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Zweites Kapitel

Es hatte schon lange zwei Uhr geschlagen, der Saal war beinahe voll, aber nichts deutete an, daß das Concert bald anfangen werde.

Fräulein Clorinde suchte beharrlich Etwas unter den Möbeln und hinter den Vorhängen; ihre Mutter exercirte sich auf den Bänken, und was den Hausherrn betrifft, so schien es, als ob dieser nicht ohne Erlaubniß in den Saal kommen dürfe, denn man sah ihn nur in dem vordern Zimmer, von wo er die ankommenden Personen in den Saal hineintrieb und dabei immer schrie:

»Treten Sie doch ein!«

Dann beschäftigte er sich mit Aufbewahrung der Stöcke, Mäntel und Hüte. Herr Baluchet mußte sich in der That sehr gut amüsiren, wenn er eine musikalische Morgen-Unterhaltung gab.

Ein ungefähr sechzigjähriger Mann trat mit einem Notenhefte unter dem Arm ein: sein Erscheinen erregte Sensation; von allen Seiten rief man:

»Ah! da ist er! da ist er! welches Glück!«

Und Madame Baluchet ergriff den Herrn mit beiden Händen, ich glaubte sogar, sie wolle ihm um den Hals fallen, allein sie begnügte sich, ihn mit Entzücken zu drücken, und rief mit einer Stimme aus, die mich an Vernet in dem Vater der Debütantin erinnerte:

»Kommen Sie doch, erstaunlicher, ersehnter Mann! Ach! wenn Sie gefehlt hätten, wäre Alles nichts gewesen.«

Diese Worte waren zwar nicht sehr schmeichelhaft für die übrige Gesellschaft, aber man achtete nicht darauf, und Madame Baluchet fuhr fort:

»Meine Tochter, hier ist Herr Froumann, der liebe Herr Froumann.«

Fräulein Clorinde geruhte ihren Kopf hinter einem Vorhange hervorzustrecken, um den Neuangekommenen zu begrüßen, und das kleine rothhaarige Mädchen stieg auf einen Stuhl, packte den Herrn am Rockkragen und rief aus:

»Guten Tag, Freund Froumann!«

Ich betrachtete den Herrn, welchen man mit Complimenten überhäufte; es war ein Mann, der seiner Zeit ziemlich hübsch gewesen sein mußte, jetzt sah man aber, daß er sich viel zu viel Mühe gab, es noch zu scheinen, denn er war nicht nur ganz jugendlich gekleidet, sondern auch so fürchterlich in seinen Rock und in seine Beinkleider eingezwängt, daß er kaum Athem holen konnte, und einherging wie Jemand, der sich nicht recht wohl befindet; seine Halsbinde war mit außerordentlicher Sorgfalt gebunden, es hingen aber zwei Wangen über sie herab, die durchaus keine Festigkeit mehr hatten, so daß er, wenn er sich rührte, einer jener Geléen glich, die man zum Nachtisch ißt, und die sich noch lange nachher bewegen, nachdem man sie auf die Tafel gestellt hat.

Ich fragte meinen Freund, welches Instrument der Herr spiele, ohne welchen Alles nichts gewesen wäre; dieser entgegnete mir:

»Der Herr spielt gar kein Instrument und singt auch nicht, ist aber dabei doch ein unerschrockener Kunstfreund. Er selbst leistet nichts, allein er setzt die Andern in Bewegung und das will schon Etwas heißen: er läßt anfangen, ordnet die Musikstücke und gibt das Zeichen zum Applaudiren, indem er selbst aus Leibeskräften klatscht. Sie werden zugeben, daß Herr Froumann ein kostbarer Mann ist, besonders in einem Hause, wo der Herr desselben seine Zeit mit dem Ordnen der Stöcke und Stühle zubringt, die Herrin auf den Bänken herumhüpft und vor den Spiegel hinsteht, und das Fräulein Tochter ihre verlegte Musik unter den Möbeln sucht.«

Herr Froumanns Leistungen in einem Concert kamen mir vor wie die unserer Beifalls-Assekuranten in den Theatern; er begann seine Geschäfte alsbald, eilte hin und her, rief die Künstler und Virtuosen zusammen, und brachte es endlich dahin, daß sich ein kleines neunjähriges Mädchen an's Klavier setzte, welche das Thema: Es gießt, Phyllis, mit fünfzehn Variationen spielte, wobei sie alle Augenblicke dieselbe Stelle wiederholen mußte, weil ihr Herr Vater, der neben ihr stand, mit strenger Miene befahl:

