Lwow getan – mit irgendeinem Gemeinen begnügen?

Zum Beispiel mit Iwan, wie?

Warum denn nicht?

War es nicht etwa gerade das, worauf diese dunklen Pläne in ihm schon heute morgen hatten hinaus wollen, bei dem greulichen Anblick von des Burschen Banditenvisage? ...

Aber dann erinnerte sich Luschinskij: daß ihm Gorkin ja nicht nur nach dem Leben getrachtet hatte, sondern daß er sogar ganz unverschleiert versucht hatte, ihn sowohl zu erdrosseln, wie auch zu ertränken, so daß man ihm gegenüber hinreichend Ursache gehabt hatte, zu diesen ernsten Verhaltungsmaßregeln zu greifen – die ja auch gerade notwendig waren, um eine wirkliche Spannung und Vergessen zu erzielen!

Ja, Leonid Ssemenowitsch gegenüber war das Ganze eine Selbstverteidigung gewesen et rien de plus – aber mit Iwan, diesem ganz gewöhnlichen kleinen Dieb und Raufbold, da war es etwas ganz anderes! Selbst wenn diese Prügeleien und Überfälle noch so unentbehrlich waren, für die eigenen Vergnügungen und die eigene Lebenserhaltung – konnte man sich doch nicht so ohne weiteres darauf einlassen, einen völlig unschuldigen, außerhalb der Sache stehenden Mitmenschen zu mißhandeln!

Man war ja doch weder verrückt, noch ein Kannibale, oder ein »bedauernswerter Zufall« – so wie beziehungsweise die Herren Bogduroff, Gorkin oder Lwow!

Wie?

Nein, sicher nicht! Keine Rede davon!

Freilich würde es sich wohl bald als obligatorisch herausstellen, Iwan ein wenig energischer anzufassen: Der Kerl hatte wirklich angefangen, auf die allergemeinste Weise schlaff und frech zu werden! Aber von da bis zu ... Hä! Ehé! Kisss! Wie? Nie im Leben! Dieser gute und prächtige Iwan! Es würde ja ganz unmenschlich sein, wenn man ihm irgendein Leid zufügte! Ach ja! Dieser an und für sich brave und – wenigstens infolge der Verhältnisse – recht unschädliche Köter! Das fehlte auch noch! Nicht wahr? ...

Im selben Augenblick kam der Ordonnanzoffizier, Boris Twer, in die Tür hineingepoltert; der Dolch flog hinter ihm her; er hatte den ganzen Arm voll neuer Meldungen.

Er hatte gerade noch Zeit genug, sich zu setzen, ein Glas Sodawhisky in seine inflammierten Inwendigkeiten hineinzugießen, sich mit einer Zigarette weiter zu infizieren, und Luschinskij in allen geheimen Vorsätzen zu ermuntern und zu unterstützen – indem er irgend ein Evangelium über die Situation auf seinem Schiff oder auf dem anderer erzählte:

»Esch, Mister Romanowitsch!« sagte er schließlich, indem er seinen Bart strich, so daß ihm der Whisky an den Fingern herablief, als sei er inwendig mit Branntwein und Rauch angefüllt; er tauchte in seine hohen Tsetse-Fliegenbeine nieder, um seinen spitzen Hintern auf der Sofakante anzubringen.

Luschinskij saß da und konnte seine heißen Augen nicht abwenden von Twers schmalem, flachem und scheckigem Antlitz, das völlig einem tuberkulös-entzündeten Brustbein mit Fransen daran glich:

Aus Boris Andrejewitsch' Sprache hörte er eine Sekunde dasselbe heraus, was er schon früher an den Offizieren der anderen Schiffe bemerkt hatte: wie man sich auf jedem einzelnen Fahrzeug offenbar seine besonderen und spezifischen Geistreichigkeiten zugelegt hatte.

Der Oberleutnant nickte mit seinem Skelettgesicht vor sich hin. Er sprach leise und in einem intimen Galopptempo, das Peter Romanowitsch förmlich in den Ohren weh tat:

»All right. Hol' mich der Teufel. Lieber Freund! So sieht es also bei uns aus.

Die Sache ist einfach genug, im Grunde, scheint mir! Zum Satan auch!: denken Sie daran, womit sich die Offiziere der Armee zum Beispiel da drinnen in der Mandschurei amüsieren können: immer und ewig irgendein kleines, schneidiges Vorpostengefecht! Oder sie arrangieren sich ein flottes Rekognoszierungchen: kleine muntere Angriffe und Überfälle! Kugeln, Pulver und blanke Säbel! Und sie wissen doch wenigstens, Tag für Tag, wo sie den Feind haben, nicht wahr?

Esch, äh, bäh, aber wir!

Oder was sagen Sie, dear Sir, zu den anderen Geschwadern da drüben? Sowohl das, das in Port Arthur war, éh – wie auch das in Wladiwostock! Fortwährend irgend etwas zu tun! Kreuzen und kleine Fahrten. Minenlegen und Bataillen. Oder sie kapern, weiß Gott, einen Handelsdampfer, gleichgültig wo, und verdienen großes Geld. Oder sie belustigen sich selbst damit, daß sie tabula rasa in aller Beziehung machen, hä, in Gensan, Masanpo, oder in anderen Küstenstädten, wie?

Vollauf Zerstreuungen und Vergnügungen überall – während wir!!

Go on, dear, scher' dich dahin, wo der Pfeffer wächst!

Na ja –:

Wie beliebt?

Und was dann – frage ich Sie?:

Dann müssen wir, verdammt und verflucht, selbst für unser Amüsement sorgen!

Ganz einfach!

Soldaten, die sich langweilen, pfui Satan!

Lesen Sie die Kriegsgeschichte von Anfang bis zu Ende durch, und ich garantiere Ihnen: Langeweile ist der Vater der Niederlage und die Mutter! Ganz sicher: und da die Situation an und für sich alles andere als heiter für uns ist, so müssen wir also selbst für unsere Vergnügungen sorgen. Ein andermal werde ich Ihnen in bezug hierauf ein paar neue und höchst delikate Details von unserem Kapitän Wickoff erzählen, Sie wissen: der, der sich in der vergangenen Nacht in der allerzärtlichsten Stellung, zusammen mit dem bezaubernden Kadetten Peter Alexandrowitsch Stoin mit den goldenen Lippen, den seidenen Zähnen und den himmelblauen Majolikaaugen erschossen hat. Oder erinnern Sie mich daran, daß ich Ihnen die Geschichte erzähle, die ich gestern persönlich hörte, von zwei jungen Leutnants, die in der vorigen Woche nach dem Diner bei Monsieur de Robigny desertierten, beide als Freudenmädchen verkleidet, sich schweinemäßig in einem der Bordelle da drinnen verbergend: und von dem Besuch – mit wehmütigen Schnupfkonsequenzen –, den ihr Chef höchstdemselben gastfreien Heim abstattete, auf seiner Jagd nach den Flüchtlingen, die Schelme: aber die hatten nämlich ganz einfach alle Damen da drinnen totkrank gemacht: indem sie sie nicht nur mit Rachsucht angesteckt hatten – sondern auch mit ... genug davon! hahaha! ...

Ach ja, ach Gott, lieber Mister Luschinskij, bei uns gab es eine Zeit, wo wir es gerade heraussagten – wir möchten, weiß Gott, nicht mehr: was würden wir nicht ohne Ausnahme dafür geben, wenn wir wieder daheim wären! Wie beliebt? Hahaha! Na ja! Usch, nicht wahr?

Aber sagen Sie mir doch, wie denken Sie über die Eigentümlichkeit: ein Mann zu sein, zufälligerweise!

Erklären Sie mir: warum ist es nicht schon längst geschehen, daß wir, kurz und gut, das Geschwader gewendet haben und heimgekehrt sind?!

Wer würde uns etwas dafür anhaben können, so viele wie wir sind – wenn wir nur einig wären?

Und warum geschieht es denn nicht?

Ist es Feigheit oder Mut, daß wir uns im Zaume halten?

Oder kennen Sie etwa die Beweggründe von Männern, Mannsleute zu sein? Hahaha! Brauen Sie sich nun eine schlaue Antwort auf diese Anheimgebungen zusammen!

Dear Sir!

Tod und Teufel, die Zeit rennt. Und ich muß ihr Folge leisten. Adieu!

Auf Wiedersehen!

Trösten Sie sich: Das Leben ist kurz, und wir haben nur eins: also sind da doch trotz allem Grenzen dafür, wieviel Klapse das Schicksal uns bieten kann!« Und damit mußte Boris Andrejewitsch wieder von dannen, hinab auf seinen beschränkten Destroyer, um dem Admiralskasten auf den Fersen zu folgen und noch mehrere von den interessanten Papieren abzuholen.

Von neuem mußte Luschinskij also höchst trauriglich – denn Langeweile ist das Elternpaar der Niederlage, hatte Twer ja gesagt –, tief betrübt mußte er für eine Stunde oder so sich selbst langweilen, indem er seine gewichtigen Gedanken ablegte, und wenigstens alle diese Unendlichkeiten von Meldekarten durchlas: fünfzig Angaben, die nichts von der Welt angaben, fünfundsiebzig Aufklärungen, die jedwede Sache noch dunkler machten, als sie schon im voraus war; einhundert Mitteilungen über Dinge, an denen auch nicht ein einziger Mensch Anteil nahm!

Die besten von den Meldekarten waren zweifelsohne diejenigen, auf denen gar nichts stand – wo die Schreiber, mit anderen Worten sans phrase schlau genug gewesen waren, nicht einmal all den Wust niederzukritzeln, der ihnen diktiert war, und daher nur ein weißes Papier in den Umschlag gesteckt hatten! Hahaha! Ja, selbstverständlich: in jeder Hinsicht waren die unbeschriebenen Briefe die vorzüglichsten in dem ganzen Haufen: sie verbrauchten keine Tinte und erforderten auch keine Zeit zum Durchlesen; sie konnten immer wieder verwendet werden, so oft es sein sollte – was auch eine große Ersparnis war; und endlich war ihr Inhalt ja gar nicht mißzuverstehen! Nicht wahr?

Und natürlich sollte man auch selbst – eingedenk Monsieur Boris' Paradoxe: man sollte es ebenso klug machen, wie diese geheimen Nichtschreiber, und ganz einfach all diese langweiligen Sachen sein lassen, was sie waren! ...

Ergo eilte Luschinskij wieder nach seiner lieblichen Chaiselongue hin, stieß Dokumente und Karten in einem Fußumdrehen herunter, und setzte sich, so daß die Federn klangen.

Er war wirklich matt und schlaff geworden, während all dieser einförmigen und aufreibenden Arbeit: eigentlich war es ja auch ganz verkehrt, daß er nicht viel energischer dafür sorgte, sich Zerstreuung und Amüsements zu verschaffen! Boris Andrejewitsch hatte vollkommen recht, weiß Gott: es war im Grunde geradezu die allererste Pflicht eines Soldaten, sich nicht zu langweilen!

Ach ja! Aber Peter Romanowitsch hatte ja, ganz direkt gegen dieses weise Gebot, sich sowohl müde als angestrengt gearbeitet und geärgert!

Innen bei den Knochen in seinen Beinen waren eine Menge langsame und scharfe Gefühle, als habe er schon jetzt die sämtlichen kleinen Überreste der Muskeln, die ihm noch geblieben waren, in einem bedenklichen Grad überbenutzt!

Und außerdem war da offenbar etwas wirklich Schlimmes in seinem Hals; etwas, das sicher eine direkte Folge von Herrn Gorkins Athletenfingern war; aber der Grund, weshalb ihn diese Bagatelle noch genierte und schmerzte, war natürlich der: daß er bis zu diesem Augenblick, sozusagen ohne Unterbrechung, gestanden und sich selbst ermüdet hatte, indem er seinen Nacken über diese idiotischen und knochentrocknen Wasserkarten beugte, selbstredend!

Also begriff er, daß es nichts geringeres als seine Pflicht war, jetzt ein wenig zu ruhen.

Gleichzeitig aber hielt er es unter diesen Umständen für das richtigste, jede halbe Stunde nach Iwan zu klingeln. Er schalt ihn gehörig aus – nur um den Schleim in seinem kranken Hals zu lösen – und befahl ihm darauf, ein Glas siedendheißen Tee zu holen: denn das spülte die losgelösten Teilchen so vorzüglich hinunter, nicht?

Und jedesmal, wenn er auf diese Weise das schafsdämliche Gesicht des Burschen erblickte, war es ihm, als entsinne er sich von neuem sowohl der Lustigkeit mit Gorkin gestern, als auch Lwows blanker Blicke, Praxins Rede heute morgen und Boris' Worte vorhin.

Er kicherte, so daß der Tee über das Zeichenpapier spritzte, und starrte über den Rand des Glases hinweg, unverwandt Iwan in die Augen hinauf:

»Nicht wahr?« sagte er schließlich, und stieß scherzend mit dem Fuß nach den fliegenschwammvioletten und geschwollenen Schleimknöcheln dieser widerlichen Inferiorität. »Wie, mein imbeziller Freund? Und vergiß auch nicht, was ich sage: von nun an ist es unsere Pflicht, verstehst du, schlecht und recht, unsere herrliche Schuldigkeit, uns zu amüsieren! Wie? Halunke! Verstanden? Haha!

Für jeden Freund, den wir totschlagen – haben wir einen Feind weniger!

Sieh' da!: Nimm dèn! Und dèn!

Und willst du dich dann wegscheren, so schnell wie möglich, daß ich befreit werde von dem Anblick deiner gemeinen und verstandesverlassenen Fratze – vorläufig! Bis die Zeit erfüllet ist ...

Du ahnst nicht, wie du mich an einen Selbstmörder erinnerst, den ich einmal sah, an einen von meinen Rekruten von vor vielen Jahren: Pfui Teufel, er hatte genau dieselben, rotzigen Augen, wie du! Wladimir Grigoriewitsch hieß er, der Schurke, da siehst du selbst, wie deutlich ich mich seiner entsinne! Oder weißt du wohl, daß es ein untrügliches Zeichen dafür ist, daß man ein richtiger, lebensmäßiger Krüppel ist, wenn man so viele Finger hat, wie du?

Hahaha!

Verlaß dich darauf!

Und denk' nun daran, was ich dir gesagt habe: unsere militärische Verpflichtung, uns nicht zu langweilen!

Vielleicht wirst du bei Gelegenheit Veranlassung haben, mir etwas über die Konsequenzen dieses Satzes mitteilen zu können ... für dich und dein Leben!

Na, denn schaß dich!« – – –

 

Am Abend trennten sich die Offiziere früh: man war ja verteufelt zeitig auf den Beinen gewesen, und hatte sich die ganze Zeit hindurch rücksichtslos angestrengt – nämlich indem man sich gründlich über sämtliche Kameraden und Vorgesetzte ärgerte!

Alle wie ein Mann hegten sie deswegen die Hoffnung, diese Nacht schlafen zu können – denn nun hatten sie ja sozusagen im Laufe des Tages gerade die Arbeit besorgt, die sie während der Nächte wachzuhalten pflegte!

Hahaha! ...

Während sich Luschinskij auf dem Wege nach seiner Kammer befand, fühlte er selbst abermals, daß er inwendig wirklich noch ein klein wenig mehr bebte als bisher!

Es war, als ob alles das, was er heute verstanden hatte, betreffs der eigentlichen Absicht und Meinung mit der Gorkin-Episode gestern – als ob das ihn zum erstenmal gleichsam von irgendeinem inneren Zwang befreit hatte: von einem Gewicht, das bisher diese wonneerfüllten Erzitterungen gänzlich verhindert hatte, sich da drinnen zu etablieren, oder sie wenigstens doch geniert hatte, so recht losgelassen zu wirken.

Ja, es schien ihm, als ob die Affäre mit Leonid Ssemenowitsch ihn nicht nur mehr denn je mit Dampf und Sang erfüllt habe – sondern sie hatte ihm sogar plötzlich gerade die liberale Selbsttoleranz gegeben, die erforderlich war, ehe man diese funkelnagelneuen, kräftigen Eigenschaften gehörig ausnutzen konnte!

Allerdings hatte er ja diese Gabe auf Kosten seines eigenen Halses bekommen, insofern – und auf Kosten von Gorkins Heiratsmöglichkeiten!

Aber was, Herrgott!

Kkkk!

Nichts ist ja gratis zu erlangen auf dieser segelnden und habsüchtigen Erde!?

Ach, und nun sehnte er sich so schmerzlich danach, wieder diese wogenden und sangbaren Erlebnisse in sich zu fühlen!

Diese dumpfen und tiefen Klänge, diese schwellenden Melodien, die sich langsam über alle Bedenklichkeiten hinaufwiegten, und einem nach und nach erlaubten, alles mögliche Auswendige zu vergessen; diese Siegestöne, die alle Selbstkritik und alle normalen Empfindungen in Ohnmacht lullten; die einem unten im Grunde die allertiefsten Ventile öffneten und die allerprivatesten Fähigkeiten und Kräfte in einem zur Entfaltung brachten: diese notwendigen und überaus energischen Fähigkeiten und Kräfte, als deren glückseligen Besitzer man sich überhaupt erst während dieser Fahrt entdeckt hatte!

Wie?

Kiss! Kéhé! Kéhirr! sagte Peter Romanowitsch, und machte sich stramm, während er mitten in der dunklen Batterie, auf halbem Wege zu seiner Kammer, stehen blieb.

Die Ronde passierte lautlos an ihm vorüber, auf ihren Schleichschuhen; ihre Säbelscheiden klirrten.

Es hörte sich an, als huschten beständig leise musizierende Gorkins hinter einem her.

Luschinskij hakte seinen Rock oben am Halse auf.

Er bekam plötzlich ein Gefühl oben im Kopf, als wenn ihm das Tuch zu stramm sei; oder seine Kleider waren ihm auf einmal zu klein geworden; oder sein Schlund mit samt der ganzen Gehirnmasse wär' jählings noch mehr aufgebeult, infolge der glückseligen und blutreichen Erwartungen, die ihn erfüllten, tout simplement! Aha, dieser Lumpenkerl von Iwan mit der minderwertigen und heuchlerischen Blut- und Eitervisage!

Er lachte wieder und entsann sich auf einmal, wie Gorkin den ganzen Tag gestern herumgeschwankt war und im Gesicht wie eine hochrote Blume ausgesehen hatte!

Ja!

Weiß Gott: Leonid Ssemenowitsch' Kopf war wirklich schlecht und recht ein karmoisinroter Lederbeutel gewesen, angefüllt mit irgend etwas, das fortfuhr, ihm durch die Haut herauszusickern!

Wer nur eine Laterne zur Hand gehabt hätte, gestern abend, da oben auf dem Achterdeck, so daß man sich an seinem Antlitz hätte ergötzen können, auch während des Mordversuchs selbst! Nicht wahr? Dieser tierische Manntöter! Dieser Erdroßler und Über-Bord-Schmeißer!

Hahaha! Ja! So mächtig ging also das Ganze vorwärts in darwinistischer und naturnotwendiger Entwicklung – oder was es nun war, was Praxin heute morgen gesagt hatte –:

Diese ehemals unbeugsamen Bogduroffs waren jetzt schon parat, Leute über Bord zu werfen, geradeswegs in den Tod hinab – nur, um die kurze Erquickung zu erlangen, daß es inwendig in ihnen musizierte, daß ihnen das Herz in den Busen tanzte, bis ihre sämtlichen Trübseligkeiten platzten vor lauter Blutbubbelei!

Sie forderten schon Prügelei auf Kastrierung und Totschlag, nur um für einen Augenblick ihre persönlichen Sorgen und Qualen vergessen zu können, nur um sich eine Minute Frieden für die Zukunftsaussichten zu erwerben!

Kéhé!

Ja! So blitzgeschwind hatten sich diese älteren Herren entwickelt!

Und nun war Praxin unter vollem Dampf dabei, großmilitärisch auf die Kadetten und die kleinen Leutnants einzuwirken, um auch sie in dieselbe betörende und notwendige, schmerzberauschte und selbsttolerante Verfassung zu bringen!

Oj ja! Alles war, mit anderen Worten, bald so, wie es sein sollte!

Das Ganze schritt mit Tanzgeschwindigkeit vorwärts!

Und schwindelnd nahe mußte also die Zeit sein, wo alle miteinander bereit waren, das Letzte zu opfern, was sie noch hatten: ihren militärischen Grad selbst – um sich das Wichtigste von allem möglichen wiedererobern zu können: nämlich, entweder das Leben selbst, oder wenigstens einen Tod ohne weiteres Gefasel!

Es konnte sicherlich nicht mehr weit sein bis zu dem Stadium, wo man – ohne irgendeiner direkten Verabredung zu bedürfen, ohne ein einziges kompromittierendes Wort – alle wie ein Mann einig werden konnte!

Vielleicht schon in ein paar Wochen traten der große Tag und die Stunde ein, wo man mit gemeinsamer Hand das Steuer umfaßte, und schweigend, aber mannsstark und in vollständiger Einigkeit, lautlos das Ruder umlegte und das Geschwader wieder auf den Weg heimwärts lenkte!

Kähä!

Heim: nach der unvergänglichen Russia und ihrer meilenweiten, unerschütterlichen Erde!

Heim: ehe es zu spät ward!

Heim! kirr! heim!

Und so wichtig war es also, seine Amüsements im Gange zu halten: sowohl persönlich, wie auch menschlich und strategisch hingen aller mögliche Sieg und Gedeihen von der einen Sache ab, daß man sich nie und nimmer langweilte! Des Lebens wie des Gewinnes war man sicher, wenn man nur für Tanz und für Wonnen sorgte! Ein jeglicher an Bord des Geschwaders hatte, mit anderen Worten, nur die eine einzige Pflicht und Aufgabe: sein Teil zu den Zerstreuungen beizutragen! Gleichgültig, was es kosten würde: auch nicht einer hatte das Recht, in diesem Punkt zu versagen! Herr Lwow hatte, kurz gesagt, seinem Burschen gegenüber gerade vollauf als Gentleman und guter Kamerad gehandelt! Natürlich! Uns allen zusammen hatte er das folgewürdigste Beispiel gegeben!

Selbstverständlich! ...

Peter Romanowitsch ging langsam in seine Kammer hinein, wo Iwan, wie gewöhnlich, mit seinen unendlich vielen Fingern herumhantierte:

»Rindvieh!« sagte Luschinskij, ohne seine eigenen Worte richtig zu wissen. »Du fleischlicher Vetter von Wladimir Grigoriewitsch, dem Brandstifter und Selbstmörder!« – und damit erhob er das rechte Bein, um mit aller Macht loszutreten – in der korrektesten Übereinstimmung mit dem Amüsementspflichtresultat, zu dem er gerade eben gelangt war.

Aber im selben Augenblick geschah etwas Funkelnagelneues und Ungeahntes!

Etwas ganz Verblüffendes und Schlimmes I

Etwas geradezu Unheimliches!

Etwas Spukhaftes:

Noch ehe sein Fuß so weit gelangt war, Iwans Hintern zu treffen, nach dem er zielte – kam plötzlich eine ranzige und naßkalte Beklemmung in sein Herz hinein. Seine Beine wurden auf einmal wollig und weich. Seine Lenden schmolzen zu Schleim hin. Und der Atemzug verschwand in einer Sekunde.

Ihm wurde ganz leer im Kopf, und inwendig hinter seinen Ohren donnerte ein Wasserfall –:

Wie?

Was war nur dies – dachte er und tastete mit beiden Händen um sich, um etwas zu finden, woran er sich stützen konnte: warum kam denn nun nicht dieser schwellende und wonnige Ton in seine Brust, den er sonst immer vernommen hatte, wenn er den Burschen mit Füßen stieß?

War er etwa schon blasiert geworden?

Sollte die todfordernde Gewaltsamkeit, die in dieser Nacht in Leonids Angriff gelegen hatte, ihn schon raffiniert und pervers gemacht, ihn ganz gleichgültig gemacht haben, der gewöhnlichen Fußstoßerei und dergleichen Kleinkram gegenüber?

Oder war er wirklich heute abend nicht wohl?

Sollte Gorkins erdrosselnder Griff in seine Stimmbänder etwa so weitreichende Folgen haben?? ...

Er sah zu Iwan hinüber.

Aber der stand ganz ruhig wie immer da, im Begriff, den Bettsack zusammenzulegen: er klemmte die Mitte seiner Kante fest – mit seinem geklüfteten Hasenschartenkinn, das immer von Schweiß glänzte und trieb – und breitete ihn mit seinen zwölf unsterblichen und Idiotie-beweisenden Fingern nach beiden Seiten aus!

Und er mied, genau so wie gewöhnlich, den Blick des Oberleutnants!

Vollständig, in einem und allem, als ob gar nichts Sonderbares bei dieser ganzen wunderlichen und, gelinde gesprochen, ergreifenden Geschichte sei!

Gut – dachte Luschinskij, und fühlte wieder inwendig im Zwerchfell und in der Milzgegend dies Gewisse, das sich belustigte, und sich danach sehnte, zu tanzen: da also lag die Erklärung:

Es war keineswegs er selbst, der blasiert geworden war – es war, weiß Gott, Iwan!

Aha!

Iwan schämte sich nicht geradezu zu erklären – nämlich kraft seiner ruhigen Miene: daß er einen Fußtritt nicht mehr für das Geringste rechnete!

Oho!

Der Bursche schätzte sich, mit anderen Worten, höher ein als Gorkin –: dieser prächtige Leonid Ssemenowitsch, der sofort in Feuer und Explosion geraten war, als Peter Romanowitsch nur skizzierte, daß man ihn mit dem Fuße stoßen wollte, indem man auf das Testament anspielte! Sehr wohl! Iwan war also, im Grunde genommen, ein Offiziersverleugner, sintemal er sich selbst für mehr unverletzbar hielt, als der hochwohlgeborene Oberleutnant Leonid Ssemenowitsch Gorkin! Schau, schau! Iwan war, kurz gesagt, ein Nihilist reinsten Wassers! Ein Rebell! Einer von denen, die jedes beliebige Kriegsrecht auf der ganzen Welt augenblicklich und einstimmig zum Tode verurteilen würde!

Ehé!

Aber das sollte wahrhaftig mit Windsgeschwindigkeit anders werden! Es sollten und mußten wahrlich ernste Veränderungen vorgenommen werden in einer so unerhörten und ungeheuren Gemeinheit: ein simpler Matrose, der sich für mehr hielt als ein Offizier! Mehr wert als Herr Leonid Gorkin, dieser liebevolle Testamentsverfasser, dieser ...

Aber im selben Augenblick erinnerte sich Peter Romanowitsch plötzlich, daß der eigentliche Anlaß zu diesem ganzen Abenteuer gestern und über Nacht: ja schließlich gerade dieses selbigen Leonid ekelhaftes Benehmen war, auch anderen das Vertrauensamt zu übertragen, seine Dokumente aufzubewahren?!

Nicht wahr?

Denn dieser Gassenbubenstreich war ja, wie gesagt, in Wirklichkeit eine unausgesprochene Prophezeiung, daß er – Luschinskij – wahrscheinlich ein trauriges Schicksal auf dieser Fahrt zu gewärtigen haben würde! Daß er entweder im Kampfe fallen – oder, selbst wenn es gelang, das Geschwader zu wenden, ehe so etwas würde geschehen können, doch auf andere Weise verschwunden sein würde, bevor man heimgelangte!

Und, selbstverständlich – dachte Peter Romanowitsch weiter, beständig beide Hände auf die Tischklappe mit den Karten stützend, vor sich hin starrend, während der Bursche hinter ihm mit dem Waschgeschirr rumorte: natürlich war es ja möglich, daß Gorkin Recht bekommen würde, mit diesen lumpigen und mörderischen Insinuationen! Selbstverständlich konnte es sehr wohl geschehen, daß es einem übel erging, daß man nicht mit heiler Haut davon kam!

