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Goldchens Zukunft.

Die Sonne blinzelte in eine blitzblanke Küche, und da sah sie was sehr Komisches.

»Pf–f, pf–f!« fauchten die lodernden Herdflammen. Dann wurde eilig eine bereitstehende Pfanne darüber geschoben, und das darin enthaltene Fett zischte giftig auf: »Pf–f–f! Pf–f–f!«

Da flog etwas durch die Luft in wohlgezieltem Bogen und kam mitten in die Pfanne und das Fett zu liegen.

»Pf–f–f!« sagte das empört und spritzte nach allen Seiten. Solch brutale Behandlung war es nicht gewohnt.

Da kam schon wieder etwas in wohlgezieltem Wurf daher und noch was und noch was, bis sechs Bratwürste nebeneinander friedlich im Fette schmorten.

Die Sonne hatte schon längst um die Ecke gelugt, um zu sehen, woher die wohlgezielten Geschosse stammten. Was sie da sah, gefiel ihr und konnte jedem gefallen.

An der dem Herde gegenüberliegenden Wand stand ein junges Menschenkind. Es hatte den Oberkörper geschmeidig vornüber gebeugt, den Arm gehoben und feuerte jedesmal so geschickt, daß der Schuß mitten ins Schwarze, in die Pfanne traf. Jeden gelungenen Wurf begleitete ein silberhelles Auflachen.

Frau Sonne verzog ihr breites Gesicht zu freundlichem Grinsen. Das junge schlanke Menschenkind da unten mit den strahlenden Braunaugen in dem feinen Gesichtchen war auch gar zu niedlich. Wie liebkosend griff sie mit ihren Strahlen in das rötliche Gelock, das die schmale, weiße Stirn umgab, und es flimmerte und leuchtete auf, als umlohe ein goldner Schein das junge Haupt.

Eben war die sechste Wurst in die Pfanne geflogen und hübsch neben die anderen zu liegen gekommen. Das empörte Fett war noch einmal mit giftigem Zischen in großem Klecks nebenan auf die Herdplatte gespritzt. Der geschickte kleine weibliche Scharfschütze schlug auflachend in die Hände und drehte sich auf den Fußspitzen um sich selber.

Frau Sonne wollte eben noch einmal mitlachen und ließ mit ihren Strahlen alle die goldenen Löckchen auf dem jungen Haupt in fast blendender Glorie aufleuchten, da erschien eine andere Zuschauerin auf der Szene.

Die machte das für solchen Unsinn gehörige erst verdutzte, entsetzte, dann strenge Gesicht, und Frau Sonne verzog sich schuldbewußt um die Ecke.

Tante Renate war eben noch recht gekommen, die sechste Wurst sich lagern und das Fett überspritzen zu sehen. In wortlosem Entsetzen starrte sie darauf hin.

Und hinter ihr stand noch jemand. Der aber machte es wie die Sonne und lachte belustigt mit.

Beim Klang dieses Lachens war das junge schlanke Menschenkind inmitten der Küche zusammengeschreckt und herumgefahren. Nun stand es Auge in Auge mit Tante Renate, die aussah, wie das jüngste Gericht in Person.

»Annaliese!«

Wenn Tante Renate den Namen so feierlich aussprach, dann war sie keinem Scherz zugänglich. Das wußte Annaliese. Schuldbewußt senkte sie das Haupt. Nur ein schelmischer Blick war zuvor nach dem Lacher hinter Tante Renate geflogen.

Frau Sonne wollte dem niedlichen Übermut da drinnen gerne helfen – Frau Sonne mag lachende, frohe, sprühende junge Menschenkinder so gerne.

Sie griff wiederum liebkosend mit ihren Strahlenfingern nach dem jungen Haupte und vergoldete es so, daß jedes einzelne Härchen aufleuchtete und aufblitzte. Dieser flimmernden Glorie konnte selbst Tante Renate nicht widerstehen.

»Kind – Goldchen,« – die vorher strenge Stimme war ganz weich geworden – »was hast du da wieder angestellt?«

Nun war's gewonnen.

Annaliese hob das sonnenübergoldete Köpfchen, das den Kosenamen Goldchen erklärte, und sah der Tante mit den großen, braunen Schelmenaugen ins Gesicht.

»Ja, Tantchen, sieh, das letzte Mal hatte ich mich an dem spritzenden Fett so verbrannt. Da dachte ich, wart, ich will dir dafür tun. So habe ich mich weit vom Herd fortgestellt und habe die Würste von fern in das eklige Fett geworfen. Und ich hab' wundervoll gezielt, Tantchen.«

Es klang solcher Stolz und solches Frohlocken durch diesen letzten Satz, daß der Lauscher hinter Tante Renate, der noch im Dämmer des Flurs stand, hell auflachen mußte.

»Sechs Meisterschüsse, wie mir scheint, nach einem würdigen Ziel!« sagte seine tiefe, klangvolle Stimme.

Annaliese oder, wie sie gewöhnlich genannt wurde, Goldchen lachte fröhlich auf und sagte dann schelmisch: »Einerlei! Ziel bleibt Ziel, und treffen ist treffen!«

»Bravo, das sage ich auch,« stimmte der Lacher vom Flur her bei.

Tante Renate wandte sich.

»Verzeihung, Herr Nachbar. Goldchen ist manchmal noch gar zu kindisch. Geh, Kind, nimm die Schürze ab und führe Herrn v. Tillen zu Tante Beate. Ich werde nun hier schon allein fertig. Außerdem muß Elise gleich kommen. Ich habe sie doch nur zu dem Krämer wegen Zitronen geschickt. Aber so ein Mädchen! Schwatzen, schwatzen und nichts als schwatzen!«

Eilig nahm Goldchen die Schürze ab. Sie hatte bei Tante Renatens entschuldigenden Worten zu Herrn v. Tillen das Köpfchen etwas entrüstet zurückgeworfen. Nun eilte sie flink voran, mit dem Besucher schleunigst aus der Tante Bereich zu kommen.

Im Flur war's dämmerig. Ein weiter alter Flur, der nur durch die Haustür Licht bekam, und die war der Sonnenglut halber geschlossen.

Herr v. Tillen, ein hoher, stattlicher Mann mit dunklem Vollbart, hatte Annaliese die Hand hingestreckt.

»Gratuliere, Fräulein Tell!«

Einen Augenblick sah die ihn ungewiß an, dann begriff sie, lachte und schlug herzhaft ein.

»Mein ganzes Leben lang hab' ich den Bogen
Gehandhabt, mich geübt nach Schützenregel.
Ich habe oft geschossen in das Schwarze
Und manchen schönen Preis mir heimgebracht
Vom Freudenschießen. Aber heute wollt' ich
Den Meisterschuß tun und das Beste mir
Im ganzen Umkreis des Gebirgs gewinnen,«

so zitierte sie, ihrem Fall angepaßt, feierlich.

Herr v. Tillen lachte.

»Bescheidene Ansprüche!«

»Hm, so eine Bratwurst ist gar nicht zu verachten. Mir ist 'ne Bratwurst oft lieber als eine Schnepfe. Da brauch' ich mich doch um die Knochen nicht zu kümmern. Und außerdem muß da nicht erst so ein armer kleiner Vogel niedergeknallt werden, nur damit ich was Feines zu essen habe.«

» De gustibus non disputandum est,« meinte Herr v. Tillen lachend.

»Griechisch verstehe ich nicht,« sagte Goldchen ein bißchen gereizt, und Herr v. Tillen lachte noch mehr.

Aber da war man schon an der Tür des großen Wohn- und Eßzimmers. Herr v. Tillen öffnete sie. Goldchen zögerte unmerklich – eine Erinnerung aus den früheren Tagen, wo sie dem »Herrn Nachbar« stets die Tür geöffnet hatte und bescheiden hinter ihm ins Zimmer geschlüpft war.

Es hielt manchmal schwer, sich darauf zu besinnen, daß man nun erwachsen sei und als junge Dame auftreten müsse.

Überhaupt, dies Erwachsensein! Goldchen seufzte ganz, ganz leise.

Drin im Zimmer lag grüngoldenes Dämmerlicht über allem. Die grüngestrichenen durchbrochenen Holzläden waren gegen die Sonne vorgelegt.

Der Raum war groß, dreifensterig.

An einem Fenster saß Tante Beate in ihrem Rollstuhl. Tante Beate war gelähmt und saß lange schon so festgebannt. War es nun vermöge der erzwungenen Ruhe, da jeder sie eben stets am Platze fand, wenn er sie suchte, oder machten es ihr liebes, stilles Gesicht, ihre großen, sanften Augen, aus denen eine Welt von Güte sprach, Tante Beate war ihres kleinen Kreises Mittelpunkt, um den alle sich scharten.

Auch Goldchen flog sofort auf sie zu, umschlang sie mit beiden Armen und schmiegte ihr Gesicht an Tante Beatens Silberscheitel.

»Tantchen, hier ist Herr v. Tillen und –« sie lachte leise vor sich hin.

»Seh' ich, Kind, seh' ich noch, Gott sei Dank. Freut mich, Herr Nachbar, freut mich sehr. Aber was hat das Kind?«

Sie hatte dem Begrüßten die Hand hingestreckt und sah erstaunt auf Annaliese, die immerzu vor sich hin kicherte.

»Wird wohl was zu beichten haben,« meinte Herr v. Tillen und es zuckte über sein Gesicht. Jedes Mitglied des kleinen Kreises kannte Goldchens Gewohnheit, sofort Tante Beate das kleinste Geschehnis, sei es nun ein schlimmer Streich oder sonst was Erlebtes, zu beichten.

Herr v. Tillen hatte die ihm gebotene Hand herzhaft geschüttelt und sich dann den Damen an den beiden anderen Fenstern zugewandt.

Denn es waren noch zwei Tanten im Zimmer! Goldchen war die glückliche Besitzerin von vier Tanten, von denen das junge Ding um die Wette geliebt, verwöhnt, belehrt, erzogen und verzogen wurde. Und Herr v. Tillen, der »Herr Nachbar«, war eigentlich der fünfte, der sich mit den Tanten in dies Geschäft redlich teilte.

Jetzt begrüßte er Tante Sibylle, die am großen, rundbogigen Mittelfenster vor einem riesigen Arbeitstisch saß.

Sie reichte die Hand, nickte, lächelte, ließ sich aber in ihrer Näherei weiter gar nicht stören. Mit unglaublicher Geschwindigkeit zogen ihre flinken Hände Nadel und Faden durch die Leinwand.

Tante Cäcilie, die jüngste der vier Schwestern, hatte am dritten und letzten Fenster des Raumes ihr Reich.

Dort standen Schreibtisch und Pianino, beides Tante Cäciliens Welt.

Zu ihr trat Herr v. Tillen nun heran. Sie hielt ein Buch in den Händen, aus dem sie offenbar den Schwestern soeben vorgelesen hatte.

»Was sagen Sie zu Anna Ritters Gedichten, Herr v. Tillen?« rief sie ihm lebhaft entgegen. »Ist's nicht ein großes Talent? Hören Sie nur mal!«

Und sofort begann sie eins der Sturmlieder zu lesen.

Er hörte zu, nickte, lächelte.

»Schön, sehr schön,« sagte er dann. »Aber Sie wissen, wie ich im allgemeinen über schriftstellernde Frauen denke, ich –«

»Wie kann man so altmodisch sein,« schnitt ihm Tante Cäcilie lebhaft das Wort ab. »Wenn Goldchen –«

»Um Gottes willen,« unterbrach er sie nun seinerseits mit allen Zeichen des Entsetzens, »das Kind! Nur das nicht!«

Zugleich schnitt ein glockenklares Lachen Goldchens, die immer noch Tante Beate umfaßt hielt, jede weitere Erörterung ab.

Tante Beatens weiches, liebes Lachen mischte sich drein.

Tante Sibylle und Tante Cäcilie wurden aufmerksam.

»Was hat das Kind?« rief Tante Cäcilie herüber.

»Kann ich Ihnen ganz genau erzählen,« sagte Herr v. Tillen, »ich war Augenzeuge.«

Und nun schilderte er mit köstlichem Humor die eben erlebte Bratwurstszene. Er riß alle drei Tanten mit sich fort, obgleich die eigentlich das Gefühl hatten, daß sie als richtige Pädagogen alles andere eher tun als lachen sollten.

Sibylle gab dem Gefühl Ausdruck durch ein bedenkliches: »Aber Renate?«

Eben steckte die den Kopf zur Tür herein, sie hatte noch gerade den Lachchorus der Schwestern gehört.

»Dacht' ich's doch. Jeder Unsinn, den die Mamsell ausheckt, wird hier belacht. Wie soll denn da was aus dem Kinde werden? Und gerade jetzt, wo ihr doch selbst wißt, in wie wichtigen, entscheidenden Tagen wir stehen, wo es sich um Goldchens Zukunft handelt!«

Tante Renatens Stimme klang sehr ernst, und die drei Schwestern senkten schuldbewußt das Haupt.

Annaliese aber flog auf die Tante zu und umschlang sie.

»Nie wieder tun, Tantchen, nie wieder tun!« schmeichelte sie, und die braunen Augen wußten so zu betteln und zu flehen, daß Tante Renate nicht widerstehen konnte.

»So denk an deine Pflicht, Kind, und deck den Tisch!« sagte sie leise.

Annaliese warf einen zweifelnden Blick nach Herrn v. Tillen.

Tante Renate sah es.

»Der Herr Nachbar verzeiht diese häuslichen Verrichtungen in seiner Gegenwart gewiß. Er weiß ja, daß es zu deiner Erziehung gehört und wie viel uns gerade in diesen Wochen daran liegt, dich noch einmal gründlich alles und jedes tun und bedenken zu lassen.«

Herr v. Tillen verneigte sich.

»Bitte, sich durch mich in nichts stören zu lassen. Als alter Nachbar und gewissermaßen Hausgenosse habe ich das Recht, behandelt zu werden, als ob ich dazu gehöre. Und wie ich mich für Annalie– Pardon, Fräulein Annaliesens Entscheidung interessiere, das brauche ich wohl kaum zu sagen.«

Früher hatte er immer Annaliese, ja Goldchen gesagt. Auch noch nach der Konfirmation, die doch sonst hierin einen Abschnitt bildet, hatte er auf Goldchens inständiges Flehen diese Anrede beibehalten. Erst seit einem Jahr etwa, seit das Mädchen anfing, so merkwürdig erwachsen auszusehen, da hatte er darauf bestanden, Fräulein Annaliese zu sagen.

Und Annaliese? Die hatte es sich diesmal ruhig gefallen lassen.

Das gehörte eben mit zu den leidigen Pflichten des Erwachsenseins.

O, dies schreckliche Erwachsensein! Was trat da alles an einen heran. Die Zukunft! Annaliese hat gar nicht gewußt, daß das so etwas Schreckliches sei.

Wie hatte sie sich früher von Jahr zu Jahr aufs Kommende gefreut. Wie hatte sie namentlich die Spanne von Weihnacht zu Weihnacht jedesmal so unerträglich lang gefunden. Das war doch auch Zukunft gewesen.

Und nun? Weshalb ließen die Tanten nun plötzlich diese »Zukunft« fast als Popanz aufmarschieren.

Annaliese hatte das Köpfchen gesenkt und grübelte und grübelte.

»Goldchen, aber hörst du denn gar nicht? Herr v. Tillen will die berühmten Würste mitkosten. Leg also ein Gedeck mehr auf und tummle dich ein bißchen!« Tante Beatens Stimme sagte das.

Goldchen fuhr auf und sah Tante Beate ganz entsetzt und verlegen an.

»Aber Tantchen, es – es sind doch nur sechse,« sagte sie fast stotternd, »und das Kraut ist gewärmt und –«

Ein lautes Lachen unterbrach sie.

Dann sagte Tante Renate – sie liebte solche Auseinandersetzungen über den ihr anvertrauten Haushalt nicht – ganz ärgerlich: »Das laß meine Sorge sein, Kind, und kümmere dich nur um das Tischdecken!«

Annaliese warf den Kopf zurück. Meinethalben hieß das. Aber dann machte sie sich flink und fröhlich an die Arbeit.

Bald stand der Tisch sehr niedlich und appetitlich gedeckt da. Blumen in kleinen zierlichen Vasen fehlten nicht. Ja Annaliese hatte noch eiligst jedem eine Rose aus dem Garten geholt und auf das Gedeck gelegt.

Dann hatte sie flink in der Küche noch einmal nachsehen wollen, war aber von Tante Renate schleunigst in die Flucht gejagt worden.

»Geh und mach dich zurecht, Kind, gleich wird Elise zu Tisch schellen. Und, Goldchen, hör, kämme dir das Haar tüchtig, es hängt dir etwas gar zu genial um den Kopf.« Zu Tante Renatens Zeit hatte ein glatt gekämmter und gebürsteter Scheitel unzertrennlich zu einem sittsamen jungen Mädchen gehört.

Goldchen war singend nach oben geeilt.

Dann schellte Elise.

Die anderen saßen bereits um den Tisch, als Annaliese den Kopf durch den Türspalt steckte. Vier Paar strafend blickende Augen sahen ihr entgegen, in denen sich bei ihrem Anblick alsbald unsicheres Staunen malte.

Was hatte das Kind mit sich angefangen?

Keine der vier Tanten hätte es im Augenblick zu sagen gewußt.

»Wie 'ne gebadete Maus!« sagte Herr v. Tillen trocken und traf damit den Nagel auf den Kopf.

Annaliese lachte ihm zu.