»Fange wieder von vorn an, es ist nicht recht! Du spielst daheim besser, Du mußt spielen wie zu Hause.«

Ich war der Ansicht, daß der strenge Vater seine Tochter überhaupt hätte zu Hause spielen lassen können; bei der zweiten Variation hustete die Gesellschaft, schnäuzte sich, drehte sich hin und her, und bald hörte man vor lauter Gespräch im Saale nichts mehr vom Klavierspiel, aber die Kleine macht in Einem fort, und der unerbittliche Vater ließ bisweilen sein entsetzliches: »Fange wieder von vorn an!« hören, auf das Herr Baluchet aus dem ersten Zimmer mit einem Rufe: »Treten Sie doch ein, treten Sie doch ein!« Antwort gab.

Es sind bereits so viele Leute eingetreten, daß man sich im Concertsaale nicht mehr rühren kann, alle Bänke, alle Stühle sind besetzt, Madame Baluchet findet keinen Raum mehr, darauf herumzusteigen, sie tröstet sich jedoch darüber, indem sie zu allen sie Umgebenden sagt:

»Nicht wahr, bei uns ist es voll? ... ja, unsere musikalischen Morgen-Unterhaltungen sind beliebt! Wenn es so fortgeht, wird man sich am Ende auf die Treppe setzen müssen, wie bei den Bällen im Opernhause! Das wäre hinreißend, entzückend! Froumann, mein lieber Froumann, hat die kleine Guidoré ihr Stück noch nicht bald beendigt?« – Nur noch fünf Variationen! – »Vortrefflich,« sagt ein junger Mann, dessen dumpfes Organ mich auf die Vermuthung bringt, daß er den tiefen Tenor singen werde, »und wenn Vater Guidoré darauf beharrt, daß seine Tochter, so oft sie fehlt, von Neuem anfangen muß, so wird das noch nicht so bald enden. Es ist wirklich unterhaltend, wenn man zusammenkommt, um dem Musik-Unterrichte eines jungen Mädchens beizuwohnen. Sollten sie mich aus diesem Grunde haben kommen lassen, so will ich sie schon kriegen, ich singe dann eben nicht.« – Mein Herr, gibt es Etwas? ... Haben Sie eine Bewegung in den Straßen bemerkt? ... Ich fürchte sehr, es möchte Etwas geben!«

Diese Frage wird von der Dame mit den Juwelen an den jungen Tenoristen gerichtet, der ihr mit ärgerlicher Miene kurz zur Antwort gibt:

»Ja, ich habe eine große Bewegung bemerkt ... es gehen sehr viele Leute spazieren.«

Endlich hat die kleine Guidoré ihr Stück ausgespielt, Herr Froumann ruft einige Bravos, die aber nirgends Anklang finden; dann beeilt er sich, eine Dame herbeizuholen, die eine Sonate mit Violinbegleitung spielen soll.

Der Violinspieler tritt heran, er stimmt sein Instrument zuerst; dies ist bereits geschehen, als eine der Geigensaiten springt.

»Der Teufel! meine D Saite ist gesprungen,« sagt der Eigenthümer der Violine, »und ich habe keine bei mir ... ich habe zwar fünf oder sechs Quinten da, aber kein einziges D ... das D reißt so selten ab.«

Da Niemand in der Gesellschaft eine D Darmsaite bei sich hat, ruft Madame Baluchet aus:

»Mein Mann muß geschwind eine holen! Clorinde, geh, sage Deinem Vater, er soll eine D Saite holen!«

Fräulein Clorinde geht, ihren Vater von diesem Befehle in Kenntniß zu setzen, der außer seinem Geschäfte im Kleiderzimmer auch noch die Commissionen zu besorgen hat; in Erwartung des Stückes mit Violinbegleitung kündigt Herr Froumann eine Nocturne auf dem Pianoforte mit Clarinette-Begleitung an.

Die Virtuosen nähern sich dem Altar, aber jetzt zeigt sich eine andere Schwierigkeit: sobald die Clarinette einen Laut angibt, hört man, daß sie einen halben Ton höher gestimmt ist, als das Klavier, und das Blasinstrument kann nicht tiefer gestimmt werden; was dagegen das Klavier anbetrifft, so müßte es gänzlich umgestimmt werden, und das würde wenigstens zwei Stunden dauern. Man muß also auf die Nocturne verzichten; um uns jedoch zu entschädigen, trägt die Clarinette allein ein Stück vor, während dessen der tiefe Tenorsänger vor Ungeduld mit den Füßen stampft, und bisweilen wiederholt:

»Wenn sie die Absicht haben, mich zuletzt singen zu lassen, so will ich sie schon kriegen ... ich singe dann eben nicht!«

Ich saß neben einer großen Dame, welche einen etwa zwölf- bis dreizehnjährigen Jungen bei sich hatte, der seine Mutter mit einem sonderbaren Gesichte ansah, während man Clarinette spielte.