Freilich!

Und, was das anbetraf: Schwamm drüber!

Das Leben ist kurz, und wir haben nur eins – wie Boris Andrejewitsch sagte! Die Situation konnte also niemals viel schlimmer für einen werden, wenn man starb, als sie es schon jetzt war!

Aber in dem Falle würde es, auf der anderen Seite, allerdings ein untragbarer Schmerz sein, wenn Iwan, dieser Diebskerl, den jedes Kriegsgericht flugs mit Blei würde perforieren lassen, wenn der mit heilen Knochen nach Hause kommen sollte!

So etwas würde, mit kürzesten Worten, ein Mißverständnis von seiten Gottes sein! Nie konnte es die Absicht des Allerhöchsten sein, daß ein Rebell und Anarchist, wie Iwan, sein Leben bewahren sollte, zu fortgesetztem Verdruß und Schaden für sich selbst, wie für alle anderen!

Sowohl eine Ungerechtigkeit, wie auch eine Undankbarkeit vom lieben Gott würde es sein – und ein häßlicher Triumph für Gorkin!

Nein, da war es weit besser, wenn man Iwan aufreizen konnte! Wenn man sozusagen eine Probe veranstaltete, was Gott des Herrn eigentliche Absicht war!

Eine Eisenprobe, nicht wahr, ein Gottesgericht?

Wenn man Iwan auf irgendeine Weise, mit verbundenen Augen am Rande eines formidablen Abgrundes aufstellen, ihn da hinabpuffen – und so das Urteil des Himmels erforschen konnte!

Oder sollte man ausnahmsweise einmal, in einer ganz ähnlichen Absicht, versuchen, ihm einen Schnaps von diesem vielbesprochenen Ta'Ngena-Gift einzugießen, das zu benutzen die Nigger hierzulande eine so große Übung hatten, wenn sie sich so recht probat und langsam rächen wollten: ein pestilenzartiger Geifer, der einen peu à peu heulend ins Paradies wandern machte, gruppenvoll von Geschwüren, Krebs und Geheul!!

Wie?

Oder wenn man ihn dazu brachte, sich zu vergaloppieren? Oder sein bißchen Lebensmut einzubüßen – so ein minderwertiger Gewinn, der er war, dieser Zwillingsbruder des Selbstmörders Wladimir Grigoriewitsch: so daß er dazu getrieben wurde, selber den Irrtum des Allmächtigsten auszugleichen und Gorkins unkameradschaftliche Prophezeiung zu fälschen! Ja! Ganz einfach! ...

Also nahm Peter Romanowitsch seine Augen wieder zurück von der frohen Zukunft, in die sie hinausgeschaut hatten; und winkte dem Burschen zu, daß er möglichst schnell seiner Wege gehen solle, fort, weg, von dannen, geschwind, Idiot! ...

Sobald die Tür dann zugeschoben war, setzte sich Luschinskij mitten in sein soeben in ein Bett verwandeltes Sofa, zog die Knie unter das Kinn und wiegte den Kopf hin und her.

Es kam ihm vor, als ob die verschiedenen Episoden, die in der letzten Zeit rings um ihn her geschehen waren, schon vor mehreren Tagen – zusammen mit irgendeiner ganz dunklen und unbestimmten Erinnerung aus uralten Zeiten – ihm die zerstreuten Momente zu einer Art Plan eingegeben hätten: der in Sachen kontra Iwan der einzig richtige sein würde!

Gewiß, schon längst hatte er die ersten Ahnungen gehabt, von dem ergötzlichsten und korrektesten Verfahren Iwan gegenüber – aber er hatte sie, bisher, nur zurückgedrängt!

Er hatte nicht das Herz gehabt, diesen jammervollen Diebslümmel von Burschen so konsequent anzufassen!

Und er hatte sich außerdem, unkollegialisch genug, für »besser« gehalten, als die erhabenen Bogduroffs, als Gorkin-den-Geliebten, und als den munteren Lwow!

Das hatte er getan – leider Gottes!

Ach ja!

Aber jetzt – jetzt, wo der liebe Gott selbst (unter anderem durch Gorkins falsche Prophezeiung) im Verein mit Boris Andrejewitsch ihn sozusagen dazu kommandierte, mit aller menschlichen Kraft einzugreifen – wohlan! da war er natürlich gezwungen, zu gehorchen!

Eh! Und er würde wohl auch eine Methode ausfindig machen, die, während sie den Geboten des Himmels gehorchte, ihm selber gleichzeitig eine ganze Welt von Ausbeute schaffen würde: sowohl Ozeane von Ergötzlichkeiten – ähnlich denen, in denen sie sich alle während der Bogduroff-Affäre gebadet hatten; Abgründe von Vergessen – von derselben Art wie die, die er selbst auf die wunderlichste Weise durchschwindelt hatte, während der Prügelei mit Leonid Ssemenowitsch; und Berge von Wonnen – so wie die, von denen Lwows schimmernde und himmelhohe Blicke erzählten! ...

Er begann gleich auf dem Fleck darüber nachzugrübeln, wie er sich benehmen mußte, um diese großen Ergebnisse zu erzielen:

Aha, also Iwan war wählerisch geworden und reagierte nicht mehr, weder auf Fußtritte, noch auf Schimpfworte! Iwan war offenbar frech genug, damit dasselbe andeuten zu wollen, das Gorkins Gebahren mit dem Testament insinuiert hatte: daß Peter Romanowitsch wahrhaftig nicht mehr lange zu leben habe!

Gewiß: keinerlei anderes Räsonnement hätte den Burschen dazu bringen können, einen Stiefelabsatz so ruhig, fast mitleidsvoll, hinzunehmen, wie?

Oder möglicherweise war diese auffallende Ruhe übrigens im Gegenteil sogar eine Art Verschlagenheit von Seiten Iwans?

Er wollte seinen Offizier am Ende nur sicher machen – wollte dessen militärische Aufmerksamkeit in Schlaf lullen, wie??

Natürlich in der allergemeinsten Absicht! Vermutlich, um sich eine Gelegenheit zu einem kleinen gemütlichen Attentat zu schaffen, nicht wahr? Oder zu einem scherzhaften und witzigen Mord, wie beliebt? Auf alles mögliche konnte man ja gefaßt sein – jetzt, wo selbst Offiziere, wie Gorkin, ihren eigenen Kameraden nach dem Leben trachteten, ohne Spur von Grund!

Aber was, in Gottes und der Jungfrau Namen, war denn also zu tun?

Wie sollte man so, im Handumdrehen, Verteidigungs- und Strafmittel ersinnen, einem so verhärteten und raffinierten Mordskerl gegenüber, wie ...

Luschinskij fühlte seinen Kopf sich hintenüber neigen, so daß er sich in der Ecke der gelblackierten Wand anlehnte. Das Holzwerk berührte plötzlich sein Haar, als werde er jäh von einer ungewöhnlich großen, naßkalten und knochigen Hand hinten im Nacken umklammert: eine kühle und vielgeriefelte Empfindung, deren Harthändigkeit vorzüglich zu der Situation paßte, sintemal es der Bandit Iwan Zwölffinger war, gegen den man Verhaltungsmaßregeln suchen wollte!

Die Maschinengeräusche konnte man ebenfalls durch das Holzwerk spüren: als sei irgendein Fieberpuls da drinnen – eine Art niedriger Krankhaftigkeit, die aus dem Lazarett heraufgesickert kam: und das machte einem das Denken schneller und wärmer, nicht wahr? Kkk! Wie ein Kniestoß in den Schritt eines jeden beliebigen Angreifers – so wurden die, Gedanken.

Das Bullauge, gerade links über seinem Kopf, stand offen; ein heißer Atem kochte dadurch herein: als führe das Loch zu irgendeinem menschenüberfüllten Raum hinaus.

Der Laut des Wassers schmatzte sich, hin und wieder, herauf.

Die Dunkelheit draußen hatte sich gleichsam aufgestellt, und lauerte durch das schwarze Auge dem auf, was er vornahm: und dies Gefühl, in aller Stille beguckt zu werden; von der dunklen und fieberhaften Atmosphäre selbst, in der das ganze Geschwader fuhr, beglotzt zu werden, das machte ihn ein klein wenig kichern, das feuerte seine Logik an und verlieh ihm die Lust, seine Worte wohl zu setzen: er wollte sich wahrhaftig von einer günstigen Seite zeigen, gegenüber diesem Unbeweglichen und Lautlosen, diesem heißen, kohlschwarzen und allwissenden Kuhauge, das die Armada dicht neben ihm hingekleistert hatte! Ké!

Ahä! also Iwan, dies von jedem Kriegsgericht zu Tode verurteilte Amphibium, war großspurig geworden und lachte einem Offizier höhnisch gerade ins Gesicht, bei dem Anerbieten, einen Fußtritt auf den Hintern zu bekommen!

Iwan war ganz überaus anmaßend geworden; und fluchte sich in die heiße Hölle hinab, daß er, zum Teufel auch, viel mehr wert sei als sämtliche vom Zaren ernannte Offiziere des Geschwaders zusammen!

Iwan stemmte alle seine zwölf Finger in die Seite, quabste vor Greinen und proklamierte sich frech und roh als Mörder!

Iwan hatte der Gesundheit und dem Leben seines Oberleutnants heuchlerische Schlingen gelegt, und war nun in vollem Gange, sie einem um den Hals zusammenzuziehen – vollständig klar darüber, daß er sich, weiß Gott, amüsieren und belustigen wollte, was es seinen Vorgesetzten auch kosten mochte!

Aha!

So also!

Schau, schau!

Aber, Gott sei gelobt, gab es ja etwas, das höhere Kräfte hieß! Ganz einfach, der liebe Vater droben selbst hatte, in höchsteigenem Bunde mit allen den Kameraden, resolut diesen Banditen entschleiert und ihn nun zur Bestrafung ausgeliefert!

Und, bei meiner Seligkeit, die Züchtigungen sollten sicher nicht ausbleiben!

Im Gegenteil!

Man sollte Iwan so bald wie möglich eine ganze Menge von der Art servieren: Strafen, die sowohl einem selber die Ekstasen aller Welt und opiatisches Vergessen schenkten, als auch gleichzeitig eine Rache des Himmels für die lügenhaften Prophezeiungen des Burschen wie anderer sein würden!

Strafen – gewiß! Solche, die nicht nur eine peinlich genaue Erfüllung aller göttlichen, militärischen und persönlichen Rechtsansprüche und Pflichtgebote waren, sondern die außer alledem zugleich mitwirkten, zu dem Fortschritt auf das große und gemeinsame Ziel zu! das nie vergessene! das größte und wichtigste von allen: die Armada zu bewegen, baldigst wieder heimzukehren, nicht wahr?

Was? Hahaha! Heim – zu Frieden und fester Erde:

Heim zu Ruhe und Erlösung!

Heim!! ...

 

Am Tage darauf war es, ebenso wie gestern, nur ziemlich unbedeutend, was Peter Romanowitsch ausrichtete – seine speziellen und tiefsinnigen dienstlichen Obliegenheiten betreffend.

Dahingegen lag er stundenlang auf seinem Sofa, die Innenseite seiner Lungen mit Zigarettenrauch – und sein betörtes Herze mit den ebenso luftigen und hellblauen Plänen in bezug auf Iwan kitzelnd: die er im Laufe der schlaffreien, aber gedankenschweren Stunden der Mitternacht ausgeheckt hatte, nicht wahr: diese genialen und plötzlich auftauchenden Vorsätze, die selbstverständlich sowohl gelingen sollten, als mußten, was? Ki!

Endlich würde man also eine Gelegenheit bekommen, das Fazit und Defizit der Abrechnung mit Herrn Iwan, diesem schleimhirnigen Mordbrenner, abzuschließen! Mit dieser schuligen Minderwertigkeit, die einen, bei meiner Seligkeit, unablässig an den ehemaligen Rekruten, Wladimir Grigoriewitsch, erinnerte: an ihn, dies Mähä und Monstrum, den Peter Romanowitsch einmal vor einigen Jahren in seiner Festungskompagnie gehabt hatte, zum Teufel auch: denn Luschinskij war unter anderem seine ganze Vorstellung vor dem Obersten in dem Jahr völlig und total ruiniert worden, aus diesem elenden Grunde! Ein überdegeneriertes Luder war er, dieser Wladimir, der (ganz so wie Iwan) von ein paar Schweinen von deliristischen Eltern geboren war: von zwei infolge von Trunk geschlechtlosen Riganer Bauerngäulen, die eines Nachts sozusagen diese süße Frucht, den Wladimir, in einem speziellen, übermäßigen Rausch aus sich herausgesabbelt hatten; und die schon von der Zeit an, wo der Junge erst anderthalb Jahre alt war, ihn einzig und allein dazu verwendet hatten, halbnackend und knochenmager in den Wintermonaten umherzurennen mit seinem großen, blauen Hungerkopf und für sie zu betteln, während sie selbst daheim in der Erdhütte jeder auf seinem treibenden Strohhaufen lagen, schwälend von Fusel und Schlaf – wie sich alles späterhin herausstellte, als ein Kriegsverhör abgehalten wurde, die Vergangenheit und die Antezedenzien des Kerls betreffend.

Freilich glich ihm Iwan aufs Haar, diesem gräßlichen Mordbrenner!

Einmal über das andere in der letzten Zeit war eine schleimvolle und dunkle Erinnerung an diesen Wladimir hin und wieder, gerade herausgesagt, Luschinskij in den Mund hinaufvomiert, sobald er nur die scheckigen Blicke seines Burschen und sein beberndes Geleeantlitz gewahrte!

Wieder und wieder hatte dies Phänomen Peter Romanowitsch gezwungen, zu versuchen, sich klar darüber zu werden, was er selbst damit meinte, wenn er diesen Namen Wladimir Grigoriewitsch vor sich hin murmelte und krächzte.

Aber erst einmal über Nacht war der volle Zusammenhang der Sache jählings in ihm aufgetaucht: sicherlich als Fingerzeig von Gott, unserem Vater: in bezug auf den Weg nämlich, der Herrn Iwan gegenüber eingeschlagen werden mußte! Nicht wahr?

Selbstverständlich:

Denn das, was das einzig Erinnerungswürdige bei Wladimir – diesem Wurm, war, der immer und ewig von seinen sämtlichen Vorgesetzten ausgeschimpft und ins Loch gesteckt wurde, weil er buchstäblich nicht imstande war, auch nur das Geringste von dem, was kommandiert wurde, zu begreifen: das war ja einzig und allein seine niederträchtige Sortie, Schlußfinale und bengalischer Tod! Verstehen Sie, mein Herr: daß der Kerl schließlich, nach mehrmonatlichen täglichen und sorgfältigen Einspritzungen von moralischen und körperlichen Ermunterungen (alle ganz in demselben Stil, wie man selber sie in reichem Maße an Iwan vergeudet hatte, während dieses ganzen Zuges in der besten Absicht) plötzlich verkehrt reagierte und – in einer späten nächtlichen Stunde, wo ein kleiner Orkan über die Kaserne hinpfiff – auf einmal rasendtoll vor Betrübnis, Angst und Idiotismus, den Flügel des Gebäudes in Brand steckte, der sowohl seinen Vorgesetzten, wie ihn selbst und ein paar hundert andere Rekruten behauste. Und obendrein führte er dies hier auf eine so selbstbezeichnende und schafsdumme Weise aus, daß alle anderen rechtzeitig gerettet wurden – mit Ausnahme von ihm selber: denn er geriet in die Klemme zwischen den zwei Stützpfeilern, die den Treppenaufsatz zum ersten Stockwerk trugen, und wurde dergestalt langsam in dieser Situation totgekrümmt, allmählich als das Eisen in der Wärme Knoten schlug! So daß er nur eine verkohlte und klebrige Schleife war, als sie ihn zuletzt fanden und ihn aus den zusammengedrehten Pfeilern herauslösten: mit ein paar nassen und rauchenden Löchern, da, wo die schwimmenden Augen gewesen waren! Welch ein elender und armseliger Kretin, nicht wahr, und Herr Jemine, wie gut es, trotz allem, für ihn selbst war, daß er starb! Haha! Ké! Was sagen Sie?

Ja, glauben Sie nun nicht auch, daß es also – in Anbetracht der Ähnlichkeitspunkte dieses Wesens mit Iwan – einem wohl gelingen wird, den Burschen zu verlocken, eine ähnliche törichte und selbstbefreiende Tat zu begehen, was?

Oder, richtiger gesagt: sind da nicht schon jetzt nachweisbare Andeutungen vorhanden, daß Iwan sich längst mit einem ganz entsprechenden und idiotischen Mordversuch beschäftigt hat! Kähä! freilich! Oder, wie war doch das, was man sich über Nacht gedacht hatte: daß die überlegene Ruhe, mit der der Bursche unsere Fußtritte hingenommen hatte, einzig und allein seine Erklärung finden konnte, wenn man sie als einen Hinterhalt auslegte! Entsinne ich mich nicht richtig, ja wohl tue ich das! ...

Und Luschinskijs Atemholen gestaltete sich unter diesen energischen, aber trotzdem völlig besonnenen Erwägungen, auf eine so hackende Fasson, daß er sich gezwungen sah, von seinem bequemen Platz aufzustehen, um seine Brust ein wenig auszurecken. Er rieb den Schweiß mit allen zehn Fingern von seinem Nacken, machte einige lächelnde Versuche, sich durch die Schleimschicht, die ihm im Halse röchelte, zu räuspern, und drehte dann seinen Kopf mit kleinen Rucken von einer Seite zur anderen: sehr wohl, nicht wahr, krrr, unter diesen Umständen war da also wohl keine Spur von Zweifel mehr! Krrremm!

Es war völlig berechtigt, zu den aller ... eingreifendsten Verhaltungsmaßregeln einem so verhärteten Schlingel, wie diesem Iwan-Wladimir gegenüber, zu greifen!

Ein Erzheuchler, der, ohne auch nur im geringsten zu knurren oder zu mucksen, sich darein fand, sozusagen direkt in seine unsterbliche Seele hinein mit Füßen getreten zu werden, wie Dr. Nakinskij sagte: vor dem mußte man sich mit aller Gewalt in acht nehmen: er war ein Meuchelmörder, der nur auf eine Gelegenheit wartete!

Ganz sicher!

Total erhaben über jedem Zweifel!

Allerhöchstens konnte verlangt werden, daß man – ehe man dazu schritt, das Todesurteil selbst zu vollziehen – noch ein einzigesmal versuchte, den Banditen dazu zu bewegen, sich zu enthüllen (auf eine gewisse Weise), ein Geständnis abzulegen! daß man probierte, durch irgendein Aufreizungsmittel, stärker als jegliches bisher angewendete, ihn zu zwingen, sich zu verraten, die Maske fallen zu lassen, den ... ja, ohne Umschweif: den Mörderdolch in seiner Hand blinken zu lassen, wie, hahaha, rrr, nicht wahr, hol' mich der Satan, so also, schau, schau, dieser Nihilist von Iwan, dieser grenzenlose Aufrührer und Besudler, dem weder Erde noch Himmel unverletzlich waren! ...

Luschinskij ließ sich mit dem Gesicht platt auf das Sofa fallen, plötzlich steinschwer im Kopf, den Hals voll von einem höchst sonderbaren Knurren, wie, krrr, korrrr, annähernd, als sei Herr Iwan selber in einen hineingekrabbelt und liege einem fauchend in der Kehle, parat, einem von da drinnen aus alle Atemapparate in Fetzen zu zerbeißen, dieser hyänen-feige und schakal-böse Schlingel, aber warte du nur!

Peter Romanowitsch' Antlitz sank hinab in den wachstuchüberzogenen Pfühl, und seine Augen schlossen sich.

Die Hitze in dem Raum holte dumpf und ungeheuer Atem hinter seinem Rücken.

Die Bewegungen des Schiffes schwankten wiegend auf und nieder durch seinen Bauch.

Alle Laute sanken bubbelnd unter ihm weg:

Hä, Iwan, warte – sage ich dir!

Du, Kopie des Wladimir!

So also!

Aha!

A ...

Langsam wanderte ein dickes Geschwür durch seine Speiseröhre hinab, und zwang ihn, sich aufzurichten, um es zu veranlassen, an eine Stelle niederzusacken, wo besser Platz war: sehr wohl, die Sache war also ganz klar! Kk! Iwan hatte schon angefangen, seine kaltblütigen und durstigen Klauen zu zeigen! Es fehlte, wie gesagt, nur zweierlei, ehe man seine Schuld als wirklich erwiesen betrachten konnte: erstens, daß man ihn infolge irgendeiner bisher unerhörten Behandlung dazu vermochte, seine mörderischen Absichten ganz und gar zu entblößen! Und zweitens, daß man auch selbst dafür sorgte, seine sämtlichen Verteidigungsmittel in Ordnung zu halten, um augenblicklich replizieren zu können! Was! Hicks! Kehikks! Ja, freilich! Keine Spur von Unsicherheit oder Schlingern dürfte in einer so juristischen und ethischen Sache wie diese vorkommen!

Luschinskij setzte seine kühlen Füße auf den Fußboden nieder, stemmte sich mit den Armen in die Höhe, bis er ganz aufrecht dastand.

Und dann geschah da sozusagen genau dasselbe in ihm, was schon zweimal früher geschehen war: zuerst bei diesem munteren Frühstück neulich, wo er, nach einer Menge widerlicher und Übelkeit erregender Erwägungsversuche, auf einmal Gelegenheit gefunden hatte, sich nachdrücklich an Gorkin zu rächen, indem er ganz offen über dessen Testament schwatzte; und zum zweitenmal an dem Abend desselben Tages, als er, nachdem er lange da oben auf dem Achterdeck gestanden hatte und gerade im Begriff gewesen war das Ganze zu bereuen bei der Aussicht auf den Überfall, jäh ein anderer geworden war: einer, der sich nur amüsierte und ewig entzückt war, und der eigentlich erst in diesem Moment sich selbst und sein Gleichgewicht wiederfand, wie! Jawohl! Genau so erging es ihm, weiß Gott, auch jetzt – in diesem Augenblick, wo er sich allen Ernstes zur Aktion gegen Iwan entschlossen hatte:

Ihm ward plötzlich gleichsam leichter und gespannter. Er mußte ein wenig frohen Speichel wegwischen, der die Gelegenheit benutzte, sich aus seinem linken Mundwinkel herauszukichern. Sein Gehirn lächelte sich in einem Nu breit über alle ungehörigen Gedanken hinweg und machte sich daran – bubbelnd vor Greinen und Vergnügen –, das Verteidigungs- und Angriffsergebnis ein bißchen näher zu beglotzen, zu dem er im Laufe der Nacht gelangt war, und das die soeben vollendeten Reflexionen als berechtigt erwiesen hatten!

Er schritt daher – unaufhörlich in der Kammer auf und nieder wandernd, hin und wieder eine Sekunde stehenbleibend, um sich hicksend an irgendeinem Stuhlrücken festzuhalten; oder plötzlich auf dem Sofarande hinschmelzend vor Entzücken und Ergriffenheit: er schritt also dazu, genauer die Bemerkungen zu formieren und sich einzuüben, die im Laufe der Affäre selbst zu äußern sein würden! denn da sein Plan ja darauf hinausging, Iwan zu einer ähnlichen Betise, wie diese Geschichte mit Wladimir Grigoriewitsch, zu verlocken, so hing der Ausfall ja einzig und allein von den Worten ab, die den Burschen reizen, aufstacheln und verführen sollten, nicht wahr?

Und mit seiner anderen Aufgabe vor Augen – nämlich der, Iwan dahin zu bringen, daß er sich noch im Laufe dieses Tages endgültig entschleierte: zu diesem Zweck kombinierte Luschinskij sich dann eine ganze Reihe verschiedener Auszüge: teils von überirdisch raffinierten Schimpfworten, alle zusammen funkelnagelneu, und daher ausschließlich den allerintimsten Körperwirksamkeiten des Burschen entlehnt; und teils von höchst scherzhaften, körperlichen Freundlichkeiten, in Form von Fußtritten und Schlägen gegen die dementsprechenden, ominösen Punkte an der Gestalt des Schurken gerichtet –:

Ermunterungen, die alle zusammen notwendig waren, als beginnende Andeutungen auf die haarsträubende und unerhörte – aber noch nicht konstruierte – Behandlung, die schließlich den Burschen dahin bringen sollte, die Maske abzuwerfen und sich von seiner Mörderseite zu zeigen! ...

Im Anschluß an diese sämtlichen Pläne schellte Luschinskij mindestens jede halbe Stunde, den ganzen Tag, nach Iwan.

Er gab ihm den ersten, besten, völlig sinnlosen, aber gründlich irritierenden Befehl, schenkte ihm irgendeinen Teil der getroffenen Auswahl auf dem Gebiete der Kosenamen und Prügel, und strebte zugleich danach, seine stumpfsinnige Aufmerksamkeit durch dunkle, aber wohlberechnete Andeutungen zu erregen:

»Jawohl, heute abend – sage ich dir: Niemand in der Welt ahnt, was dir in dieser Abendstunde geschehen wird!

Kéhé! Aber ich wäre bereit, fünfhundert Rubel zu geben, wenn du das Gesicht deines leiblichen Bruders Wladimir hättest sehen können, als wir ihn endlich eingebrannt und stinkend fanden! Wenn man seine Stirn mit der Hand rieb, kam der Knochen zum Vorschein, verstehst du, kreideweiß und gesprungen! Er war übrigens Selbstmörder – erinnere dich dessen! Und du ahnst nicht, wie er dir glich! Du Säbelschlucker und Selbstbefruchter!

Und vergiß auch nicht: daß es von jetzt an meine militärische Pflicht ist, mich zu amüsieren, einerlei, was es dir kosten mag!

Ich versichere dich, ganz ehrlich: hüte dich, meine Flaschen heute anzurühren! Aus mehr als einem Grunde würdest du heute abend froh sein, wenn du dich nüchtern wüßtest, aber natürlich nützen meine Ermahnungen nicht das allergeringste, hahaha! Scherz beiseite: hast du den neuen, feinen Kognak gesehen, den ich gestern bekommen habe? Er steht da im Spind! Wenn ich doch nur nicht vergesse, die Schlüssel abzuziehen, wenn ich von hier weggehe! Was? Das möchtest du wohl?

Scher' dich nun zum Deubel – und putze die Knöpfe an diesem Rock gut: zu unserer unheimlichen Festlichkeit, wenn die mitternächtliche Stunde schlägt!« ...

Kurz, nicht wahr: Peter Romanowitsch unternahm in allen erdenklichen Fällen alles, was tunlich war, um der Affäre eine reichliche Ausbeute zu garantieren.

Da war nicht eine Zubereitung, die nicht nur einmal, sondern in verschiedenen Wiederholungen besorgt wurde: und in erster Linie natürlich, die ewig wechselnden Anspielungen auf Peter Romanowitsch' Flaschen! Denn das war ja unleugbar einer der Hauptpunkte in der Sache!