»Pardon, wie ein gesittetes Mädchen mit glattem Scheitel, was Tantchen?« Ein Schelmenblick traf Tante Renate.

Die war ob solcher Wirkung ihres Mahnens noch ganz starr.

»Na, dich so zu verunstalten hättest du grade nicht gebraucht,« sagte sie dann fast erzürnt.

Annaliese lachte wie ein Kobold und schob sich mit beiden Händen das straff gezogene Haar noch straffer aus der Stirn.

»Gefall' ich dir denn kein bißchen, Tante Beate?«

Die braunen Augen blitzten die Tante an.

In deren Augen saß der Schalk.

»Könnt's nicht behaupten,« sagte sie aber nur trocken. »Doch jetzt leg die Suppe vor, Kind, das ist uns wichtiger als deine Frisur.«

Annaliese war feuerrot geworden und beeilte sich, ihre Pflicht zu tun.

Als man dann fröhlich die Suppe verzehrte, fragte Herr v. Tillen launig: »Heute ist wohl Fräulein Annaliesens letzter Kochtag in der Probewoche, was?«

»Ach nein, Onk– Herr Nachbar,« verbesserte sich Annaliese eilig – sie hatte früher Onkel gesagt und erst seit sie »Fräulein« geworden, hatte sich die Anrede dem alten Freund gegenüber in »Herr Nachbar« oder »Herr v. Tillen« gewandelt. »Ach nein, der ist ja erst morgen. Und nun müssen Sie grade heute zum Wärm- und Restetag kommen. Zu schmählich!«

»Ja, warum haben Sie mir keinen Wink gegeben?«

»Ach was, Sie hatten ja die Würste gesehen. Das übrige konnten Sie sich hinzu denken.«

Annaliese schien ganz unwirsch. Die Tanten lachten.

»Und morgen hätt's Tauben gegeben,« klagte sie weiter in ganz elegischem Ton. »Tauben! Ich habe sie selbst heute schon zurechtgemacht und gefüllt, weil morgen Aprikosen eingemacht werden soll– Tantchen,« brach sie plötzlich ab und bog sich mit hörbarem Flüsterton Tante Renate zu. »Tantchen, weshalb haben wir die nicht eigentlich heute noch schnell gebraten? Soll ich?«

Wie vom Bogen geschnellt war sie aufgefahren und wollte davoneilen, als Tante Renate sie eben noch haschte.

»Dummheiten und kein Ende!« sagte diese halb lachend, halb ärgerlich. »Willst du wohl wie ein vernünftiger Mensch ruhig bei Tisch sitzen bleiben!«

Annaliese war sehr gekränkt. Hatte sie nicht eben eine Idee gehabt, die des vernünftigsten, erwachsensten Menschen würdig war? Und so abgefertigt zu werden!

Sie warf das Köpfchen zurück. »Na, denn nicht,« hieß das, und sie setzte sich, jeder Zoll eine beleidigte Königin, wieder auf ihren Platz.

Tante Beate schob ihr die Hand hin. Sie lachte noch immer.

»Goldchen,« sagte sie begütigend.

Und Goldchen schmiegte das junge Gesicht in die liebe alte Hand. Als sie es danach wieder hob, war kein Schatten mehr zu sehen, nur eitel Sonnenschein lag darauf.

Die berühmten Würste und das gewärmte Kraut waren genossen. Die Würste waren durch die ihnen angediehene rauhe Behandlung geplatzt und hatten die abenteuerlichsten Formen angenommen. Annaliese schämte sich sehr. Da man aber nur schmunzelte und keiner was sagte, schwieg auch sie.

Elise hatte abgetragen und zu Annaliesens grenzenlosem Erstaunen die Gabeln gewechselt. Tante Renate hielt hartnäckig den Blick abgewendet, um Annaliesens fragenden Augen nicht zu begegnen.

Da erschien Elise wieder mit einer großen Schüssel, der ein köstlicher Duft entströmte.

Annaliese streckte den Hals und hob sich, da das nicht genügte, auf die Fußspitzen. Jetzt hatte sie den Inhalt der Schüssel erkannt.

»Tauben, meine Tauben!« jubelte sie und flog, die Hände zusammenschlagend, im Wirbeltanz um den Tisch.

Tante Cäcilie, die am meisten auf feine Formen hielt, wollte eben tadelnd eingreifen, da saß Annaliese auch schon wieder auf ihrem Platz. So begnügte sie sich damit, den Kopf sehr vorwurfsvoll und ernst zu schütteln.

Die anderen lachten. Annaliese in ihrer Ekstase über die Tauben war zu komisch.

Elise stellte die Schüssel vor Annaliese hin.

»Leg vor, Kind,« sagte Tante Renate.

Und Annaliese teilte aus mit einer Miene, als ob sie ein Königreich zu vergeben hätte. Erwartungsvoll sah sie Herrn v. Tillen an, als er den ersten Bissen in den Mund schob.

»Wundervoll, was?«

»Köstlich,« bestätigte er sehr ernst, und die Tanten lachten auf.

»Hab' ich aber auch ganz allein zurechtgemacht, ausgenommen und gefüllt,« sagte Annaliese stolz. Ein förmlich verweisender Blick traf die lachenden Tanten.

»Wirklich ausgenommen?« fragte Herr v. Tillen mit sehr unschuldiger Miene.

Annaliese sah ihn erst ungewiß an, dann begriff sie, wurde sehr rot, mußte aber doch lachen.

»Ach, damals war ich doch noch sehr jung,« sagte sie fast entschuldigend.

»Ja freilich, solch einem Methusalem, wie Fräulein Annaliese jetzt ist, kann so etwas nicht mehr passieren. Die Hähnchen –«

»Bitte, seien Sie nur davon still,« unterbrach ihn Annaliese fast unhöflich und fuhr sich mit der Hand an das Näschen. »Wenn ich nur daran denke, wird mir noch heute schwach.«

Sie lachte sehr drollig verlegen und sah die Tanten an.

»Wer hat mich übrigens verraten? Ich dachte, der Streich wäre ganz unter uns geblieben.« Sie schmollte.

»Goldchen!«

Die vier alten Damen riefen's aus einem Munde, und Tante Renate setzte hinzu: »Die Geschichte von den unausgenommenen Hähnchen und unserem Entsetzen war doch zu gut, als daß ich sie dem Herrn Nachbar hätte vorenthalten können.«

Es klang fast wie eine Rechtfertigung, und Tante Renate sah Goldchen dabei förmlich bittend an.

»Und ich bitte mir aus, daß wenn von ›unter uns‹ geredet wird, ich mit dazu gerechnet werde,« sagte Herr v. Tillen.

Da mußte Goldchen lachen.

»Ja, aber unausgenommene Hähnchen sind für eine Köchin eine etwas kitzlige Sache und –«

»Jeder zahlt Lehrgeld, Kind, und keiner zahlt's aus bis er sich zur ewigen Ruhe legt. Da kommt's nur darauf an, sich den entsprechenden Wert für das Gezahlte anzueignen und zu wahren. Und das steht beim Menschen selbst.«

Tante Beate sagte es mit ihrer lieben, sanften Stimme, und sie fuhr dem neben ihr sitzenden jungen Menschenkinde, das erst ganz bescheiden angefangen hatte, von jenem Hort zu sammeln, von dem Tante Beate sprach, kosend über den goldenen Scheitel.

»Mein Goldchen!« Eine Welt von Liebe und Zärtlichkeit lag in dem Ton.

Goldchen haschte die kosende Hand und küßte sie.

Inzwischen waren die Tauben verzehrt und sehr gelobt worden.

»Ja, aber gebraten habe ich sie nicht,« meinte Annaliese nun fast melancholisch, »und den guten Gedanken, sie heute zu geben, hab' ich auch erst gehabt, als es zu spät war, und – und – ich glaube wirklich, Tantchen, als Stütze der Hausfrau tauge ich nicht.«

Zweifelnd sah sie Tante Renate an.

Die wollte eben erwidern und auch Tante Sibylle und Tante Cäcilie schienen reden zu wollen, da hob Tante Beate die Hand.

»Wie heißt die Verabredung? Goldchen entscheidet sich endgültig erst an ihrem Geburtstag. Vorher darf keinerlei Besprechen oder Beeinflussen stattfinden. Ich möchte darauf halten, daß das Programm streng durchgeführt werde.«

Die drei Schwestern fügten sich wortlos der Autorität der ältesten.

Annaliese senkte leise seufzend das goldene Köpfchen.

Frau Sonne hatte urplötzlich den Liebling wieder erspäht. Mit schmeichelndem Finger griff sie durch einen Ladenspalt. Annaliesens Scheitel, von dem die mit Wasser und Gewalt glatt gebürsteten Löckchen sich längst wieder eigenwillig gelöst und geringelt hatten, flammte in goldener Glorie auf.

Herr v. Tillen sah fast gerührt darauf hin. Heines »Du bist wie eine Blume« zog ihm durch den Sinn. Was hatte das Schicksal diesem jungen Menschenkinde zugedacht? Würde der Strahlenglanz dauern, der jetzt eben das junge Haupt flimmernd umgab, oder würde düsterer Schatten ihn auslöschen? Sinnend ruhte sein Blick auf dem Kinde. Würde es die Kraft haben, den ernsten Kampf mit dem Leben aufzunehmen? Würde dies zarte Kind sich durchringen?

Es war, als ob Tante Beate seine Gedanken erriete.

»Vor einen Kampf gestellt zu sein, Herr v. Tillen, ist an und für sich kein Unglück. Der Kampf, jedes Ringen stählt, macht stark, lockt aus dem Menschen heraus, was Gutes und Tüchtiges in ihm steckt. Und hier ist mir nicht bange,« mit einem bezeichnenden Blick nach Annaliese, »da steckt Mark drin!«

»Das Leben ist schwer,« seufzte Tante Sibylle.

»Und die Not streift des Lebens Blüte ab,« klagte Tante Cäcilie.

Tante Renate seufzte nur, während Tante Beate einen mahnenden Blick in die Runde warf.

»Schämt euch, ihr Kleinmütigen,« sagte sie, und durch ihre Stimme klang solch frohe Zuversicht, daß die Schwestern beschämt davor den Kopf senkten.

Goldchen hatte mit großen, erstaunten Augen von einer zur anderen gesehen. Da ging's sicher wieder um sie und ihre »Zukunft«. Die Zukunft, die sich plötzlich in dem Mund der Tanten drohend wie ein Schreckgespenst vor ihr aufrichtete.

Weshalb nur?

So schlimm war es doch sicherlich nicht. Freilich, von den Tanten fort sollen – Goldchen gab's einen Stich durchs Herz. Aber wenn man einmal draußen war – Goldchen richtete sich stramm auf, Goldchen hatte ein tapferes kleines Herz – dann würde es sich mit redlichem Wollen und dem bißchen ehrlich erworbenen Können doch durchkommen lassen.

Wenn man nur erst wüßte wo und wie! Da lag der Haken.

Jetzt seufzte auch Goldchen. In vierzehn Tagen, an ihrem siebzehnten Geburtstag sollte die Entscheidung fallen.

Herr v. Tillen hatte bemerkt, wie das goldene Köpfchen sinnend tiefer und tiefer sich neigte. Er hob sein Glas.

»Lassen Sie uns auf Gold– ich meine Fräulein Annaliesens Zukunft und auf eine glückliche Lösung der Frage, die an sie herantritt, trinken. Wie unser aller Wünsche sie begleiten, weiß sie – muß sie wissen. Ich beanspruche hierin vollständig Tantenplatz und Tantenstimme, als fünfter im Bunde, hoffentlich nicht als fünftes Rad am Wagen.«

Die anderen lachten und protestierten. Er fuhr fort: »Also, meine Damen, es gilt Fräulein Annaliesens, unserer Nichte, unseres Kindes, unseres Verzugs – –« seine Stimme war immer weicher geworden – »Glück und Zukunft. Es gilt Goldchens Zukunft!«

Sie hatten sich alle erhoben, bis auf Tante Beate natürlich, und er trank allen zu.

Goldchen ging von einer Tante zur anderen. Jede legte den Arm um sie und küßte das blühende Gesicht.

Vor Herrn v. Tillen blieb Goldchen stehen.

»Danke, liebe fünfte Tante,« sagte sie schelmisch, und es war, als ob sie auch ihm das taufrische Gesicht zum Kusse bieten wolle.

Er wich unmerklich zurück und legte die Hand auf den goldenen Scheitel.

Das Köpfchen bog sich nach hinten, tief und forschend sah er in die großen braunen Kinderaugen, die den Blick, ohne zu zucken, aushielten. Da seufzte er ganz, ganz leise.

Keine der Tanten hatte es gehört. Sie waren alle mit Goldchen beschäftigt, die eben noch einmal die Runde machte, sich dann bei Tante Beate niederkauerte und sie mit den Armen umschlang.

»Ich fürchte mich kein bißchen vor eurer ›Zukunft‹, Tantchen,« sagte sie schelmisch mit ihrer frohen jungen Stimme. »Wenn man nur ehrlich will, wird's schon ein Durchkommen geben durch diese Zukunft.«

»Bleib dabei, Kind, bleib dabei!«

Tante Beate sagte es so zärtlich und weich. Tante Renate schnüffelte hörbar, und Tante Sibylle und Tante Cäcilie wandten krampfhaft die Köpfe anderswohin.

»Dürfte ich nun um meine gewohnte Zigarre bitten?« unterbrach Herr v. Tillen die gerührte Stille.

Goldchen flog davon und war im Handumdrehen mit dem Gewünschten zur Stelle.

»Wir gehen auf die Veranda, bitte. Es ist jetzt ganz schattig da. Meine Hängematte habe ich auch dort aufgeschlungen, und die neueste Kränzchennummer liegt schon bereit. Ich bin furchtbar begierig, zu hören, wie es der Tilde Minkwitz weiter geht. Sag mal, Tantchen, in den Büchern heiraten doch immer alle Mädchen, wie kommt's denn da, daß ihr – daß ich –«

»Kind, naseweise Fragen stellt man nicht.«

Tante Cäcilie war gereizt, man hörte es.

Goldchen sah sie ganz erstaunt an.

»Ja, Tantchen, aber –«

Da faßte Tante Beate das Kind am Kleid, da es in Greifweite stand, und zog es zu ihrem Stuhl heran.

»Herzenskind, das wirkliche Leben schreibt eben oft andere Geschichten als die in Büchern. Und alte Jungfern wie wir –«

»Nenn den häßlichen Namen nicht für eine so nette Sache, Tantchen,« rief Goldchen eifrig. »Wenn ihr alte Jungfern seid, so wünsch' ich mir nichts Besseres als auch so eine zu werden. Hurra, ich werd' 'ne alte Jungfer!«

Damit flog der Schalk auf die Veranda, schwang sich leicht in die Hängematte, schob das Kissen unter dem Kopf zurecht, schaukelte sich und war alsbald in die Schicksale ihrer Lieblingsheldin vertieft.

Tante Renate hatte sie halten wollen wegen des Tischabdeckens, das eigentlich Goldchens Arbeit war. Sie schüttelte den Kopf, sagte aber nichts und griff lieber selbst zu.

Goldchen hörte das Klappern. Wie das Schlachtroß beim Klang der Trompete hob sie den Kopf.

Richtig, der Tisch! Wie der Wind war sie an Tante Renatens Seite. Die nickte fast gerührt.

Im Handumdrehen war die Arbeit getan, und danach las und ruhte sich's noch einmal so schön draußen unter dem grüngoldenen Blätterdach in der Hängematte.

Herr v. Tillen saß daneben auf seinem Stuhl und hielt die Zeitung vor sich hin.

Drinnen im Zimmer wurde es allmählich sehr still. Nur von Zeit zu Zeit drangen ganz verdächtig klingende Laute heraus zur Veranda.

Goldchen lächelte, wenn sie sie hörte. Sie kannte sie schon lange. Immer pflegten sie den Nachmittagschlummer der Tanten zu begleiten.

Sie hob das Köpfchen und blickte nach Herrn v. Tillen, ob auch er die Laute höre.

Sie begegnete seinem eigentümlich forschend auf sie gehefteten Blick.

Warum sah er sie so an?

Goldchen wurde ganz verlegen, tastete an ihrer Frisur herum und zog geschwind die Bluse straffer. Gewiß war irgend etwas in Unordnung.

Dann winkte sie schelmisch nach dem Zimmer hin, von wo die Laute eben verstärkter und in verschiedenen Tonlagen klangen, und lächelte.

Und Herr v. Tillen lächelte auch.

Dann war es ganz, ganz stille.

Sommermittagschwüle brütete über dem kleinen Haus. Kein Laut regte sich unten im lauschigen Garten. Selbst die Vöglein schienen zu schlummern. – – –

Die vier Schwestern, Beate, Sibylle, Renate und Cäcilie Westernhagen lebten seit dem Tode des Vaters hier auf dem Gute, das Herrn v. Tillen gehörte.

Bevor der Vater starb – er war Bergrat gewesen – hatten sie mit ihm in der Stadt gewohnt. Die Mutter war schon sehr, sehr frühe gestorben, die Schwestern waren kaum herangewachsen gewesen. Neben diesen war noch ein kleiner Nachkömmling in der Familie, ein Brüderchen, dessen Erziehung nun den Schwestern überlassen blieb. Die hatten treulich ihre Pflicht an ihm getan, und er war zur Freude der Seinen herangewachsen. Sein Tod war der erste Schmerz, den er ihnen zufügte.

Dem alten Bergrat war dieser herbe Schmerz erspart geblieben. Er war lange vor dem Tod des Sohnes heimgerufen worden.

Das Schicksal der Töchter hatte ihm Not bereitet.