Da seine Mutter bemerkte, daß ich ihren Sohn anblicke, sagte sie zu mir:

»Nicht wahr, es ist ein hübscher Junge?« – Wer, Madame? – »Mein Sohn, der Schelm, den Sie betrachten.« – Er ist sehr hübsch, Madame. – »Unter uns gesagt, mein Herr, es ist kein gewöhnliches Kind. Wie alt meinen Sie, daß er sei?« – Dreizehn Jahre ... – »Er ist erst zwölf und ein halbes. Glauben Sie, mein Herr, daß er mit sieben Monaten schon gesprochen hat?« – Das ist sehr früh. – »Im siebenten Monat hat er gesagt: »zum Teufel!« das ist ein Lieblingsausdruck seines Vaters.« – Das ist für sieben Monate schon recht artig; mit einem Jahre mußte er da schon wie ein Türke fluchen können! – »Da er mit einem Jahre schon sehr kräftig war, sagte ich zu ihm: Gogo, Du brauchst keine Muttermilch mehr. Du mußt jetzt Wein trinken! Von diesem Augenblick an verlangte er nur noch Bier.« – Und das ist ihm gut bekommen? – »Vortrefflich! Im dritten Jahre führte ich ihn zu einem Zahnarzt, um ihm einen Zahn ausziehen zu lassen; glauben Sie, mein Herr, daß er dann begehrte, man solle ihm drei ausziehen?« – Es war noch gut, daß er nicht sein ganzes Gebiß herausreißen lassen wollte. – »Zuletzt ließ ich ihm Musikstunden geben, und er macht erstaunliche Fortschritte. Er bläst in alle Blas-Instrumente, die ihm unter die Hand kommen. Das geht so weit, daß Sie vielleicht glauben, ich übertreibe oder erfinde, aber Sie müssen eine Mutter entschuldigen, wenn sie von ihrem Sohne spricht!« – Ganz natürlich, Madame. – »Nun, mein Herr, Gogo fand neulich ein in Haushaltungen unentbehrliches Werkzeug, dessen man sich bedient, wenn man unwohl ist.« – Ich verstehe, das, welches Herrn von Pourceaugnac solche Furcht einjagte, indem er es für eine Pistole hielt, nicht wahr, Madame? – »Dasselbe, mein Herr; nun! Gogo hielt diese Maschine für ein musikalisches Instrument und fing an hineinzublasen, während er mit seinen Fingern spielte, als ob er ein Fagott in der Hand hätte.« – Ach! Herr Gogo bläst die Klystierspritze! – »Finden Sie nicht, mein Herr, daß dieses ungewöhnliche Neigung zur Musik verräth?« – Es verräth jedenfalls Neigung zu ungewöhnlicher Musik; es wäre Schade, wenn man sie nicht kultivirte.«

Mein Gespräch mit dieser Dame wurde durch einen Ausruf der Madame Baluchet unterbrochen, welche fast athemlos zur Saalthüre hereinstürzte:

»Nun kann's losgehen ... da kommt sie!«

»Ach, mein Gott, jetzt gibt es doch Etwas!« schreit die befiederte Dame. »Es wird mir übel! Wenn ich nur ein wenig Essig hätte!«

Allein die Herrin des Hauses dringt, den Leuten auf die Füße tretend, bis zum Klavier vor, und hebt dort die Hand in die Höhe mit den Worten:

»Da ist die gewünschte D Saite ... jetzt werden wir die Sonate mit der Violinbegleitung hören.«

Als aber der Violinist die Saite betrachtet, welche man ihm überreicht hat, ruft er aus:

»Ach, Madame, diese kann ich nicht brauchen! Sie bringen mir ja eine gesponnene Saite, das ist eine Guitarre D und keine Violinsaite.« – Mein Mann macht doch nichts als Dummheiten!« schreit Madame Baluchet, wieder in's Vorzimmer zurückkehrend. – »Das sieht man an seinen Kindern,« brummt der erzürnte Tenorist.