Wonnevoll notierte sich Luschinskij Stunde für Stunde, wie es ihm wirklich allmählich gelang, diesen (auf alle Fälle scheinbar!) stumpfsinnigen und nichts sehenden Kerl von Iwan fast aufmerksam darauf zu machen, daß möglicherweise heute abend irgend etwas Unbegreifliches und bisher Unerhörtes geschehen würde! Er sah das sonst ewig unveränderliche Gesicht des Burschen nach und nach gleichsam ein wenig lebendiger werden – sozusagen, als ob die Muskeln des Taugenichts, gähnend vor Verblüffung, langsam anfingen, einen oder zwei Grad aufzuwachen aus ihrem gewöhnlichen Branntweindusel und sich gegenseitig zu fragen: was doch nur los sein könne, wie? Oder was in Jesu Namen der Oberleutnant nur damit meinen konnte, mit dem fortwährenden Gestichel auf die Flaschen – nun war es ja doch so lange eine abgemachte Sache gewesen, daß man sowohl die Erlaubnis, wie auch das Recht hatte, ein wenig darauf zu lutschen, wenn man nur hinterher seine Haue hinnahm, ohne zu mucken, nicht wahr ...

Aus diesen Ursachen also sah sich Peter Romanowitsch gezwungen, nur einen so verhältnismäßig kleinen Teil seiner kostbaren Zeit dem Rapport an den Admiral zu opfern!

Er schloß sogar seine Tür ab, wenn Boris Twer kam und anklopfte, um seine regelmäßigen Meldungspacken abzuliefern – bat ihn, die Sachen nur draußen hinzulegen und im übrigen so liebenswert zu sein, ihn zu entschuldigen: Peter Romanowitsch habe, wahrhaftig, nicht eine einzige Minute wegzugeben; ach nein, ach nein, Herr Boris Andrejewitsch: hier saß man, weiß Gott, bis über die Haarwurzeln in dieser gesegneten Arbeit!

Kksss!

Sie ahnen nicht, welche ungeheurlichen Veranstaltungen zu diesem Amt erforderlich sind!

Was?

Ja, ja! Und dann vergeben Sie mir und verlassen Sie mich! Nicht wahr? ...

Und sobald der Schall von des Oberleutnants Fußtritt dann durch die Batterie dahingeschlendert war, begann Luschinskij von neuem, die sieben Schritte in seiner Kammer auf und ab zu schwanken, auf den Fußspitzen gehend, die linke Hand in seiner Westentasche, den Nacken hintenüber vor lautlosem Entzücken:

Hsss-ksss! Ja, diese einschmeichelnde Arbeit und dies Geschäft, das er sich selbst geleistet hatte, zur Freude und zum Nutzen für seine eigene Person, wie auch für die ganze übrige Welt!

Herr Jesus, wie er sich paradiesisch darauf freute, Iwans Fratze über Nacht zu sehen: Iwans plötzlich kreideweißes Leichenantlitz, wenn seine Ohren sich auf einmal weigerten, zu glauben, was sie hörten! Wenn des Burschen Hörgerätschaften geradezu anfingen, balzend vor Todesangst, die Wahrhaftigkeit dessen abzuleugnen, was ihre eigenen Trommelhäute ihnen erzählten! Oder wenn sie ihm, buchstäblich, direkt in den Gehörgang hinein »abklingelten«, sozusagen da drinnen rasend rasselten und alarmierten – alles, um die Worte zu übertäuben, die ihn auf der Stelle totschlagen würden, wenn er ihnen wirklich lauschte!

Heisa!

Oh, Jungfrau! ...

Oh, Gott Christus!

Jeden Augenblick mußte Peter Romanowitsch nach seinem gelben Kleiderspind hin, um sich ein frisches Taschentuch aus der Schieblade unten herauszusuchen, um den Schweiß von seinem Antlitz zu planschen.

Er hatte allmählich Rock, Weste und Hemd abgezogen, der Wärme halber, und saß auf dem Rande des Sofas – splitternackend am Oberkörper –, nur mit den weißen Hosen, Strümpfen und Stiefeln bekleidet.

Sein langes Haar klebte sich in spitzen Zotteln in die Stirn und die Schläfen hinein.

Hin und wieder trillerte ihm irgendein verdammter Tropfen in die Augen hinein und brannte. Und wenn er dann, so schnell wie möglich, die Hände in die Höhe bekam, um diese säuerliche und beißende Flüssigkeit wegzureiben – dann hatte er ein Gefühl, als seien es, bei meiner Treu', entweder ein paar widerliche Geschwüre, oder geradezu zwei hautlose Falten des Gehirns selber, die da drinnen in den Höhlen lagen und Augen spielten: so wund und schwärend waren sie anzurühren. Er mußte sie schließen und so dasitzen, ohne auch nur zu sehen – bis ein neuer Schweißtropfen den feuchten Weg hinabgeschlichen kam und ihn anfiel.

Sein Bart war sonderbar steif geworden – bemerkte er darauf und nieste.

Es juckte ihm in der Oberlippe und der Nase, und stach: als ob jedes einzelne Haar sich mit einer erstarrten Schicht von Schleim und Nachtwachen und Staub umpanzert habe, pfui Deubel: dieser Schlingel von Iwan, der einem konsequent den Schlaf fern hielt!

Auf seiner Brust – wo die Haare glatt lagen, die Spitzen nach unten gewendet, und wo die Rippen in Bogen herausstanden, so daß sein Busen einem geflochtenen Blumenkorb glich, ké – liefen eine Menge braver und kitzelnder Schweißkügelchen herab und taten, als seien sie Tautropfen.

Sie beschleunigten ihren Lauf jedesmal, wenn sie über eine der Querfalten in der Haut, die durch die Rippen hervorgerufen wurden, hinübergelangt waren, verschwanden in einem Nu in den Vertiefungen über der nächsten, und gebrauchten von dort aus eine ewige Zeit, um weiterzukommen.

Unten in den Beinkleidern, die sich feucht anfühlten, sammelten sie sich dann zuletzt sämtlich, alle die Schweißperlen.

Es fühlte sich, offen gestanden, an, als liefen einem da unten winzig kleine Tiere herum um die Lenden und den Hintern, an den Knien und Waden entlang – mit hinterlistigen Iwan-Schritten, hier und da in einen hineinbeißend mit ihren mikroskopischen Natterzähnen!

Es kam ihm nach und nach vor – während er, sich um die Lippen schmatzend, dasaß und das alles hier untersuchte, um sich selbst noch mehr zu ermuntern, sich seinem Burschen gegenüber keinen Zwang anzutun – es war ihm, als sei unten an seinem Bein irgend etwas, das ganz langsam hautlos und entzündet wurde: als ob sogar diese Schweißtropfen selbst, die ihm seine psychischen Anstrengungen Iwan gegenüber abzwangen, daß sogar die fressend giftig seien: so dreckig also war es, sich mit dem Schlingel zu beschäftigen! Nicht wahr? Oder vielleicht war es, als ob sich sowohl Fleisch, als auch Haut an einem ausbeulten und anschwollen, als ob sich das Blut einem da unten im Unterleib in Beuteln ansammelte und bleischwer und widerlich-süß und kitzelig wurde: alles, infolge der hinterlistigen Anschläge des Schurken! Jawohl, und außerdem auch auf Grund der Beklommenheit hier unten in der Kammer!

Er spürte plötzlich die bittere und hautauflösende, gleichsam chlorartige Luft, die den Raum erfüllte: sie trieb konstant aus dem ganzen Körper heraus in Blasen, legte sich einem wie der Qualm von Lauge auf das Gehirn, machte einem die Zunge niederträchtig weiß und dick, füllte einem die Adern mit Sieden und Jucken!

Hapisch!

Zweifellos!

Wohl war es tödlich heiß heute hier unten unter Deck!

Volle vier Grad über dem höchsten Reaumur, den sie bisher gehabt hatten, meiner Seel'! Buchstäblich, als ob auch die ganze Atmosphäre schwül darauf lauere, was wohl über Nacht geschehen würde, nicht wahr? Sogar der Weltraum selber kochte, mit anderen Worten, über – sozusagen vor Eifer, Iwan abgestraft zu sehen! Ké!

Und freilich, nur ruhig, dies alles ist ja gar nichts – im Vergleich zu der prasselnden und höllenartigen Weißglut, die Iwan heute abend verzehren wird, wenn er, zum erstenmal in seinem Leben, anfängt, Ermunterungen zum Trunk und andere freundliche Worte von seinem Offizier zu hören!

Liebevolle Anreden – allerdings zu der höchsteigenen Hinrichtung und dem Tode dieses selbigen Herrn Iwans führend! Hehehe!

Zärtlichkeiten, die tausendfach das Gegenteil von dem bedeuten, was sie aussagen! Kirr!

Iwans Antlitz – wenn seine Seele, in Todesangst flehend und wimmernd, mit verlorener Unterlippe und hängenden Fäusten dasteht und nicht einen Muck von dem Ganzen begreifen kann ... außer der trostreichen Tatsache, daß er sterben muß!

Fnssss! ...

Luschinskij legte sich wieder auf sein Sofa – wo der Wachstuchbezug des Schrägkeils feucht und kühl war, Gottlob, von dem Schweiß des vorigen Mals, als er da gelegen – und schickte sich an, so recht aus dem Grunde das riesenhafte Bubbelkichern zu genießen, das sich ihm aus Nase und Mund hinauswälzte.

Er streckte mit einem Ruck seine Beine aus, klemmte die Augen zu, bohrte den Nacken in das Kopfkissen hinein, hob die Lenden ein wenig in die Höhe – alles, um sich mit voller Kraft seinem Amüsement hinzugeben:

Ki!

Kisss!

Kihissss! ...

Aber im selben Augenblick kam es ihm vor, daß dies Entzücken gerade in seinem Übermaß von Eifer mit Zehen oder Fingern in das unterste Ende seiner Speiseröhre hineingeraten war.

Es krabbelte in einem Nu daran entlang in die Höhe, klammerte sich fest mit einer Menge von widerlichen Nägeln. Und blieb ihm dann auf einmal oben in der Kehle sitzen, spattelnd, zappelnd und nach allen Seiten heulend wie ein wahnsinniger Mann.

Es fuhren ein paar langgestreckte Krämpfe durch Luschinskijs Körper.

Sie machten ihn stangensteif über den ganzen Leib, schlugen ein Gitterwerk vor seinem Atemholen zu, spalteten seine sämtlichen Muskeln mit ihren kantigen Stöcken, klemmten seine Gedärme hie und da zusammen, so daß sie gliedergeteilt und quabbelig wurden wie Bandwürmer – und zerrten ihm den Mund rund.

Er wurde eiskalt an dem Zahnfleisch im Oberkiefer.

Und fühlte gleichsam einen großen viereckigen, scharfen Holzklotz in seinem Kinnfleisch sitzen.

Kässj! Kö! ... kö ... hickste er, mit den Händen um sich wühlend.

Aber gleich darauf gelang es ihm, sich auf die rechte Seite herumzuwälzen. Er traf die Wand mit seinen Handflächen, stemmte sie dagegen und gelangte so auf den Fußboden hinab.

Und da blieb er sitzen, den Nacken hintenüber, gegen den Rand des Sofas gestützt, die Beine gerade ausgestreckt und mit beiden Fäusten langsam auf jeder Seite des Körpers herumschwimmend ...

Aber als sein Atem, nach und nach, auf diese Weise so freundlich gewesen war, zu ihm zurückzukehren, so hielt er es unter diesen Verhältnissen für das klügste, eine kleine Zeit mit seinen Amüsements zu geizen, kk: zum Beispiel, indem ... ja, zum Beispiel, indem er ... ja, indem er sich anschickte, mit seinem aufgedunsenen Kopf den abkühlenden Rapport des Admirals anzustarren, wie?

Er zog seine Füße näher an sich heran, stemmte die Fingerspitzen gegen den Fußboden, schwankte sich peu à peu in die Höhe, und wollte zu seinem Tisch hin.

Da aber merkte er jäh die Hitze hier unten:

Sie strömte ihn in roten Punkten durch die Haut aus. Traf darauf die warmen Wände rings umher. Holte sich weitere Febrilität dort, von der Sonne da draußen. Und fiel dann, schnarch-schwer, zurück über seinen Scheitel und seine Brust mit ihrer trägen Wolllast ...

Er streckte deswegen den Arm aus, ergriff seinen Rock und zerrte ihn sich an. Öffnete die Schiebetür, mit den Fingern um den Handgriff schlingernd. Stand einen Augenblick – krumm von den Überresten seines Vergnügens und infolge von Luftmangel – gegen den Türrahmen gelehnt. Und krabbelte dann aufs Deck hinauf.

Jawohl: krabbelte und kroch, ki!

Denn leugnen ließ es sich nicht, daß er über Nacht nur überaus geringen Platz zum Schlaf gefunden hatte!

Es hatte ihm eine verblüffende Zeit gekostet, seinen Plan und alle seine fünfhundert Details auszuhecken!

Erst weit in den Morgen hinein war sein Gehirn so rücksichtsvoll gewesen, sich anzuschicken, einzuschlummern und für eine Stunde oder anderthalb hinzuschwinden.

Und deshalb waren seine Beine heute auch so sonderbar mürbe. Sie erinnerten, weiß Gott, an Herrn Wladimir Grigoriewitsch' leichenverbrannte Knochen, von damals her, als sie ihn nach dem Kasernenbrand fanden: niederträchtig ekelerregend und spröde: aber auch das sollte Herr Iwan selbstredend bezahlt bekommen! Was? Nicht wa ...

Peter Romanowitsch tastete sich – die Augen zusammengekniffen vor den Reflexen, die sich ihm gerade in die Pupillen hineinwühlten – nach achtern hin.

Natürlich wollte er, trotz seiner momentanen Schwächlichkeit, direkt nach demselben Platz hin, wo er mit Gorkin-dem-Geliebten zusammengestanden und sich so großartig wohlgefühlt hatte, während der Prügelei von gestern!

Die Sonne stand einem dick und schlingernd gerade über dem Scheitel – und ließ einem ungeniert das eine piekende und elektrische Strahlenbündel nach dem anderen, plumps durch die Hirnschale fallen. Man hatte ein Gefühl, als werde einem der Kopf, kurz und gut, aufgespeilt, um die verdammt warme Birne auf einer brennenden Glühlampe zu sein.

Das Meer beulte sich wagerecht nach allen Seiten hin aus: lodernd und blendend wie ein Brennglas, unmittelbar in der Nähe des Schiffes; mehr graumatt in der Entfernung; und schließlich in einem vagen aber blanken Rauch um den ganzen Horizont endend. Einer, der sich einem dunkel in den Blick heftete und ihn häßlich verfinsterte.

Die Luft hing, ohne sich zu rühren. Wie ein knisternd trockner und unsichtbarer Staub. Sie war fast nicht durch den Hals hinunterzubekommen – aber dahingegen brannte sie sich in einem fort, von selber, in Nase und Augen weit hinein, so daß man mit den Lidern zwinkern mußte und sich düsig und todkrank in der Stirn fühlte ...

Als Luschinskij deswegen endlich – nach Atem keuchend, und den Brandschein bis ganz hinten im Nacken – um den Panzerturm herumgelangt war, der schwälte und sengte wie ein Ofen, im Sonnenschein; als er sich zurecht gestapelt hatte, den Rücken gegen die glühende Reeling, die seine Lendenpartie voll Eifer erwärmte; und vor sich hin zwinkernd, sich anschickte, seine bubbelnden und reichen Erinnerungen von neulich zu genießen – da kam es ihm plötzlich vor, ganz im Gegensatz zu diesen frohen Erwartungen, als wenn sein ganzes Wesen, während der feuerheißen Wanderung hier draußen, Sinn für Sinn gleichsam dämmerdunkel und schwankend und blind geworden sei!

Oder es waren möglicherweise nur seine Augenlider nicht wahr, wäre es doch so: die auf einmal so niederträchtig geschwollen und sehhemmend geworden waren!?

Oder es waren vielleicht bloß die inwendigen Teile seiner Schläfen, die von diesem formidablen Licht hier oben sonderbar entzündet geworden waren ... oder was da nun im Wege sein mochte!

Tatsache war es auf alle Fälle, daß die Kommandobrücke auf einmal zu flimmern und zu flackern begann – im selben Nu, wo sein Blick sie erreichte:

Ja, ké, kehé, wie beliebt: die ganze Brücke mit Geländer und Türmen schlingerte plötzlich von dannen, dort, quer über dem Schiff! Die Stützpfeiler hatten auf einmal dunkelgraue Flauschhosen anbekommen, und nun schwankten sie lautlos von ihm weg, weiß Gott, das taten sie, nach dem Vorderende des Fahrzeuges hin! Sie wanderten langsam und gemächlich vorwärts, die Schornsteine, wie auch die Scheinwerfer und die Dampfdavids mit sich forttragend!

Kk! War es nun nicht wunderlich ... wie?!

War es nicht ... verblüffend? ...

Und gleich darauf beobachtete Luschinskij wahrhaftig, wie auch der obere Teil der Masten anfing, sich zu rühren:

Mit einem zischenden Kochen schlängelten sie sich in kleinen Windungen nach oben!

Sie wurden währenddes flach und faserig, wurden zottigen Schattenstreifen ähnlich! Fuhren fort unendlich hinaufzukriechen, höher und höher!

Die Spitzen waren schon ganz in den Feuerhimmel hinein!

Und da verschwanden sie auf einmal, ohne einen Laut, in einigen stechenden und blendenden Funken und Blitzen da oben!

Ehé! Eh! E ...

Peter Romanowitsch fühlte selbst, daß er seine Unterlippe ein gutes Stück auf das Kinn hinab verlor: sie war sonderbar naßkalt und zähe; aber er ließ sich doch nicht die Zeit, sie wieder aufzusammeln. Dahingegen beeilte er sich, mit beiden Zeigefingern die Augenwinkel zu reiben – plötzlich an den Händen zitternd und bleich ums Herz:

Dies hier konnte wohl sicherlich ganz und gar nicht mehr als Scherz aufgefaßt werden, wie? Ki! Nein, absolut nicht! Im Gegenteil! War er einfach auf dem Wege, wirklich blind zu werden? Bekam er jäh einen Star auf seinem angenehmen Blick?

Wie?

Oder was war da denn sonst los?

Wurde es nicht gleichzeitig gewissermaßen noch dunkler in der Luft: ganz allmählich, nach allen Seiten, rings umher? ...

Er drehte den Kopf nach rechts und nach links mit kleinen Rucken, um nach noch mehr Phänomenen zu suchen – nach solchen, die ihm Klarheit in dieser widerlichen Unsicherheit verschaffen konnten: war da wirklich etwas in Unordnung mit den Masten und dem Panzerturm? Oder war es etwa im Begriff, Abend und Nacht zu werden, zu dieser wahnsinnigen Tageszeit? Oder ...:

Aber dann sah er das Meer draußen am Horizont schwellen. Düster und dumpf.

Das Wasser bubbelte in weiter Ferne mit winzig kleinen, weichen Seufzern, die Luft da draußen verdunkelnd.

Es nebelte sich mit der Atmosphäre zusammen zu einem Schleier von Fransen, grau und diesig. Schwärzliche Fasern, die düster hinschwanden und zu Dunkelheit wurden, zu einem Wall von Zwielicht, mit leisem Sausen – allen Atem aus ihm aussaugend.

Das Ganze wuchs schwer zusammen, in einer einzigen Dämmerung, sowohl See, als auch Himmel und Luft.

Der Sonnenschein graute hin, blitzte nur noch hie und da in gelben Spitzen auf ... wurde eine Sekunde lang lila ... erlosch dann gleich darauf ... wurde in einem Nu zu Abend.

Näher und näher um ihn herum.

Die Masten sanken nach hinten weg, einer nach dem anderen fiel lautlos um, in die Finsternis hinaus.

Der Panzerturm dunstete auf einmal hin.

Er sperrte seine Augen weit gaffend auf, ein leises Tuten entstieg seinem Halse, er schwamm mit den Händen um sich herum, fühlte sich in dieser wahnsinnigen Schwarzheit dahinschwinden: seine Füße waren schon nicht mehr zu sehen. Jetzt wurden die Knie ausgewischt. Seine Handrücken waren noch zu erkennen, blauweiß, nebelhaft. Dann waren auch sie weg.

Im Stockfinstern stand er da.

In eine lautlose Nacht eingeschlossen – mit langsamen gelben Blitzen, die sich hier und da drehend bewegten.

Eine grenzenlose Kluft von Kohlschwarzheit – heiß und trocken, wie Fieber und Ruß.

Grabesdunkel.

Stumm ...

Peter Romanowitsch hörte jäh sein Herz hicksen. Seine Lungen jammerten und pfiffen. Es schritten seidenfeine Fäden durch seine Adern. Seine Augen klemmten sich zusammen, um nicht den Abgrund von Dunkelheit zu sehen, den sie sahen!

Aber dann versuchte er auf einmal, sich selbst zum Lachen zu bringen:

Kiss! Ehé! Nun! Und was dann! In Gottes Namen! Dreck! Dies alles hier war ja an und für sich komplett gleichgültig! Nicht wahr? Was gingen eigentlich Meer, Luft, Masten und Schiff ihn an? Wie? Laß die nur zur Hölle gehen in Delirium und Stockfinsternis! Ja! Zum Teufel mit ihnen, gerade herausgesagt! Und mit den Kameraden gleichfalls! Und nicht zum geringsten mit dem Feind!

Wie?

Ki!

Kihi!

Nur Jux das Ganze! ... Nur Ju ... Nu' ...

Aber im selben Augenblick kam ihm dieser Gedanke: daß, wenn alles ringsumher so plötzlich verschwinden und total untertauchen konnte in kohlpechschwarze Dunkelheit ...: so war wahrscheinlich auch diese ganze sonderbare Geschichte mit Gorkin vorgestern – das einzige in der Welt, woran er sich halten, wovon er leben konnte – schließlich auch wohl nicht echt? Vermutlich nichts weiter als eine Art Traum, den er gehabt hatte! Nur eine hinterher arrangierte Biographen-Theater-Nummer! Etwas, das er sich nur so austüftelte, weil es notwendig war für seinen Seelenfrieden und sein Leben – das sich aber in Wirklichkeit ganz und gar nicht anderswo zugetragen hatte, als inwendig in ihm selber!

Nur etwas, das er sich einbildete?

Wie? Was?

Dies ganze naturnotwendige und darwinistische Ereignis mit Leonid sollte nichts weiter sein als verdammte Lügen und Erdichtungen?

Eh!

E-é!

E-é-é-é ...

Sein Kopf wurde in einem Nu schneeweiß und kalt, inwendig.

Sein Blut stockte und wackelte da drinnen in Hals und Herz. Röchelnd griff es um sich in seiner Kehle. Und gleich darauf rasselte es trotzdem tief durch ihn hinab wie ein Hagelwetter, mit Poltern und prickelndem Frieren.

Noch eine Sekunde stand er da, ohne sich zu rühren.

Auf einmal das Zittern in der Reeling ganz durch seinen Bauch hindurch fühlend:

Oh, Gorkin!

Oh, Leonid Ssemenowitsch! Das ganze Ereignis mit dir nur Phantasie und Traum!

Sowohl dein meisterlicher Griff in meinen Hals, mein Fußtritt, der dich in das Lazarett hinabschleuderte, und all das andere aus jener Nacht?!?

Sicher nicht!

Wie? ...

Und dann fing das Blut wieder an, in ihm zu steigen. Als sei es von neuem ins Leben geplätschert, nicht wahr, einzig und allein durch die zitternde Erinnerung an jene selige Abendstunde!

Die Luft um ihn her wurde rötlich anzusehen, statt schwarz – und nach einer Weile lichtete sich auch diese Brandfarbe und ward zu dem gewöhnlichen, weißen Tagesschimmer. Die Kommandobrücke und die Masten blitzten auf, hoben sich ab, wurden wie sonst. Das Sonnenlicht fiel wie eine Platte aus Tag über Deck und Meer.

Er versuchte, seinen Hals ein wenig zu bewegen.

Und fing dann an – ermuntert dadurch, daß dies Experiment sogleich gelang, im übrigen aber noch mit leerer und gähnender Herzgrube, als müsse er sich binnen kurzem erbrechen – sich umzugucken, um irgend etwas zu finden, das ihm einen entscheidenden Beweis dafür schenken konnte, wieweit die Erinnerung an Gorkin also mit der Wirklichkeit übereinstimmte oder nicht!

Beständig schwindelnd und schmatzend infolge dieser Übelkeit, die ihm in der Brust saß und zerrte – erinnerte er sich plötzlich des Erbrechens, das er an jenem Abend, gleich nach der Katastrophe, gehabt hatte!

Jawohl! ..

Er beugte sich hastig hinab, um genauer nachzusehen: selbst wenn natürlich seitdem das Deck mehrmals gespült war, leider: vielleicht waren da doch noch Überreste oder Spuren zurückgeblieben.

Nicht wahr? ...

Und ganz richtig, kéhé, kähähä! Gott sei gelobt und gepriesen:

Vollständig deutlich konnte man einige winzig kleine, gelbliche und schuppenartige Punkte unten in einer der Ritzen zwischen den schmalen, weißgescheuerten Planken sehen!

Er versuchte einige von diesen Indizien mit einem Nagel loszukratzen.

Und gleich, als er dann den Finger an die Nase führte, kéhé, ké, erhielt er, weiß Gott, die allerzweifellosesten Beweise, die man sich denken konnte! Er war sogar nahe daran, noch eine ganze Schiffsladung von genau demselben Sauerteig abzuliefern: Pfui Deubel, ja, wie sowohl sein Gaumen, seine Zähne, als auch der ganze Speisekanal in ihm sich dieses herben Odeurs wieder erinnern konnten, von jenem berühmten und wolligen Abend her! Wie? Gott sei Dank! ...

Er trocknete seine Augen mit dem Rücken der Hände ab und faltete seine Finger – plötzlich schnuckend und schnaubend infolge eines ungeheuren, süßen und schwellenden Gefühls, das sich von seinem Hals bis tief in den Unterleib hinein erstreckte:

Gott dem Herrn sei ewig Dank und Lob und Preis für dies hier!

Für dies unumstößliche Zeichen, daß es keine falschen und unechten Erinnerungen waren, mit denen er sich hier selber labte!

Ja! War es nun nicht, als ob die Vorsehung, buchstäblich gesprochen, fast nichts weiter zu denken hatte, als gerade alles so angenehm und licht und gut wie nur möglich für Peter Romanowitsch Luschinskij zu gestalten?!

Ach Herr, was habe ich doch Schönes und Edles getan, daß du so barmherzig und gnadenreich gegen mich bist!? Kaum habe ich einen Zweifel über das gespürt, was mich froh macht – als du mir schon flugs Beweise schenkst! Sowohl das, was schon früher geschehen ist, formst du selig für mich – wie auch das, was geschehen soll, nicht wahr? Hab' Dank für alles, was du mir gegeben hast! Amen!

In Jesu Christi Namen! Amen!

Amen ...

Diese Danksagung machte den letzten Überresten der quälenden Sorge und Pein dieser Ungewißheit in ihm vollständig den Garaus.

Es lief, noch während seine Wangen naß von Weinen und Erkenntlichkeit waren, ein langer und wunderlicher Dampfstrahl aus seinem Innern heraus.

Ihm war so wohl ums Herz wie einem Ferienjungen, und er beschloß – um auch in der Tat dem Himmel in vollem Maße für alles Gute zu danken –, gleich in seine Kammer hinabzugehen und Iwan aufzusuchen: Tod und Teufel, wie wichtig, nun hatte er ja auch beinahe vergessen, daß da noch ein Plan auszuhecken war! Noch hatte er ja ganz und gar nicht die Idee zu der absolut splinterneuen Behandlung konstruiert, die Iwan endlich und allen Ernstes dazu verleiten sollte, sich zu demaskieren! Dies kolossale Vorgehen, das auch ihm selbst entscheidend beweisen sollte, daß seine Rache gegen den Burschen nach jeder Richtung hin berechtigt und korrekt war, nicht wahr, ja freilich, er mußte auch selber sein Scherflein beitragen zu der unermüdlichen Arbeit der Vorsehung für ihn, wie!? Kisss! ...