Er hatte sich einmal zu seinem besten Freunde, Benno v. Tillen, dem Vater des jetzigen Herrn v. Tillen, drüber ausgesprochen.

»Wenn ich an die Mädels denke, Benno,« hatte er gesagt – das jüngste dieser »Mädels« war mittlerweile schon dicht an die Vierzig herangerückt, wo aber bedächte ein Vater das? – »wenn ich an die Mädels denke, Benno, dann fällt mir das Herz in die Hosen.«

»Wieso?« hatte der geknurrt.

»Ja, sieh. Mit meiner Pension und dem bissel, was ich zusammengekratzt habe, da ging's bis jetzt ja noch allenfalls. Die Mädels verstehen eben zu sparen. Ohne die Pension aber – ich weiß nicht, wie das werden soll. Für den Franz ist mir nicht bange, der kommt voran im Leben, ist ja jetzt schon Oberleutnant zur See, aber die Mädels, die Mädels!«

Herr v. Tillen brummte etwas in seine silbernen Bartstoppeln und kratzte sich sein dichtes, weiches Borstenhaar.

Was er brummte, klang wie: um Rat fragen.

Der Bergrat verstand den Freund, er war dessen Brummen und Knurren gewöhnt.

»Hab' ich getan, alter Freund, hab' ich getan. Und mein Freund, der Justizrat Sommer hat mir geraten, die Mädels sollten auf ihr kleines Vermögen gegenseitige Leibrente nehmen. Da erbt immer eine von der anderen und zuletzt geht's zum Kuck– will sagen an die Versicherungsgesellschaft. Dem Franz freilich bleibt 's Nachsehen, aber der ist's zufrieden, und er kann den Mädels das Opfer bringen, haben seinerzeit genug für ihn gebracht.«

So war's denn auch nach des Vaters Tod geschehen. Aber es wollte trotz allen Sparens und Einrichtens der vier Schwestern doch kaum zu dem bescheidensten Leben reichen.

Keiner ahnte, welche Entbehrungen sie sich innerhalb ihrer bescheidenen Wände auferlegten, um nach außen, »Väterchen« zuliebe, den Schein eines gewissen Wohllebens zu wahren. Klaglos, im Gegenteil noch mit dem Gefühl des Dankes, vor tausend anderen bevorzugt zu sein, in rührender Standhaftigkeit ertrugen sie, was sie sich freiwillig im steten Rückblick auf »Väterchens Stellung« auferlegten.

»Väterchen hätte niemals erlaubt, daß wir kein Mädchen hielten!«

Und obgleich sie ihr bißchen Hausarbeit mit der größten Leichtigkeit selbst hätten besorgen können, hielten sie ein Mädchen, und fütterten diese Fünfte auf eigene Kosten noch mit durch. Das heißt, sie darbten und sparten sich vom Munde ab, um dem Appetit des jungen, kräftigen Landkindes in allen Stücken gerecht werden zu können.

Auch Bruder Franz bekam, wie er es zu Väterchens Zeiten gewohnt war, oftmals – so oft es eben möglich und er in Sendweite war – sein Kistchen mit Leckerbissen und Liebesgaben aller Art.

»Der gute Junge! Hat uns das große pekuniäre Opfer gebracht! Wir können es ihm nie genug danken!«

So sagten die Schwestern, und wendeten Kleider und Mäntel siebenmal und setzten ein achtes Jahr denselben Hut auf, nur um dem Bruder die kleinen, gewohnten Liebesbeweise zugehen lassen zu können.

Da kam einmal Herr v. Tillen zu Besuch, um sich nach des alten Freundes »Mädels« umzuschauen.

Er war öfters im Hause, sah und ahnte noch viel mehr von der herrschenden Sorge. In seiner biderben Gradheit ging er alsbald auf sein Ziel los.

»Jammerwirtschaft!« knurrte er. »Nicht so fortgehen!«

Die Schwestern waren erst sehr erschrocken und wollten sich abweisend verhalten.

Der herzlichen Teilnahme aber, die ihnen unter seinen rauhborstigen Augenbrauen her entgegenleuchtete, war schwer zu widerstehen.

Sie waren besiegt, und nun kam die Aussprache.

In welche Tiefen stummen Duldens, opferwilligen Entsagens blickte Herr v. Tillen. Welche Größe im Ertragen trat ihm entgegen. Sein Entschluß war bald gefaßt.

»Änderung schaffen,« knurrte er. »Zu mir kommen. Haus leer. Wohltat für mich!«

Die Schwestern sträubten sich und brauchten fast ein Jahr, sich die Sache zu überlegen. Dann kam die bittere Notwendigkeit. Sie sahen, so konnte es nicht weitergehen.

Krankheit war gekommen mit dem Gefolge von Arzt- und Apothekerrechnung, und nun klappte es an keinem Ende mehr.

So wurde die Übersiedlung zu Herrn v. Tillen beschlossene Sache.

Das war der erste Lichtblick.

Das Gut war in herrlicher Gegend, am Fuß bewaldeter Berge gelegen. Sehr einsam! Aber das war den Schwestern eben lieb.

Es war ein uralter, reicher Herrensitz aus feudaler Zeit.

Das Schloß, ein breites, langgestrecktes, niederes Gebäude mit mächtigem Kuppeldach, von sogenannten Kavalierhäusern umgeben. Ein uralter Park mit Riesenbäumen, die mit ihren mächtigen Kronen Schloß und Umgebung überdachten.

Dahinter der Wirtschaftshof mit seinen Bauten.

In einem der Kavalierhäuser, langgestreckt und niedrig wie der Hauptbau, hatte Herr v. Tillen die Töchter seines Freundes untergebracht.

Und da hausten sie nun in ihrem eigenen Reich schon jahrelang, glücklich und zufrieden. Der Überfluß aus der Schloßwirtschaft, aus Gemüsegarten und Hühnerhof ergoß sich in ununterbrochenem Segen in den kleinen Haushalt – die Sorge war in graue Fernen gewichen.

Dann kam der zweite Lichtblick.

Bruder Franz, der mittlerweile Kapitän zur See geworden war, heiratete.

Er heiratete seiner Aussage nach das schönste, beste, liebste Mädchen, das es auf Gottes weiter Welt gab. Und als nach Ablauf von drei Jahren etwa Schwägerin Magdalene einmal mit der kleinen Annaliese, die schon zwei Jahre zählte, zu Besuch kam, da ergänzten die Schwestern des Bruders Ausspruch noch dahin, daß der Glückspilz auch das schönste, beste, liebste Kind besitze, das je die Sonne beschienen und angelacht hatte.

Annaliese, damals schon Goldchen genannt, war seitdem der Abgott der Tanten. Und nun kamen wirklich schöne, frohe, sonnenhelle Jahre, in denen die Schwestern auflebten und fast noch einmal jung wurden.

Was sie diese sorgenlose Zeit noch mehr genießen machte, war, daß sie sahen, was sie Herrn v. Tillen durch ihre Gegenwart sein konnten.

Seine Frau war tot, sein einziger Sohn Offizier. Der alte Mann war oft sehr einsam gewesen.

Seit das kleine Haus im Park zum trauten Heim der Schwestern geworden war, seit er dort seine Abendpfeife rauchen und manche Stunde des Tags noch außerdem da verbringen konnte, hatte der alte Herr erst das Heimatgefühl in der eigenen Heimat wiedergefunden.

Wenn seine überreiche Güte einmal auf den Schwestern lasten wollte, und sie dem Ausdruck gaben, wies er darauf hin, und sie waren besiegt.

»Papperlapapp! Unsinn. Bin der Empfangende weitaus! Gräßlich gewesen vorher!« Damit schnitt er jedes weitere Wort ab.

Beate, die Stille, Klare, Milde, Beate, die Geduldige in ihrem Sessel, die mit den guten, klugen ernst-heiteren Augen jedem, der ihr nahte, bis ins Herz zu sehen schien, die für jeden das beste Wort fand, Beate war sein erklärter Liebling.

»Seele von 'nem Frauenzimmer,« knurrte er, ihrer gedenkend vor sich hin. »Hat alles noch mit in Kopf und Herz, was andere in den Beinen haben. Tausend Sapperlot, alle Achtung!«

Sibylle und Renate mit ihren weiblichen Talenten in Kochen und Handarbeiten, die sie in großer Treue auch seinem Haushalt zu gut kommen ließen, wo ein Eingreifen bei der Wirtschafterin not tat, fanden seine volle Anerkennung.

»Tüchtige Mädels!« knurrte er und nahm in Bezug auf sie unbewußt die Ausdruckweise des alten Freundes an.

Seit sie sich um seinen Haushalt kümmerten, gab's für ihn keine Hetzereien und Zänkereien mit den Wirtschafterinnen mehr, und er genoß diesen Frieden sehr.

Nur Cäcilie, die vierte und jüngste der Schwestern, umging der alte Herr mit Vorsicht. Ihre Künste und Wissenschaften flößten ihm eine Art scheuen Schreckens ein. Ihre Beethovenschen Sonaten, ihr Goethe und Schiller schlugen ihn stets in die Flucht.

Seitdem sie ihm aber einmal die »Schöne blaue Donau« und »Noch ist Polen nicht verloren« vorgespielt und am Abend dann die Münchhauseniaden vorgelesen hatte, seitdem war auch seine Scheu vor ihr und ihrer Gelehrsamkeit gewichen.

»Passabler Blaustrumpf,« knurrte er, »nicht so übel! Sonst – drei Schritt vom Leibe!«

In Frieden gingen die Jahre hin. Da kam die erste Wandlung. Ein großer Schmerz hielt bei den Schwestern Einzug.

Das Schiff, auf dem Bruder Franz eine Reise nach China machte, dies Schiff zerschellte in einem Taifun, und die ganze Mannschaft war verloren.

Die junge, trostlose Witwe, die in ihrer Vaterstadt Hamburg lebte, zog mit Annaliese nun wieder ganz zu den Eltern. Da der Vater ein wohlhabender Kaufmann war, so blieben wenigstens pekuniäre Sorgen ferne.

Die Trauer um den Bruder war tief und schwer, und den Schwestern war, als könne Frohsinn und Freude nie mehr Einzug bei ihnen halten.

Dann legte das Schicksal die Hand auf Herrn v. Tillen. Sein einziger Sohn entgleiste mitten in seiner anscheinend glänzenden Laufbahn.

Ein Freund – ein Duell – unglücklicher Ausgang für den Freund – das Nähere erfuhren die Schwestern nie. Nur so viel versicherte der alte Vater und betonte es immer wieder: Ehrenrühriges für den Sohn war nicht dabei. Im Gegenteil – er hatte sich tadellos benommen.

Herr v. Tillen, der jüngere, mußte ein Jahr Festung verbüßen, und dann brachte der alte Vater einen gebrochenen Sohn mit sich heim.

Ein ernster, absonderlicher Mensch war der Sohn ja schon immer gewesen. Ein Mensch, der lieber ein gutes Buch las oder einen Gang in Gottes freie Natur unternahm, als an den geselligen Vergnügungen der Jugend teilzunehmen. Seine Liebhabereien lagen weitab von denen, die sonst bei jungen Offizieren üblich sind. Der Vater hatte schon immer verständnislos den Kopf über ihn geschüttelt.

»Verdrehter Hecht! Möcht' wissen, woher er's hat? Von mir nicht. Bücher – puh! Eher von Mutter. Immer in Leihbibliothek geschmökert. Tolle Welt! Anders gewesen zu meiner Zeit.«

Aber er hatte den Sohn herzlich geliebt, und der Sohn war ein prächtiger, frischer Mensch gewesen.

Jetzt war er zum lichtscheuen Sonderling geworden.

Jedem Verkehr, allen Menschen ging er aus dem Wege, und nur ganz allmählich bürgerte er sich drüben im kleinen Hause bei den Schwestern ein, die ihm mit zarter, verständnisvoller Rücksicht entgegenkamen.

Bei Beatens Stuhl konnte er stundenlang sitzen, ihre weiche Stimme hören und in ihre milden Augen schauen.

Im Gegensatz zu seinem Vater regte ihn Cäciliens lebhafter Geist sehr an. Sie musizierten und lasen manch gutes Buch zusammen.

Der Alte war's zufrieden, knurrte aber doch jeweilig sein: »aus der Art geschlagen« vor sich hin. Im ganzen war er glücklich, daß der Sohn augenscheinlich wieder auflebte.

Und als sein Stündlein schlug, ließ er die Schwestern feierlich versprechen, seinem Sohn sein zu wollen, was sie ihm, dem Vater, gewesen waren. Unter Glockenklang bei Sonnenschein hatten sie ihn dann begraben an der Stätte, wo alle Tillens seit alten Zeiten ruhten.

Die Schwestern hatten dem alten Freunde manche dankbare Träne nachgeweint, und dann war der Sohn unmerklich an seine Stelle getreten.

Er war reichlich um eine ganze Generation jünger als die Schwestern. Sein Vater hatte viel später geheiratet als Bergrat Westernhagen, und er, der Sohn, war ein kleiner Spätling in der Ehe gewesen, die jahrelang kinderlos geblieben war.

Er stand in den Dreißigen, die älteren Schwestern waren nahe an und über sechzig. Nur über Cäciliens Alter schwebte ein gewisses Dunkel, das nicht gelichtet wurde. Sie war etwas empfindlich in diesem Punkt, und die Schwestern ehrten die kleine Schwäche.

So wäre das Leben der fünfe wohl unverändert weiter gegangen, wenn nicht plötzlich etwas eingetreten wäre, das es von Grund aus änderte.

Wie sie alle sich des Tages erinnerten, der mit feurigen Lettern im Grund ihrer Seele eingebrannt war!

Herr v. Tillen war eben von einem Rundgang bei Inspektor und Feldarbeitern heimgekommen. Er saß wie allmorgendlich bei Beatens Stuhl und erkundigte sich eingehend nach ihrem Befinden.

Da kamen eilige Schritte über den Kiesplatz daher, der sich vor dem Schloß und den Nebenbauten erstreckte. Gleich danach gellte die Glocke im Flur.

Die damalige Elise und Renate, die der Tür zunächst stand, streckten zugleich den Kopf aus Küche und Zimmer.

»Ein Telegramm!«

Renate sagte es ganz entsetzt, und alle vier Schwestern hielten den Atem an. In ihrem kleinen Leben bedeutete ein Telegramm etwas Wichtiges, wahrscheinlich etwas Schreckliches!

Beate, der Renate stillschweigend als der Ältesten das kleine inhaltschwere weiße Viereck hingereicht hatte, zitterte so, daß ihr Herr v. Tillen das Papier abnehmen und es öffnen mußte.

Wortlos reichte er es ihr dann hin. Scheu blickte sie darauf. Es kostete ihr offenbar einen Entschluß, danach zu greifen.

Nun hielt sie es in Händen.

Ein Schreckenslaut!

Alle Schwestern drängten heran.

Herr v. Tillen war aufgesprungen und stand abseits.

»Magdalene tot!«

Beate schlug die Hände vors Gesicht. Cäcilie griff nach dem Papier, das zu Boden fallen wollte. Dann las sie:

»Mama tot. Großpapa sehr krank. Kann eine von euch kommen?

Annaliese.«

In hilflosem Jammer sahen die Schwestern sich an.

Cäcilie war alsbald entschlossen, dem Hilferuf der Nichte zu folgen.

Die Schwestern sahen ein, es mußte sein. Und doch war ihnen, als zöge Cäcilie in ihr gewisses Verderben.

Weltabgeschieden, wie sie nun schon seit Jahren lebten, schien ihnen eine solche Reise gleichbedeutend fast mit einem Todesurteil.

Cäcilie reiste noch am selben Abend. Herr v. Tillen brachte sie in seinem Wagen zur Bahn und nahm ihr alle auf Fahrkarte und Gepäck bezüglichen Besorgungen ab.

Vier lange schreckliche Wochen weilte sie draußen in der Fremde.

Annaliesens Großvater war der Tochter rasch gefolgt. Sie hatten ihn an ihrer Seite begraben. Nach seinem Tode stellte sich der vollständige Zusammenbruch seines Geschäfts heraus. Für Annaliese wurde nichts gerettet. Und so brachte Tante Cäcilie Annaliese mit heim. Das einzige, was von Bruder Franz und seinem Glück übrig geblieben war.

Renate und Sibylle hatten die Reisenden von der Bahn im Wagen abgeholt. Sie hatten Annaliese seit deren Kindertagen nicht mehr gesehen gehabt. Nur mit Mühe erkannten sie in dem lang aufgeschossenen, vierzehnjährigen, blassen, ernsten Kind in tiefer Trauer ihr rosiges, sonniges Goldchen von damals.

Tiefen Mitleids voll umarmten sie das junge Mädchen, das vom Leben frühe schon so ernst angefaßt wurde, und die ersten Tränen, die auf den goldenen Scheitel fielen, schwemmten jedes Gefühl des Fremdseins mit fort.

Tante Beate saß daheim und harrte ihrer Lieben.

Selten zuvor in ihrem Leben hatte sie das Gefühl ihrer Hilflosigkeit so empfunden wie heute, wo ihr ganzes Sein in unendlicher Liebe dem verwaisten Kind des Bruders entgegendrängte.

Da rollte draußen der Wagen, es öffnete sich die Tür, und von der schwarzen Gruppe, die da erschien, löste sich etwas Behendes, Schlankes los.