Und nun bekam die Gesellschaft einen ehelichen Streit zu hören, der zwar in ziemlich lauten, aber nichts weniger als musikalischen Tönen gefühlt wurde, und dahin auslief, daß Herr Baluchet noch einmal fortgehen und ein anderes D holen mußte.

Herr Froumann gab sich unterdessen im Concertsaal alle mögliche Mühe, Fräulein Clorinde zum Singen zu bestimmen.

Die Tochter des Hauses war aber immer noch ärgerlich und wiederholte in Einem fort:

»Ich habe die Arie aus Ariodant gekonnt, und man hat mir sie verloren. Das ist doch eine Freude.« – Ihre Mutter behauptet, Sie könnten die aus dem sprechenden Bilde. – »Ach warum nicht gar! ... Ja, sauber kann ich die ...« – Tochter!« ruft Madame Baluchet, auf der äußersten Spitze einer Bank wie Bankos Geist erscheinend, Clorinden zu: »ich befehle Dir das Lied: Du warest, was Du nicht mehr bist! zu singen! Man darf sich nicht weigern, sich hören zu lassen, wenn man so viel Talent hat wie Du ... Nicht wahr, Herr Froumann, Clorinde singt das dreifach gestrichene C mit einer Bruststimme, wie Herr Dupré.«

Herr Froumann winkte bejahend mit dem Kopfe.

Es war keine Möglichkeit vorhanden, sich dem mütterlichen Befehle zu widersetzen.

Fräulein Clorinde tritt zum Klavier, woran Herr Guidoré der Vater Platz genommen hat, um sie zu accompagniren. Endlich wird uns das famose Lied aus dem sprechenden Bilde mit verschiedenen Unterbrechungen in Folge unreiner, heiserer Töne und grober Taktverstöße aufgetischt. Der entsetzliche Herr Guidoré wendet, so oft das Fräulein fehlt, den Kopf nach ihr und murmelt ihr sein ewiges: »Fangen Sie wieder von vorn an!« zu.

Glücklicher Weise bekümmert sich die Sängerin nichts um seine Worte, sie fährt ohne Unterbrechung fort und beendigt ihre Arie mit einem Nießer, welchen die Gesellschaft für einen Schnörkel hinnimmt und Herr Froumann mit Bravo's überschüttet.

»Nun!« ruft Madame Baluchet mit befriedigter Miene aus, »ich meine, es war nicht so übel!«

»Nein, nur sehr mittelmäßig,« brummt der Tenorist vor sich hin; »sie hat ihr Lied nicht gesungen, sondern geschrieen!«

»Ich habe das C mit der Bruststimme nicht gehört,« sagt Fräulein Dulorgnon höhnisch.

Herr Froumann kündigt nun der Gesellschaft an, daß ein kleiner fünfjähriger Knabe Variationen auf dem Pianoforte spielen und man dann den großen Chor aus Haydn's Schöpfung, von einem Dilettanten für eine Baßstimme arrangirt, vortragen werde.

Nun stürzt der junge Tenorist, der, um die Gesellschaft daran zu kriegen, nicht singen wollte, wie wüthend auf das Klavier zu, klammert sich an dasselbe an und schreit:

»Jetzt ist die Reihe an mir ... ich singe jetzt ... Es ist beinahe fünf Uhr ... Ich habe zu thun ... Ich will nicht länger warten, ich singe jetzt gleich!«

Ohne den Ausgang dieser Erörterung abzuwarten, gelingt es mir nicht ohne viele Mühe, mich aus dem Saale hinauszuschleichen. Ich hatte genug an der musikalischen Morgen-Unterhaltung, und erreichte, mit Zurücklassung meines Freundes, der dem fünfjährigen Kinde zuhören wollte, endlich die Treppe, auf der mir der arme Herr Baluchet begegnete, welcher mit einem andern D zurückkam, und zu mir sagte:

»Wie, Sie gehen fort? Gehen Sie doch wieder hinein. Sie haben ja das Schönste nicht gehört ... man spielt ein Stück auf der Violine ... Ich habe dies Mal das rechte D ... und dann wird man die Schöpfung singen ... Kommen Sie doch ... da singt allemal das ganze Publikum mit ... das wird herrlich werden! Geben Sie mir nur Ihren Hut.«

Allein ich gab trotz dieses in Aussicht stehenden Genusses den Bitten Herrn Baluchets nicht nach, und machte mich, übrigens sehr befriedigt, die musikalische Morgen-Unterhaltung in der Grand-Hurleur-Straße haben verlassen zu können, von ihm los.


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