Sich mit der Rechten auf die glühwarme Schiffsbrüstung stützend, wanderte er also nach vorne, an der Steuerbordreeling entlang;

Da unten, hart an seiner rechten Seite, floß das Wasser nach achtern vorüber, mit seinem Gestank nach fließendem Glas, und machte sein entsprechendes Auge ganz verrückt durch seine Eile: offenbar ein Versuch, einem noch einmal die Sinne zu verlocken, hinabzurollen in dasselbe Mitternachts- und Schwarzheitsentsetzen, wie eben vorhin! Aber mit Gottes milder Hilfe war man ja glücklicherweise so viel klüger geworden, jetzt, hahaha! Jetzt kehrte man sich nicht im geringsten mehr daran, ob man kujoniert wurde, im Gegenteil, man war ganz einfach auf dem Wege nach unten, um einen Plan zu finden, der Iwans Niederträchtigkeit ganz und gar entschleiern konnte! Um sich göttliche Beweise zu schaffen, daß sämtliche Vorsätze gegen diesen Schlingel auf moralischen und ethischen Voraussetzungen beruhten, ist das nicht klar genug? ...

Ein paar Kameraden kamen die Leiter von der Kommandobrücke herabgeschwommen.

Sie waren in weißen Uniformen, die vorne offen standen – die Röcke wie auch die Hosen, um einen Hauch von Zugluft da drinnen zu schaffen – und sie hatten weiße Taschentücher über den Kopf gelegt, oben auf die Mützen.

»Nun!« sagte der eine, und blieb in dem blauen Schatten vor dem Ventilator stehen, sich an das dicke Rohr lehnend. Er war violett und bleich im Gesicht, die Haut voller Glasgraupen. Ein dreieckiger Zipfel des Tuches saß ihm über die Stirn geklebt. Er sperrte das eine Augenlid auf und kicherte ganz wenig: »Sieh' da, Herr Peter Romanowitsch Luschinskij, Sie hier!

Und was sagen Sie denn zu dieser ... Kälte heute? Sie haben trotz allem Ihren Pelz abgeworfen, sehe ich, ist das nun nicht reichlich unvorsichtig? Ehé!

Pfui Satan, wie Sie überhaupt heute gut aufgelegt und energisch aussehen, wie kann das nur sein? Sie haben ja ganze Maulsäcke von Tatkraft unter Ihren Augen hängen!

Sind Sie vielleicht jetzt eben unten im Lazarett gewesen, um sich nach dem sterbenden oder jetzt wohl schon verstorbenen Herrn Burschen Mikael mit den malplacierten Rippen umzusehen: sind Sie?

Auf alle Fälle sind da, wie gesagt, gewisse tiefe Spuren von ... Entzücken und Angeregtheit in Ihrem geehrten Antlitz, hahaha! Gewisse frohe Züge um Ihre Augen sind da – etwas, das nur eine zwanglose Erklärung finden kann, wenn man sich vorstellt, daß Sie vor einer Minute zufällig wirklich irgendeinen gefunden haben, der sich noch weniger gut befindet, als Sie selbst!

Ksss!

Nun?

Diskretion beiseite!

Und wie denken Sie denn über diese Wärme?

49 Grad Reaumur in der Sonne!

Haben Sie Nakinskijs Liste über die Fälle von Dysenterie und Hitzschlag am heutigen Tage gesehen? Sie ist beredt, als sei sie ein Gedicht unseres geliebten Puschkins, eventuell des allgemein bewunderten Lermontow!

Aber Starck hat uns übrigens, vor einer Viertelstunde, ein betörendes Regenwetter, mit Sturm und aller möglichen Luftreinigung über Nacht versprochen!

Der Teufel trau' ihm!

Und mit diesen Worten beabsichtige ich, weiß Gott, nichts weniger, als in mein Sturzbad zu gehen und da bis zum Mittag zu bleiben! Ist es nicht dorschdumm, daß wir nicht – im Stil mit anderen Kamelen – so eingerichtet sind, daß unser eigenes persönliches Blasenwasser im Sommer zu unserer Abkühlung benutzt werden kann! Kisss! Denken Sie nur, wie leicht: nur einen Strahl in die Luft hinaufzusenden, und ihn dann wieder mit dem Kopf aufzufangen! Adieu!

Auf Wiedersehen!«

»Jawohl!« erwiderte Luschinskij. Es durchzuckte ihn plötzlich bei der letzten Bemerkung des Kameraden, ohne daß er übrigens wußte, weshalb. Er beeilte sich nur, einen Finger in eins der offenen Knopflöcher des Betreffenden zu haken. Peter Romanowitsch war auch selbst in den Schutz der Kommandobrücke getreten und stand nun schlaff am Hinabgang, inwendig ein ganz klein wenig kichernd – hatte aber übrigens dasselbe Gesicht beibehalten, das er sich während seines Gebets vorhin zugelegt hatte. In einem schmalen Zwischenraum zwischen dem Ventilatorrohr und einem der Stützpfeiler sah man in weiter Ferne ein klein wenig vom Meere, wie eine weiße Feuerstange. Und dieser sengende Anblick, in Verbindung mit den schweinischen Phantasien des Kameraden von dem Urinbad, seine eigenen Absichten mit Iwan, und eine schwache Erinnerung an die schwellenden Empfindungen, die er vorhin in seinem Unterleib gehabt hatte – das alles zeitigte in Luschinskij einen Entschluß, sowohl daß er selbst auch hinabgehen und ein Sturzbad nehmen, als auch, daß er bei dieser Gelegenheit wohl irgend etwas dem Burschen gegenüber aushecken werde:

»Ja, ja, meine Herren,« sagte er dann, noch immer mit seinem frommen Antlitz, inwendig sich bemühend zu sehen, was es doch für ein Plan gegen Iwan sein könne, den er in diesem Augenblick ausfindig gemacht hatte: »die Wärme ist groß, Sie haben recht! Aber auch sie ist, nicht wahr, eine Gabe von Gott! Alles, was geschieht: Ereignisse und Absichten, alles kommt vom Himmel! Und denken Sie dann an heute abend, wie Sie sehr richtig bemerkten: wer weiß, was geschieht, ehe die Sonne untergeht! Kähä! Fragen Sie meinen Burschen!

Nun?

Also auf Wiedersehen!

Meine Arbeit ruft mich!

Es gähren, sage ich Ihnen, reichhaltige, goldgelbe und brühheiße Strahlen von Vorsätzen in diesem ... Busen!

Haben Sie je so etwas von Energie gehört?« – –

Augenblicklich, als Peter Romanowitsch, unmittelbar darauf, in seine Kammer hinabgelangt war, stemmte er seinen linken Ellenbogen direkt in die weiße Pupille des elektrischen Klingelknopfes hinein. Er behielt ihn dort, bis Iwan sich mit seinem blauschimmernden Hausenblasenantlitz einstellte, und verpflanzte ihn dann, ebenso humoristisch, mit ganzer Kraft in die Rippen des Burschen hinüber:

»Schwein!« sagte er, als sowohl Iwans, wie auch seine eigenen Beine einigermaßen ihr Gleichgewicht wiedergefunden hatten, nach diesem Brustkastenwitz, der natürlich eine feine Andeutung auf Mikaels vorhin erwähntes Los da unten im Lazarett war – »Wasserschrecker!

Schenk' mir ein Glas von meinem neuen Kognak! Ki! Du kannst die Flasche wohl von der anderen unterscheiden?! Gottsdonner, wie das schmeckt! Aber ob er nicht doch noch eines kleinen Zusatzes bedarf – ehe du richtig Freude daran haben kannst, wie?

Und scher' dich dann runter zu dem wohlgeborenen Bottelier, grüß' ihn von mir und bitt' ihn um ein Stück Eis! Und binde es wie gewöhnlich unter die Brause in meinem Sturzbad fest!

Aber sei so gut und tummel' dich ein wenig! Oder hast du am Ende schon ganz ausgeschwitzt, daß ich dir ja für späterhin am Tage irgend etwas versprochen habe! Aber warte nur, bis fünf Minuten um sind, dann entschleiern wir dich!

Wie?

Unsere Pflicht, uns zu amüsieren!

Und ich füge als persönliche Bemerkung hinzu: auch Gott in seinem Himmel hilft mir bei dem Ganzen! Genau so wie alle meine Kameraden, ohne Ausnahme: aber niemand in der ganzen, weiten Welt ist da, der auf deiner Partei steht!

Oder kannst du etwa die verächtlichen Geschichten widerlegen, die deine Kameraden von dir herumtragen, voller Abscheu, bezüglich der Geschmeidigkeit deines Rückens: daß sie dich einmal über das andere dabei ertappt haben, wie du dasaßest und an dir selber sogst, wie an einer bleichen Zigarre, du unnennbares Tier, und das ist also der Grund, warum einem immer so ekelhaft und elend wird, wenn man den Schleim sieht, der dir in den Mundwinkeln bubbelt, du ... Freßdolch! Pfui Satan! Pfui! du Stachelschwein!

Ja!

Du: Herrn Burschen Mikaels Freund, Kollege, Kamerad, Dutzbruder und ... baldiger Nachfolger, nämlich auf dem Wege zur Hölle! Kannst du meine Absichten erraten? Sieh', ich lasse die Schlüssel hier in meinem Labetrankschrank stecken!

Ist dir dein Leben teuer – so rühre die Flaschen nicht heute an!

Hahaha!« –

Fünf Minuten später stand Luschinskij ergo drinnen in dem dreieckigen Badezimmer, konstant angefüllt bis an den Rand mit einem frohen Bewußtsein, daß er nun wohl im Begriff war, das Mittel zur Entschleierung auszuhecken, nicht wahr?! ...

Das Bullauge, ein klein wenig über seinem Kopf, sprühte einen langen, runden und gelben Strahl von Licht hinein durch die lauwarme Wand: das erinnerte einen sozusagen ganz leise an die Knabenzeiten, wo es ein Jux war, den Lehrer mitten in der Stunde um Erlaubnis zu bitten, notdurftshalber auszutreten, hahaha, und dann da unten in dem chlorsüßen Verschlag in einer Reihe zu stehen und zu sehen, wer am weitesten spritzen konnte ...

Der Kristallblock hing an ein paar Bindfadenschnüren, voller Lichtstrichen, schwimmend wie ein Diamant, einem über dem Gehirn. Das Wasser lief an den Rändern des Eises zusammen und strahlte von dort aus als ganz wenige, schwere Zapfen nieder, über einem hinabrieselnd, als habe die Haut plötzlich Risse bekommen und befände sich im Frostwetter: oder so, wie man es gefühlt hatte, in den vorhin erwähnten alten Zeiten, wenn ein paar Schulkameraden da unten im Pissoir hinter einem herkamen und einen plötzlich gegen die Glaswand quetschten, so daß man in einem Nu klatsch-treibend-durchnäßt wurde, von dem Wasser des Rohres, das an dem oberen Rande der Wand entlang lief: was, höchst sonderbar, wie man wieder und wieder an Episoden dieser Art erinnert wurde! Man konnte fast versucht werden, zu glauben, daß irgendein geheimer Zweck vorhanden sei mit diesen immer wiederkehrenden heiklen Erinnerungen! Was? Kähä!

Aber versuchen wir nun lieber, darüber nachzudenken, welch eine weitere Verhöhnung gegen Iwan wir uns ersinnen müssen, um ihn dahin zu bringen, sich komplett zu entschleiern, habe ich nicht recht?

Peter Romanowitsch trippelte herum auf der Holzgreeting, die ihm schleimig an den Fußsohlen hing und seine Gedanken noch einmal auf jene Schultage hinführte, oder auf die ebenso scheußlichen Worte des Kameraden von vorhin: bezüglich des phantastischen und gemeinen Selbstbades! Er zog dabei die Brauen zusammen und begann die Arme über den Kopf zu erheben, nach Luft schnappend, keuchend, unter den Strahlenrissen.

Iwan hatte seinen dicken Drellrock ganz zugeknöpft, um dem Spritzen zu entgehen. Er hielt sich die ganze Zeit, wie gewöhnlich, mit peinlicher Aufmerksamkeit von dem Wasser frei. Nur mit genauer Not gelang es Luschinskij, seinen Fuß bis an den Schemel hinaufzustrecken, gegen den er ihn stützen mußte, während der Bursche mit den hartgekörnten Frottierhandschuhen darauf los rieb.

Ohne es recht zu wissen, fuhr Peter Romanowitsch fort – das Bein weit von sich vorgestreckt, die Oberlippe erhoben, voll von Ekel über die Angst des Matrosen vor dem Nassen – auf ihn herabzustarren, wie er da in der Hucke saß, zusammengekrümmt über dem weißen Holzschemel, und jeden Augenblick nach dem Wasser hinschielend.

Da seh' mal einer – dachte Luschinskij auf einmal, mit einem plötzlichen dunklen Gefühl, daß dies hier also doch der Anfang zu dem Plan war, der da oben auf der Kommandobrücke in ihn hineingesteckt war: da seh' mal einer dies gemeine Latrinentier von Iwan an, der selbstverständlich, obwohl unten am Schwarzen Meer geboren, nie im Leben gewagt hatte, auch nur ein klein wenig Fußbad zu nehmen, pfui Teufel! Wie so ein unreiner Kerl es verdiente, daß man ihn, ehe man ihn heute abend eingehender behandeln sollte, kopfüber in den Waschkübel schmiß! Mit reinem Wasser, sollte es aber, bei meiner Seligkeit, nicht geschehen! Nein, im Gegenteil! Gerade das allerschmutzigste und unappetitlichste, was man sich denken konnte! Geradezu in einen Misttrog hingeschmissen mußte er werden! Oder aufgehängt werden, im Stil mit jenen Schuljungenstreichen, mitten in einem Pissoir, wie, ja, meiner Seel'! Sollte man nicht gleich hier auf dem Fleck versuchen, ihn mit seinem eigenen persönlichen, siedendheißen, goldgelben und reichhaltigen ...

Luschinskij zog mit einem Ruck seine Augenbrauen auf der Stirn zusammen, wandte dem Burschen mit einem Satz den Rücken zu, und wollte diesen Gedanken von sich schieben, wollte an andere Dinge denken, wollte sich selbstverständlich zwingen, diese alles andere als feine Erfindung zu vergessen: sie eignete sich wahrhaftig nicht im geringsten zur Ausführung für einen Offizier in Sonderheit, noch für irgendeinen anderen Menschen im allgemeinen! Natürlich: das fehlte ja auch noch: weil Iwan ein dreckiges Schwein und ein Mörder war, der entschleiert werden sollte, darum brauchte man sich selbst ja nicht unrein zu machen! Sicher nicht! Sein Wasser auf eine andere Mannsperson lassen! Pfui! Nie wollte er im Ernst an etwas so Niederträchtiges und Besudelndes denken, an etwas so Unerhörtes und äußerst Verhöhnendes! Obwohl es ja freilich, an und für sich, auf der anderen Seite, vielleicht das allereinzigste Mittel war, Iwan wirklich so weit ins Kochen und zum Selbstvergessen zu bringen, daß er augenblicklich die Maske abwarf und ... Nein! Schnick-Schnack! Nein, denke dann um so lieber an heute abend, nicht wahr, an über Nacht, meiner Treu'! Um zwölf Uhr schlägt ja die Stunde der Freude, wenn man nun nur eine andere Methode als das Urinbad finden könnte – um sich davon zu überzeugen, daß man auch wirklich ein Recht besaß, das zu tun, was man sich für jene lustige Stunde heute nacht gedacht hatte ...

Es kam Peter Romanowitsch vor, als sei all sein Blut aus seinem Kopf weggetröpfelt. Und mitten in dem leeren Raum da oben zischte ununterbrochen diese Idee, die er bekommen hatte: das einzige in der Welt, was ihm in Wahrheit Gewißheit darüber zu schaffen vermochte, inwiefern es wirklich mit Gottes Wissen und Willen geschah, daß er diese Rache ausführte, die er über Nacht geplant hatte ...

Und plötzlich inwendig in seinen Muskeln erbebend, naßkalt im Innersten der Brust, den ganzen Unterleib schwellend und eifrig, mit unstet tastenden Händen, greinend, die Augen rund herum im Gesicht rollend, versuchte er von neuem alles mögliche, um diesem Gedanken zu entrinnen.

Er drückte die Nägel in seine Ellenbogen und kratzte darauf los, bis rote Punkte herausbrannten, inmitten von weißen Streifen.

Er drehte den Hals beinahe bis ganz auf den Rücken herum, um es zu ermöglichen, nach dem Bullauge hinaufzugucken und so eine Möglichkeit zu haben, Bemerkungen über das Wetter aufzutischen.

Er schimpfte, weil der Schemel so fern von ihm stand, daß man sein Fleisch sprengen mußte, um so weit zu reichen: und als Beweis hierfür stieß er seine Ferse mit aller Macht auf das Holz herunter, so daß ihm eine runde, zitternde Stange durch das Bein lief.

Er strengte sich an, sich nur dazu zu vermögen, daß er sich zu alledem freute, was schon längst zu heute abend beschlossen und arrangiert war: Kähä! Was? Nicht wahr? Denk' nur! Über Nacht! Ehé, köstlich, wie? Dieses Dreckferkel von Iwan, der es mehr als sonst etwas nötig hatte, daß er bespritzt wurde vom Scheitel bis zu ... Dieser noch nicht entschleierte Mörder, der einzig und allein auf diese laugensalzige Weise dazu gebracht werden konnte, daß er ...

»Scher' dich!« sagte er schließlich, nach Luft beißend, mit geschlossenen Augen, in der Hoffnung, seinem Vorsatz entschlüpfen zu können, indem er sich beeilte, hier unten fertig zu werden:

»Brauch' deine Finger! Rappel dich! Mach' zu! Nimm dich in acht! Weg!

Sieh' dich vor!

Hörst du ...«

Aber im selben Augenblick beulte sich eine dunkle Wolke durch seine Kehle hinauf. Sie klemmte ihn lahm, in einem Handumdrehen, an Hirn wie an Körper. Sie quetschte seinen Mund sperrweit offen, sprengte sich ihm in einer Sekunde, kohlschwarz, durchzogen von feuerroten Blitzen, an seinem Gaumen und Augen vorbei, in den Nacken hinauf, und machte seinen Kopf schwindelnd schwinden:

Ja! Nun! Es ist ja Gottes Wille! Iwan soll entschleiert werden! Jetzt oder nie!

Jetzt! ...

Mit beiden Händen griff er sich unter den Magen – als wolle er irgend etwas in die richtige Richtung hinlenken.

Er fühlte eine winzig kleine Öffnung sich in eine Spitze da unten ausweiten.

Empfand einen weichen Druck, der seinen Bauch verließ.

Sah einen gelben Strahl zwischen seinen Beinen entströmen ... die rechte Seite von dem Drillichrock des Burschen treffend, gerade unter dem Ärmel.

Es schlug ein dampfender und bitterer Dunst von da in die Höhe.

Und im selben Moment brach ein ungeheures Kichern hervor, heraus aus dem Klumpen, der Luschinskij vom Scheitel bis ganz unter das Herz erfüllte:

Ksss!

Kähä!

Bitte schön, Herr Iwan! Da bekommst auch du ein großartiges Bad, frisch vom Faß!

Niemand in der Welt hat je etwas Ähnliches für seinen Burschen besorgt! Und jetzt mußt du also die Maske fallen lassen, jetzt oder nie! Was, hahaha! Nicht wahr, komm' heran, bitte schön, schlag' los! Sieh' da! Nur zu! ...

Und erst jetzt, zwei – drei Sekunden, nachdem Peter Romanowitsch sein Ventil geöffnet hatte, entdeckte Iwan, was vor sich ging.

Einen Moment sah er zu dem Oberleutnant auf.

Aha, dachte Luschinskij blitzschnell, und wurde auf einmal förmlich warm und gesund innerlich: endlich gelang es also! In einer Minute würde Iwan offenbar auffahren, mit feuerrotem Kopf, mit Brand und Flammen in den Augen, und plötzlich jedwede Form von Heuchelei beiseite werfen – als Rache für diese ärgste Verhöhnung von der Welt! Gott sei Dank! Und dann hatte man sich also damit das entscheidende Recht erworben, das zu unternehmen, was bestimmt war! Nur zu! ...

Ganz unwillkürlich verwendete Peter Romanowitsch also noch ein wenig mehr Druck. Ganz unverhohlen greinend, die Hände hinten auf dem Rücken gegeneinander wühlend, den Bauch weit vorgestreckt, in den Knien zitternd, während ihm das Wasser über den Kopf rieselte, vollkommen bereit, dem Matrosen Gelegenheit, Platz, Zeit, Ursache, Spielraum, alles beliebige, zu seinem Überfall zu gewähren: Wurst wider Wurst, und heute abend kam ja die Revanche, nicht wahr?

Aber in diesem Nu geschah es, daß Luschinskij die Augen in zween Hinsichten aufgingen: auf der einen Seite entdeckte er, daß er sich nun doch ein wenig verrechnet hatte, bezüglich der entschleiernden Fähigkeiten dieses Mittels – aber auf der anderen Seite begriff er gleichzeitig, daß er gerade aus diesem selben Grunde völlig berechtigt war, dem Burschen gegenüber alles mögliche vorzunehmen:

Denn Iwan riß allerdings eiligst seinen Rock auf, – als wolle er ihn wirklich abwerfen, um besser losschlagen zu können.

Aber dann steckte er, geschwind wie eine Katze, die linke Hand in die innere, rechte Brusttasche – gerade unter die Stelle hinein, wo des Oberleutnants Spritze noch immer, klatschend und dampfend, den Drillich traf – und unmittelbar darauf zog er alle Klauen wieder heraus, zwei Zigaretten dazwischen haltend.

Sie waren bereits durchnäßt.

Der Tabak war sichtbar – als sei er in ein geöltes Papier gewickelt.

Iwan strich mit einer Handbewegung das meiste von der Feuchtigkeit weg, gegen den Rand seines Ärmels – und steckte dann beide Zigaretten vorsichtig, mit sichtbarer Besorgnis wegen der Unhaltbarkeit des durchnäßten Papiers, in die Tasche an der anderen Seite.

Und dann beugte er sich wieder, mit seiner gewohnten Umständlichkeit, langsam über den Spann nieder, den zu frottieren er im Begriff war.

Luschinskijs Strahl traf, mit einem Platschen, die Wand hinter dem Burschen, flaute dann ab, senkte sich in ein paar Tropfen hinab und verschwand zwischen den Haaren von Iwans Nacken, und machte dann auf einmal Halt ...

 

Am Spätnachmittag überkam Peter Romanowitsch plötzlich ein Gefühl, als erwache er jäh zu sich selbst.

Entweder aus irgendeinem schon vergessenen Traum, oder aus einem sehr tiefen Schlaf, oder einer Ohnmacht, oder was es nun gewesen war: auf alle Fälle lag er drinnen auf seinem Sofa, die Nase gerade in den Schrägpfühl hineingebohrt.

Auf dem Bezug war ein großer, dunkler und nasser Fleck unter der Stelle, wo sein Mund gewesen war.

Oben in seiner Stirn juckte es – und er konnte mit den Fingern einen Abdruck von dem Muster der Decke da oben in der Haut verspüren.

Er wußte nicht mehr, wie er hier herunter gekommen war – oder was er überhaupt vorgenommen hatte – nach dem Moment, unterwegs nach seiner Kammer von oben vom Deck, als er sonnenblind dagestanden und mit den Kameraden da hinten unter der Kommandobrücke von Lwows Burschen gesprochen hatte.

Einen Augenblick fiel es ihm dunkel ein, daß er sich wohl eigentlich schon damals entschlossen hatte, ein Sturzbad zu nehmen: sollte er es jetzt nicht tun? Er war offenbar in Schlaf gesunken und hatte den Plan verschlummert?! Wie? Sollte er? ...

Aber dann war es, als ob sich seine Brust und sein Mund mit etwas füllten, das an einen plötzlichen Ekel erinnerte – oder war es eine jähe und nebelhafte Erinnerung daran, daß möglicherweise eine Art Schmutzigkeit an diesem Badezimmer haftete! Es war gewiß etwas Häßliches und Übelstinkendes da unten! Nicht wahr! War da nicht – das letztemal, als er da unten war, also gestern: war da nicht gleichsam ein ganz vager, bittersüßer und lauer Gestank gewesen ... fast wie nach Urin?

Und gleich darauf war er sich auf einmal klar darüber – ohne den Grund dazu fassen zu können: daß es nun also sicher war, daß er über Nacht in bezug auf Iwan vollständig Recht gehabt hatte!

Es war in Wahrheit – und Gott allein wußte, woher er schließlich diese Überzeugung gewonnen hatte: es war wahrhaftig nicht mehr das Geringste mit Iwan aufzustellen!

Der Bursche hatte mit irgend einem ganz unzweideutigen Beweis demonstriert: daß die Anschläge, die er gegen seinen Offizier geplant hatte, so wichtig und bedeutungsvoll waren, daß keinerlei Mißhandlung, keinerlei Verhöhnung, keinerlei Rohheit ihn bewegen konnte, sie vor der Zeit zu entschleiern! Sie drehten sich mit anderen Worten ganz einfach um Leben oder Tod, und reagierten folglich nicht auf Kleinigkeiten!

Kurz, da war nicht der geringste Zweifel mehr: Peter Romanowitsch hatte in einem und in allem sowohl das göttliche, wie auch das menschliche Recht und die Pflicht, das zu exequieren, was er über Nacht als das einzig richtige erkannt hatte!

Einem so abgefeimten und grundverderbten Mörder gegenüber war es – ganz abgesehen von allen möglichen, entweder militärischen oder rein ethischen oder mehr sophistischen Argumentationen: gegenüber Iwan, diesem Wesen, das nur über Attentat und Todschlag brütete, war es das angeborene und natürliche Selbstverteidigungsrecht, daß man ...

Selbstverständlich! ...

Luschinskij stützte die Handflächen gegen das Kopfkissen, und auf diese Weise gelang es ihm, sich so viel in die Höhe zu heben, daß er auf dem Sofa saß.

Sein Schädel dröhnte ganz leise hinter den Trommelhäuten. Es liefen da drinnen Blasen umher: vielleicht beulte die Luft, die hin und wieder aus ihnen herausbarst, ihm diese tiefen Töne durch die Ohren aus?

In seinen Kiefern war ein Gefühl, als hingen sie schlingernd ganz oben in den allerobersten Spitzen der Halswirbel: oder es war eine Empfindung, als sei er vor ganz kurzem teuflisch berauscht gewesen! War es etwa das eine Glas, das er heute vormittag einmal getrunken hatte, von dem neuen Kognak, der auf ihn selbst dieselbe verblüffende Wirkung hatte – die sie, seinen Plänen zufolge, heute abend und heute Nacht auf Iwan haben sollte? Was? Hahaha!

Jawohl sollte er wirklich, vorhin, betrunken gewesen sein?: denn die Beine schwiemelten ja sammetweich, wenn man nur die Füße den Boden berühren ließ! Die Arme waren einem, gelinde gesprochen, wollig, und es knarrte wie ein Schrank in den Gelenken! Und alle Muskeln brannten, wenn er sich nur ein ganz klein wenig bewegte!:

Sollte er, kurz und gut, faktisch todkrank sein?

War es denkbar, daß dieser sonderbar tiefe Schlaf, den er gehabt hatte, gerade heraus ein tödliches Fieber gewesen war, eine Maladie oder eine tropische Ohnmacht?

Oder sollte er wirklich ein paar Whiskyflaschen geleert haben, gerade bevor er sich hingelegt hatte; und erwachte also jetzt, durch und durch spiritusvergiftet?