»Goldchen, mein Goldchen!«

Tante Beate umfing den Liebling, bettete das goldene Köpfchen zärtlich an ihrer Brust. Und Goldchen schluchzte, schluchzte herzbrechend. Aber zum ersten Male seit Mamas Tod und all dem Schrecklichen, das danach kam, zog ein Gefühl des Wiedergeborgenseins in die wehe junge Brust. Tante Beate legte die Hand segnend auf den zuckenden, jungen Scheitel: »Der Herr segne deinen Eingang, Kind.«

So war Goldchen zu den Tanten gekommen.

Und der Herr hatte das Liebeswerk gesegnet, das die Tanten an dem verwaisten Kinde ausübten, gesegnet nach zwei Seiten hin.

Goldchen war zu einem glücklichen, sonnigen Menschenkinde herangereift. Goldchen barg in klugem Kopf, in offenem Sinn und warmem Herzen, was jede der Tanten als ihr Bestes aus dem eigenen Selbst gegeben hatte.

Dafür war Goldchen der Tanten Herzenstrost und Augenlust, der Sonnenstrahl, der ihr Alter durchwärmte und durchleuchtete. Sie hatten Liebe gesäet und durften nun Liebe, Liebe ernten.

Der Verkehr mit Herrn v. Tillen, dem Herrn Nachbar, wie er gewöhnlich genannt wurde, erlitt durch den Zuwachs im Häuschen der Schwestern keine Störung.

Im Gegenteil.

Das jungfrische Element lockte in dem vorzeitig sich dem Leben verschließenden Manne hervor, was jung und frisch geblieben war.

Er wurde sichtlich heiterer und tat das Seine, als »Onkel« nicht hinter den Tanten zurückzustehen.

Seine Liebhabereien im Botanisieren und Fischen hatte er dem Kinde beigebracht. Annaliese und er machten köstliche Streifereien draußen über die waldigen Höhen und in den saftgrünen Tälern.

»So 'n Gang mit Onkel Tillen ist wunderbar, Tante Beate,« jubelte die Fünfzehnjährige, wenn sie mit heißen Wangen, leuchtenden Blicks von solch einer Streiferei heimkehrte.

»Glaub' ich, Kind, glaub' ich gerne!«

Unmerklich fast seufzte Tante Beate, und es lag etwas merkwürdig Entsagungsvolles in dem stillen Auge, das Annaliese ansah.

Die besann sich alsbald.

»Ärmstes Tantchen, freilich! Aber sieh, ich glaube wirklich, du hättest den Weg nicht machen können, selbst wenn – Ich bin beinahe müde geworden, Tantchen, denk mal, und du bist doch noch ein bißchen älter, nicht?« so versuchte der Schalk zu trösten.

»Sozusagen,« schmunzelte Tante Beate, »ein ganz klein bißchen.«

Und dann trat eine Sorge an die Tanten heran, die ihnen viel Kopfzerbrechen und manche schlaflose Nacht kostete.

Goldchens Zukunft!

»Hätten wir doch nur seiner Zeit die Leibrente nicht genommen,« meinte Tante Renate.

»Wie kannst du darüber klagen, Renate,« verwies Tante Beate. »Es hat Väterchen das Sterben leicht gemacht.«

»Ja, aber das Kind! Es wäre setzt doch ein bißchen was da.«

»Und wenn's ein Fehler war, Renate, der Herr wird das unschuldige Kind nicht dafür büßen lassen. Er hat stets Mittel und Wege.«

Tante Renate blickte sinnend vor sich hin.

Ja, Goldchens Zukunft! Wie ein Schreckgespenst stieg sie vor den Tanten auf und drückte diese mit der Last ihrer Verantwortung fast zu Boden.

»Goldchen könnte doch heiraten,« meinte Tante Sibylle einmal schüchtern im Rat der Schwestern. »Goldchen ist doch so niedlich!«

Tante Sibylle war bei ihrer anscheinenden Prosa dennoch die romantischst Veranlagte der Schwestern, sie kam aber schön an.

»Heiraten,« fuhr Tante Cäcilie aus, »heiraten! Bist du denn ganz unklug, Sibylle? Wer heiratet heutzutage ein armes Mädchen? Und außerdem, ein Mädchen nur auf die Heirat hin erziehen ist entwürdigend.«

Tante Cäciliens Augen flammten. Tante Sibylle duckte ganz verschüchtert das graue Haupt.

»Aber –«

»Kinder, ihr werdet doch nicht streiten?« Tante Beatens Stimme allein wirkte schon beruhigend. »Sibylle hat recht und Cäcilie hat recht. Wo Herz und Charakter stimmen, ist Heirat sicherlich der schönste, heiligste Beruf des Weibes. Doch die Heirat lediglich als Endzweck ist ebenso sicher vom Übel. Laßt uns das Unsere tun an dem Kinde und auf den Herrn bauen im übrigen.«

Und sie taten das Ihre.

Goldchen hatte bis zu dem vierzehnten Jahr ein ausgezeichnetes Institut besucht. Darauf bauten die Tanten weiter, und der »Onkel« half, soviel er konnte. Tante Cäcilie und er teilten sich in den wissenschaftlichen Zweig der Erziehung.

Goldchen war musikalisch veranlagt, und auch darin tat Tante Cäcilie das Ihre, die Nichte vorwärts zu bringen. Tante Renate und Tante Sibylle vertraten das Wirtschaftliche in Kochen und Handarbeiten.

»So ein unnützes Möbel wie ich,« seufzte Tante Beate. »Ich kann nur zusehen!«

Und doch gab sie Goldchen das Schönste und Beste, sie bildete Herz und Gemüt des Kindes.

So gingen drei oder beinahe drei Jahre hin.

Goldchen war zu einem frischen, frohen Menschenkind herangewachsen, das Kopf und Herz auf dem rechten Fleck hatte. Und in Kopf und Herz lagen wohl aufgespeichert und hübsch gesichtet, was die Tanten Gutes und Bestes hineingesenkt hatten.

In der letzten Zeit hatte Goldchen an den Beratungen der Tanten über ihre »Zukunft« teilgenommen.

Zuerst war sie geneigt gewesen, den plötzlich auftauchenden Popanz komisch zu nehmen. Dann aber hatten ihr heller Kopf und gesunder Sinn den Ernst der Sache schnell erfaßt. Ihr frischer, fröhlicher Mut hatte für die Tanten dem Ganzen den Stachel genommen.

Herr v. Tillen, der anfangs versucht hatte, darauf hinzuweisen, daß ihm als Onkel gewisse Rechte zustünden, daß er ohne Erben sei, freie Verfügung über das Seine habe, Herr v. Tillen wurde so fest und so bestimmt zurückgewiesen, daß er seitdem keinen Einspruch mehr wagte.

So stand man dicht vor Goldchens siebzehntem Geburtstag, dem Zeitpunkt, den die Tanten für die Entscheidung festgesetzt hatten.

Goldchen war dann reif genug, zu erklären, ob sie als Stütze im Haushalt, als Industrielehrerin oder als Erzieherin ihren Weg durchs Leben gehen wolle. Und es blieb dann gerade noch Zeit, sie in dem erwählten Fach die nötigen besonderen Kenntnisse erwerben zu lassen.

Die drei letzten Wochen vor dem Geburtstag sollten gewissermaßen als Rekapitulation dienen.

Jede Woche war einem anderen Fach, einer anderen Tante geweiht.

Jedes Besprechen der Sache während dieser Zeit, jedes Beeinflussen war strengstens untersagt. Goldchen sollte sich frei und selbständig entscheiden. Von ihrem Entschluß allein sollte ihre Zukunft abhängen.

Mit dem glücklichen Frohsinn der Jugend ließ sich das junge Mädchen die Sache nicht allzu nahe gehen.

Und wenn Tante Renate, die gern seufzte, und Tante Sibylle, die sehr weichmütig war, jammerten: »Das Kind, ach das Kind! Wie wird das werden!« da sagte Tante Beate leise und weich: »Das Kind wird recht, verlaßt euch drauf. Das Kind ist aus dem richtigen Holze geschnitzt.« Und Tante Cäcilie nickte stumm dazu.

Die Küchenwoche war nun schon vorüber. Man stand vor Tante Sibyllens, vor der Handarbeitswoche.

* * *

»Tantchen, ach ich glaube wirklich, ich habe die Kante vom Laken abgeschnitten. Da sieh!« Ratlos hielt Goldchen Tante Sibylle die Leinwand hin. Mit einem Jammerlaut griff die Tante danach, und Goldchen war sehr zerknirscht.

»Mach's fadengrad, Kind,« hatte die Tante gesagt. Und das Kind hatte mit äußerster Behutsamkeit und Genauigkeit die ganze eine Längskante peinlichst auf dem Faden abgeschnitten.

»Was tun wir nun?«

Goldchens verdutztes Gesicht wirkte fast komisch und nur mit Mühe konnte Tante Beate, als stille Beobachterin der Szene, aus Rücksicht auf Tante Sibylle ein Auflachen unterdrücken.

Die jammerte immerzu. »Das Dutzend, das neue Dutzend ist verschändet.«

Goldchen warf einen anklagenden Blick nach dem Fenster, das weit geöffnet war und durch das Sonnengold und Vogelfang hereinströmte.

»Weshalb singen die Vögel auch so! Der Fink! Hör nur mal den Finken! Da, jetzt kann er den Triller tadellos. Ich habe immer zuhorchen müssen, ob er ihn herauskriegt, und da hab' ich das Laken – Tantchen, Tantchen, was tun wir nun?«

Die junge Stimme klang fast noch gramvoller als Tante Sibyllens gramgewohnte.

Tante Beate hielt sich nicht länger, sie lachte leise auf: »Zeig mir mal den Schaden, Kind. Eine Hilfe wird's ja wohl geben!«

»Du hast gut lachen,« jammerte Sibylle. »Das Dutzend, ach das Dutzend!«

»Ist ja alles wahr, Sibylle,« beschwichtigte Tante Beate. »Aber sieh mal, es hätte noch viel schlimmer sein können. Wenn nun das Kind beim Einteilen ein Laken halb so lang geschnitten hätte, wie die anderen, was? Goldchen hat Lehrgeld gezahlt, das muß der geschickteste Meister tun, ehe er Meister wird, und wir sind, dünkt mir, mit einem blauen Auge davon gekommen. Geh, Kind, zeig mal Tante Sibylle, ein wie wunderfeines Säumchen du für die fortgeschnittene Kante hinzaubern kannst, und dann ist die Sache erledigt.«

Goldchen warf Tante Beate einen glühend dankbaren Blick zu. Dann sah sie schelmisch und stehend zugleich nach Tante Sibylle.

»Und wenn ich dann fort bin und Tante Sibylle bekommt das Laken, dann hat sie doch stets eine Erinnerung an mich, nicht, Tantchen?«

Da war auch Tante Sibylle weich wie Wachs. Wenn das Kind fort war! Daran zu denken war schon Pein. Wie sollte das erst werden, wenn der Gedanke bittere Wahrheit wurde?

Goldchen setzte sich nun wieder ans Fenster in den goldenen Sonnenschein, die Maschine rasselte und das leuchtende Köpfchen beugte sich eifrigst über die Arbeit.

Da tönte ein Pfiff von draußen.

Ein wundervoller brauner Hühnerhund jagte in eiligen Sätzen hinter seinem Herrn her, der gerade auf das kleine Haus zustrebte.

»Diana, Onk– Herr v. Tillen!« jubelte Goldchen und streckte den Kopf durch das offene Fenster und winkte.

»Annaliese!«

In Tante Beatens Stimme klang leichter Tadel durch.

»Erwachsene, junge Damen winken Herren nicht entgegen und –«

»Aber, Onk– Herr v. Tillen ist doch kein –«

»Herr?« lachte Tante Beate. »Was sonst, Kind?«

»Nun, ich meine kein fremder Herr, vor dem man sich genieren muß, Tantchen. Er ist doch immer mein Onkel gewesen und –«

»Ja, aber jetzt bist du erwachsen oder doch beinahe, und er ist immerhin noch ein jung–«

Vor dem Laut des Staunens und der Verwunderung, womit Goldchen die Hände zusammenschlug und vor dem frisch-fröhlichen Lachen, das sie dann anstimmte, verstummte Tante Beate.

»Guten Morgen, meine Damen,« ertönte es zugleich von der Tür her. Herr v. Tillen trat ein. Diana zwängte sich hinter ihm ins Zimmer und war mit zwei Sätzen bei Goldchen, an der sie ungestüm emporstrebte.

»Diana, Diana, laß!« wehrte die sich und lachte, lachte hell, frisch, klingend. Tante Beate sah vorwurfsvoll mahnend nach ihr hin, Tante Sibylle schüttelte den Kopf.

Herr v. Tillen begrüßte erst die Tanten und trat dann zu Goldchen heran.

»Nun, Fräulein Annaliese, so vergnügt?«

Goldchen wischte sich die Lachtränen aus den Augen und sah ihn schelmisch an.

»Ach ja – ha, ha, ha, es war auch zu komisch.«

»Darf man wissen was?«

Goldchen sah neckisch nach Tante Beate hin.

»Darf er?«

»Annaliese!«

Der Ton fuhr Goldchen durch die Glieder. Sie richtete sich auf und wurde plötzlich ernst. »Ich habe schon solch gräßliche Dummheit gemacht heute morgen,« erzählte sie.

»So, so. Dem Lachen nach hätt' ich's nicht geglaubt.«

»Das, ja das galt ganz was anderem!« Goldchen kicherte noch einmal auf.

Tante Beate rief Herrn v. Tillen an ihre Seite, sie traute dem Frieden nicht. »Kommen Sie zu mir, Herr Nachbar, das Kind ist ganz verdreht heute!«

Er setzte sich zu ihr.

Goldchens Maschine rasselte und Goldchens Kraushaar strahlte im Sonnenschein. Frau Sonne hatte offenbar wieder einmal ihre Lust an dem Liebling.

»Hurra! Nun seht einmal den Saum! Strohhalmbreit! Wunderbar, was, Tante Sibylle? Hurra!«

Goldchen hielt das Laken hoch und tanzte damit durchs Zimmer.

»So, nun wär' die Dummheit gut gemacht, Herzenstantchen, was?«

Ehe Tante Sibylle sich umsehen oder sich gar wehren konnte, war sie in das Laken eingehüllt, so daß kaum ihr Kopf vorsah und Goldchen war mit Diana hinterher aus dem Zimmer.

»Unband!« seufzten die Tanten wie aus einem Mund und Herr v. Tillen lachte herzlich.

Tante Cäcilie trat ein.

»Was hat das Kind? Es läuft wie besessen immer rings um das Haus und Diana hinterher mit Gekläff. Die reine wilde Jagd!«

Tante Cäcilie war ärgerlich, ihr waren solche »jungenhafte Ausbrüche von Tollheit«, wie sie es nannte, unangenehm. Tante Beate schüttelte den Kopf, es lag aber ein warmes Leuchten in ihren Augen.

»Jugend,« sagte sie nur. Tante Sibylle seufzte.

Draußen fiel die Tür etwas gewaltsam ins Schloß. Flinke Füße eilten über den Flur der Küche zu. Nach ein paar Minuten erschien Goldchen unter der Tür mit einem Riesenbutterbrot, in das sie mit großem Appetit hineinbiß.

»Verzeiht, aber ich mußte ein paarmal ums Haus herum mich auslaufen. Jetzt hab' ich mir ein Butterbrot bei Tante Renate geholt und dann geht's wieder an die Arbeit!«

»Willst du dir nicht Teller und Messer vom Büfett holen, Kind?« mahnte Tante Cäcilie. »Dies Hineinbeißen ins Brot schickt sich gar nicht.«

»So? Ist aber so nett!« Goldchen sagte es ganz bedauernd, holte aber sofort das Gewünschte.

Herr v. Tillen lachte in sich hinein.

Goldchen sah ihn schelmisch mahnend an. »Eigentlich dürften Sie mich nicht auslachen, Herr Nachbar,« meinte sie komisch ernst, »da ich eine junge erwachsene Dame bin, sagt Tantchen, und Sie ein–«

Es mußte Goldchen eine Brotkrume in den Hals gekommen sein, vor lauter Husten, Räuspern und Lachen konnte sie den Satz nicht beenden. Tante Beate atmete auf.

Der Kobold! Sie sollte es aber zu hören bekommen.

Tante Cäcilie hatte Herrn v. Tillen mittlerweile in ein lebhaftes Gespräch über ein neues Buch verwickelt. Die Klippe war glücklich umschifft. Dann saß Goldchen wieder stramm bei der Arbeit, und bald danach empfahl sich Herr v. Tillen.

Eine halbe Stunde später schellte es.

Ein Korb wundervoller Aprikosen, über den quer herrlich duftende Lilienstengel gelegt waren, wurde abgegeben: »Für das gnädige Fräulein Annaliese Westernhagen!«

Ein Zettel lag dabei. »Sühnopfer für das Auslachen der erwachsenen jungen Dame!« stand darauf.

Annaliese jubelte.

»Soll mich nur mehr auslachen! Mach' mir gar nichts draus, wenn das die Folge ist.«

»Pfui, wie materiell!«

»Du würdest deine Erstgeburt wohl auch um ein Linsengericht verkaufen, was?«

»Aprikosen sind köstlich,« sagte Annaliese trocken statt jeder anderen Beweisführung.

Und die Tanten mußten lachen.

* * *

Herr v. Tillen sah Annaliese wieder einmal ums Haus stürmen.

Er war auf dem Weg zu seinem allmorgendlichen Besuch bei den Tanten.

»Aha, Vorbereitung zum Butterbrot!« schmunzelte er vor sich hin. Dann rief er laut: »Fräulein Annaliese! Guten Morgen, Fräulein Annaliese!«

Sie winkte nur mit der Hand und war im Nu um die Ecke.

Er stand und sah ihr lachend nach. Und noch einmal erschien sie und noch einmal verschwand sie in eiligem Lauf, wortlos, immer rundum. Dann kam sie atemlos auf ihn zu geflogen. Alles an ihr sprühte und lebte, vom goldglänzenden Scheitel, den leuchtenden Augen bis zu den quecksilberigen Füßen.

»So, da bin ich! Sechsmal lauf ich immer herum, das ist so meine Dosis! Dann geht die Arbeit doppelt so flink!«

»Und das Butterbrot?«

Sie hob schelmisch warnend den Finger.

»Pst, mein Herr, das ist verbotenes Gebiet. Die Aprikosen schmecken mir übrigens heute noch! Und die Lilien –«

»Annaliese!«

Tante Sibylle erschien am offenen Fenster.

»Gleich, Tantchen, ich bin eben fertig. Kommen Sie übrigens, bitte, schnell, Herr v. Tillen, ich muß Ihnen meinen fertigen Staat zeigen!«

Sie huschte voran und er folgte.

Tagelang hatte er sich umsonst nach der Bedeutung und dem Zweck der lichtblauen Duftwolken erkundigt, die Annaliese unausgesetzt umhüllten.

Die hatte ihm nur geheimnisvoll zugelächelt. »Abwarten!«

Und auch die Tanten hatten gelächelt und nichts gesagt.

Annaliese hatte sich ganz selbständig aus dem zartblauen Musselin ein einfaches Blusenkleid zugeschnitten und genäht. Es bildete gleichsam den Schlußstein, die Krone des in der bedungenen Arbeitswoche Geleisteten. Tante Sibylle war im siebenten Himmel über Goldchens Geschicklichkeit, die sie unter ihrer Führung erworben hatte.

Alle Tanten interessierten sich lebhaft für das Werk.

Der Herr Nachbar sollte damit überrascht werden.

Vorhin hatte Goldchen die letzten Stiche gemacht und dann alles gebügelt. Jetzt sollte das Ganze angeprobt werden und Herr v. Tillen sein Gutachten mit abgeben.

Er saß bei Tante Beate. Die anderen waren alle verschwunden.

Hinter der Tür raschelte und kicherte es, dann flog sie auf und eine Erscheinung trat über die Schwelle, die ihm im ersten Augenblick so fremd war, daß er jählings von seinem Sitz in die Höhe fuhr.

Da kicherte es auch schon dicht vor ihm, und was Lichtblaues drehte sich wie ein Kreisel.

»Wie gefalle ich Ihnen?«

Das Lichtblaue stand, und er sah Annaliesens goldenes Köpfchen auftauchen, Annaliesens strahlende Braunaugen auf sich geheftet.

»Wie gefalle ich Ihnen?« lachte noch einmal der Schalk.

Das war nun schwer zu sagen. Er konnte doch nicht der Wahrheit gemäß erklären, daß er sie hinreißend lieblich fände. So räusperte er sich nur. Der Pädagoge in ihm lag im Streit mit dem Menschen.

»Niedlich, Goldchen, sehr niedlich,« sagte da Tante Beate. »Und jeder Stich selbst genäht!«

»Selbst geschnitten!«

»Ganz allein erdacht!«

»Ganz, ganz selbständig!«

So der Chorus der Tanten.

»Un allein gebichelt!«

Das war Elise, die hinter den bewundernden Tanten unter der Tür stand.

Goldchen sah wirklich sehr niedlich aus. Der Enthusiasmus der Tanten war erklärlich.

Von dem schlichten, lichtblauen Gewand, das die junge schlanke Gestalt tadellos umgab, hob sich das rot-goldblonde Köpfchen mit dem feinen Gesicht und den leuchtenden dunkeln Augen sehr vorteilhaft ab. Lichtblaues Band, das den Hals umschloß und den Gürtel bildete, erhöhte den Reiz des Ganzen. Ein schlichtes, mädchenhaftes, jugendschönes Bild.

Was Wunder, daß die, die die Höhe des Lebens längst überschritten hatten, und der Mann, der eben diese Höhe erklomm, den Blick nicht davon lassen konnten. Rief es ihnen doch die eigene Jugend wach. Die Jugend mit ihrem Glück oder doch den Träumen von Glück.

Elise brach den Bann. »Wie e Vergißmeinnichtche!« sagte sie bewundernd, »wie e Vergißmeinnichtche!«

Goldchen lachte laut auf, schlug in die Hände und drehte sich im Kreise. Da war Leben in der Szene.

»Wie feiern wir nun die Sache?« fragte Herr v. Tillen. »Das Kleid muß doch eingeweiht werden, was?«

»Muß es auch, muß es auch,« jubelte Goldchen.

Auch die Tanten nickten.

»Danze!« schlug Elise vor. Ihr Begriff von Feier deckte sich mit dem Tanzboden.

Ein Blick Tante Renatens scheuchte sie in ihre Grenzen und in ihre Küche zurück. Die Tür fiel hinter ihr ins Schloß.

»Ich schlage eine Fahrt nach dem kühlen Grund vor. Der Landauer steht zur Verfügung der Damen. Wer will, macht den Hinweg zu Fuß. Zurück werden alle im Wagen verstaut, coûte que coûte. Haben's schon öfter gemacht. Oder halt, ich hab's! Johann mag zu Fuß heim. Ich fahre und Fräulein Annaliese kommt zu mir auf den Bock. Was sagen die Herrschaften?«

»Wunder-, wunder-, wundervoll,« jubelte Goldchen und drehte sich um die eigene Achse. Es konnte einem ganz schwindelig beim Zusehen werden.

Auch die Tanten stimmten freudig zu. – – – –

Auf halb vier war der Aufbruch für die Fußgänger verabredet. Goldchen war schon um zwei Uhr gestiefelt und gespornt.

Sie war beständig unterwegs von ihrem Mansardenreich oben nach der Tür zum großen Wohnraum. Dort lauschte sie, ob noch die wohlbekannten Laute erklängen, und wenn das der Fall war, runzelte sie mißbilligend die Brauen und wandte sich seufzend der Treppe zu.

Wenn Tante Cäcilie sich nur nicht versäumte!

Tante Cäcilie war die einzige der Schwestern, die sich für das Mitgehen zu Fuß erklärt hatte.

Renate und Sibylle wollten mit Tante Beate fahren.

Endlich schlug die Fluruhr drei. Dreimal klang drinnen ein absonderlicher Ton, der mitten entzwei riß, und dann regte es sich.

Punkt halb vier Uhr traten Tante Cäcilie und Goldchen vor die Tür. Vom Herrenhaus her schritt ihnen Herr v. Tillen entgegen.

Diana freute sich unbändig über Goldchen. Ihr mußte das neue blaue Kleid und der weiße Florentiner Hut besonders gut gefallen. Sie konnte nicht genug dran emporspringen und mit den Pfoten drüber hinstreichen. Und Goldchen gab die Freude mit Zinsen zurück.

Die beiden jagten um die Wette.

»Jugend zu Jugend!« meinte Herr v. Tillen humoristisch.

Dann lenkte man in das saftgrüne Waldtal ein, an dessen oberem Ende, da wo die Berge dicht zusammentraten und das Tal plötzlich abschnitten, der kühle Grund, ein einfaches Landwirtshaus, lag.

Nur allmählich und unmerklich stieg der Weg. Ein munteres Bächlein rauschte zur Seite. Bis dicht zum schmalen Wiesengrund trat der Wald heran.

Längst hatte Goldchen die Jagd mit Diana aufgegeben und schritt gesittet neben Tante Cäcilie und Herrn v. Tillen her.

Goldchen hatte viel Sinn für Natur und liebte dies Tal besonders.

»Seht nur, seht, wie sich der Wald dort vom Wiesengrund hebt. Sieht er mit seinem dichten Laub nicht aus wie eine riesige krause Perücke, in die man hineinfahren, die man zausen möchte vor lauter Lust? Ich möchte der Sturm sein und hindurchbrausen dürfen und die Bäume schütteln und peitschen und beugen und –«

Goldchens jugendlich schmale, schlanke Gestalt bildete in ihrer Anmut und Zartheit einen solchen Gegensatz zu dem großartigen Bild vom daherbrausenden Sturm, das ihre Phantasie heraufbeschworen hatte, daß die beiden Zuhörer in ein lustiges Lachen ausbrachen.

»Eine achtunggebietende Verkörperung des Sturmes,« neckte Tante Cäcilie.

»Eine achtunggebietende Phantasie, sage ich,« lachte Herr v. Tillen.

Und Goldchen lachte frohgelaunt mit.

»Diana, faß!«

Und dahin flogen die beiden.

Fast neiderfüllt sah ihnen Herr v. Tillen nach.

»Wer auch noch so jung wäre!« Er seufzte.

Wie ein Echo kam's von Tante Cäcilie her.

»Ach Sie,« sagte sie dann. »Sie sind doch noch jung genug. Ein Mann von sechsunddreißig Jahren –«

»Achtunddreißig, bitte.«

»Einerlei, ein Mann wie Sie!«

»Bei mir zählen nicht die Jahre, da zählen die Erfahrungen. Und wenn ich die frage, bin ich ein Greis – ein Greis!«

Goldchen war herangeflogen und hatte das letzte Wort gehört.

»Wo ist ein Greis? Wer ist ein Greis? Sie?« lachte sie strahlend.

»Ich,« bestätigte er ernst. Dabei lag etwas erwartungsvoll Fragendes, Forschendes in dem Blick, den er auf diese Verkörperung frischester Jugend vor sich heftete.

Annaliese sah ihn einen Augenblick ungewiß an.

»Ein Greis? Nein. Wo sind die weißen Haare?«

»Hier und hier und hier! Sehen Sie nur genau zu.«

Er hob die dichten dunkeln Haarsträhnen und hie und da zeigten sie sich von Silberfäden durchzogen.

Goldchen sah zweifelnd drauf hin.

»Ja aber, das – das nennt man doch noch lange keinen Greis, oder?« Sie sah hilfesuchend nach Tante Cäcilie hin.

Die mußte lachen und war doch zugleich ein bißchen ärgerlich.

»Dummes Ding,« sagte sie – Goldchen fühlte sich beinahe gekränkt – »dummes Ding, Herr v. Tillen ist noch ein junger Mann. Die lieben Siebzehn! Das mißt alles mit dem eigenen Maße! Siebzehn bleibt man nicht immer, Kind!«

»Dem Himmel sei Dank!« seufzte Goldchen aus tiefster Seele. Aber gleich danach jubelte sie auf.

»Ein junger Mann! Ein junger Mann! Das sagt Tante Beate auch. Also muß es wahr sein. Diana, weißt du schon, du hast einen jungen Herrn! Sieh ihn dir mal an, sieh!«

Als ob Diana es verstanden habe, strebte sie plötzlich liebkosend an ihrem Herrn in die Höhe. Ebenso plötzlich sprang sie gegen Goldchen an und – hast du nicht gesehen – fort war die wilde Jagd.

Die Zurückbleibenden lachten. Aber Herr v. Tillen sah doch etwas heiß und fast etwas verlegen aus, und tief im Grund seiner Augen lag etwas Trauriges.

Jetzt kam der Wagen mit den anderen Damen hinterher gefahren.

Goldchen entdeckte ihn zuerst, flog ihm entgegen, stand wie der Wind auf dem Trittbrett und umarmte über den geschlossenen Schlag hinüber die Tanten der Reihe nach.

»Tante Beate, Tante Beate, es ist einfach göttlich schön.«

»Das ist's, Liebling, das ist's!«

In Tante Beatens dunkeln, stillen Augen lag heute was ganz Junges. Sie war trotz der Jahre im Grunde die jugendlichste der vier Schwestern. Instinktiv hatte Goldchen das herausgefühlt und sich stets am wärmsten an Tante Beate angeschlossen.

Der Wagen war bei Tante Cäcilie und Herrn v. Tillen angelangt.

»Herr Nachbar, Herr Nachbar,« – Tante Beatens Stimme hatte einen förmlich klingenden Ton heute – »Herr Nachbar, heut sind wir eine ganz jugendliche Gesellschaft zusammen! Mit jeder Drehung der Räder hinein in diese grüngoldene Sommerwelt, in diese strahlende Gottespracht ist ein Jährchen von mir abgefallen, und den anderen wird's grade so gegangen sein. Was das noch werden will?«

Tante Beate kicherte ganz schelmisch in sich hinein, und Goldchen mußte sie dafür umarmen.

»Wir haben auch von der Jugend geredet, Tantchen,« – ein Schelmenblick streifte Herrn v. Tillen – »und – und – hurra die Jugend!« Sie sprang vom Trittbrett und drehte sich im Kreise.

Tante Cäcilie wollte den Rest des Weges mit den Schwestern fahren. Herr v. Tillen und Goldchen schritten nebeneinander her, von Diana umkreist.

Goldchens klare Augen entdeckten tausenderlei an Baum und Strauch und im Grase, worüber sie Auskunft verlangte.

Und Herr v. Tillen wußte stets Antwort.

»Wie ein Lexikon,« jubelte Annaliese, »alles wissen Sie glaube ich. Wo, wann haben Sie nur das alles gelernt?«

»Wo? Draußen in der Welt. Das meiste hier in der Einsamkeit. Wann? In den langen, langen Jahren meines Lebens – nach meiner Weltflucht.«

»Warum flohen Sie die Welt?«

Unschuldvolle Neugierde und bange Furcht – das gewisse wohlige Gruseln vor dem Unbekannten, Rätselhaften lag in den großen Kinderaugen, die ihn fragend anstarrten. Lange sah er schweigend hinein.

»Ist die Welt böse?« fragte Annaliese noch einmal.

Er sann nach. Dann schüttelte er den Kopf.

»Böse? Nein. Nur, mit ganz wenigen Ausnahmen, unerbittlich konsequent. Was einer hineinträgt, das holt er sich heim. Mißtrauen, Zweifel, Zwietracht finden Mißtrauen, Zwietracht und Zweifel. Sie, Fräulein Annaliese, werden Güte, Liebe, Frohsinn mitbringen und Frohsinn, Liebe, Güte einheimsen. Fürchten Sie nichts.«

»Aber Sie – Sie –« Annaliese hatte sich unbewußt dicht an ihn herangedrängt und seinen Arm mit beiden Händen umfaßt – »Sie konnten doch nur Gutes in die Welt hineintragen, und doch – doch –«

Sein Auge hatte aufgeleuchtet. Fest legte er die Hand auf die zwei kleinen weichen Hände, die seinen Arm umspannten.

»Haben Sie Dank, Kind, für dieses Wort. Und wenn mir die Welt seinerzeit etwas schuldig geblieben wäre, eben hat sie es mir heimgezahlt. Wir stehen auf gleich.«

Einen Augenblick schwieg er. Annaliese hatte seinen Arm losgelassen und das Köpfchen gesenkt. Ihr war wunderbar beklommen zu Mut.

Sie begriff gar nicht, was das alles bedeutete. Sie wußte nur, daß er gut war, sehr, sehr gut, das wiederholten die Tanten täglich, und sie, Annaliese, fühlte das auch.

Wenn nun die Welt genau nach Verdienst lohnte –

»Fräulein Annaliese, dort ist der kühle Grund!«

Sie hob den Kopf. Ihre versonnenen Augen strahlten auf.

Da war der kühle Grund – ein schmuckloser Fachwerkbau jenseits der grünen, blumenübersäten Wiese. Eben hielt der Wagen vor der Tür, und die Tanten schickten sich an, auszusteigen.

Annaliese jauchzte auf. »Da sind wir! Fangen Sie mich!«

Und sie flog über die Wiese hin, diesmal nicht nur von Diana, sondern auch von Herrn v. Tillen gefolgt.

Sie kamen eben noch recht, Tante Beate beim Aussteigen zu helfen.

»Die Jugend, die liebe Jugend!« drohte die schelmisch mit dem Finger.

Dann griff Herr v. Tillen und Johann fest zu, und Tante Beate saß, ehe sie es sich versah, am Ehrenplatz, im Korbsessel, oben am zierlich gedeckten Tische.

Im kleinen Grasgärtchen hinter dem Hause stand dieser Tisch. Bei seinem Anblick jubelten alle aus.

»Ja, werden wir denn erwartet?« fragte Tante Beate ganz verwundert.

»Ich habe mir erlaubt, uns anzumelden. Es mußte doch eine richtige Einweihungsfeier für Fräulein Annaliesens Festgewand sein!«

»Goldchen, was sagst du nun?« Die vier Tanten fragten es zugleich.

Goldchen sagte erst gar nichts, aber ihre strahlenden Augen sagten dafür umsomehr.

»Kuchen!« kam es dann von den frischen Lippen, und es klang solch ungekünstelte Wonne daraus, daß alle lachen mußten.

Und dann kam die verlockend dampfende, stattliche Kaffeekanne und machte vorläufig allen weiteren Erörterungen ein Ende.

Man ließ es sich köstlich schmecken. Annaliese entwickelte sonder Scheu den unbegrenzten Appetit ihrer siebzehn Jahre.

»Goldchen,« mahnte Tante Cäcilie, »aber Goldchen! Hast du noch nicht bald genug? Eine junge Dame –«

Ganz entsetzt fuhr Goldchen auf.

»Aber Tantchen, wenn eine junge Dame nun Hunger hat, soll sie sich nicht satt essen?« Sie mußten alle lachen.

»Laß dir's nur schmecken, Kind, wir drücken ein Auge zu,« beschwichtigte Tante Beate.