Er sah an sich nieder – noch immer auf dem Sofarande sitzend, die Füße vor sich hingestreckt, der Körper seitlich auf dem Schrägkeil ruhend: und entdeckte dann, daß er, bei meiner Seelen Seligkeit, hier ganz splitternackend gelegen und geschlafen hatte, ohne eine einzige Faser auf seinem keuschen und kranken Leibe!

Ehé!

Wie in aller Welt! ...

Er sah sich langsam ringsumher um. Und bemerkte dabei seine Beinkleider. Sie lagen, weiß Gott, an der Erde, dicht vor der Tür: buchstäblich, als ob man gerade noch über die Schwelle gekommen war, die Hosen überm Arm, und dann hatte man sie selbstverständlich gleich aus den Fingern verloren!

Herr Christus, wie war dies hier nur zugegangen!

Hé!

Er konnte doch wohl nicht von oben, von Seiner Majestät des Kaisers Deck hier heruntergewandert sein, ohne Pantalons?

Wie?

Aber wie nur ...

Abermals wunderte er sich – greinend, obwohl er übrigens nicht das geringste Lächerliche bei dieser mystischen und höchst nervenspritzenden Situation finden konnte.

Er versuchte, sich zurückzuerinnern, ob er möglicherweise während seines aufsehenerregenden Schlafes irgend etwas geträumt haben sollte, das nun sein Gedächtnis leiten konnte.

Aber er fand nichts, weiß Gott, nichts, kéhé!:

Geträumt, das hatte er, mit anderen Worten, ganz bestimmt nicht! Eher das Gegenteil: dieser ganze verdammte Schlummer schien ihn im Grunde so aufzutreten, als sei er ganz und gar nichts weiter, als ein einziges, allerdings ungewöhnlich stimmungsreiches Loch in seinem Dasein! Etwa eine kohlschwarze Gruft – vielleicht voll von heimlichem Soda-and-Brandy zwischen dem Augenblick jetzt und der Unterhaltung oben auf der Kommandobrücke!

Nicht wahr?

Aber was denn?

Warum lagen denn alle seine Kleider dort beim Eingang? ...

Es wurde von außen an die Türfüllung gepocht.

»Kéhé! Jawohl! Bitte schön! Herein!« sagte Luschinskij, einen Zipfel der Sofadecke ehrbar über den Magen ausbreitend, die Knie nach innen gedreht, und die Ellenbogen darauf gestützt. »Herein! Vielleicht können Sie mir, gegen ein Douceur, Aufklärung bezüglich einiger weniger Stunden geben, die ich vor kurzem verloren habe!

Ehé!

Treten Sie näher!«

Es war indessen nur der Steward, der kam.

Er steckte selbstverständlich – ganz unzugänglich für jede Anrede, wie gewöhnlich in letzter Zeit – nur die schwefelgelben Wachsreste seiner ehemals geschwollenen und himmelfarbenen Fratze durch die Spalte herein, sandte seinen stinkenden Atem seinen Worten voraus, und avertierte im übrigen durch sie, daß die Uhr sieben und das Diner klar sei, Herr Offizier! ...

Sehr wohl!

Luschinskij richtete sich mit einem Ruck auf. Und während seine Beine sich dann ein wenig besannen nach dieser Anstrengung, wanderte sein Auge zufällig ein- oder zweimal über die Tischplatte mit allen den blauen Karten und den verblüffend kreideweißen Papieren hin. Er hickste ganz wenig und aufgeräumt bei diesem Anblick, glitt gleichzeitig wieder auf das Sofa nieder – ohne recht davon zu wissen: und saß einige Augenblicke da, um sich selbst so viel Ruhe wie nur möglich zu gönnen; ließ sich eine Weile später langsam an den Boden rutschen, kichernd vor Kitzeligkeit, als er einige Staubflocken fühlte, die sich augenblicklich an gewisse speziell warme Partien seiner Haut da unten festklebten – und machte sich dann daran, auf diesem witzigen Platz sitzend, sich seine Kleidungsstücke, eins nach dem anderen, anzuwühlen.

Als er sich dann, einige Minuten später – die rechte Schulter als Stützpunkt gegen sämtliche Wände scheuernd, an denen er vorüberkam – sozusagen seitlings nach der Messe hinrutschte, bemerkte er, daß ihm eine einigermaßen schlechtschmeckende Übelkeit oben um das Gaumenzäpfchen saß! Ein Gefühl, das offenbar die Folge von Verlangen nach Essen war! Und das im übrigen möglicherweise als ein Zeichen von Lust zu essen ausgelegt werden konnte, nicht wahr?

Und dabei fiel ihm ganz lose ein, daß er in den letzten zwei Tagen (wahrscheinlich weil er, sit venia verbo, gesättigt worden war von seiner großen Freude über die Affäre mit Gorkin, kiss, wie!): sowohl vorgestern, gestern und ebenso heute zum Frühstück, weiß Gott, mit Schanden zu melden, wieder und wieder, sofort den Burschen hatte alle Nahrung weit aus seinem Gesichtskreis fortschaffen lassen müssen!

Aber gerade aus dem Grunde war ja also Anlaß, zu hoffen, daß man jetzt doch vielleicht im Besitz von etwas Appetit sein müsse! Oder habe ich nicht recht darin, daß selbst ein Held nicht sonderlich viel taugt, wenn ihm gewisse Prozente von Zucker und Stärke im Magen fehlen, hahaha! ...

Und Luschinskij verließ mit diesen Worten die angenehme Wand, griff um den Drücker der Messetür, reckte sich stolz in die Höhe, trat ein, nickte vornehm vor sich hin, setzte sich an den Tisch und nahm sich vor, ohne weiteres zu essen.

Aber es ging nicht.

Im Gegenteil!

Denn im selben Nu, wo die Suppe, dampfend, salzig und braungelb vor ihm stand, da überkam ihn, weiß Gott, wieder dasselbe Gefühl wie vorhin, da unten in der Kammer, als er einen Augenblick daran dachte, ein Sturzbad zu nehmen: ein Gefühl, als sei irgendeine übelriechende Erinnerung da oben in seiner Nase, eine dunkle und schmutzige Erinnerung, die jedesmal, wenn er sich nur dampfende oder gelbliche Flüssigkeiten vorstellte, ihn blitzschnell den Gestank von Urin empfinden ließ, hä, pfui Satan, so eine Exkrementhölle in modernem Stil, was, nimm ihn weg, den Teller! ...

Daher also erging es ihm nicht besser bei dem Mittagessen hier, als gestern und vorgestern: in aller Eile mußte Peter Romanowitsch, ohne auch nur einen einzigen Mundvoll Bouillon bekommen zu haben, seine Portion von sich wegschieben: sich im Kreise umsehend und ein ganz klein wenig über die anderen greinend, die offenbar gar nicht den Dunst bemerkt hatten, die dieser dreckigen Kost anhaftete, diese Mistkäfer!

Als aber dann der aufwartende Matrose als nächstes Gericht obendrein mit den ewigen, kleinen, fetten Madagasi-Austern kam, war schon ihr Anblick allein und der salzige und bittere Odeur, der ihnen im Bart hing, mehr als genug für Luschinskij: er hatte ein Gefühl, als ob das oberste Ende seiner Speiseröhre ihm so schnell wie möglich in den Mund hinaufkrabbelte und da Seite an Seite mit seiner Zunge lag, wie eine fingerdicke, weichringige und daunenbehaarte Larve:

»Weg!« sagte er deswegen zu dem Matrosen, der die Schüssel zwischen ihn und Praxin hineinschob. »Fort! Mach', daß du wegkommst!

Oder glauben Sie nicht, Bobr – –« fuhr er fort, plötzlich, ohne seine eigenen Worte zu ahnen, nur aus irgendeiner sachten Erschütterung und Lachlust redend, die sich unten in seinem Bauch bewegte:

»Glauben Sie nicht, daß ich Qualen genug haben werde: mit dem duftenden und überwässerten Schaltier, das ich mir selbst zu heute abend aufgehoben habe! Ké!

Raus mit dir!

Weiter!

Kéhé!« – und damit puffte er seinen Ellenbogen – gleichsam mit einer Ahnung, als habe er etwas überaus Munteres gesagt – Praxin in die Rippen und lehnte sich in seinen Stuhl zurück, eine Brotkrume zwischen die Lippen schiebend, um sein Kichern abzuschleifen ...

Während der übrigen Zeit des Mahles saß Peter Romanowitsch also da, entbunden davon, mehr zu tun.

Er brachte sich bequem, mit dem größten Teil des Rückens, unten auf dem Sitz an, starrte sanft vor sich hin und zerstreute sich selbst, indem er sich die spritzendsten, dampfendsten und würzigsten Vorausbilder von seiner und Iwans Begegnung heute abend ausmalte: ja, er hatte doch wohl ... daran gedacht, seine Schlüssel da unten in seiner Kammer zu vergessen, in der Weinschranktür, nicht wahr, hahaha, o du Allmächtiger, wie! ...

Hin und wieder, wenn es ihm paßte, hörte er ein wenig von dem, worüber die Kameraden plauderten.

Sie sprachen übrigens nicht viel.

Starck glotzte gerade vor sich hin wie gewöhnlich, mit seinem nackten und knochigen Stellagengesicht. Bogduroff lutschte auf seinem schwarzen Bart, oder amüsierte sich, indem er von dort Sauce auf das Tischtuch tropfen ließ, so daß sie seine eigenen Vorbuchstaben in braunen Punktlinien bildete.

Praxin tat so, als esse er, saß aber die ganze Zeit mit der Hand unten an dem linken Knie des kleinen süßen Kadetten, den er an seiner anderen Seite angebracht hatte. Und Lwow – den zum Schweigen zu bringen sich niemand mehr die Mühe gab, mag er sich blamieren, so arg er will, was, zum Teufel, geht das mich an: der machte unaufhörlich Musik mit Messer, Gabel und Weinglas; und sang zu dieser Begleitung unaufhörlich von dem an diesem Nachmittag endlich verstorbenen Herrn Mikael: diesem rücksichtslosen Vieh, diesem Selbstmörder, der, selbstredend einzig und allein aus Bosheit, da unten im Lazarett hatte weder essen noch trinken wollen! Nur um seinen Offizier um die Freuden zu bringen, die man sich am Ende noch bei ihm hätte holen können: natürlich indem man ihn aufhängte und ihn peu à peu da unten in seiner Kammer briet! Haha! Scherzeshalber, glauben Sie etwa: aber Sie können Gift darauf nehmen. Nein! – sagte Timon Wladiwirowitsch, ohne irgend jemand zu haben, der ihm zuhören wollte, aber das genierte ihn keine Spur; auf einmal blau im Gesicht, mit großen Augen und schiefem Mund; und gleich darauf lehnte er sich wieder über den Tisch, ganz leise knurrend, das Biest, und fing wieder von vorne an, mit der ganzen Geschichte: mit genau denselben Worten und akkurat denselben Bewegungen. Seine Augen sahen plötzlich aus, als seien sie mit Wienerkalk geputzt, so blank waren sie und so voll von weißen Klumpen in den Ecken.

Und Gregorow, endlich, Herrgott, der durch alles enttäuschte Chef, der saß da unten am Tischende, gerade wie ein Stock auf dem Stuhl, mit seinem unsagbar grauen, geschnitzten Knochengesicht, mit den Augen zwinkernd, sich den Anschein gebend, als wenn er weder höre noch sehe, aber mit kleinen angenehmen Zuckungen, die von der einen Schulter zur anderen hüpften, quer über sein Gesicht hin! ...

Und dann waren da ein paar Herren, die plötzlich über Starck zu sticheln begannen, weil er ihnen zu heute nachmittag Regen versprochen hatte:

»Aber da haben Sie wohl ein wenig aufgeschnitten, mein Freund, offen gestanden.

Und wenn Sie also nicht das geringste Tatsächliche hatten, woran Sie sich in bezug auf diese Sache halten konnten: so weiß ich, hol' mich der Teufel, wirklich nicht, warum Sie sich so wichtig machten, und so taten, als wüßten Sie besser Bescheid mit den Niederschlägen als das Wetter selbst!

Kä!

Verschonen Sie uns mit Ihrer Wichtigtuerei!

Ich bedanke mich für dergleichen Wahrsagerei!«

Jawohl, dachte Peter Romanowitsch, ein klein wenig auf seinem Platze wackelnd, aus allgemeiner Sympathie mit allem, was Freundlichkeiten hieß: wohl haben Sie recht, sich zu beklagen, meine Herren! Bringen Sie ihn in die Klemme! Überspritzen Sie ihn mit allem möglichen, diesen Wahrsager, der uns dergleichen viel zu billige Versprechungen auf gratis Brausebäder macht! ...

Ja, wie konnte es nun auch Starck einfallen – fuhr Luschinskij inwendig fort, von neuem seine Augen schließend, um das Ganze für sich zu haben: wie konnte er nur darauf verfallen, so etwas zu glauben: die Luft stand ja fett und ranzig regungslos um uns alle, und besaß offenbar keine Spur von Neigung zu irgendwelcher Motion! Nicht einmal die weitgeöffneten Bullaugen plus die herausgenommenen Skylights in der Decke, waren ja imstande, ihr auch nur die allergeringsten Lebenszeichen zu entlocken! Und, insofern, wozu auch nur: selbst die Elemente taten also, was sie konnten, um einem behilflich zu sein, heute abend einen brenzeligen Eindruck auf Iwan zu machen, ké! Wie bezaubernd! ...

Trotz der Übung – die ja erheischte, daß der Kriegszustand auf den Schiffen genau innegehalten werden sollte – war Kommandant Gregorow, sintemal sich das Fahrzeug für den Augenblick allein befand, endlich ausnahmsweise einmal, verständig genug gewesen, in aller Stille ein Sonnensegel über das Achterdeck spannen zu lassen, während die Offiziere unten bei Tische waren.

Nach dem Essen lud er also die ganze Messe in Hemdärmeln zum Rauchen da hinauf.

Und nun spürte man, daß doch eine Abkühlung im Anzug war.

Sie stieg als ganz unbestimmte und dünne Dunstwirbel aus den funkelnden Kämmen der winzig kleinen Wellen auf.

Es hatte angefangen, ein wenig zu wehen.

Der Himmel war bläulicher als bisher. Und die Sonne ein wenig röter gegen Untergang. –

Peter Romanowitsch hatte sich gleich in eine Ecke hineingestöckert und sich dort, auf einer Gitterbank, zusammengefaltet. Ohne es sich klar zu machen, daß eine Veränderung im Wetter geschehen war, fühlte er ganz nach und nach, daß seine Atemzüge gleichsam eine Unbedeutendheit freier waren als bisher – und in dieser Beobachtung fand er für einen Augenblick von neuem die Kraft, sich überlegend, auf die Festlichkeit heute nacht zu freuen: Ehé! O Christus und Gott! Ja! Nicht wahr? Heute abend! Nun: und was war es doch nur, was er in bezug auf diesen feinen und mysteriösen Kognak – von dem zu stehlen Iwan natürlich in diesem Moment schon im vollen Gange war – als Einleitung der Sache beschlossen hatte, wie? Was war das doch nur? Eh? ...

Aber dann fühlte er, daß er doch ein wenig zu müde war, noch. Offen gestanden!

Ja: entweder war er noch eine Kleinigkeit überanstrengt in den Kiefern, nachdem er Iwan den ganzen Tag hindurch so mörderisch ausgescholten hatte, oder auch war da eine höchst sonderbare, schwindelige und wiegende Fernheit irgendwo drinnen in seinem Kopf! Als könne er jeden beliebigen Augenblick darauf gefaßt sein, hier von der Bank herunterzutrundeln und plötzlich vollständig weg von dem Ganzen zu sein, nicht wahr? Sollte er etwa ganz einfach schläfrig und schnarchlustig sein? Nach dem herrlichen und tiefen Schlummer, den er gerade vor Tische gehabt hatte?! Bewahre! Oder war es nicht vielmehr eine schwellende und milde Empfindung drinnen in seinem ganzen Wesen ... sozusagen, als ob er einmal im Laufe des Tages, früher oder später, ohne darüber nachzudenken, irgendeine außerordentlich wichtige und lebenbewahrende Handlung ausgeführt habe?! Eine, woraufhin er lange Zeiten hindurch flott und gemütlich leben konnte? Eine, die, mit Respekt zu melden, ihm außerdem sowohl Absolution im voraus, wie auch Glück zu allem möglichen verschafft hatte, was er noch zu tun beabsichtigen konnte?! Wie? Ganz sicher! In hohem Grade wunderbar, wie gewissenhaft eingelullt, selig wie auch sicher er sich fühlte bei dem Gedanken an das, was sich heute abend ereignen würde! Gott war sicherlich mit ihm in dieser Sache! Ach ja, Gott wie auch die Elemente! Oder wie sollte man es sich sonst erklären können, daß einem nicht einmal die Wärme mehr so schlimm vorkam! An und für sich hatte sie fast angefangen, ganz behagl ...

Aber im selben Augenblick tastete ein noch heißerer Hauch denn je zuvor rings um ihn herum.

Eine Feuersbrunst wickelte sich um sein Gesicht, sengte sich in einem Nu durch die Poren der weißen Uniform hindurch und steckte alle seine Adern in Brand.

Was war das nur einmal – dachte er, mit einem Ruck, und erhob den Kopf, nach Luft schnappend.

Eine Gruppe von Offizieren hatte sich auf der Kommandobrücke aufgestellt, da oben schräge vor ihm, und zeigte hinaus.

Da kam der Regen.

Er stand wie ein Niagara und versperrte die Luft ganz da hinten. Lotrecht. Ganz vom Himmel, der dort kohlschwarz geworden war, bis zu der See hinabreichend.

Als sei das Meer selbst, mit seiner Nacht hinter dem Horizont, da hinten durchgebrochen und auf die hohe Kante gestellt, mit seiner Verbrämung von Dunkelheit ganz hochoben; und nun stürzte der Ozean in schäumendem Fall die steile Fläche hinab.

In langen, blitzschnellen Sprüngen stürmte das Unwetter heran.

Es peitschte das Wasser gegen sich auf, wohin es kam, und jagte die Hitze verdoppelt vor sich her.

Droben am Himmel taumelten graugelbe Schimmer heraus, hier und da.

Tief drinnen bullerte es leise ...

Kommandant Gregorow rief irgend etwas. Matrosen kamen plötzlich herbei und liefen umher. Das Sonnensegel klapperte auf einmal, und war schon im Begriff, sich aus den Händen der Leute herauszureißen, während sie es herunternahmen – plötzlich grau und grobfädig, statt blendendweiß wie vorhin.

Es heulte wie ferne Flötensignale an Masten und Wanten vorbei. Die Luft war auf einmal dunkel. Wie Dämmerung.

Luschinskij hatte sich erhoben und war, ohne es zu wissen, die zehn Schritte bis an die Reeling hinangegangen. Er stand, ein wenig in die Knie gebeugt, die Mütze im Nacken, die Augen größer als sonst, und mit beiden Händen auf die oberste, graue Stange des Geländers gestützt. Inwendig in seinen Handflächen spürte er ein ganz leises Rütteln – als seien es die Tiefen des Meeres, die sich plötzlich, unruhig und bebend, zu ihm hinauf verpflanzten durch das Schiff, das zu zittern begonnen hatte.

Auf einmal war da ein großer, lauwarmer Fleck auf dem Knöchel seines rechten Zeigefingers – als sei er in einem Nu aus ihm selbst herausgeschmolzen.

Gleich darauf waren da zweie auf der linken Hand.

Es durchzuckte ihn.

Er sah auf.

Und dann prasselte der Regen auf sie herab.

Er ging fingerdick nieder, fast ohne Zwischenraum zwischen den Strahlen. Er brüllte gegen das Deck, dröhnte gegen die Ventilatoren, sang auf den eisernen Stufen, flötete an dem Ohr vorüber: wie ein Orgelwerk von Glasröhren stand er nieder.

Das Schiff knurrte jäh und wand sich, von Steven zu Steven.

Ein rauchendes turmhohes Aufspritzen erhob sich über dem Vorderende. Mit Krachen richtete es sich hoch auf und donnernd fiel es gleich darauf zusammen, über das Vorderdeck, platschend, quatschend.

Während der ersten Sekunde waren die Tropfen noch warm von der Luft. Aber dann wusch sich die Kühle hindurch – wie ein Brausebad, in dem das Gas ausgelöscht wird. Die Offiziere rissen die Mützen ab und blieben unter den Strahlen stehen; ihre Uniformen erschienen plötzlich blauweiß – in der Dunkelheit, die in einem Nu vom Himmel herabgewälzt war.

Aber eine Minute später, sobald die Feuchtigkeit ganz hinein über ihre Haut gelangt war, und infolgedessen nicht mehr als Abkühlung empfunden wurde, da setzten sie mit einem Ruck ihre Kopfbedeckungen wieder auf. Sie fingen an zu fluchen und zu schimpfen – das konnte man ihren weitgeöffneten Mündern ansehen –, sie flügelten mit den Armen, pufften einander, auf dem Deck umherplanschend, wo das Aufspritzen so hoch stand, als gehe man bis an die Knie in Wasser: schimpfend über diese verdammte Schweinerei von Wolkenbruch, der ihnen sogar ihre Kleider ruinierte ...

Und dann beeilten sie sich, unter Deck zu kommen.

Der Donner grollte auf einmal heran, gleichsam kohlschwarz, nach dem lakenweißen Moment des Blitzes: Krachen auf Krachen, zuerst scharf wie ein Knall, dann rasselnd, und schließlich langsam, rollend, hinschwindend ... und dann brachen neue Blitze sengend hervor, fünf, zehn, zwanzig auf einmal ... – –

 

Schon gegen zehn Uhr konnte Peter Romanowitsch sich nicht mehr halten, selbstverständlich.

Jetzt sollte es vor sich gehen; darüber herrschte kein Zweifel! Oder was meinen Sie, wenn ich fragen darf? ...

Gleich bei Beginn des Sturmes war Luschinskij in die Messe hinabgekrabbelt – offiziell unter dem Vorwand, daß er über seinen Bericht an den Admiral nachdenken wolle, die Schafsköpfe, können Sie begreifen, daß irgend jemand das glauben will, kisss – und hatte sich, gemütvoll, da unten vor zween Anker gelegt: in einer lobenswerten Unlust, wenigstens während seiner momentanen mürben Knochenverhältnisse, abwechselnd vom Fußboden auf den Diwan oder an die Decke geschleudert zu werden, kraft der Bewegungen des Schiffes.

Also vertauet – einen Arm nach jeder Seite gespreitzt, und die Finger um die Oberkante der Rücklehnenpolsterung gehakt – hatte er die ganze Zeit dagelegen, dem, was heute abend geschehen sollte, wunderlich licht entgegenlächelnd.

Er zwinkerte mit den Augenlidern, oder schloß sie ganz, hin und wieder – um nicht das geringste von diesen blanken Hoffnungen, die nach und nach in seinem Gehirn angezündet wurden, zu verraten oder zu verlieren! Diese glitzernden Empfindungen, die einem allmählich eine Art Glauben einflößten, daß die Augen ein paar reflexvolle Brillanten geworden seien, oder zween köstliche und phantasiereiche Kristallkugeln, oder ein paar alles dirigierende Leuchttürme, nicht wahr, haha, und in ganz kurzer Zeit wollte man ja wahrlich auch Herrn Iwan den Weg weisen, der zum Himmel führte, hol' mich der Teufel! ...

Mit großer Anstrengung – aber auch mit einem reichhaltigen inneren Entzücken – hatte er es fertiggebracht, während dieser paar Stunden seit dem Mittagessen sich auch nicht einen einzigen Augenblick persönlich vor Iwan zu zeigen:

Er hielt es nämlich für richtig, auch den Wert der Pausen zu benutzen – namentlich in einer so psychischen Sache wie diese!

Er betrachtete es, weise, als eine strategische Finesse: nach allem, was heute vormittag vorgefallen war, jetzt dem Burschen die erforderliche Zeit zu schenken, um diese Begebenheiten (plus ein passendes Quantum von dem ebenso inhaltsreichen Kognak!) gründlich in sich aufzusaugen, um sie ganz und gar zu verdauen und sie in seinen Blutumlauf einzufügen, kurz gesagt!

Darum also hatte er Kraft genug gefunden zu resignieren und sich ausschließlich abwartend zu verhalten, da unten in der Messe.

Nur in bezug auf einen Punkt hatte er es für korrekt gehalten, dieses schlaue Opferprinzip zu unterbrechen: zween Male im Laufe des Abends hatte er Bobr, einen von den Messeordonnanzen, mit einem Bescheid hinabgeschickt.

Das erstemal hieß er ihn nur, dem Burschen zu sagen: Iwan dächte doch wohl daran, was ihm der Oberleutnant lächelnderweise für heute nacht versprochen hatte, nicht wahr, Kamerad!?

Das zweitemal fügte Luschinskij außerdem noch folgende Bemerkung hinzu – die er, Bobr mit seinem rechten Fuß (in Ermanglung der freien Hände) in der Kniegegend stoßend, ihm genau, Wort für Wort, einschärfte:

»Und sagen Sie ihm also dann, Bobr!

Flüstern Sie ihm zu, von mir: daß, wenn er sich noch meiner Behauptung von heute vormittag entsinnt, daß auch der Himmel mir hilft bei dem, was in dieser Mitternacht vor sich gehen soll!

Wenn er sich also noch des Satzes erinnert, dahingegen aber dumm genug ist, an seiner Wahrhaftigkeit zu zweifeln – kannst du mich verstehen, du Vieh: dann erkläre ihm, daß, wenn er nur einen einzigen Blick hinaufwirft zu dem Blitz- und Wasserhimmel, der uns über dem Haupte hängt; oder wenn er sich nur entschließen kann, einen einzigen Augenblick dem Donner, der Stimme Gottes, zu lauschen, die unaufhörlich draußen um das Schiff herumtrillert, auf der Lauer nach ihm: dann wird er augenblicklich von allen Zweifeln an meinen Worten geheilt sein!

Und er wird sich in einer einzigen Sekunde vollständig klar darüber werden, wie genau ich recht hatte: nach jeder Richtung hin ist Gott der Herr mit mir!

Ké!

Begreifen Sie, lieber Boble: das alles sollen Sie ihm von mir sagen!

Beeilen Sie sich also!

Und denken Sie daran: Sie brauchen keineswegs, so wie das letztemal, hierher zurückkommen und mir das pauskieferige Gesicht zu melden, das er aufsetzte: von hier aus, wo ich in diesem Moment liege, kann ich nämlich mit aller wünschenswerten Deutlichkeit, Punkt für Punkt sehen, wie sein widerliches Wladimir Grigoriewitsch-Gesicht sich ausnehmen wird: mein Blick, will ich Ihnen sagen, geht nämlich durch Wände wie durch Fleisch, heute abend, er leuchtet wie ein Röntgenstern! Haha! Na!

Also verschwinde!

Dalli, dalli!

Es eilt!

Und lachen Sie ihn nur tüchtig aus, selbst, wenn Sie Lust dazu haben! Und das haben Sie selbstverständlich, Sie Laban! Halten Sie ein bißchen an sich, zum Teufel auch!« – –

Eh bien; aber nun, abends, zirka zehn Uhr, ein paar Stunden früher als gewöhnlich, spürte Peter Romanowitsch also: daß er jetzt allmählich so überaus energisch und inwendig gespannt geworden war, daß er leider – in Anbetracht seines temporär teilweise schleimförmigen Muskelzustandes – die Sache nicht länger aufschieben konnte! Es galt ja doch, zu handeln, sowohl ehe man noch im voraus alle Freude daran verbraucht hatte, während man überhaupt in voller Vigueur war, als auch bevor Iwan erwartete, daß man kommen würde!