»Weshalb?« Goldchen fragte es ganz herausfordernd. »Hunger haben ist keine Schande.«

»Nein, aber ein Glück,« neckte Herr v. Tillen.

»Namentlich, wenn so guter Kuchen auf dem Tisch steht,« sagte Goldchen lachend und griff ungeniert nach einem neuen Stück.

Man war sehr munter und vergnügt. Jeder feierte den Tag nach seiner Art, alle waren glücklich.

Plötzlich sprang Herr v. Tillen auf.

Er hatte einen steilen Felshang, der grün bemoost zwischen den Waldbäumen aufragte, lange ins Auge gefaßt und mußte da etwas Interessantes entdeckt haben. Mit raschen Schritten war er dort und begann alsbald an der steilen Wand emporzuklimmen.

Sie war nur haushoch etwa, fiel aber recht schroff ab und es gehörte immerhin ein sicherer Fuß und ein klarer Blick dazu, sie vom Wege aus direkt zu ersteigen.

Atemlos, wortlos sahen sie ihm nach, die vier Tanten leicht erblaßt, Goldchen sehr erregt und rot.

Sie hatte nach Tante Beatens Hand gegriffen.

»Ist das sicher, Tantchen?«

»Wollen's hoffen, Kind. Er ist ja ein ernster, vorsichtiger Mann, und –«

»Jung und kräftig,« fiel Goldchen ein.

Tante Beate sah das Kind von der Seite an. Ihr fiel die Szene vom Morgen ein. Aber Annaliese scherzte nicht. Sie meinte es offenbar sehr ernst mit dem »jung und kräftig« und hatte sich und die Tanten damit beruhigen wollen.

Jetzt war Herr v. Tillen oben. Alle atmeten auf.

»Fräulein Annaliese, eine Datura stramonium! Ein prachtvolles Exemplar, sehen Sie doch nur.«

Goldchen war aufgesprungen, schlug in die Hände und jubelte: » Datura stramonium, Datura stramonium!«

»Was in aller Welt ist das?« fragten die Tanten sehr neugierig.

Einstweilen hörte Goldchen nicht und jauchzte nur immer ihr: » Datura stramonium!«

Tante Beate faßte nach Goldchens Kleid. »Antworte doch, was ist's?«

»Wie soll einer wissen, was › Natura straminium bedeutet?« setzte Tante Sibylle bei.

Da lachten alle – Stramin schlug in Tante Sibyllens Fach. Sie hatte sich den Namen nach ihrer Weise zurecht gelegt.

» Datura stramonium,« erklärte dann Goldchen, »Stechapfel!«

»Na, wenn's weiter nichts ist. Das hättest du gleich sagen können, Stechapfel!« Tante Renate rümpfte die Nase. Ihr wäre irgend ein anderer Apfel interessanter und lieber gewesen.

Goldchen war dem wieder absteigenden Herrn v. Tillen entgegengeeilt.

»Aber wie das Kind gleich Bescheid wußte,« rühmte Tante Beate, und die Schwestern nickten bewundernd Beifall.

Dann kamen die beiden mit dem eroberten Stechapfel, und es ging an ein Prüfen, Betasten, Zerlegen der Pflanze, gespickt mit gelehrten Ausdrücken und Abhandlungen.

Die Tanten mußten noch mehr staunen über das Kind. Tante Cäcilie namentlich strahlte. Sie beugte sich zu Tante Beate.

»Was meinst du, Beate, es wäre doch ein Jammer, wenn das da« – ein bezeichnender Blick nach dem eifrigen Goldchen – »in Küchendunst und bei der Nähmaschine verkümmern sollte!«

»Oho,« begehrten Tante Sibylle und Tante Renate auf, die das gehört hatten.

»Stille! Goldchens Zukunft ist verbotenes Thema einstweilen!«

Tante Beate hob warnend Auge und Finger, und die Schwestern fügten sich.

Die beiden Botaniker hatten an ihrem Stechapfel alles erörtert, was zu erörtern war. Sie glühten noch vor Eifer.

»So, das war ein wundervoller Fund!« Goldchen atmete sehr befriedigt auf und lehnte sich in ihrem Stuhl zurück.

Sie maß Herrn v. Tillen mit leuchtendem Schelmenblick.

»Und nun reden Sie nie wieder von Ihrem Alter, Herr Nachbar,« sagte sie neckend. »Seit ich das gesehen habe –«

Ein bezeichnender Blick flog zu dem Felsen hin.

»Das da?« Er lachte. »Ist auch was Rechtes!« Geschmeichelt sah er aber doch aus. Die Tanten stimmten eifrig bei. Und dann kam der Aufbruch.

Wie verabredet fuhr Herr v. Tillen nun selbst.

Die vier Tanten saßen im Wagen, Goldchen oben auf dem Bock an des Lenkers Seite. Es war ein wundervoller Heimweg.

Das Tal so grün und still, der Wald so des Friedens voll. Die Vöglein sangen, schon halb verschlafen, ihr Abendliedchen. Grillen zirpten im Grase. Am kleinen Teich schlug eine Unke an, wie Glockenton zitterte es durch die Luft. Dort antwortete eine zweite. Und nun quakte ein Frosch. Schön klang's nicht, aber es gehörte dazu.

Das Bächlein murmelte und rauschte, und seine Wellchen überkugelten sich, überhasteten und überstürzten sich in dem Bestreben, Schritt zu halten mit den rollenden Wagenrädern.

Es war alles so wunderbar schön, friedlich und harmonisch.

Mit bittendem Blick hatte Goldchen längst nach den Zügeln gegriffen und Herr v. Tillen hatte sie ihr schweigend überlassen.

»Ich kutschiere!« hatte Goldchen mit selig verklärtem Gesicht nach hinten in den Wagen gerufen.

Das hatte da zuerst eine kleine Revolution entfesselt, begleitet von den üblichen kleinen Staccatoschreien erschreckter Damen.

»Um Himmels willen!«

»Bitte, nicht!«

»Sollen wir den Hals brechen?«

Nur Tante Beate sagte nichts, schrie auch nicht. Ein beruhigendes: »Ich passe auf, meine Damen,« aus Herrn v. Tillens Munde beschwichtigte den Sturm plötzlich, wie er gekommen war.

Vöglein, Grillen, Unken, Frösche, das Bächlein und die rollenden Räder hatten wiederum einzig das Wort. Ein Lüftchen hatte sich aufgemacht – wie träumend rauschte der Wald den Grundton zu dieser Sinfonie.

Und Goldchen lenkte glückselig ihr Gespann der noch einmal purpurrot aufleuchtenden Sonne entgegen. – – –

Herr v. Tillen saß in seinem Zimmer.

Die Zigarre war ihm ausgegangen. Er hatte den Kopf an die Lehne seines Sessels gelegt und träumte, wie er es oft tat, wenn er so allein dasaß.

Da kamen die Bilder der Vergangenheit, längst versunkene Gestalten tauchten auf, verklungene Töne wurden laut, erloschene Augen blickten wieder frisch und klar, längst dahingeschwundene Schönheit belebte sich in Jugendreiz.

Dabei wurde ihm warm ums Herz wie einst, und seine Pulse gingen im selben Tempo von damals.

Heute waren es nicht entschwundene Bilder, verklungene Töne, die ihn heimsuchten – er lebte und träumte in der Gegenwart, und ihm ward warm und wohl dabei.

Nicht seine Vergangenheit beschäftigte ihn, nein, die Zukunft. Und zwar die Zukunft eines jungfrischen Menschenkindes – Goldchens Zukunft.

Wie das junge, lebensprühende Geschöpf heute so an seiner Seite der Sonne, aber der sinkenden Sonne entgegengefahren war, da hatte er denken müssen: würde dies das Bild ihres Lebens sein? Der sinkenden Sonne zu mit siebzehn Jahren!

Unmöglich war's ja nicht. Manch einem war die Sonne erloschen im Kampf mit dem Leben. Manch einem war sie auch eben da aufgegangen. Die Lose fielen eben verschieden. Wer konnte sagen, wie Goldchens Los fallen würde?

Kampf stählt, sagte Tante Beate.

Ja, Kampf stählt – aber Kampf zermürbt auch.

Das Kind war tapfer, wie tapfer!

Mißglücken, vollständig mißglücken konnte ihm der Kampf nicht.

Aber war das sicher? Wenn dem armen, jungen Geschöpf nun die Schwingen gebrochen würden vor der Zeit?

Wie konnte man es davor sicherstellen, behüten?

Ein Gedanke durchzuckte ihn wie ein Blitz.

Er hatte sich stramm aufgerichtet, starrte vor sich hin und schüttelte dann den Kopf. Er ließ sich wieder zurücksinken und schloß die Augen.

Plötzlich klang ihm eine junge, frische Stimme im Ohr. »Sie haben doch nur Gutes in die Welt hineingetragen,« sagte diese Stimme, und dann wieder: »Und nun reden Sie nie wieder von Ihrem Alter!«

Der einsame Mann lauschte dieser Stimme in sich versunken.

Und dann sprang er aus, es war, als habe er einen großen Entschluß gefaßt. Er stürmte im Zimmer auf und ab, lange, lange. – – – –

Als Goldchen drüben in dem Mansardenstübchen die Kerze löschte, um dem Mondschein sein Recht zu lassen, da sah sie den Strahl von des »Herrn Nachbars« Licht, sah, wie sein Schatten sich ruhelos hin und her bewegte.

Goldchen machte große, erstaunte Augen, aber dann gähnte sie just dem Mond in das Gesicht. Und ehe noch fünf Minuten verflossen waren, lag Goldchen im schmalen weißen Bettchen, hatte die Hände gefaltet und war mitten im Vaterunser eingeschlafen. – – – – –

»Annaliese, der Dreißigjährige Krieg?«

»Siebzehnhundertsechsundfünfzig bis -dreiundsechzig!«

»Annaliese!!!«

Drei Ausrufungszeichen.

»Ach Gott, Tantchen, verzeih! Sechzehnhundertachtzehn bis -achtundvierzig. Die beiden verwechsle ich nun einmal immer.«

»Brand von Moskau?«

»Achtzehnhundertzwölf!«

»Der fünfte Kreuzzug?«

»Zwölfhundertachtzehn!«

»Annaliese!«

»Tante Cäcilie?«

»Der fünfte Kreuzzug?«

»Zwölfhundert – ich weiß nicht mehr. Die Kreuzzüge sind gräßlich! Ich hasse Jahreszahlen!«

»Annaliese!«

»Tantchen, sieh doch, wie die Sonne scheint! Laß mich nur einmal ums Haus laufen. Ich sage dir dann alle sieben oder acht Kreuzzüge, wie viele es waren, hintereinander her. Ja, Tantchen?«

Ehe Tante Cäcilie ja oder nein sagen konnte, war Annaliese schon draußen.

»Cäcilie, du ermüdest das Kind, das ist ja das reine Kreuzverhör mit den alten Kreuzzügen!« meinte Tante Sibylle schüchtern. Sie war ganz erstaunt, als Tante Beate ihren unbewußten Witz vom Kreuzverhör über die Kreuzzüge belachte. »Ein Kreuzverhör, kreuz und quer,« schmunzelte die.

Tante Cäcilie lächelte fast mitleidig von ihrer geistigen Höhe herab.

Sie tat sich was zu gut auf ihre Erfindung, die Geschichtsdaten so rücksichtslos zu mengen. Bei ihr bedeutete ein Sprung von Attila zu Karl August von Weimar gar nichts. Die Inkas mischten sich ganz wohlgemut mit den Hohenzollern. Das nannte sie: im Feuer exerzieren.

Nun stürmte Goldchen strahlend wie die Sonne selber wieder ins Zimmer.

»Sieben Kreuzzüge waren's, Tantchen. Und warte, die Zahlen weiß ich auch. Und Gaurisankar heißt die höchste Spitze des Himalaja, achttausendachthundertundvierzig Meter hoch. Der Titicacasee liegt in Südamerika und Rothenburg an der Tauber in Bayern, sechstausendachthundert Einwohner.«

Das waren Erinnerungen aus der vorhergegangenen Geographiestunde.

»Nun sagt mir noch was gegen mein Ums-Hausherumlaufen! Die besten Gedanken schwirren draußen in der Luft herum, und husch, da fange ich sie mir,« jubelte Goldchen.

»Noch einen hab' ich mir gefangen, einen ganz wunder – wunderbar schönen. Morgen abend soll ich euch doch vorspielen und vorsingen, nicht?« – Tante Cäcilie hatte sich das als eine Art Examen ausgedacht und schon lange mit Goldchen allerlei dafür eingeübt. – »Da laden wir den Herrn Nachbar dazu ein, bitte, bitte. Ich darf den Tee machen, dann haben wir eine Teegesellschaft mit Konzert. Das wird wundervoll, nicht? Bitte, bitte, sag ja, liebste, allerliebste Tante Beate.«

Tante Beate sagte natürlich nicht nein. Wer hätte diesen flehenden Augen widerstehen können?

»Aber Tante Renate?«

Das war ihr einziges Bedenken.

»Tante Renate ist vollkommen einverstanden, falls Fräulein Annaliese die Sorge für die Bewirtung übernimmt,« klang's von der Tür her.

Dort stand Tante Renate, die gerade eingetreten war und noch alles gehört hatte.

»Will ich, Tantchen, will ich! Paßt mal auf, es wird einfach wundervoll.«

Diese Begeisterung wirkte geradezu ansteckend. Die Tanten fingen alsbald Feuer, und »Goldchens Tee« war zur brennenden Tagesfrage geworden.

Der erste Schritt war eine äußerst zierlich und korrekt gehaltene Einladungskarte, die Goldchen schrieb.

»Die Damen Westernhagen und Fräulein Annaliese Westernhagen geben sich die Ehre, Herrn Baron v. Tillen zu morgen abend sieben Uhr zu einem einfachen Tee zu bitten.

U. A. w. g.«

Elise mußte eine frische weiße Schürze vorbinden, ihr zierliches Häubchen aufsetzen und die Einladung feierlichst überbringen.

Die Folge davon war, daß eilige knirschende Schritte über den Kies her auf das Haus zugetrabt kamen. Annaliese sprang zum Fenster und streckte das lachende Gesicht hinaus.

»Was ist passiert?« klang ihr eine lachende und doch etwas erregte Männerstimme entgegen.

Annaliese lachte wie ein Kobold.

»Nichts. Dürfen wir nicht auch einmal zeigen, daß wir wissen, was sich schickt und wie man's in der Welt da draußen macht? Übrigens hatten wir eine etwas formvollere Antwort auf unsere feierliche Einladung erwartet.«

Annaliese schmollte.

Tante Cäcilie war hinter ihr am Fenster erschienen.

»Goldchens ureigenste Idee,« rief sie lachend.

Von draußen kam keine Antwort. Man hörte nur eilig sich entfernende Schritte.

Dann kam Elise.

»E freindlich Empfehlung vom Herrn Baron un er wollt so freindlich sein un die freindlich –«

Da saß Elise fest. Die viele Freundlichkeit hatte sie verwirrt.

Herr v. Tillen mochte dergleichen geahnt haben.

Johann kam eiligst hinterher getrabt und brachte ein Billett.

»Baron v. Tillen wird sich die Ehre geben, der liebenswürdigen Einladung der Damen Westernhagen nebst Fräulein Nichte Folge zu leisten.«

Da war die formvolle Antwort auf die formvolle Einladung.

Annaliese jubelte. Und nun begann ein geheimnisvolles Wirken und Schaffen. Annaliese war für nichts und für niemand zu haben.

Küche, Keller und Speisekammer schienen sie vollständig in Anspruch zu nehmen. Das Kochbuch lag immerzu aufgeschlagen vor ihr, und ihr junges Gesicht zeigte bisweilen einen geradezu sorgenvollen Ausdruck. Nur das Klavier erfreute sich außerdem ihrer Beachtung. Jede freie Minute wurden dort Passagen und Triller geübt.

Tante Beate gestand sich innerlich, daß sie froh sei, nicht jeden Tag Gesellschaft haben zu müssen.

So kam der Abend heran.

Die Zimmer, diesmal auch die sonst fast nie benützte »gute Stube«, waren festlich geschmückt.

Herr v. Tillen erschien feierlich im Frack mit weißer Weste und weißer Krawatte, den Claquehut unter dem Arm. Von den Tanten wurde er lächelnd, von Annaliese mit jubelndem, frohem Erstaunen begrüßt.

»Nein, wie schön!« rief sie strahlend. »Wie nett, daß Sie meinem Fest solche Ehre machen. Sie sehen wundervoll aus.«

Er quittierte das Kompliment lächelnd mit dankender Verneigung.

»Wollte nicht ermangeln, das Meine zu tun, um zu zeigen, daß ich die Ehre zu schätzen weiß. Gnädiges Fräulein gestatten?«

Mit noch tieferer Verbeugung faßte er Annaliesens Hand und führte sie langsam und förmlich an die Lippen.

Die hatte das erst sehr erstaunt und dann sehr verlegen über sich ergehen lassen. Ein feines Rot überzog ihr Gesicht bis tief in den goldenen Ansatz der Haare hinein. Die Tanten mußten lächeln.

So ganz weltgewandt und sicher schien sich Goldchen denn doch nicht zu fühlen.

Einen Augenblick kämpfte Annaliese mit der Verlegenheit. Dann sagte sie freimütig und frisch: »So, und nun wollen wir, bitte, gemütlich und die Alten sein, Herr v. Tillen, ja? Die alten Zimmer hier kennen sich ja sonst gar nicht aus vor all der Großartigkeit.«

»Und die alten Menschen auch nicht,« meinte Tante Beate, was ihr eine stürmische Umarmung von Goldchen eintrug.

»Gehen wir also zur Tagesordnung über,« sagte Herr v. Tillen, legte den Claquehut fort, streifte die Handschuhe ab und machte sich's neben Tante Beate bequem.

Damit war Goldchen aber nicht gedient.

»Nein, erst müssen Sie alles gehörig bewundern. Wofür hätte ich denn sonst überall so schön gemacht?«

Und nun wurde er auf jedes Väschen aufmerksam gemacht. Jeden grünen Zweig, der Bilder oder Wand zierte, mußte er bewundern.

Und er tat es und konnte es mit gutem Gewissen tun. Das Ganze war wirklich sehr geschmackvoll und niedlich.

Goldchen strahlte.

Dann rief Elise zu Tisch.

»Es gibt aber nur kalten Aufschnitt, Herr Nachbar,« rief Goldchen lustig. »Hoffentlich haben Sie sich auf kein großes Souper gespitzt.«

»Und wenn ich's hätte?«

»Dann sind Sie eben um eine Enttäuschung reicher,« sagte Tante Beate gutgelaunt.

»I wo,« meinte Tante Renate stolz, »seht nur, wie niedlich Goldchen alles gemacht hat.«

Goldchen hatte wirklich alles so zierlich und appetitlich zu servieren gewußt. Hähnchen und Schinken mit Kresse garniert, lockten förmlich zum Zugreifen. Die verschiedensten Salate und Kompotschüsseln waren allerliebst ausgeschmückt. Die halbierten Eier in ihrer bräunlichen Senfsauce sprachen für sich selbst, desgleichen die leckere, grün verzierte Pastete.

Dazwischen zogen sich duftige und duftende Gewinde von Blumen aller Art. Von der Hängelampe nieder hingen zierliche grüne Ranken. Väschen, mit niedlichen Blumenkindern gefüllt, standen überall verstreut.

Ja, der Tisch konnte sich sehen lassen. Und der Chorus der Tanten erscholl:

»Alles hat Goldchen allein gemacht.«

»Allein gekocht!«

»Allein erdacht!«

»Ganz, ganz allein!«

Ein Glück, daß an Goldchens Charakter diese Verwöhnung, dies Lob, dies Rühmen abprallte. Goldchen war nicht zu verwöhnen.

Lob weckte in ihr, wie es in jeder edel angelegten Natur der Fall sein sollte, nur den Ansporn zu weiterem Streben, niemals Selbstgenügen. Sie war außerdem fest davon durchdrungen, wie solches Lob nur der Liebe der Tanten, nicht aber eigenem Verdienst entstamme.

Ein frohes Schmausen folgte.

Goldchen hinter dem Teekessel sah reizend hausmütterlich aus.

Wenn sie die großen braunen Augen so strahlend und so überredend und flehend zugleich zu ihm aufschlug: »Nur noch ein Stückchen, Herr Nachbar!« da konnte Herr v. Tillen nicht widerstehen.

Dann wurde Goldchen sichtlich unruhig. Ängstlich fragende Blicke trafen Elise.

»Stürzt er sich?« klang's in hörbarem Flüsterton.

»Wer stürzt?« erkundigte sich Herr v. Tillen hilfsbereit.

Annaliese lachte wie ein Schalk.

»Abwarten!«

Und da erschien Elise. Ein Jubelruf Annaliesens empfing sie.

Sie sprang auf und nahm Elise die Schüssel ab, um sie alsbald in unsagbarem Stolz der Tafelrunde vorzuweisen.

»Da seht!«

Eine zitternde, gallertartige schokoladefarbene Masse in weißlich-gelber Brühe.

»Mein Pudding!«

Ein Stolz lag in dem Ton, als ob etwa eine über die Maßen eitle Mutter vorgestellt hätte: Mein Sohn! oder: Meine Tochter!

Sie lachten alle.

Goldchen bestand darauf, Tante Beate selbst ein Stück dieses Wunderwerks vorzulegen. Sie blieb vor ihr stehen, um die Wirkung des ersten Bissens zu beobachten. Tante Beate kostete. Sie verzog den Mund und machte ganz hilflose Augen.

»Ja, aber ...«

Goldchen sah sie verständnislos an.

»Schmeckt's?« fragte sie ein bißchen unsicher.

»Ja, aber ...«

Tante Beate stockte.

»Muß das so bitter sein?«

»Bitter?«

Goldchen war starr.

Da sagte Tante Renate ganz schüchtern: »Kind, etwas mehr Zucker hättest du nehmen müssen.«

»Zucker? Zu Schokolade? Die ist doch schon süß.«

»Ja, aber es war doch Kakao!«

»Ich dachte, das sei einerlei.«

»Nicht ganz.«

Tante Renate sprach noch immer schüchtern. Goldchen tat ihr so schrecklich leid. Goldchen aber nahm die Sache kühl. Nach der ersten Enttäuschung meinte sie: »Wißt ihr was, da nehmen wir Zucker dazu, dann schmeckt's herrlich, nicht?«

Die Tanten nickten eifrig.

Herr v. Tillen meinte sogar: »Ich esse es noch lieber ohne Zucker. Mir ist es eben recht.«

Das trug ihm einen glühend dankbaren Blick Annaliesens ein.

»Das nächste Mal wird's besser werden,« tröstete sie dann sich und die Ihren. »Lehrgeld zahlt jeder, sagt Tante Beate.«

»Bravo!« sagte Herr v. Tillen.

Als dann der Schmaus zu Ende war, saßen sie alle auf der Veranda draußen in der Sommerdämmerung. Selbst Tante Beatens Stuhl war hinausgeschoben.

Türen und Fenster waren geöffnet. Tante Cäcilie hatte eben die Kerzen am Klavier angezündet. Das Konzert, wie Goldchen sagte, sollte beginnen.

Goldchen schaukelte auf der Hängematte. Sie hatte sich hinein gesetzt und stieß sich mit den Fußspitzen immer wieder vom Boden ab. So recht von Herzen wohl war ihr nicht dabei – etwas beirrte sie, sie wußte selbst nicht was. Der Herr Nachbar sah sie aber auch gar zu seltsam immerzu an. Was er bloß heute zu sehen hatte? Er dachte wohl an ihr kommendes Spiel. Ja, dies Spiel!

Goldchen seufzte. Wenn es nur erst vorüber wäre. Sonst hatte sie sich doch nie geängstigt. Warum heute?

»Goldchen!«

Tante Cäcilie rief.

»Nur noch fünf Minuten, Tantchen. Ich glaube wahrhaftig, ich habe Angst. Wird's einem da heiß und kalt, und spürt man so was Sonderbares in der Kehle. Ich hab's noch nie gehabt.«

Sie lachte etwas beklommen.

»Das gibt sich alles. Komm nur her und fang an.« Tante Cäciliens Ton war ein klein wenig scharf. Da gab's keine Widerrede, das wußte Goldchen.

Sie sprang auf.

»Den Daumen halten!« flüsterte sie Herrn v. Tillen zu.

Mechanisch strich sie sich mit der Hand über das glühende Gesicht, als wolle sie die Hitze wegwischen. Aber als sie dann am Klavier saß, war alles vergessen.

Sie hatte die C-Moll-Sonate von Beethoven gewählt, nicht die Pathétique, sondern die kleinere, der Gräfin Browne gewidmete.

Goldchen spielte gut und rein. Im Allegro lag Feuer, im Adagio Seele. Das Finale zeugte von einer gewissen Technik. Und doch – hervorragend war Goldchens Spiel nicht. Nicht daß man eine Zukunft drauf bauen konnte.

Tante Beate seufzte. Wenn nur diese Zukunft nicht gewesen wäre!

Herr v. Tillen hatte den Seufzer gehört und verstanden. Er streckte Tante Beate die Hand hin. »Es findet sich manchmal ein Weg, wo man gar keinen vermutet,« sagte er warm.

Goldchen hatte die Sonate beendet. Lauter Beifall folgte.

Goldchen stand auf und neigte sich schelmisch nach allen Seiten. In ihrer Hamburger Kinderzeit hatte sie es eine Sängerin in einem Konzerte einmal so tun sehen. Ihre Mama war sehr musikalisch gewesen und hatte das Töchterchen frühe schon gern gute Musik hören lassen.

Illustration: E. Rosenstand

Und dann sang Goldchen. Franz, Mendelssohn – Mendelssohn besonders. Tante Cäcilie schwärmte für Mendelssohn. Weil sie denselben Namen trage wie seine Frau, behauptete Tante Beate neckend.

Goldchen hatte eine reine, klare Stimme, eine Stimme wie ein Silberglöckchen. Aber wie ein Glöckchen, nicht wie eine Glocke.

Man hörte ihr gerne zu, sehr gerne, aber man sagte sich sofort: für den Hausgebrauch. Bei aller verklärenden Liebe hatten selbst die Tanten nie mehr heraushören können.

»Auf Flügeln des Gesanges,« ertönte nun die klare Silberstimme wieder. Alle lauschten stille.

Was klang nur heute in des Kindes Stimme mit? So ein eigen tiefer Ton. Ein Ton, der noch anders woher kam als nur aus der Kehle.

Tante Beate mußte immer wieder zu der schlanken, lichtblauen Gestalt hinsehen, die da drinnen neben dem Instrument stand, vom Kerzenschein bestrahlt.

Leuchtende Reflexe sprühten auf in dem flimmernden, schimmernden Goldhaar, und dann huschte der Schein über das liebe, junge Gesicht, das so einen eigen verträumten Ausdruck zeigte.

War's die Musik allein, die so wirkte? Tante Beate schüttelte leise das Haupt und seufzte noch einmal. Gott behüte das Kind! –

Das Konzert war zu Ende. Leuchtenden Blicks erschien Goldchen auf der Veranda.

Hab' ich's nicht gut gemacht? schien der naiv-frohe, erwartungsvolle Blick zu sagen.

Der Blick allein? O nein.

»War's nicht schön?« rief Goldchen und eilte auf Tante Beate zu.

Die umfing den Liebling ordentlich erleichtert. Da hatte sie ja ihr harmlos frohes Kind wieder. Alles andere war Hirngespinst gewesen.

»An Bescheidenheit leidest du nicht, Herzblatt,« lachte sie. »Aber es war wirklich sehr nett.«

»Na also,« jubelte Annaliese und lachte wie ein Kobold.

»Und der Herr Nachbar?«

Sie wollte offenbar den ihr gebührenden Triumph bis auf die Neige kosten.

Herr v. Tillen beeilte sich, seinen Beifall auszusprechen. Er tat es in sehr warmen Worten.

Annaliese hielt sich plötzlich beide Ohren zu.

»Puh, das ist ja viel mehr, als ich verdiene,« schmollte sie. »Weniger wäre mehr gewesen, sagt Lessing. Oder war's Goethe, Tantchen?« rief der Schalk.

»Lessing, Kind, Lessing!«

Tante Cäcilie war ganz entsetzt, und Annaliese lachte wie toll.

Dann empfahl sich der Herr Nachbar mit vielem Dank für den frohen Abend.

»Das Nettste war doch Ihr Frack, Herr v. Tillen,« meinte Annaliese schelmisch. »Ich versprach, dir einmal spanisch zu kommen! Egmont, Goethe!«

Und Annaliese drehte sich erst selber im Kreis und dann Tante Cäcilie mit. Die wehrte sich lachend.

»Und das will erwachsen sein und sich nächstens über seine Zukunft entscheiden!«

»Puh!« machte Goldchen und legte warnend den Finger an den Mund. »Sprich mir von allen Schrecken des Gewissens, von meiner Zukunft sprich mir nicht! Frei – nach – nach wem, Herr Nachbar?«

Mit allen Zeichen des Entsetzens entfernte sich der schleunigst.

Alle lachten. –

Oben in ihrem kleinen Stübchen lag Annaliese noch wach. Ausnahmsweise. Sonst schlief sie fast schon, ehe sie lag.

»Was war das aber auch für ein Tag gewesen! Herrlich! Wie hatte das Leben so schön, so unbeschreiblich schön sein können, wenn nur nicht –«

Puh, diese gräßliche Zukunft!

Fürchten? Pah, nein, fürchten tat sie sich nicht. Sie, Annaliese Westernhagen, sie wollte schon durchkommen. Andern war's ja auch geglückt.

Wenn man nur erst wüßte, was man eigentlich wollte! Da lag die Schwierigkeit: Das war der Punkt. –

Da war Goldchen eingeschlafen.

* * *

Wie das Bächlein rieselte und plätscherte und murmelte! Wie es ordentlich wild gegen die Steine anklatschte und aufschäumte.

Das Bächlein ärgerte sich, und es hatte Ursache, sich zu ärgern.

Stand da ein keckes, jungfrisches Menschenkind inmitten auf einem der höchsten Steine. Unbekümmert um des Bächleins Wut bückte es sich und hob den nächsten Stein, unter den es neugierig lugte.

Solch ein Eingriff in die höchsteigenen Rechte! War man denn nicht mehr Herr in seinem Hause?

Und gar jetzt! Jetzt faßte das kecke junge Menschenkind mit der Hand hinein ins Wasser, tief hinein bis aus den Grund.

»Ich hab' einen! Herr Nachbar, ich hab' einen wundervollen!« klang eine jubelnde, silberhelle Stimme. Und die kecke kleine Hand hob ein Riesenexemplar von einem Krebs hoch.

Nun mochte das Bächlein die alten, ekligen Krebse eigentlich gar nicht leiden. Die flinken, munteren Forellen, die fröhlichen, zappelnden Weißfischlein waren ihm viel lieber. Aber einerlei! Solch ein kecker Eingriff, und wenn er auch nur einem Krebs galt, war Hausfriedensbruch. Das brauchte das Bächlein sich nicht gefallen zu lassen.

»Ps–s–s–s!« sagte es und spritzte mit für seine Verhältnisse hoher Welle gegen den Stein an, worauf die Frevlerin stand.

Richtig, das Wasser spülte bis an die kleinen braunen Schuhe heran.

Die Sünderin schrie ein klein wenig auf, wollte die Füßchen heben, ausweichen – da glitschte sie aus und trat derb daneben ins Wasser.

Das hatte das Bächlein gewollt. Strafe mußte sein! Befriedigt rieselte, murmelte und plätscherte es seiner Wege weiter.

»Fräulein Annaliese, ja, ums Himmels willen, was tun Sie denn?«

»Ich nehme ein Fußbad,« lachte sie sehr unbekümmert, raffte aber doch das Röckchen hoch, daß das nicht was abbekäme.

»Flink, aber nur flink heraus! Sind Sie denn ganz unklug? Sie werden sich furchtbar erkälten!«

Herr v. Tillen war ganz ärgerlich.

Annaliese sah ihn komisch betreten an.

»Ich möchte wohl, aber ich kann nicht.«

Jetzt erst sah er, daß die Strömung des kleinen Baches ihr zu schaffen machte. Sie mußte feststehen, um nicht zu fallen.

Mit zwei Schritten war er bei ihr und packte fest zu. Annaliese war nun mit einem Schritt auf dem Trockenen.

»Was tun wir nun?« Ganz hilflos sah er sie an.

»Ach was, das trocknet schon ganz von selbst.«

Annaliese schlenkerte immer abwechselnd die nassen Füße hin und her.

Herr v. Tillen sann einen Augenblick nach.

Da meinte Annaliese zögernd: »Wenn ich sie nun auszöge und barfuß liefe?«

Sie sah seinen erstaunten, belustigten Blick und errötete.

»Aber nein, das geht wohl nicht, was? Dazu bin ich wohl zu erwachsen? Schade!«

Es lag solches Bedauern in diesem »schade«, daß er hell auflachen mußte.

»Nein, aber ich weiß anderen Rat. Wir eilen schleunigst nach dem ›Kühlen Grund‹, in einer kleinen halben Stunde können wir dort sein, und da findet sich dann schon ein Auskunftsmittel. Und nun rasch, vorwärts!«

Er griff nach Annaliesens Hand, als ob sie ein kleines Kind sei, und begann zu laufen.

Annaliese hielt ein Weilchen Schritt, dann machte sie sich los und flog jauchzend voran. Er immer hinterher.

So kamen sie atemlos und erschöpft im ›Kühlen Grund‹ an.

Die Wirtin hörte die Erzählung des Abenteuers und wußte sofort Rat.

»Da zieht das Freileinche einfach e Paar von meine Strimp un Schuh an. Wann se auch nit so gut basse, trocke sin se als.«

Lachend folgte ihr Annaliese und lachend wies sie danach ihre derbe Fußbekleidung vor, als sie wieder zurück kam.

»Schön, nicht?«

»Wundervoll,« bestätigte Herr v. Tillen lachend, »aber –«

Er wollte sich mühsam auf den väterlich mahnenden Ton zurück besinnen, den er während dieses Abenteuers so ganz außer acht gelassen hatte.

Sie kam ihm zuvor.

»Bitte, Herr Nachbar, sagen Sie gar nichts, ich weiß schon alles. Außerdem war es doch nicht meine Schuld, daß ich ausrutschte, oder?«

»Wessen sonst? Meine?« Er lachte.

»Nein, das Wasser war wie toll heute. Ach, und mein schöner Krebs, wo der geblieben ist?«

»Hier! Ich habe ihn gerettet.«

Er wies auf den kleinen Umhängekorb.

»Das ist herrlich. Den bekommt Tante Renate, dann schilt sie nicht.«

»Und die anderen?«

»Müssen sich drein teilen! Zwei Scheren, Leib, Schwanz! Wie geschaffen für vier Tanten.«

»Die Weisheit in der Schöpfung!«

»Nicht?«

Sie lachten wie die Kinder. Sie waren überhaupt wie die Kinder heute, alles war zum Lachen.