Go ahead!

Kkks ...

Also stemmte er sich mit Hilfe beider Hände von seinem Eckplatz in der Messe in die Höhe und schlingerte dann – sich abwechselnd auf alles Feste stützend, in dessen Nähe er kam – durch die Messe hindurch, um den Kameraden kichernd, mysteriös und angeregt gute Nacht zuzusabbeln.

Dann verließ er den Raum, so weit wie möglich tüchtig auf die Stufen strampelnd – solange er meinte, daß seine Schritte, infolge irgendeiner eventuellen Pause im Sturmlärm, vielleicht von da drinnen gehört werden könnten.

Aber sobald er hinreichend weit weggekommen war – ungefähr gerade bis an die beiden 7,4 cm Schnellfeuerkanonen –, ließ er sich vorsichtig und selbst-rücksichtsvoll an der Wand entlang niedergleiten, bis er auf allen Vieren lag.

Und in dieser Stellung, die sich vorzüglich für einen jeden eignet, der die Kräfte seiner Beine zu sparen wünscht, bis der wirkliche Gebrauch für sie gekommen ist – kroch er weiter durch den dunklen und schwankenden Batteriegang, hin und wieder mit einem Gekicher.

Der Fußboden war sozusagen würzig anzurühren mit den Handflächen: fein staubkörnig und zugleich kühl war er – also schon aus dem Grunde war es eine große Aufmunterung, sich vierbeinig zu bewegen.

Er tastete sich um die Ecke herum und gelangte an seine Schiebetür.

Ein Lichtstock stand schräge durch das Schlüsselloch, bis hinab zu einem hellgelben Fleck auf einer Geschützlafette.

Eine Hand gegen jede Seite der Türfassung stützend, bog Peter Romanowitsch, im Halse glucksend, seinen Nacken ein wenig hintenüber, hielt das Auge an die kleine, längliche Öffnung, und guckte so, mit anderen Worten, zu sich selbst hinein.

Es glitt ein lauwarmer und gleichsam ganz schwach blumenlieblicher Luftstrahl unter seine Augenlider, von da drinnen aus der Kammer. Ohne noch so recht zu verstehen warum, erwärmte er seinen Blick herrlich, vereinte sich bezaubernd mit dem klaren und funkelnden Schimmer, der sein Gehirn erfüllte, kurz, belebte ihn prächtig.

Aber noch mehr fühlte er sein Herz groß werden, dankbar und warm, als er den Inhalt der Kammer entdeckte:

Iwan hatte sich auf sein Sofa geworfen – offenbar vollständig davon überzeugt, infolge der Gewohnheit des Offiziers, daß er noch ein paar sichere Stunden vor sich habe!

Sämtliche elektrische Flammen hatte er auf alle Fälle ungeniert angezündet (kä: oder sollte er am Ende ebenfalls vor Dunkelheit bange geworden sein, auf einmal, haha, wahrlich ein gutes Omen!): die Lampen schlingerten hin und her an ihren Schnüren; mit kleinen Klipplauten schlugen sie hin und wieder mit ihren Drahtkäfigen gegen die schmalen Messingringe, die ihre Bewegungen begrenzten. Ihre Reflexe liefen ununterbrochen über Iwans Gesicht hin und machten auf diese Weise den einen Schattenwitz nach dem anderen: sowohl mit seiner gemeinen und weißlichen Narbennase, wie auch namentlich mit der schwürigen Brandwunde, die ihm als Mund diente, pfui Satan im Höllenschwefelpfuhl, wie sah er nur einmal heute abend aus, der miserable Hundedarm!

Iwan lag also auf dem Rücken, den linken Arm anmutig unter dem Nacken.

Iwan hatte eine große Zigarette in dem Steuerbordmundwinkel. Der Rauch brach in einer dünnen, grauen Linie aus der anderen Mundecke heraus: als sei sogar sein Atem selbst voll von Schmutz und Qualm geworden. Denn natürlich war Iwan niemals fähig gewesen, durch die Nase hinaus zu rauchen, so wie andere ordentliche Leute: buchstäblich gesprochen, als sollte man glauben, daß überhaupt alles mögliche einzig und allein durch sein Maul besorgt werden müsse! So ein Infusorientier, wie, das nur eine einzige Kloaken- und Madreporöffnung zu allem möglichen Gebrauch besaß!! Esch, äh, bäh, aber nun kannst du ja selbst, binnen kurzem, zu sehen bekommen, wozu das führt, so eine Schweinerei!

Iwan stützte selbstredend den rechten Fuß nonchalant und romantisch auf den Fußboden – mochte es nur sein, um seine Balance in aller Bequemlichkeit zu bewahren, wenn das Schiff stampfte, oder, noch wahrscheinlicher, nur um sich selbst das Vergnügen zu gönnen, aus aller Macht gespreitzt dazuliegen, der Selbstliebhaber! Sein Gesicht war noch gedunsener denn je zuvor. Beinahe sah es so aus, als wenn er einem in Wirklichkeit den Nacken zuwendete: so eine übermenschlich rosenrote, glänzende, überfettete, rundliche und total kahle Nackenpartie; schließlich nichts anderes als ein einziges ungeheures Brandgeschwür oder ein Pickel, wo da nur ein weißreifer Streif von Nase und ein paar eitergefüllte kleine Wunden hier und da waren, die Augen und Mundwerk vorstellten.

Luschinskij ersäufte ein letztes Kichern in einem Ozean von Brechreiz-Feuchtigkeit, grub die Nägel von beiden Händen in den Türspalt hinein, benutzte einen Moment, wo irgendeine ungewöhnlich energische Sturzsee polternd und krachend über seinen Kopf hin donnerte, schob die Tür lautlos auf, hißte sich langsam an dem Türrahmen in die Höhe, tat ohne Spur von Geräusch einen Schritt vorwärts, in die Kammer hinein – sich beständig gegen die Wand stützend –, zog die Tür stumm hinter sich zu, legte seine Arme gekreuzt in eine wohlgewählte Positur, ließ die obenerwähnte Sturzsee fertigplätschern, und räusperte sich dann plötzlich mitten in der Stille:

»Kkrremmm!« sagte er.

Spornstreichs entfuhr ein Gebrüll aus irgendeiner Stelle an Iwans Körper.

Er sprang vom Diwan auf und stand, die Hände an der Hosennaht, da.

Im selben Augenblick hatte Luschinskij den eigentümlich blumenartigen und süßlichen Duft in der Luft erkannt – der sich auf eine geradezu erhabene Art und Weise mit den gemeinen Ausdünstungen des Burschen vermischte: aha, das Ganze ging also, wie es sollte! Iwan hatte sich in der Tat an den feinen Kognak herangemacht! Sehr wohl! Wunderbar! Alles in Ordnung!

So also, so also!

All right! ...

Ja, wohl war man ein wenig verwirrt und umnebelt – das merkte der Bursche gleichzeitig selber, indem er sich bemühte, sich stramm zu machen: das war man allerdings, ehicks! An und für sich nicht, weil der Oberleutnant einen heute schweinemäßiger als sonst ausgescholten hatte (denn beide Teile waren ja selbstverständlich, das fehlte auch noch, längst über die verständlich, das fehlte auch noch, längst über die Zeit hinausgekommen, wo sie einen Vorwand nötig hatten, um sich für berechtigt zu halten, respektive zu stehlen oder mit Grobheiten und Prügeln zu kommen! Jawohl! der Oberleutnant und ich, wir sind, weiß Gott, die besten Freunde!). Ne: aber es war, verdammt und verflucht, die schwüle Luft heute vormittag; und es war ebenfalls des Herrn Offiziers merkwürdig tiefer und unwiderstehlicher Schlaf die paar Stunden heut' nachmittag; und des geliebten Oberleutnants tutale Abwesenheit von hier unten heute abend; und teilweise auch Seiner Hochwohlgeb – geborenheit merkwürdige und unbegreifliche und ewig wiederholte Anspielungen darauf, daß über Nacht irgend etwas geschehen würde: alle diese Dinge waren es ganz einfach, die einen verlockt hatten, heute noch mehr als sonst ein wachsames Auge auf die Flaschen zu halten, ehickks! Und, heiliger Wlaß, wie hatte der Kunjak wunderbar geschmeckt, in der kleinen, geschliffenen Buttel! So viel hatte man doch von dem Verkehr mit hochwohlgeborenen Leuten gelernt, daß man Dreck und Ramsch voneinander unterscheiden konnte, was? Na, und dann war es ja auch keine Manier von Herrn Peter Romanowitsch Luschinskij, so ganz auf einmal (wenn man sich gerade hierher gelegt hatte und dabei war, sich gründlich reinzudenken in das, was es wohl sein konnte, was heute in der Abendstunde vor sich gehen sollte), so ganz p–lötzlich, ohne daß irgend jemand irgendwas ahnt, dazustehen und einen wütend anzuglotzen!? Wie?! ...

Iwan verneigte sich zum Gruß, die Arme ein klein wenig spreizend – und seine Zigarette samt ihrer Glut in seiner rechten Hand zerquetschend.

Er hickste noch immer ein unschuldiges bißchen zwischen den zusammengekleisterten Lippen hervor und ließ einen unsäglich kleinen Schreckensatem in der entgegengesetzten Richtung entwischen.

Und dann wollte er unter das Sofa kriechen, um die Betten aus der Bodenschublade herauszuholen und sie in einer Fahrt zurechtzulegen: denn in seiner Unbegreiflichkeit bezüglich der Versprechungen des Offiziers für diese Nacht, kéké, war er wahrhaftig hingegangen und hatte gedankenloserweise ungefähr dreiundzwanzig von den allerbesten Rauchpapyrusen unten im Schrittfutter seiner Hose angebracht (an diesem zurzeit friedlichsten Platz in dieser Welt – für alle andere als für einen selbst, auf alle Fälle, ehik, leider, kiki), und wenn er sie hier nun bloß nicht verlor, diese Zigaretten, das würde doch genierlich sein, was?! ...

Er rakte Kissen und Decken heraus; breitete das Laken über den Diwan, erst über das Fußende, stellte dann das Kopfkissen auf die hohe Kante, legte die Leinwand um die untere Seite und drückte es dann wieder auf seinen Platz nieder, so daß sich das Laken strammte – – in aller Heimlichkeit fortwährend die Knie gegen die Sofawand stützend, um die Sache in Ordnung zu halten, und dabei fortwährend zu dem Oberleutnant hinüberschielend.

Luschinskij war stehengeblieben, an den Türrahmen gelehnt, die Arme über der Brust gekreuzt, langsam und schweigend auf das Treiben des Burschen niedersehend. Er spürte in dem einen Nerv nach dem anderen, wie, frisch weg, Ozeane von Kräften in ihm aufbrausten – aus Iwans Bestürzung und Nervosität! Aha! Wie? Gott sei gelobt und gepriesen! Sogar hinter seinen Augen hatte er ein Gefühl, als würden noch mehrere von den großen, funkelnden Freudenflammen angezündet, die seine Blicke den ganzen Abend so schön illuminiert hatten!

Er fühlte, wie sein Herz anfing, da drinnen im Busen umherzuschwänzeln, geschäftig und aufgeräumt – zufrieden und glücklich lächelnd über alle diese Zeichen von Stärke und Kraft. Und hinten im Nacken stellte sich nach und nach diese wohlbekannte und bullernde Paradiesträumerei ein, deren er sich mit einer so dicken und dichten Wonne entsann, von der Gorkin-Affäre her!

Aber noch beherrschte er sich: so wie es längst in seinen minutiösen Plänen beschlossen war, die ja durch und durch auf seiner gründlichen Kenntnis von des Burschen Wesen und dessen wunden Stellen begründet waren:

»O Rußland, mein Heim!
Der langsame Fluß
Längs der Hügel Fuß,
Und Nastasias Lächeln, der Kinder Freud' ...«

sang er sogar, scherzhaft den Kopf hin und her wiegend – noch nicht stark genug, um es zu wagen, seinen stützenden Platz hier an der Wand zu verlassen.

Aber dann war Iwan mit dem Ordnen des Bettes fertig geworden:

»Haben Euer Hoch – hochwohlgeboren noch weitere Befehle?« frug er, mit einer sonderbar zärtlichen und selbst-herabsetzenden Stimme.

Luschinskij wandte ihm sein Antlitz zu, lächelnd wie nie zuvor, so sanft und schön, meine Seligkeit:

»Ob du noch weiter was für mich tun sollst – fragst du?!

Nein!

Nicht das Allergeringste!« antwortete er freundlich, nachdenklich seine Locken schüttelnd:

»Aber sage mir übrigens einmal, mein lieber Freund, ké« fügte er gleich darauf hinzu, und sah den Matrosen offen an, »hör' jetzt einmal!

Ich kann es dir ja ansehen, mein Geliebter – und ich kann es auch an dem aparten Geruch hier drinnen merken: daß du wohl von meinem feinen Kognak gekostet hast! Leugne es nicht! Von meinem teuern und ... geheimnisvollen Branntwein hast du getrunken!«. Er hatte seine Stimme tief und langsam gemacht, und erhob nun seinen Blick umständlich, unter zusammengezogenen Brauen, über des Burschen Gesicht hin.

Iwan schlug die beiden Hände vor den Kopf, zog Magen wie auch Hinterteil in einem Schwupp ein und wollte – in seinem innersten Innern offenbar entzückt bei dem Gedanken, daß sie sich hier also entpuppten, alle des Oberleutnants Drohungen in bezug auf heute abend: nichts als das, kéhé – offenbar gerade mit seinen gewöhnlichen, heuchlerischen und heulenden Versicherungen anheben.

Da aber meinte Luschinskij, daß jetzt der Augenblick gekommen sei!

Jetzt sollte es geschehen!

Das, was seine letzte und einzige und frohe Hoffnung war! Sein einziger Weg zum Heimatsland und zur Gesundung! Sein einziges Mittel gegen Iwans intime und mörderischen Pläne! Sein letzter Versuch, das Gottesgericht zu vollziehen! Das – was ihm zweifellos glücken mußte und würde, so herrlich tatkräftig wie er in dieser Stunde war:

»Jawohl!« bemerkte er daher weiter, mit einer milden Stimme, und lachte auf einmal ein ganz klein wenig – aber anders als sonst, so daß das Lachen klang, als sage es zahnreich das Entgegengesetzte von seinen Worten. Er tat einen Schritt vor, in die Kammer hinein, fort von der Wand: aber um trotzdem nicht allzu dummdreist zu sein und dadurch Gefahr zu laufen, daß seine Beine jäh den Dienst versagten, mitten im Gange der Schlacht, verfiel er darauf, sich einen neuen Stützpunkt zu verschaffen: indem er sich zuerst scherzhaft in die beiden Ohren des Burschen festhakte und sich dann beeilte, ihn abwechselnd und gemütlich auf die Schultern zu patschen. Und gleichzeitig heftete er von diesem Moment an – einer plötzlichen Idee folgend, die auf einmal in seinem eminent erleuchteten Gehirn funkensprühend aufstieg – unverwandt seine strahlenden Kristallblicke in Iwans Augen hinein! Sozusagen blendend, ihn ganz und gar verzehrend und aussaugend – um ihn darauf mit seinen eigenen, flammenden Absichten zu füllen und zu vergiften:

»Haha, mein liebster Freund!

Meinen berühmten ... und vertraulich zubereiteten Kognak hast du gekostet, wie?

Für den ich zwanzig Rubel für eine einzige Flasche zahlte – und der nur in klaftertiefen, dunklen Kellern abgezapft wird, drüben in Frankreich, in der Heimat des Lasters, weißt du wohl, von Leuten, von deren Sprache du auch nicht einen einzigen Muck verstehst, und die weder an den Zaren noch an den Popen glauben! Skopzerer und Adamisten alle zusammen, Teufelsbrut!

Und warum nicht?

Warum in Gottes Namen solltest du nicht ein wenig von dem Kognak nippen! Wie?

Haha!

Wohl hast du getrunken! Ich kann es ja an deinem plötzlich veränderten ... deinem auf einmal genesenen Atem, meine ich, riechen!

Von meinem arzneiwissenschaftlichen Kognak hast du gekostet! Weil du dich krank und müde fühltest – und glaubtest, daß er dich am Ende wieder frisch und fleißig machen würde! Deswegen trankst du davon, du Ärmster!

Und du warst also gar nicht bange, daß da ... daß da irgend etwas Merkwürdiges bei so einer teuren Flasche sein könne, die ich offen in meinem unverschlossenen Kleiderspind stehen ließ, wo ich doch sehr wohl wußte, daß du schon längst ein Auge darauf geworfen hattest. Du ahntest keine Spur von Angst? Du verließest dich blindlings auf mich? Du erinnertest dich an und für sich sehr wohl, daß Oberleutnant Lwow ganz ruhig, ohne Aufhebens davon zu machen, seinen Burschen totgeschlagen hat, weil er stahl – aber zu meiner Geduld besaßest du das Zutrauen der ganzen Welt! Was? Wie hübsch! Nicht wahr?

Und natürlich hast du auch vollständig richtig gehandelt, haha!

Das fehlte auch noch!

Aber gerade deswegen sage ich dir nun, hörst du, ich sage: daß ich von ganzem Herzen wünsche, daß dir die Schnäpse gut bekommen mögen – besser noch, als Lwows Fußtritte Herrn Mikael bekamen! Schmeckten sie dir, wie? Beachtetest du das feine und eigentümliche Aroma? Oder hast du etwa schon angefangen zu spüren, auf welche Weise dieser Kognak heilend wirkt?

Ach ja, mein Schnuckelchen: du warst krank, daher trankst du davon! Ich kann es dir ja noch ansehen, wie bleich du bist – oder bist du es etwa erst in diesem Moment geworden? Du hast auf alle Fälle eine Menge matter Punkte in deinen beiden Augen! Und da sind kleine gelbe Pickel und Flecke auf deinen Wangen: einer hier bei der Nase, und zwei da oben am Backenknochen! Willst du meinen Spiegel leihen? Oder willst du dich lieber selbst begucken, so wie du dich in meinen reflexierenden Blicken ausnimmst? Oder glaubst du vielleicht, daß der Arzt dir helfen kann – ebensogut wie er dem Burschen Mikael half?

Ach, die ganze Nacht bin ich also gezwungen, wach zu liegen und zu Gott zu beten: ihn anzuflehen, daß er dich stärken und erfreuen möge, dieser Branntwein!« Luschinskij strich ihm bekümmert über den Bauch, brannte seine strahlenden Augen noch ein Stück tiefer in die seinen hinein, steifte sich in den Knien auf mit aller Macht, lachte laut, und fuhr dann fort – immer mehr Kraft aus dem Anblick der Veränderungen saugend, die nach und nach in der Fratze des Schurken vorzugehen begannen – und beständig mit einem großen und mystifizierenden Nachdruck auf jedem einzelnen Worte redend:

»Ja! Möchten die Schnäpse genau so auf dich wirken, wie ich es wünsche und geplant habe – schon längst! So wie ich es dir auch versprochen habe, den ganzen Tag hindurch! Sage mir, kennst du die wahnsinnigen Wirkungen des Ta'Ngena? Dieser ... Medizin, die sie hierzulande soviel anwenden! Du hast doch davon reden hören? Sie entfaltet sich langsam und lieblich in einem, als wonnige Spirale aus Feuer und Geschrei – ist das nicht putzig? Und sie heilt erst nach dreitägigen, grenzenlos bezaubernden Empfindungen! Entsinnst du dich ihrer jetzt? Auf alle Fälle erinnerst du dich doch noch Kapitän Nikitjews von der ›Knjas Ssuworow‹, des Ärmsten, der neulich begraben wurde! Er hatte nur zwanzig Tropfen von diesem Labetrunk in sich hinein bekommen: Tag und Nacht lag er geifernd und schrie! Er wand sich wie ein Verrückter! Und er legte schließlich Hand an sich in Form einer Pistolenkugel! Er konnte es gar nicht mehr aushalten ... so verzweifelt war er darüber, daß er nicht noch eine kleine Dosis bekommen konnte! Haha! Glaubst du nicht?

Wie?

Entsinnst du dich der Geschichte?

Kanntest du ihn nicht dem Ansehen nach, diesen kräftigen Mann, breit in den Schultern wie ein Lastbaum – und er hatte also nur zwanzig kleine Tropfen von dem Ta'Ngena bekommen!

Aber wieviel große Schnäpse hast du verschlungen – von meinem ebenso seltenen Kognak?

Eh??«

Iwan stand da, mit den Händen um sich tastend, nach etwas, an dem er sich festkleben konnte, die Augen nach allen Seiten schweifend, bemüht, dem Blick des Oberleutnants zu entgehen, auf einmal graubleich im Gesicht, das Gehirn plötzlich gleichsam geblendet und blind von all dem Licht, das in des Offiziers Antlitz funkelte, den Mund weit aufgesperrt, so daß seine dicke Unterlippe herabhing und ihm bis in die Hasenscharte baumelte – auf eine sonderbar besudelnde und ansteckende Weise, die auf einmal Luschinskij verlockte, einen Augenblick dasselbe zu tun:

Und, sich ein jeder auf seine Seite des Mahagonietisches stützend, starrten sie eine Sekunde alle beide, spähend und schlingernd, einander an – als seien sie zusammen eine totbesoffene Mannsperson, die vornübergebeugt dastand, die Stirn gegen einen großen Rubinspiegel oder über einen tiefen roten Pfühl gestützt, und, ohne sich selbst zu erkennen, schäumend, gerade in das Bild hinein glotzte, mit den eigenen glühenden Augen.

Luschinskij fühlte währenddes, in seinem allertiefsten Innern, wie seine Worte und ihre Betonung bereits verschiedene Schrammen in irgend etwas in Iwans Innerm gerissen hatten – kleine bibbernde Fleischspalten, durch die allerhand herbe und bissige Ahnungen sich in den Burschen hineinzudrängen begannen, naßkalte und fieberhafte Empfindungen: als ob Iwan freilich sehr wohl an und für sich begriff, was die Worte des Offiziers bedeuten mußten, jedoch mit dem ganzen wirren und schreienden Schmerz seines Blutes sich weigerte, an dies sein eigenes Verstehen zu glauben, offenbar, weil es sich für ihn um Leben und Tod handelte! War da etwas Verkehrtes und Verdächtiges bei dem Kognak, den er getrunken hatte, oder war das nicht der Fall? – fuhr er augenscheinlich fort, sich selbst einmal über das andere zu fragen, sinnlos – in zu wahnsinniger Angst, um zu wagen, die Antwort aufzufassen, die er sehr wohl in jedem einzigen von Peter Romanowitsch' Blicken las!

Und dies Bewußtsein, sich also auf dem rechten Wege zu befinden, das belehnte Luschinskij mit noch einer neuen Dosis Stärke, so daß er gleich darauf seine Hände von dem Rande des Tisches entfernte, die Rechte nach dem Burschen hin ausstreckte und fortfuhr:

»Du treue Seele! Du Makelloser!

Reiche mir deine Pfote und laß sie mich über und über mit Küssen bedecken: Gott hat ja in seiner Gnade selbst ihr ein Zeichen seiner ganz besonderen Gewogenheit gegeben!

Du weißt ja wohl, Iwanlein: daß ebenso wie der Kaiser der Feinste von allen ist, weil es nur einen einzigen Zaren in der ganzen Welt gibt, so sind auch die Sechsfingerigen vornehmer als alle anderen in der Welt: weil es nur so wenige von ihnen gibt! Erst heute, mein Geliebter, erst heute bei Tische habe ich das zu wissen bekommen – sonst hätte ich mich dir ja längst gebeugt!

In meiner Ignoranz habe ich früher immer geglaubt, und es wohl auch zu dir gesagt, Gott bessere mich: daß gerade nur flennende Idioten, oder sabbelnde Trinker, oder die für das Schafott bestimmten Mörder auf die Weise gezeichnet seien, wie du es bist: das Kainszeichen, weißt du wohl, nicht wahr?

Aber keineswegs! Kéhé!

Ganz im Gegenteil!

Dr. Nakinskij selbst – der berühmteste Arzt von der Welt, derselbe, der Lwows Burschen so großartig half: der hat mir endlich die Augen geöffnet! Du Gottesauserwählter – so nannte er dich!

Und gerade daher bin ich so schrecklich bange geworden, daß der liebe Herrgott dich zu bald zu sich nehmen könnte!« Und bei jedem Wort sah Luschinskij – seine brillanten Augen grenzenlos in Iwans innerstes Wesen hineinbohrend – dies Phänomen, das er erwartet und erhofft und im voraus berechnet hatte! Das, was sein funkelnagelneuer und überirdischer Bonus in diesem Geschäft sein sollte! Das, was mit einem Schlage ihn mehr als schadlos halten sollte für alle die langen, unendlichen Wochen, wo er, trostlos, sich krank an Iwans Fratze gestarrt hatte!

Bei jedem Satz erkannte er, wie drinnen in dem schleimigen und pestvollen Trinkergehirn des Burschen diese schreiende und tödliche Vergiftung begann, dieses vollständige, verwirrende Eingenommensein von einer Zwangsvorstellung: Iwan begriff augensichtlich sehr gut, daß alle diese plötzliche Liebe in den letzten Bemerkungen des Offiziers ganz einfach nur eine neue Art des Ausschimpfens war! Denn der Oberleutnant meinte ja offenbar, so wunderbar und merkwürdig so ein Kunststück auch war, die ganze Zeit hindurch das gerade Gegenteil von dem, was er sagte! Herr Luschinskij log also, mit anderen Worten! Alles, was er äußerte, waren ganz einfach Lügen! Nicht wahr? Ja, gewiß! Und an und für sich konnte das ja auch ganz Wurscht sein: aber das Entsetzliche bei dieser Sache war ja: daß, wenn Seine Hochwohlgeboren dann gleichzeitig den Kognak heilend nannte – so war auch das ja in Wirklichkeit Unwahrheit! Nicht? Entweder lügt man – oder auch, man redet die Wahrheit!

Und gerade deshalb konnte all dies plötzliche Lob ganz und gar nichts anderes bedeuten, als daß der Branntwein, den Worten des Offiziers gerade entgegen, wirklich giftig war! Daß er das reine schiere Gift und Verderben war. Wie? Über allen Zweifel erhaben! Selbstredend! Oder warum fuhr der Herr Oberleutnant fort, einen so anzusehen? Seine Augen waren so grauenvoll und so blank! Überall, wohin man auch sah, starrten sie einen an! Man fühlte sie bis ins Herzwasser hinein! Und die ganze Zeit war es einem gleichsam, als murmele eine Stimme inwendig in den Augen: Gift – sagte sie ganz deutlich! Gift! Etwas, das Feuer und Geschrei war – flüsterte sie! Etwas, wovon man sterben würde – sagte sie und greinte! Sterben! Wie Kapitän Nikitjew! Sterben: in einen Sack eingenäht und dann ins Wasser geworfen werden! Hinunter zu diesen großen Fischen, denen der Mund auf dem Magen saß! É-é-é-é ...

Peter Romanowitsch wiegte seinen Kopf langsam nach rechts und links, ohne den Blick des Matrosen loszulassen – plötzlich aus Iwans Gebaren verstehend, daß noch mehr als alle die geplanten Worte und vorher bestimmten Handlungen es offenbar seine Augen waren, die ihm den entscheidenden Erfolg in dieser Sache bringen sollten! Er mußte inwendig lachen bei dieser Entdeckung, unten um seine Eingeweide herum. Es war eine Empfindung, als ob zehn, zwölf todeskrampfende Finger ihre schon eiskalten Kadavernägel in ihn krallten, die Kreuz und die Quere, längs einiger empfindsamer und munterer Rillen in seinem Bauch:

»Gott der Herr segne dich, du Begnadeter!« sagte er mit einer leisen Stimme, unwiderstehlich gelockt und gekitzelt, drauflos zu keilen:

»Sage mir einmal: jetzt spürst du doch die überraschenden Wirkungen meines wun–der–baren Ta'Nge ... oder Unsinn: Kognak, wollte ich sagen, in dem geschliffenen Kristallflakon?« flüsterte er. Er fuhr fort sich zu wiegen und zu starren, und konnte wieder und wieder in sich selbst merken, wie Iwans dicke Hirnschale im Begriff war, in die Höhe zu fliegen unter dem inneren Druck von allen den Verwirrtheitsblasen, die da drinnen barsten.

Er schwankte im selben Augenblick hintenüber, infolge eines plötzlichen und heftigen Schlingern des Fahrzeuges, und griff nach der Tischkante vor sich.

Da polterte der Schlag irgendeiner Sturzsee durch das Schiff.

Das Glas des Bullauges gerade vor ihm ward eine Sekunde brennend hellblau – und dann fiel der Donner mit einem Krachen herab, prasselnd, hinbullernd, wiederkehrend, murmelnd.

Iwan war bei dem Knall vornüber getaumelt.

Er stand zusammengekrümmt über der Lehne des festgeschrobenen Stuhles.

Als er sich wieder aufrichtete, sah er den Oberleutnant, der seine rechte Hand erhoben hatte, mit drei Fingern gen Himmel zeigend, starrend, die linke Schulter gegen die Wand gepreßt:

»Hörst du, Iwan!« sagte er, ganz leise, mit einem Schaudern, mit einem plötzlichen Zucken im Gesicht, seine galoppierenden Hände faltend und sie nach besten Kräften vorstreckend. »Hörtest du die Stimme, die rief: die deinen Namen rief! die große Stimme?

Du Sohn Gottes!

Beeile dich, ehe du ... heimgehst, mir all das unsagbar Böse zu vergeben, was ich dir heute abend angetan habe!

Ich flehe dich darum an!«

Und Peter Romanowitsch erriet – sozusagen Iwans Augen und Stirn mit seinen scharfen Blicken quer spaltend, und darauf seinen ganzen Kopf noch weiter vorlehnend, durch diese blutroten und heulenden Höhlen – bebend vor grenzenlosem Entzücken und einer Kraft, die er hunderte von Malen stärker empfand als während des Kampfes mit Gorkin: wie ein Darmgeschlinge von Greinen, wie einen tründelnden Bruchklumpen von Lachverzerrung da drinnen in ihm – er begriff, wie sein Schlachtplan bereits in seinen weitesten Konsequenzen geglückt war!

Er erkannte, wie sein ganzes Wesen hier heute abend Iwan plötzlich bewiesen hatte, zum erstenmal in dem Leben des Burschen, welch' nachterfüllter, unüberschreitbarer Abgrund, welche gespenstergebärende, unüberbrückbare Schlucht sich in Wirklichkeit zwischen ihm selbst, dem Matrosen, dem Bauer, ihm, der nur mit Grobheiten angreifen und sich nur mit Diebstählen verteidigen konnte – und auf der anderen Seite dem Oberleutnant, dem Offizier, Generalssohn, bestand, der so viel mehr vermochte:

Es war eine ganz neue, eine nie zuvor geahnte Weltenweite, die flammend vor Iwans Blicken offen gespalten wurde und ihn in einem Nu blind sengte – als starre er ohne Augenlider in eine Sonne hinein!

Iwan entdeckte in dieser einen Sekunde auf einmal, daß die Erde unendlich groß war – und er fühlte sich sichtlich eiskalt und jammervoll allein und einsam in diesem unermeßlichen Raum.

Iwan begriff – freilich nur dunkel, aber gerade deswegen auch um so unwiderlegbarer –, daß das Leben Kenntnisse und Fähigkeiten besaß, Zaubergaben sozusagen, von denen er sich früher nicht einmal hatte träumen lassen; in deren Handhabung sich jedoch Luschinskij plötzlich als Meister erwies!

Iwan schwand in einem Nu hin, fühlte sich als ein unendlich kleines und sterblich waffenloses Wesen in einer ungeheuren Kuppel, einem überirdischen Feind gegenüber!

Oberleutnant Luschinskij stieg mit Blitzesgeschwindigkeit und mit dem Donnerkeil in der Hand zu der Höhe eines allmächtigen Gottes empor!

Derjenige, der sich über Himmel und Erde verbreitete!

Ein alles in aller Welt vermögendes Wesen!

Der Einzige!

Der, der das Gewitter zu seiner Hilfe rief – nur indem er sagte: heute abend! Der, der den köstlich mundenden Branntwein in tödliches Gift verwandelte –, nur indem er einen anstarrte, lachend und flüsternd: er macht dich gesund! Der, dessen Augen zu Schwert und Säbeln wurden – wenn sie nur den Wunsch hegten, quer durch einen hindurch zu sehen! Der, der einen zur Beute des Todes machte: ganz einfach, indem er um Verzeihung bat, so wie man es nur einem Sterbenden gegenüber tut! Der, der, mit anderen Worten, die Macht besaß, alles auf und nieder zu kehren, ganz nach Belieben! Leben und Tod waren in seiner Hand! Er war ein sonnenverfinsternder Fürst, gegen den anzukämpfen im voraus greinend, teufelisch, desperat hoffnungslos war ...

Iwan sank förmlich in den Knochen zusammen.

Sein Rausch barst einen Moment, um gleich darauf wieder, von neuem erschaffen durch Luschinskijs gaukelnden Diamantblick, noch dichter um ihn zusammenzuschlagen, ihn in Mark und Blut durcheisend.

Der Unterkiefer fiel tiefer hinab.

Sein Atemzug stockte fast, und saß wie ein scharfes Messer in seinem Halse: oder waren es etwa schon die beginnenden Zauberwirkungen von des Oberleutnants Worten, den Kognak betreffend?

Er fühlte ein gurgelndes Kochen in seinen Ohren, als wandere er – plötzlich wieder ein Kind – durch eine unendliche Nacht, inwendig heulend, vor den Schrecknissen, die er rings um sich her ahnte! Oder hatte vielleicht Herr Luschinskij, zusammen mit Gott dem Herrn Zebaoth, ihn mit einem verkehrten Gehör geschlagen? Wie? Hörte er fremde und lügenhafte Dinge: so wie sein Vater damals im vergangenen Jahr – daheim auf dem Fußboden umherkrabbelnd, sich todheulend vor Trunk – bei Tag und bei Nacht alle diese fürchterlichen und teuflischen Dinge gesehen hatte, die sonst niemand entdecken konnte? Oder war es am Ende Seiner Hochwohlgeborenen giftiger Kognak, der da unten im Bauch blasentreibend und verbrühend einem seine Dämpfe durch die Ohren hinausschrie?

Ein prickelnder Schweiß drang durch die Haut bei Iwans Nase: waren etwa auch das die beißenden Dünste von diesem verzehrenden Gift, das er tödlich leichtsinnig genug gewesen war, selbst in sich hineinzutüllen?

Er fühlte seine Beine gleichsam unter sich fortschmelzen, als sei er das kleine wächserne Heiligenbild von daheim, das er einmal als Knabe in wahnsinnig frevelhafter Entweihung auf eine glühendheiße Ofenplatte gestellt hatte, um zu sehen, was geschehen würde? Oder war es möglicherweise sein Taufgelöbnis, das reißend aus ihm herausrieselte, hinab in die Erde und die Hölle, und ihn ganz unbeschützt zurückließ?

Er schwankte auf dem Fußboden; ohne zu wissen, ob es das Schiff war, das mehr als bisher rollte – oder war es schon der Teufel, der seine Fersen gepackt hatte und ihn zu sich hinabziehen wollte in einen Pfuhl von Schwefel und Feuer und Geschrei ...

Aber als Iwan bis hierher gelangt war, war da auf einmal irgend etwas in seinem allertiefsten Innern – etwas, das gleichsam nach und nach unten im Grunde von ihm zusammengeströmt war, aus den Schmerzen selbst und der Angst in seinen Armen und Beinen, im Bauch und im Herzen und im Kopf – etwas, das nun versuchen wollte, elendiglich einen letzten Versuch zum Widerstand zu machen: weil sich dies hier wirklich für ihn um Tod wie um Grab handelte!

Er wollte nur dies eine einzige Mal versuchen – nicht wohlbehalten aus dieser Geschichte hervorzugehen, denn das war ja selbstredend unausführbar, aber auf alle Fälle auch den Oberleutnant mit sich zu ziehen, so weit wie möglich!

Er wollte alle Rücksichten über Bord werfen!

Er wollte seine Grobheit und Frechheit über alle annehmbaren und menschlichen Grenzen hinaufschrauben! Er wollte von unten herauf mit Luschinskij selbst wetteifern in Unerreichbarkeit und Allmacht:

»É-é-é-é ...« lallte er deswegen, wie eine Art Lachen, und es gelang ihm eine Sekunde lang, sein ganzes Gesicht, das plötzlich hüpfende und blaukalte Flecke ringsumher im Fleisch bekommen hatte, zu dem Offizier emporzuwenden:

»I' meld' di', weil du mi' Gif' gegeben ha' ...

Wei' du mi' Gif' ...

Wei' du mi' ...«

Mehr vermochte er nicht zu sagen.

Denn er hatte schon jetzt gesehen, an des Oberleutnants Sonnenaugen, daß auch dies letzte mißglückt war: daß es vollständig für das ganze Leben, daß es ganz und gar für ihn aus war!

Denn Seine Hochwohlgeboren breiteten seinen güldenen und blendenden Blick noch weiter aus – über sein ganzes Gesicht breitete er ihn, so daß das ganze Antlitz licht und sengend schimmerte, als sei er in Wahrheit auch körperlich der allmächtige Gott-Vater selbst:

»Du willst mich melden – sagst du?

Aber hast du denn völlig vergessen, daß Oberleutnant Lwow freigesprochen wurde – und daß Dr. Nakinskij Mikael weder Essen noch Trinken gab? Daß Lwow gelobt – und daß Mikael langsam zu Tode gehungert wurde? Und deine Kameraden, die dich hassen und übel von dir reden – erinnerst du dich auch ihrer nicht mehr? Oder Gott der Herr, der das Kainszeichen auf deine beiden schuldtropfenden Hände drückte? Wer, glaubst du mir, würde sich um dich kümmern? Niemand auf der Welt wird auch nur einen Finger erheben, um deinetwillen! ...

Oder meintest du etwa naiverweise, daß du mich verklagen wolltest, weil ich dir nur ein paar einzelne Schnäpse von der heilenden Medizin gegeben habe?

Jawohl!

Dann verstehe ich dich!

Du hast recht: ich hätte dir längst die ganze Flasche geben sollen! Denn dann wärest auch du der Wirkung ganz sicher gewesen! Natürlich! Von deinem unwissenden Standpunkt aus ist es ganz berechtigt, daß du dich beeinträchtigt glaubst! Aber sei du nur ruhig! Ich gebe dir mein Ehrenwort darauf: daß die ganze Sache keinem Zweifel unterliegt! Denk' doch nur an Kapitän Nikitjew, der bloß zwanzig Tropfen bekam!

Aber trotzdem will ich Rücksicht auf deine bescheidenen Einwendungen nehmen! Zu allem bin ich bereit!« Und Luschinskij fand in seinem Triumph Kräfte genug, seine rechte Hand von der Tischkante wegnehmen zu können, wo er sie festgeklemmt hatte.

Er riß die Spindtür mit einem Ruck auf. Beugte sich vornüber. Ergriff die Kognakflasche, die noch nicht halb geleert war. Nahm das Wasserglas aus dem runden Loch, in dem es steckte, und schenkte es darauf schnell, über alle Ränder verschüttend – seinen Rücken gegen die Wand stemmend, auf den Füßen tanzend, um das Gleichgewicht halten zu können, bis oben hinan voll:

»Da!« sagte er, dem Burschen den Becher reichend, seine Augen in seinen Kopf hineinschraubend, ein Lächeln um seinen Mund spreitzend, mit klatschnassen Fingern: »Da, trink'!

Jetzt!

Sofort!

Ganz aus!

Während ich dir zusehe!

Dann weiß ich doch, daß es niemals seine Wirkung verfehlen wird!

Trink', sage ich dir!

Worauf wartest du noch? Haha! Nun! Runter damit! Oder versuchst du wirklich noch, dir selbst einzubilden, daß du nicht vollkommen bereit bist, jegliches zu tun, was ich in diesem Augenblick von dir verlange?

Und wenn es der Tod selbst wäre, den ich dir böte! Ehe! So! Das war brav! So! Noch ein ganz kleiner Tropfen ist da in dem Glas: weg damit! Runter in den Hals, mein Freund, in den Magen, ins Blut, ins Herz ...

Und dann verschwinde!

Raus mit dir!

Morgen, vor Mitternacht, oder auf alle Fälle, ehe der Hahn daheim zum dritten Male kräht, wirst du das Ganze begreifen! Das schwöre ich dir zu! Sagte ich dir nicht schon längst, daß Wladimir Grigoriewitsch, dein Zwillingsbruder, ein Selbstmörder war? Und daß du Mikaels baldiger Nachfolger seiest? Wie Feuer und Brüllen, sage ich dir, wirkt es! Denke an Nikitjew, den Männlichen, der es nur zween Tage ertragen konnte!«

Und der Anblick von Iwans Gesicht, plötzlich auf der Stirn treibend, um Nase und Mund tropfend von dem Branntwein, der übergelaufen war, während er mit hüpfenden Händen nicht einmal wagte, sich dem Befehl zu trinken zu widersetzen –, obwohl er sich flennend überzeugt fühlte, daß es Gift war, jeder einzige Tropfen: all das verschaffte Luschinskij eine so mächtige innerliche Kraft, daß er auf einmal seine linke Hand zum Himmel erheben und gleichzeitig mit der anderen vor sich hin zeigen konnte. Er riß seine Augenlider noch weiter auf als bisher, so daß er selbst das Weiße um die Pupille sich wie einen grenzenlosen Ring um seinen sonnenähnlichen Blick zeigen fühlte. Er erhob seine Stimme, so daß sie in dem Räume donnerte:

»Geh'!

Lösch' dich aus!

Du hast einen einzigen Tag übrig!« – – –

 

In dieser Nacht schlief Peter Romanowitsch spät ein.

Der Wind hatte noch mehr zugenommen, das merkte er.

Das Schiff rollte über die Wellen hin, versuchte jeden Augenblick, sich auf den Rücken zu werfen, das Schweinebeest: als sei da irgendeine allesbeherrschende Riesenfaust, die sich verlustierte, es in den innersten Teilen zu betasten!

Von allen Seiten kam ein tiefes und heiseres Klirren und Brummen – hin und wieder überbrüllt von dem Schlagen der Wellen.

Luschinskij hörte die Luft, die beständig juchzend durch die Takelage wanderte. Oder er unterschied ihr knurrendes Dröhnen in den Schornsteinen.

Und jedesmal, wenn die Koje gleichsam unter ihm schwankte, während das Waschgeschirr dort in dem Waschtisch klirrte und rasselte – stimmte er ganz leise ein in diesen lustigen Lärm:

»Kéhirrr! Haharrr! Rrrr!«

Er lag auf dem Rücken, seinen roten Schnurrbart oben über dem Rande der gelblichen Decke – als seien es zwei hautlose Mäuse, die sich dahinauf gerettet hatten, aus irgendeiner schleimigen Überschwemmung auf dem Boden des Schiffes, und nun saßen sie, keuchend, die Schnauzen dicht nebeneinander und pusteten ihm gerade unter der Nase, zum Kuckuck auch, er spürte ihren warmen und stinkenden Hauch!

Im übrigen aber lächelte er fröhlich in die Dunkelheit hinein: denn er konnte die ganze Zeit hindurch Iwan buchstäblich vor sich sehen!

Kä!

Jawohl!

Oder er konnte ihn auf alle Fälle hören, drinnen in den mehr inwendigen Teilen aller der Laute, die von da draußen aus dem Schiffe her kamen.

Der Bursche schlief sicher auch nicht, in dieser scharmanten Nacht!

Nei–ein!

Herr Iwan lag gewiß im Bett und wälzte sich, das tat er. Bei jedem Platschen der Wellen hüpfte er wohl in der Koje in die Höhe auf seiner wunden Kehrseite, so daß man es ganz bis hierher hören konnte, wie sein Rückenmark röchelte! Haha! Er war ganz absolut feuerheiß und schreivoll und vergiftet, das war der brave Bursche, nach den feinen kleinen Andeutungen bezüglich des medizinischen Wertes dieses Kognaks – und infolge der scharfkantigen Metallblicke, die man ihm meilenlang ins Gehirn, ins Herz wie in den Magen getrieben hatte!

Vielleicht war es einfach Iwans fließendes und selbstverderbendes Flennen, das jetzt quer durch den Kasten hin heulte? ...

Iwan starrte sicher unverwandt zu der Decke empor, bis an den Rand voll von Suggestionen, zitternd von Fieberdelirien, so daß das ganze Deck mit erbebte! Nicht wahr? Wie?

Ja!

Iwan lag sicherlich stöhnend und sabbelnd und verlor an allen Ecken und Enden Flüssigkeiten – vielleicht kam es schließlich geradezu von ihm, all das Platschende und Quatschende und Sickernde da draußen! Selbstredend! Gewiß! Kein Zweifel in bezug auf die Sache! Ja! Jawohl! Von Iwan – all dies Plätschernde hier dicht neben einem!

Von Iwan – all dies Bubbelnde und Rote, das ...

Ja! ...

Ké! ...

Iwan! ...

Jawohl! ...

Kissssss! ...

Und damit schlief Luschinskij ein.

Hin und wieder fuhr er aus dem Schlummer auf, mit zweiunddreißig Zähnen um sich her greinend, über die Bilder, die er im Traum geschaut hatte.

Und hastig klemmte er seine Lider wieder zu, um von neuem Iwan vor sich zu sehen: der Bursche, ganz und gar aufgelöst in einen unendlichen Ozean von Mundtropfen, Flennwasser und Fäulnis, schwellend und schwanger von maßlosem und unheilbarem Jammer, seine Worte in großem Aufklatschen von sich spritzend, um Gnade zu erflehen, hin und wieder unterbrochen von dröhnendem Todesbrüllen – lallend und flüsternd und meerschmatzend und schraubenbullernd vor Qual und Grauen und Zähneknirschen und Röcheln!

Aber hinter dem Ganzen segelte Peter Romanowitsch selbst, hoch oben in fliegenden Wolken. Er sauste zischelnd dahin, schwang sich hin und wieder mit fast flötendem Gekicher in die Höhe.

Seine Blicke flammten sengend und lichtblau hervor, hier und da, in großen dolchenden Zickzacks.

Und sein Lachen rollte wie eine Gottesstimme durch den Raum!

Alles zerschmetternd.

Krachend.

Siegreich.

 

Am nächsten Morgen, Sonntag, machte der Sturm Anstalt, sich zur Ruhe zu legen.

Gregorow hatte Funkenbefehl erhalten, daß die Übung unterbrochen sei: er solle dahingegen auf die Reede von Nosi-Bé gehen und sich mit den gewöhnlichen deutschen Kohlen füllen. – – –

Peter Romanowitsch sprach heute ganz und gar nicht mit Iwan. Sah nicht einmal in irgendeiner Weise nach der Seite hin, wo er sich befand.

Das heißt: eine besonders heiße Gelegenheit war da freilich, bei der sich Luschinskij ganz einfach nicht kühl zu verhalten vermochte. Und zwar mit Recht.

Das war nämlich während des in jeder Beziehung außerordentlichen Gottesdienstes, der stattfand in Anlaß vor und unmittelbar nachdem die vergänglichen und bereits recht unbedeutenden Hungerreste des respektlosen Mikael, Lwows Burschen, in tiefem Schweigen über Bord gesenkt worden waren.

Die Messe wurde, ausnahmsweise einmal, sehr konsequent unten auf dem entsprechend beklommenen Mannschaftsdeck abgehalten, wo ein Altar im Hintergrunde errichtet war – rot wie eine Schleimhaut, von seinem Sammet.

Unteroffiziere und Gemeine – an deren aufrührerisches Sinnen und Treiben, diese Schurken, die ganze Rede ja mit Nachdruck und Wärme gerichtet war – füllten drei Viertel des Raumes, kniend zusammengestaut in einer Menge von Reihen dicht hintereinander, alle wie ein Mann die behaarten Nacken aufwärts gewendet, so daß das Ganze einem ungeheuren und rauchenden Tierfell glich, das, frisch abgezogen, bibbernd und bubbelnd über dem Fußboden lag.

Herr Woldugirow, der hochehrwürdige Zelotenpope, stand da vorne, vor ihnen allen – vor Mannschaft wie Offizieren – mager wie ein Skelett, phosphoreszierend mit seinem weißen, gefurchten Gesicht über dem Bart, der sich ihm wie Ruß die Brust hinabwälzte, die Stirn quergespalten von der schwarzen hohen Mütze, die beiden zitternden Hände in die Höhe hebend, so daß die Ärmel an seinen Schultern herabglitten und die Arme da oben in der Luft wackelten wie zwei gelbe Stangen aus Qualm. Hinter ihm wehten die vierzehn blutigen Flammen in den goldenen Leuchtern, als seien da Löcher bis zu dem inwendigen Feuer in ihm hineingebrannt.

Zwanzig Minuten schluchzte, raste, stotterte er dort; seine rauchenden Fackelaugen durchsengten den Raum; seine heiligen Flüche äscherten die Mannschaft vom Scheitel bis zur Sohle ein.

Aber dann sank seine Stimme schließlich herab. Er faltete die langen Finger vor sich in der Luft:

»Versteht Ihr es jetzt?« sagte er, langsam, während ihm der rote Mund mitten im Gesicht flammte. »Begreift Ihr es, daß Euer einziger Weg zur Erlösung die grenzenlose Macht des weißen Zaren ist! Nur er kann seine gesalbte und gesegnete Hand ausstrecken und Euch sagen:

Gehorchet mir, dann wird die Hölle Euch nicht erreichen können!

Folget mir, und Euer Leben hier auf Erden wird lang und licht sein, Eure Tage werden sich in Freude sammeln!

Liebet mich, dann wird des Paradieses namenlose Seligkeit Euch in ihren Schoß aufnehmen, Gottes lächelnde Augen werden Euch zu sich rufen, Gottes riesengroßes Herz wird Eure Heimat und Euer Haus sein!« –

Woldugirow faltete seine Hände und spannte sie über seine Brust. Sein Antlitz leuchtete empor. Seine kohlschwarzen Augen waren hellblau vor Glut.

Die Nacken der Mannschaft richteten sich auf.

Ein sehnsuchtsvolles Seufzen und Schluchzen ging von ihren Reihen aus.

Aber dann wechselte das Antlitz des Popen abermals:

»Das Paradies?! Ewigkeiten von Glückseligkeit?« sagte er, und seine Stimme war plötzlich wieder heiser geworden, sein Atem kroch stöhnend durch seine Worte hin, er riß seine Hände voneinander los und ertränkte seinen Kopf darin. »Wie wage ich es, von dem Reich Gottes zu Euch zu reden?

Zu Euch, die ihr besudelt seid von Tempelschändung und Todsünde! Zu Euch – die Ihr vermessen gegen Gott den Herrn, den Ewigen, selber gemurrt habt! Wehe Euch! Ihr, die Ihr vergessen habt, daß, so wie der Kaiser heilig und unverletzbar ist, weil er Gottes Statthalter hier auf Erden ist, so sind auch Eure Offiziere geheiligt: weil sie die Werkzeuge des Zaren sind! Weil sie die Diener von Gottes Diener sind! Und gegen sie habt Ihr Eure Hand erhoben? Ihr habt Eure Zähne gegen sie gefletscht? Und zu Euch habe ich von der grenzenlosen Wonne des Himmelreichs geredet?! Von seiner ewigen Freude?!

Rase ich denn?

Habe denn auch ich selbst einen Augenblick vergessen, wie Ihr gehandelt habt?

Erinnere ich mich gar nicht mehr, daß jeder einzelne Matrose, von dem ein Offizier den Blick abwendet – daß sein Weg dunkel wird! Ein jeder, gegen den sich das Herz eines Offiziers wendet – sinkt in unsagbaren Jammer hin! Jeder, über den der Mund eines Offiziers Flüche spricht – dessen Seele ist gnadenlos verloren, fahl vor Grauen wandert sie, händeringend hinab, ewig hinab, hinab zu der ewigen Qual!

Sehet, Matrosen – ich lache über den Schmerz, den Mikaels Tod in Krankheit und Hunger ihm bereitete! Denn nichts ist diese Pein zu rechnen – gegen das, was seiner harrt!

Sehet, Matrosen: aber mein Mund erblaßt, wenn ich den Namen Hölle nenne! Meine Blicke schwanken und fallen wie verkohlt zu Boden, meine Hände zittern und brennen, mein Herz schreit und wird weiß!

Denn kein Lebender hat jemals erfaßt, welchen maßlosen Jammer die kochende Tiefe für die Seele des Empörers aufspart!

Mit sengendem Feuer wird sein Name aus dem Buch der Tage gestrichen!

Sein Leben fällt den ewigen Schrecken anheim!

Gott kennt ihn nicht mehr! ...«

Peter Romanowitsch preßte seine Hände zusammen und stotterte, er fühlte sein Herz sich wie Flammen regen – und ohne es zu wissen, wandte er eine Sekunde seine Blicke dem Burschen zu:

Iwan lag mitten in der dritten Reihe der Matrosen, Sein Gesicht war erhoben, blasig weiß, die gaffende Spalte der Augen schwarz.

Als er Luschinskijs Blick spürte, sprangen seine Arme über seinem Kopf empor.

Aber gleich darauf barst sein Mund auf. Sein Nacken knickte hintenüber. Seine Hände, Gesicht und Schultern verschwanden nach unten. Als sei er auf einmal ertrunken. Ausgelöscht. Als sei sein Tag zu Ende ...

Peter Romanowitsch riß seine Augenlider mit einem Ruck zu und fühlte sie naß.

Eis ging über seine ganze Haut:

»Ja!« flüsterte er plötzlich, sein Kinn gegen die Brust pressend. »Gott sei dir gnädig, Iwan!

Verzeihe du auch mir!

Amen!« ...

 

Den meisten Teil des Tages verbrachte Peter Romanowitsch also in Schweigen und heiliger Einsamkeit, unten in seiner persönlichen Kammer.

Eingedenk der Worte des Popen von der Allmacht der Offiziere, war er weitblickend und vorurteilsfrei genug, augenblicklich – gleich nach der Predigt –, sicherheitshalber das Flakon zu zerschlagen, aus dem Iwan getrunken hatte. Kähä, hol' mich der Teufel, selbstredend war man keine Spur abergläubisch, aber wer konnte wissen? Vielleicht war es wirklich wahr, daß der Kognak zu Ta'Ngena geworden war, nur weil er dem Burschen gegenüber so etwas angedeutet hatte! Und dann war es doch ganz überflüssig und zwecklos, etwas zu riskieren, indem man die dumme Flasche aufbewahrte! Hä! Wie? Nicht wahr? Hahaha! Ja-ja: Gottes Wille geschehe! ...

Schon früh am Vormittag war Luschinskij übrigens so glücklich gewesen, eine wichtige Verabredung mit Kapitän Kabartschnick, dem Souschef des Admirals, zu treffen – der kam und ihn an den Rapport über den Gang der Übung erinnerte, den Peter Romanowitsch dem Oberbefehlshaber abliefern sollte.

Luschinskij war anfänglich in hohem Grade bestürzt über diese Mahnung, selbstverständlich: Kä, sagte er, und entdeckte erst in dem Moment, daß er die törichte Angelegenheit ja schon längst vergessen hatte.

Aber dann erinnerte er sich gleichzeitig einiger Äußerungen, die er hier und da gehört hatte bezüglich des ungewöhnlichen Entgegenkommens und der Kameradschaftlichkeit des Souschefs.

Und fünf Minuten später war die Sache ganz richtig in Ordnung gebracht: Peter Romanowitsch brauchte, weiß Gott, den albernen Rapport ganz und gar nicht abzuliefern! Keine Spur, lieber Freund, der Kapitän wollte ganz einfach zu dem Admiral sagen, er habe selbstverständlich ein größeres Schreiben von Oberleutnant Peter Romanowitsch Luschinskij erhalten, und er habe es ja auch persönlich weiterbefördert, an Eure Exzellenz selbst, in einem großen, gelben Briefumschlag, ich sehe das Ganze so deutlich vor mir, Herr Admiral, Sie saßen ja hier auf dem Stuhl, als ich es Ihnen reichte: Vielen Dank, lieber Kabartschnick – antworteten Exzellenz mir mit der gewöhnlichen Liebenswürdigkeit meines hohen Chefs –:

»Ei natürlich, lieber Luschinskij!« fuhr der Kapitän fort, mit seinem Whisky- und Champagneratem Peter Romanowitsch in sein Gesicht hineinnickend, den Rand seines Mützenschirms in kleinen Dickediks gegen seine Nasenwurzel lehnend, kichernd: »Seien Sie unbesorgt! Beim heiligen Nepomuk, was glauben Sie übrigens, daß der Admiral oder ich uns aus den verfaulten, Berichten machen!

Ich lade den Chef zu einer Veuve Cliquot ein (das Schaf, er trinkt sie leider un-frappiert: ist das Raffinement oder Dummheit, frage ich mich selbst!) – und damit ist die Sache aus der Welt!

A propos Bouteille: haben Sie zufälligerweise fünfzig Rubel bei sich? Sie sollen sie morgen wiederhaben!

Tausend Dank! Ein Hundertrubelschein? Sie haben keine kleinere Summe bei sich? Krösus! Gut – in fünf Minuten werde ich ihn gewechselt haben! Übrigens: Sie verstehen ja, daß all das, was ich von dem Admiral sagte, natürlich nur Scherz war!

Selbstredend kümmert sich unser hoher Chef in eminentem Maße um die Rapporte von seinen Offizieren! Er wartet sozusagen in Spannung auf den Ihren! Schon mehrmals hat er, sich die Hände reibend, mich daran erinnert – ich sehe das Ganze komplett vor mir: Nun, sagte er noch gestern abend, er saß auf seinem Stuhl vor dem Schreibtisch, Sie wissen: Nun werden wir wohl bald ein größeres Opus von unserem lieben Peter Romanowitsch Luschinskij bekommen!? sagte er.

Jawohl, Euer Exzellenz – antwortete ich mit einer Verbeugung ...

Freilich!

Der Admiral freut sich unendlich!

Es tut mir fast leid um ihn, daß wir ihn nun zum Narren haben!

Aber seien Sie, wie gesagt, nur unbesorgt!

Lieber Luschinskij: sehen Sie, ich notiere hier in mein Taschenbuch, daß ich heutigen Datums diese hundert Rubel von einem lieben Freund geliehen habe! Schreibe einhundert R.u.b.e.l, nicht wahr? Ordnung muß in allen Dingen sein – und wenn ich zufällig ... davongehen sollte, so haben Sie also dies Stück Papier, an das Sie sich festhalten können!« ...

Infolge dieses militärischen Arrangements packte also Peter Romanowitsch schleunigst möglich Seekarte, Meldungsquatsch und Dokumente zusammen, placierte das Ganze mit Sorgfalt auf den Boden seines Kleiderspinds und verbrachte die Zeit auf seinem Sofa, beständig halb schlummernd und dösig, das Gehirn sozusagen ein paar Fuß über täglichem Wasserstande schwebend – aber, abgesehen von diesem bißchen Schwindel, im übrigen strahlend behaglich im tiefsten Innern, infolge des glücklichen Ausganges, den alles in diesen Tagen für ihn genommen hatte:

Heilige Jungfrau, wie beliebt? Möchte Herrn Woldugirow ein seliges Ende beschieden sein, einstmals, wenn er nicht länger mehr leben will, der Engel, wie er es verstand, seine Worte zu belegen! Ein kluger Mann, weise und tief! Durchaus nicht ohne Kenntnis des inneren Zusammenhanges der Dinge! So war es vollständig richtig, was er sagte, daß die Offiziere (die ja, durch den Zaren, Gottes Stellvertreter hier auf Erden, nach schwachen Kräften, wären) immer und ewig an das wirkliche seelische Wohl der Matrosen denken müßten – statt sich durch körperliches Mitleid und dergleichen verblüffen zu lassen! Gradezu ins Blaue hinein sei es, wenn man sein eigenes Verantwortungsgefühl durch Süßlichkeiten nach der Richtung hin zerstören wollte! Durch und durch wahr, jedes Wort, was der Pope gesagt hatte! Zwanzig-, nein fünfzigfach würde Peter Romanowitsch sowohl Gorkin als auch Lwow in dieser ganzen Sache mit Iwan verdunkeln, nicht wahr?

Vielleicht könnte man geradezu aus Herrn Woldigurows Rede schlußfolgern, daß es unter diesen Umständen in erster Linie Peter Romanowitsch' Verdienst sein würde, wenn Gott dem Geschwader gestattete, wohlbehalten heimzukehren! Wenn die Armada, möglicherweise schon an einem der ersten Tage, auf einmal auf den Hinterbeinen herumschnurrte, die Nasenlöcher aufsperrte und mit voller Pferdekraft spornstreichs nach Hause bäumte!

Hahaha!

Wie? ...

 

Unten in der Messe, wo die Offiziere an diesem Nachmittag und Abend verschiedene Stunden saßen – frei von Dienst in Anlaß der Unterbrechung der Übung –, ertappte sich Luschinskij mehrmals dabei, daß er aus aller Macht lauschend dasaß: als erwarte er von Minute zu Minute das Geräusch irgendeiner Vorbereitung aus seiner Kammer her zu hören.

Jedesmal, wenn der Vordersteven Boden und Wände in die Wellen hineinsetzte, durchzuckte ihn ein Stoßen und Knacken, er knickte den Kopf hintenüber und hüpfte ein wenig in die Höhe – als sei jäh ein Schuß dicht neben ihm abgefeuert.

Aus diesen Gründen hatte er natürlich nicht so recht Zeit, den Kameraden zuzuhören, die heute so beredt waren: weder Praxin, der, wie gewöhnlich, seit dem definitiven Übergang der Bogduroffs, einen der Jungen gefaßt hatte und ihm Moral predigte. Ebensowenig Starck, der, die Stirn von Schweiß knospend, sich mitten in einer wunderbaren Geschichte von Madame Mura–o–a befand, dieser gelben Flamme von Bastardmädchen, einem wunderbaren und allesverzehrenden Brandschoß! ... Endlich lauschte Peter Romanowitsch auch Lwow nicht, der, selbstredend, mutterseelenallein dasaß, sich vor Greinen und Hicksen auf die Lenden schlug, und unaufhörlich davon flüsterte, wie sein Bursche hätte behandelt werden müssen, wenn er noch lebte, dieser Neidhammel von Selbstmörder! ...

Ach nein!

Luschinskijs Ohren und seine privaten Gedanken waren an einem weit bessern Ort!

Einen Moment erinnerte er sich, in diesem Zusammenhang, wieder der Begebenheit mit Kapitän Nikitjew von der »Knjas Ssuworow«, dieser berüchtigten Kratzbürste, dieses Matrosenfressers, den er – freilich mit etwas anderen Epitheta – gestern vor Iwan hervorgehoben hatte, als Beispiel für die Energie des Ta'Ngena-Giftes!

Jawohl, diese Affäre hatte sich ja alles in allem folgendermaßen zugetragen:

Daß der Kapitän eines schönen Morgens neulich voll von Erbrechen aufgewacht war, alle Gelenke treibend von Geschwüren, und unaufhörlich heulend. Sein verdammter Bursche hatte nämlich – wie es sich bei den Verhören ergab: bei irgendeiner gemeinen Ramatoadirne drinnen in Nosi Bé, die von des Matrosen starken Schenkeln und anderen entsprechenden Wohlproportioniertheiten bezaubert war: dort also hatte der Bursche ein Rezept von diesem vielbesprochenen Ta'Ngena aufgeschnüffelt, und hatte es dann so schnell wie möglich an seinem Offizier ausprobiert: wirr im Kopf von der Wärme, von längst aufgesparten Vergeltungsgelüsten, sowie von den Anstrengungen, die das Glück, das er bei der Dame gemacht, im Gefolge hatte!

Peter Romanowitsch hatte selbst zufälligerweise Gelegenheit gehabt, den Kapitän ein paar Stunden nach seinem Tode zu beschauen: oben in der Schläfe saß das blaue Loch von dem Revolverschuß, mit dem er die Wirkungen des Giftes unterbrochen hatte; aber abgesehen davon war jeder Fleck seiner Haut mit einer wunderlichen Spucke von gelbem Fluß und grünem Blut überzogen, und sein weitgeöffneter Mund glich am meisten einem Eimer mit kohlschwarzem und blankem Kloakenschlamm: Sie wissen, der, der so höllenmäßig stinkt! Ein einigermaßen unvergeßlicher Anblick – und ein ewig zu erinnernder Geruch! Mir schauderte, hol' mich der Teufel, als ich ihn splitternackend daliegen sah auf dem weißen Wachstuch im Lazarett! Wie?

Haben Sie je so etwas gehört?

Oder nehmen Sie an, daß Iwan in diesem Moment im Begriff ist, mir ein ähnliches, multikolores Schicksal zu bereiten?

Äh bäh! ...

Es gab einen Ruck in Luschinskij, als er bis an diese Stelle seiner Zukunftserratungen gelangt war. Er wandte den Kopf mit einem Ruck: hatte da nicht irgend jemand eben, in diesem Augenblick, Nikitjews Namen genannt? Wie? Nicht wahr?

Er kniff die Augen zusammen und sah ein paar Schritte nach links hinüber.

Da saß Dr. Nakinskij im Sofa zusammengeknäuelt, die Ellenbogen auf den Knien, das Kinn auf den Händen – neben Gregorows hinsickernder Persönlichkeit.

Der Arzt hatte sich an dem Abend eine neue Stimme zugelegt, schien es Peter Romanowitsch. Eine langsame und dünne Stimme, meine Seligkeit, was sollte das nur bedeuten? Bezweckte er damit, daß andere nicht hören sollten, was der gelehrte Herr äußerte? Ké!

Und Luschinskij kicherte also ganz leise, beugte seinen Hals ein klein wenig nach links hinüber, und steifte seine Ohren in die Höhe.

»Aber die Sache ist dessen ungeachtet so!« bemerkte Nakinskij, seine blauen Stoppeln von den Fingern erhebend und ein ganz klein wenig nickend. »Haben Sie noch nicht auf den Grund des Ganzen gesehen? Haben wirklich die Herren Lwow, Nikitjew, Kondratenko, Schmidt, Gorkin – und alle die anderen, die ich vorhin auch nannte: haben die Sie noch nicht überzeugt?

Wir sind, kordial ... unsere gegenseitigen Mikroben, alle miteinander!

Lwow war Mikael's – und nun ist Mikael Lwow's! Sehen Sie ihn an, unseren ehemaligen lieben Timon Wladimirowitsch Lwow! Werden die Reste von Seele, die wir noch haben, nicht erschüttert: der Mann ist siebenundzwanzig Jahre alt! Nicht wahr? Er bestand vor einem Jahr ein gerechtes und männliches Duell mit Glanz! Er war seinen Soldaten ein Großvater – und dankte Gott täglich, voller Stolz, daß er Krieger war! Und jetzt, mein Herr: Können Sie, ebenso wie ich, hören, wie er da hinten in seiner Ecke vor Kichern und Mord gurgelt und sabbelt?!

Ach, freilich – und Sie werden kaum versuchen, sich einzubilden, daß Lwow eine Ausnahme ist! Keine Spur! Warum sollte er das wohl auch sein? Wir sind, offen gestanden, Bakterien alle miteinander! Von medizinischem Standpunkt aus betrachtet, ist jedes einzelne Schiff in unserer Armada totaliter mit einem Rauch, einer Atmosphäre von dergleichen kleinen Lebewesen, angefüllt!

Mein Herr: durch Tausende von ganz und gar nicht belustigenden Erwägungen bin ich zu diesem Resultat gelangt!

Aber auf der anderen Seite: Ich schwöre Ihnen: Gott hat uns allen längst vergeben!

Die Ärmsten – sagt er, möglicherweise in diesem Moment, zu Christus, seinem Sohn: die Armen, sagt er: siehe, sie sind alle ohne Ausnahme Mikroben geworden! Die Luft auf dem Geschwader ist wirklich nicht gut für sie gewesen! Sie haben die Lungen, sie haben die ganze Brust voll Schmutz bekommen! Sie sind respektive zu Stabbazillen, Fäulnismikroben oder Mordbakterien geworden, alle zusammen! Aber habe ich denn nicht selbst die Mikroben geschaffen – damit sie Mikroben sein sollen? sagt der Herr! ...

Und er hat, verstehen Sie mich, er hat recht!

Alle zusammen sind wir unsere, gegenseitigen, unverschuldeten und reuelosen Mikroben – auf der ganzen Flotte!

Vielleicht überall sind wir Menschen so! Wieviele Morde hat nicht ein jeder von uns auf dem Gewissen!?

Liebster Gregorow: ich, Ihr beeidigter Arzt, wissenschaftlicher Kretin und Totschläger – ich sitze hier und frage mich: wieviele von diesen Herren, die ich hier um mich herum sehe, und die nicht einmal mehr daran glauben, daß sie selbst leben, wieviele von denen habe ich etwa getötet: entweder durch zu viel Schweigen oder durch zu viel Reden, bald durch Glauben und bald durch Mangel daran?

Ach Gott!

Nicht wahr?!«

Und damit warf Nakinskij den Kopf in den Nacken, gluckste eine Sekunde in die Luft hinauf – er mochte nun weinen oder lachen, der verrückte Kerl – und zog darauf seinen Kopf wieder nach vorne, indem er von neuem seine Stoppeln gegen seine sozusagen röntgenschen Skelettfinger stützte.

»Und beantworten Sie mir dann schließlich auch dies: Kann man wohl im Grunde annehmen, daß es korrekt ist, was die Allwissenheit unserer modernen Philanthropen behauptet: daß Krieg, auf die gleiche Weise wie Armut und Verbrechen, nur Atavismus ist – Rückfälle zu dem Gorillamenschen der Urzeit! Daß sie bloß die Verwirklichung, das Ergebnis unserer uralten und rohen Affengelüste nach Säuferei, Hurerei und Blut sind – und damit also etwas, das zu ändern, wie auch abzuschaffen, zweifellos in unserer eigenen Macht steht! Eh?

Oder sind Krieg, Proletariat und Mord – diese drei grauenvoll verschiedenen und grauenvoll ähnlichen Geschwister, nicht wahr –, sind sie nicht weit eher Gottes Gesandte? Drei kritische Herren und Meister, gegen die wir gar nichts vermögen, und deren Aufgabe es ist, diejenigen von uns aus dem Wege zu räumen, die fürs Leben nicht brauchbar sind?

Wie, Gregorow, glauben Sie das nicht auch bisweilen?

Und wir, mein Herr: Sie, ich und alle die anderen hier auf dieser Armada, wir sind vielleicht gerade unter denen, die gewogen und zu leicht befunden sind – von diesen drei blutigen Gesandten!

Wir taugen nicht!

Alle wir Russen miteinander – wir, Zar Iwan des Schrecklichen Henkerskinder, Katharinas und Elisabeths Bastarde, Söhne von Knute und Verbannungen, Töchter von Gefängnissen, Peitschen und Sibirien, Mißgeburten von jahrhundertelanger tierischer Leibeigenschaft und hündischem Bureaukratismus, ké, Gott steh' uns bei: liebster Freund, wir wiegen nicht soviel wie ein Flaum, fürchte ich bisweilen, in Gottes, in des Lebens positiven Zukunftsabsichten!

Tag für Tag will es mir mehr und mehr scheinen: daß wir nur die Summe von Elend repräsentieren – die die Menschheit immer über einen Teil von sich wälzen muß, damit die übrigen froh und sicher sein können!

Rußland, Verehrtester, ist, hol' mich der Teufel, Europas Misthaufen – stinkend, voll von bissigen Bakterien!

Ach Gregorow, wir sind, ohne Ausnahme, alle zusammen unsere gegenseitigen Mikroben auf dieser Flotte!

Weder mehr noch weniger! ...

Verstehen Sie mich nun?

Jawohl, aber – wie ich Ihnen erzähle: der liebe Gott hat uns längst verziehen! Sowohl uns hier als auch allen den anderen, auf der ganzen Welt, die arm sind und verzweifelt und im Leben unterliegen, hören Sie! Ich selbst habe sie ja auf die Erde gesetzt – sagt er –, um zu versuchen, was sie wert sind. Und nun zeigt es sich, daß sie alle zusammen Schleim und Rotz sind, die Ärmsten! Seht, wie sie schreien und leiden! Ich will mich beeilen, sie schnell wieder zu mir zu nehmen! Sie sollen Erlaubnis haben, sich hier bei mir auszuruhen, bis sie Mut bekommen, von neuem zu versuchen – sagt der Herr!

Alles Böse, was wir getan haben – das hat er lange vergessen; er gedenkt nur unserer Schmerzen – er weint zusammen mit uns, Mikroben, die wir sind ...

É-é-é-é-é, ké, kéhé, kä, hahaha!

Haben Sie mich jetzt verstanden, Gregorow?

Wie?«

Kä – beeilte Luschinskij sich zu denken, mit einem dicken Kloß plötzlich mitten in der Speiseröhre, schluckend:

Absolut korrekt!

Wohl war man – an und für sich ganz sinnlos und töricht – gegenseitige Mikroben und Mörder hier auf diesem Schiff!

Man sehe nur einmal unseren eigenen schrecklichen Iwan, den Schurken, hatte er nicht deutlich genug versucht, seinem von Gott eingesetzten Herrn und Offizier nach dem Leben zu trachten? Ja, das hatte er allerdings getan!

Jetzt, in diesem Augenblick, lag Herr Iwan, weiß Gott, da unten an irgend einem dunklen Ort in diesem Schiff versteckt, und brütete über einen neuen Bazillenstreich – hier auf diesem Kasten, wo die Mikroben so dicht wie Pulverdampf umherflogen, oder was hatte Nakinskij doch noch gesagt – hol' mich der Teufel – weiß Gott, das tut er, dieser Iwan! Und wozu es sich nun wohl entwickeln wird?

Ob es wirklich etwas im Stil mit Nikitjew wird, pfui, wie?

Oder ...

Und Luschinskij erinnerte sich im selben Augenblick eines anderen von den Namen, die der Arzt genannt hatte: nämlich des Kadetten Kondratenko, von einem der anderen Schiffe; dieses hoffnungsvollen Grünschnabels, der alle seine Finger, mehrere Stunden täglich, dazu benutzte, um seinen eigenen Bart zum Wachsen zu bringen, oder diejenigen der Matrosen zu verkleinern – dieses Jünglings, den vier von seinen eigenen Gemeinen neulich, während der junge Mann dastand und durch ein langes Fernrohr sah, aus lauter Pläsiervergnügen zu einem rot und weißen Teppich zerstampft hatten, sozusagen: sie hüpften nämlich, der eine direkt hinter dem anderen – selbst des Lebens überdrüssig, die Flegelmikroben – ihm oben aus einem der Mäste gerade auf den Kopf herunter; ihn buchstäblich über einen Quadratmeter Deck ausbreitend, die Schweine, während sie gleichzeitig also selbst ihre Arme, Beine, Hälse brachen, Gott sei Dank: mitten aus dem Haufen stach das Sehrohr des Kadetten lotrecht in die Höhe, und einer der Matrosen war, wahrhaftig, so sonderbar gefallen, daß sein Gesicht den Kikkert gerade mit dem einen Auge traf, und da hing der Kopf also fest, ganz über das Messingrohr hinuntergequetscht, als ob der Bursche ausnahmsweise einmal versuchte, mit dem Nacken zu sehen, der arme Wurm, das hätte er lieber nachlassen sollen! ...

Husch!

Wie?

Waren das nicht ein paar bezaubernde Ansichtskarten, die man, während man hier saß, beschaute?

Und was beabsichtigte Iwan also einem zu schenken?

Würde es etwas sein, das sich Kondratenkos originalem und komplett effazierendem Tode näherte – oder mehr in der Richtung von Kapitän Nikitjews ein wenig schreiender Farbenpracht??

Nicht leicht, die Wahl zu treffen, wie?

Hahaha! ...

Nun, auf der anderen Seite:

Ganz gewiß war da ja selbstredend an und für sich ein gewisses Risiko bei diesem allen! Aber falls die Sachen so gingen, wie es geplant war, und wie es sollte: dann würde es ja unleugbar ein ganz anderes Ergebnis sein, das man hier erreichte! Eins, das, von Iwans Standpunkt aus, sowohl radikaler als auch abgerundeter war, was ...

Wieder hickste Peter Romanowitsch in die Höhe bei einem Gekrach der Wellen – das jetzt, nach dem veränderten Kurs, von achtern kam. Der Lärm lief rollend und brüllend über die Decke des Raumes, und gluckste gleichsam weg, in weiter Ferne, rieselnd.

 

Luschinskij brach frühzeitig auf.

Auf dem Wege nach seiner Kammer, an der Wand entlang, hielt er die linke Seite des Kopfes vor, spähte mit dem ganzen Hörvermögen; die Zigarette hing ihm ohne Feuer im linken Mundwinkel.

Inwendig in ihm war es, als wenn der Wind noch mit voller Kraft dahinsegelte. Sein Magen schaukelte ununterbrochen oben über seinen Därmen, die sich abwechselnd zusammenkneteten und wieder streckten – schwollen und sanken wie Wellen. Jawohl, gleich von dem Augenblick an, wo er sich, da unten in der Messe, erhoben hatte, war es, offen gestanden, als ob seine sämtlichen gebogenen Eingeweide sich selbst als ein kompliziertes Paar Wiegengängeln betrachteten, auf denen sein Herz leise eingelullt wurde, ggé, ggéhé, é ...

Er blieb eine Sekunde stehen und rieb sich die Stirn, um zu versuchen, die verdammte Bleimütze wegzuschieben, in die, wie es ihm die ganze Zeit vorkam, sein Schädel verwandelt war. Er zwang sich, ein klein wenig zu kichern, und tastete sich dann weiter vorwärts, bis er an der Kammer angelangt war:

»Sehr wohl!« flüsterte er, seine mumienhaften Lippen leckend. »Sehen wir jetzt einmal, worauf die Mikrobe Herr Iwan wohl verfallen ist!«

Vorsichtig öffnete er die Schiebetür ein ganz klein wenig: es war kein Laut da drinnen! Sollte Iwan, verdammt und verflucht, schon wieder weggegangen sein, so früh? Die Uhr war ja noch nicht annähernd so viel wie gestern! Unmöglich!

Luschinskij steckte die Nase und das linke Auge durch die Spalte.

Das Licht glotzte gelb und entzündet – es war fast, als rieche es ein wenig süßlich und schweinisch, wie: kannte er den Geruch nicht wieder? Zum Beispiel von irgend etwas, was da gestern im Badezimmer vor sich gegangen war, was er aber bis zu diesem Augenblick vergessen hatte?

Er preßte sein Gesicht ein wenig mehr hinein.

Und entdeckte dabei, daß da gleichsam einige blaue Fetzen von Rauch in der Luft herumschwammen.

Es gab einen tiefen Ruck in ihm. Er mußte an Nakinskijs Worte denken, daß sämtliche Schiffe sozusagen mit einer rauchenden Atmosphäre von Bazillen angefüllt seien. Und plötzlich erinnerte er sich dann auch, ohne zu wissen warum, der weiteren Bemerkung des Arztes, »daß Lwow Mikaels Mikrobe gewesen sei – jetzt aber sei Mikael Lwows!«

Was für ein Blödsinn war das eigentlich?

Wie sollte der verstorbene Mikael Lwows Mikrobe sein?

Kä!

Unsinn und Geträtsch! ...

Luschinskij runzelte seine Stirn, riß die Tür ganz zur Seite, und sah, daß er wahrhaftig mit seinem Plan auf den Grund gelangt war:

Denn da, gerade der Schwelle gegenüber, auf dem festgeschrobenen Stuhl, vor dem Mahagonitisch, da saß ...

Kehirrr!

Kisss!

Ja!

Weiß Gott war das Iwan! Nicht wahr? Freilich! Wer denn sonst?

Jawohl, selbstverständlich war es Iwan, die Mikrobe! Ja! Da saß er! Mit seinen großen, nackten Füßen; und die Brust der Tür zugewendet!

Ein Gewehr stand zwischen seinen Beinen. Die rechte große Zehe stach behaart und lang, wie ein schlammiger und bleicher Affenfinger, in dem Schneller. Sein Körper saß ganz aufrecht da, mit seinem schmutzigen und scheckigen Drellrock, rechts gegen die Tischklappe und links gegen die Wand gestützt. Die Hände hingen an den Seiten herab, wie zwei große, ausgefranzte Kleckse von irgend etwas Klebrigem und Gelbem, das aus seinen Ärmeln heraussickerte.

Aber sein ganzer Kopf war weg.

Existierte nicht, éhé.

War weggesprengt!

Verschwunden!

É-é-é-é!

Es lagen nur einige rote Schleimfasern über seinen Schultern herab.

Und ein Stück des Unterkiefers hing an der Halspartie fest, baumelnd. Die Zähne glotzten aus dem geschwollenen Gaumen hervor, wie eine Reihe kleiner Klümpchen von diesem selben Zähen, Gelben.

An der Wand hinter ihm und über ihm waren eine Menge Flecke, wasserklare, hochrote oder graue und faserige ...

Luschinskijs Herz hackte ihm mit einem Geheul durch den Leib.

Er strauchelte einen Schritt vorwärts.

Starrte den Hals und den Nacken des Burschen an, die, ohne Kopf, einer mächtigen, ausgefranzten und ausgetretenen Fleischröhre oder einem Darm glichen.

Er spürte den Geruch, der von da ausging, übersüß und sickernd traf es ihn wie ein Fußstoß in den Bauch. Er erinnerte sich auf einmal alles dessen, was sich gestern im Badezimmer zugetragen hatte. Und begriff gleichzeitig, mit Hilfe von irgend etwas grenzenlos Inwendigem und Schmerzendem: was Nakinskij damit meinte, daß Mikael jetzt Lwows Mikrobe sei:

»Mord!

Er tötet mich!« schrie er; deshalb, ohne es selbst zu wissen, auf den Stuhl zu schwankend.

Er fühlte, wie alles in ihm mit einem Ruck in den Schlund hinaufgerissen wurde. Spürte, wie ihm das Gehirn ausgepustet wurde, kohlschwarz in einem Nu.

Seine Arme hoben sich nach den Seiten in die Höhe, und es war ihm, als stünde der Fußboden, ihm in den Nacken donnernd, aufrecht an seinen Rücken gelehnt, wie eine Wand ...


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