Annaliese mußte ihn manchmal von der Seite ansehen. War das wirklich der gestrenge, ernste Herr Nachbar? Was ihn so wandelte? Gewiß der Sonnenschein und die ganze Sommerpracht.

Goldchen lachte urplötzlich hell auf.

Er sah sie fragend an.

»Ist's nicht herrlich?«

Und sie wies mit unbestimmter Bewegung in den Sonnenschein, in das Grüne, in die Sommerwelt.

»Herrlich!« bestätigte er und lachte zur Bekräftigung mit.

Dann sprang Goldchen auf.

»Nun wollen wir gehen.«

»Und was geschieht damit?«

»Er wies auf die nassen Strümpfe und Schuhe, die die Wirtin vorhin wie selbstverständlich neben die Milchgläser auf den Tisch gelegt hatte.

Goldchen griff danach.

»Die trage ich!«

»Behüte. Wassertier zu Wassertier!«

Damit stopfte er sie in den Behälter zu den paar Weißfischlein und dem Krebs, der ganzen Ausbeute vom Tag.

Das war nun wieder zu komisch. Goldchen kam wirklich nicht aus dem Lachen und er mit.

Unter Scherzen und Lachen gingen sie davon.

Im Vorübergehen blickte Goldchen bedeutungsvoll nach dem Bächlein hin.

»Schluß für heute?«

»Schluß! Die Frau Wirtin wird wohl kein zweites Paar Schuhe zu vergeben haben.«

Goldchen schlurfte und tappte plötzlich sehr eindringlich.

»Möchte auch nicht drum gebeten haben. So was von Schwere!«

Herr v. Tillen war gleich sehr besorgt.

»Sind Sie müde, Fräulein Annaliese, dann ruhen wir.«

»I wo!«

Das Schlurfen hörte sofort auf, und Annaliese flog ein Stück Wegs dahin, leicht wie ein Vogel.

Plötzlich sauste was Schwarzes vor Annaliese auf dem Wege dahin, gleich danach noch was.

Ein Schuh und dann der zweite.

Verlegen blieb sie stehen und sah ihnen nach.

»Meine Schuhe!« Es klang beinahe kläglich.

Er war schon hinterher und hatte die Ausreißer gepackt.

»Gefaßt und zur Stelle gebracht,« meldete er in fast amtlichem Dienstton. Sie hatte ziemlich hilf- und ratlos im Staube dagestanden und schlupfte nun lachend und eiligst in die beiden Ungeheuer.

»Und nun hübsch langsam!«

Gehorsam und sittig schlurfte Annaliese nebenher.

Aber solch ungewohnte Schwere an den Füßen macht doch müde, Annaliesens Schritte wurden immer zögernder.

Da kam die kleine Wiesenbucht, die am Fuß eines grünen Felsens in den Wald einschnitt. Annaliese liebte das Fleckchen besonders. Lockender Schatten lag da.

»Wollen wir nicht ein ganz klein wenig ruhen?«

Wie bereit er dazu war!

Sie saßen nebeneinander im Grase. Draußen flimmerte die Sonne und vergoldete jedes Hälmchen, jedes Blatt an Baum und Strauch.

Goldchen hatte das Köpfchen an einen Eichenstamm gelehnt und blinzelte in die Sonnenpracht da draußen. Ihr Gesicht wurde immer versonnener.

»Woran denken Sie, Fräulein Annaliese?«

»Ich – ich weiß selbst nicht. An – an übermorgen, glaube ich.«

»An übermorgen? Ja so, da ist ja der große, der Entscheidungstag.«

Annaliese seufzte.

»Wenn nur das nicht wäre! Diese gräßliche Zukunft! Wenn ich nur erst wüßte –«

»Was wüßte?«

Er fragte es sehr leise, sehr weich.

Sie wurde ungeduldig.

»Na, was ich will natürlich.«

Sie wollte lachen, aber diesmal mißglückte der Versuch.

»Fürchten tu' ich mich ja nicht,« fuhr sie fort, und es war, als ob sie mit sich selbst rede, »fürchten nicht, bewahre.» Nur – nur – das Fortgehen und die Tanten – und –«

Annaliese brach plötzlich ab.

Er lauschte, als müsse noch was kommen.

Als nichts weiter kam, sagte er ganz leise und stockend: »Fräulein Annaliese, ich – ich wüßte einen Ausweg. Ich – ich hab's an Ihrem Geburtstag erst den Tanten sagen wollen, weil Sie – weil Sie – noch – noch gar so jung sind, Fräulein Annaliese. Aber jetzt – jetzt, wo ich sehe, daß Sie – daß Sie sich quälen, da – da – Fräulein Annaliese, werden Sie meine kleine Frau!«

Hatte sie recht gehört? Das letzte hatte ja nur noch wie ein Hauch geklungen.

Sie war emporgefahren. Bis in die Lippen erblaßt stand sie vor ihm, der sich in seiner ganzen Höhe vor ihr aufreckte.

»Das – das –« brach's von ihren Lippen. War's ein Schluchzen, war's ein Jauchzen?

Er wollte sich zu ihr niederbeugen, da war sie schon davon.

Wie gejagt flog sie dahin. Jetzt waren die großen Schuhe kein Hindernis. Im Sommerwind blähten sich die Röckchen, die dicken Goldflechten hatten sich gelöst und flogen hinterher. Die Hutbänder flatterten.

Und da war sie auch schon um die Ecke.

Herr v. Tillen hatte ihr zuerst folgen wollen, sich dann aber eines anderen besonnen. Er wollte bei seinem ersten Vorsatz beharren, wollte sich übermorgen, an Annaliesens Geburtstag, die Entscheidung holen.

Was ihr »Das – das –« nur hatte bedeuten sollen?

Sinnend ging er seines Weges. – – –

Die Tanten wußten daheim an diesem Abend und dem darauf folgenden Tag nicht aus Goldchen klug zu werden.

Das Kind war so erregt, lachte eben ohne allen Grund, um gleich danach vor sich hin zu träumen.

Am Abend, nach Erzählung des nassen Abenteuers, hatte Goldchen unweigerlich Tee trinken und früh zu Bett gemußt. Anderen Tags blühte das Kind wie eine Rose. Erkältung war also nicht zu fürchten. Die sonderbare Erregung aber war geblieben.

»Goldchen regt sich wegen der Entscheidung morgen auf,« damit erklärten die Tanten sich schließlich das absonderliche Gebaren des Lieblings. Damit waren sie ja allerdings der Wahrheit sehr nahe gekommen.

Es gab noch tausenderlei vorzubereiten für morgen. Und da Goldchens Anwesenheit dabei nicht erwünscht war, so blieb sie fast ganz sich selbst überlassen und war sehr dankbar dafür.

* * *

Der große Tag dämmerte herauf.

Es war, als ob die Sonne heute gar nicht frühe genug zur Stelle sein könne, dem Ehrentag des Lieblings zu strahlen.

Ahnte Frau Sonne, was heute werden wollte?

Sie hatte ihre Riesenscheibe ganz besonders blank geputzt und jeden einzelnen Strahl extra frisch vergoldet. Das glänzte und schimmerte und leuchtete, das sprühte und blitzte und funkelte nur so.

Goldchen konnte kaum hineinschauen in die Strahlenpracht, als sie frühmorgens das Mansardenfensterlein öffnete, um erst einmal neugierig hinauszulugen, was der junge Tag verspreche.

Fast geblendet wich sie zurück. Frau Sonne hatte ihr mit den strahlenden Glutfingern gar zu heiß liebkosend über das junge Gesicht gestrichen.

Aber etwas von dem Goldglanz war in dem wirren Gelock, und etwas war in den großen Braunaugen haften geblieben.

Ein etwas mehr noch als sonst.

Das fiel auch den Tanten auf, als Goldchen danach, auf den rufenden Klang des Silberglöckchens hin, zu ihnen ins Zimmer trat.

»Goldchen!«

»Herzenskind!«

»Gott segne dich!«

»Unsern innigsten, innigsten Glückwunsch!«

Goldchen hielt Tante Beate umfaßt. Das Kind weinte.

»Wie dank' ich euch all eure Liebe!«

Die Tanten in ihrer Selbstlosigkeit waren fast erschrocken.

»Aber Goldchen!«

»Herzblatt!«

»Liebling!«

»Du zahlst uns ja tausendfach heim!«

»Bist ja unser Augentrost!«

»Unser Herzblatt!«

»Unser Sonnenschein!«

Sie umdrängten das Kind, bis es wieder lachte.

Und dies Lachen kam gleich.

»Was habt ihr denn da? Soll das alles für mich sein?«

Der Gabentisch stand dicht bei Tante Beatens Sessel.

»Alles für dich! Und nun sieh, ob du aus der Gabe den Geber errätst.«

Goldchen lachte schelmisch auf. Sie griff nach einem Kochbuch mit geschriebenen Rezepten, wies nach allerhand Küchengeräten und einigen Wirtschaftsschürzen.

»Tante Renate!«

Zwei zierlich gearbeitete Blusen und allerhand Handarbeitsmaterial kamen dann an die Reihe.

»Tante Sibylle!«

Noten, Bücher aller Art.

»Tante Cäcilie!«

Ein ernst aussehendes Buch, mit silberner Klammer geschlossen, eine Bibel.

»Von dir, Herzenstantchen!«

Goldchen hing an Tante Beatens Hals.

»Laß es dich geleiten, Kind. Nimm Gottes Wort als Leiter mit hinein in die Zukunft!«

Schweigend küßte Goldchen die liebe alte Hand. Dann dankte sie den anderen Tanten in ihrer lieben, lebhaften Weise.

»Noch was hast du vergessen, Kind. Sieh doch einmal genau zu!«

Goldchen trat an den Gabentisch.

»Ach richtig!«

Eigentlich war dieser wunderprächtige Rosenkorb, der fast anspruchsvoll die ganze Mitte des Tisches einnahm, kaum zu übersehen gewesen.

Lauter zartrosa Rosen, eben erblüht in feinem, grünem Farrengeranke. Lichtrosa und zartgrüne Schleifen schmückten den bogigen Henkel.

»Entzückend, was?«

Alle vier Tanten sagten's wie aus einem Munde.

Goldchen starrte darauf hin.

Die Lippen waren geöffnet, ein Leuchten lag in den Augen. Eine feine Röte überzog leise, leise das ganze Gesicht.

Die Tanten sahen oder beachteten es nicht.

»Rate, von wem?«

Da warf Goldchen das Köpfchen zurück und sagte mit schelmischem Aufblick: »Von Elise!«

»Goldchen!«

»Na, dann von Johann!«

»Annaliese!«

»Na, doch jedenfalls von drüben!«

Ein bezeichnender Wink nach dem Herrenhause.

»Kind –«

Tante Cäcilie wollte zurechtweisen. Tante Beate legte sich ins Mittel.

»Könnten wir nun nicht frühstücken? Ich habe nämlich entsetzlichen Kaffeedurst.«

Da Tante Beate stets nur Milch trank, und zwar noch im Bett, so war ihr Vorwand vom Kaffeedurst sehr durchsichtig. Er erfüllte aber den Zweck. Er lenkte ab.

»Auf der Veranda gedeckt!« jubelte Goldchen. »Und dieser Kuchen! Nein, Tante Renate, wundervoll. Wie ein Berg! Sollst mal sehen, was übrig bleibt!«

Tatendurstig ließ Goldchen sich am Frühstücktisch nieder.

Aber ihre Augen mußten größer gewesen sein als ihr Magen. Die Taten hielten den Worten nicht das Gleichgewicht.

Goldchen bröselte nur so an dem Kuchen herum.

»Schmeckt er dir nicht, Kind?«

Tante Renate war ganz bestürzt.

»Herrlich, Tantchen, wieso? Ganz herrlich,« versicherte Goldchen und beschleunigte für Minuten ihr Tun.

Dann trat wieder eine Stockung ein.

»Noch ein Stück, Kind,« nötigte Tante Sibylle. »Noch ein Stückchen!«

»Ich kann nicht, Tantchen, gewiß und wahrhaftig, ich bin satt. Der Kuchen muß äußerst nahrhaft sein.«

Goldchen sagte das sehr ernst. Sie dachte nicht von fern daran, einen Witz machen zu wollen.

Die Tanten lachten.

»Findest du? Sonst schien mir Brot bei dir nahrhafter.«

Tante Beate winkte Tante Cäcilie heimlich.

»Ich schlage vor, Goldchen macht jetzt einen Gang in den Wald. Das Kind wird selbstverständlich noch einmal mit sich zu Rat gehen wollen, ehe ... Um zwölf Uhr erwarten wir dich dann, Kind. Bis dahin will auch der Herr Nachbar kommen. Und dann wollen wir gemeinschaftlich hören, was du zu sagen hast, und gemeinschaftlich beraten. Gott geleite und erleuchte dich, Kind, – Herzenskind!«

Goldchen stand sehr ernst da. »Ordentlich erwachsen plötzlich,« mußte Tante Beate denken.

Das liebe Gesicht war gesenkt und von heller, lichter Röte bezogen.

Dann neigte sich Goldchen über Tante Beatens Hand, küßte sie und – war gegangen.

* * *

Fünf Minuten vor zwölf Uhr.

Herr v. Tillen trat eben auf die oberste Stufe der Freitreppe.

Da flog etwas Schlankes, Lichtblaues quer über den Kiesplatz.

Annaliese im neuen, selbstgefertigten Blusenkleid.

Schnell war sie drüben in der Tür des kleinen Hauses verschwunden.

Er beeilte sich nun, ihr zu folgen.

Seit einer Stunde mindestens saßen die Tanten zusammen, teils in ernstem Schweigen, teils in eifrigem Gespräch.

Der Gedanke an das Kind, an die Entscheidung, vor die es gestellt war, an den Ausfall dieser Entscheidung, an die Zukunft, die sich daraus ergeben würde, dies alles lastete mit begreiflicher Schwere auf ihnen.

Die drei anderen Schwestern hatten sich um Beate geschart, als fänden sie bei ihr, der Hilflosesten unter ihnen, dennoch die beste Hilfe, Trost, Rat und Stütze.

Und so war es auch.

Tante Beate war die Gefaßteste, die Ruhigste von allen. Sie hatte den innigen Kinderglauben, der in allen Lagen freudig Gott vertraut.

»Grämt euch nicht, ihr Lieben, der Herr wird helfen das Rechte finden.«

»Und das Kind –«

»Das Kind ist so jung –«

»Hinaus in die böse Welt!«

»Und wenn die Welt böse ist – Gott ist gut!«

Es klang solche Zuversicht durch Tante Beatens Ton, solche Freudigkeit lag in den großen, braunen Augen.

Die anderen Schwestern senkten fast beschämt den Kopf. Wie ihr Kleinmut sie drückte! Und doch – und doch –

Da hörten sie die Haustür ins Schloß fallen, hörten von draußen feste Schritte über den Kies daherschreiten.

»Goldchen!«

»Herr v. Tillen!«

Es waren die beiden.

Und da holte die Fluruhr auch in feierlichem Ton aus und verkündete mit zwölf gewichtigen Schlägen die Entscheidungsstunde.

Mechanisch fast zählten die Tanten mit.

Ehe der letzte Schlag verklungen war, huschte Goldchen zur Tür herein. »Pünktlich, nicht?«

Der Versuch zur Schelmerei mißglückte etwas, auch die Tanten nickten nur stumm.

Dann kam der Herr Nachbar.

»Guten Morgen, meine Damen. Gestatten Sie, allerseits meinen Glückwunsch anzubringen. Wo ist denn – ah, Fräulein Annaliese! Das Beste, das Schönste Ihnen! Wenn Wünsche –«

Er mußte einhalten, die innere Erregung übermannte ihn.

Annaliese war bei seinem Erscheinen unwillkürlich der Verandatür zugeeilt, sich zu bergen vor seinem Blick.

Dann besann sie sich.

Von Glut übergossen stand sie vor ihm.

»Ich – ich danke Ihnen, Herr v. Tillen. Die schönen Rosen – die – die haben mir viel Freude gemacht.«

Sie hob das liebe Gesicht nicht, er konnte keinen Blick von ihr erhaschen.

Und wie gerne hätte er noch einmal in den großen unschuldsvollen Kinderaugen gelesen, ehe – ehe –

Den Tanten fiel Goldchens scheues Wesen wohl auf, sie schrieben es aber der natürlichen großen Erregung des Kindes zu.

Tante Cäcilie glaubte, sich ins Mittel legen zu müssen.

»Verzeihen Sie, Herr Nachbar, wenn Goldchen im Augenblick zu erregt ist, um die richtigen Worte zu finden. Die Rosen haben großen Eindruck gemacht und –«

Tante Beate schnitt ihr das Wort ab.

»Der Herr Nachbar begreift natürlich, sonst wäre er eben nicht er,« sagte sie ein bißchen ungeduldig. So ungeduldig, als es Tante Beaten überhaupt möglich war.

»Jetzt wollen wir aber zur Sache, sonst kommen wir überhaupt nicht zur Ruhe. Setzen Sie sich zu mir, Herr Nachbar. Wir bitten drum, daß Sie als unser nächster Freund, der es ja auch mit dem Kinde so herzlich gut meint, Goldchens Entscheidung hören und uns mit Ihrem schätzbaren Rat helfen, das Rechte zu finden.«

Herr v. Tillen neigte sich stumm und setzte sich.

Goldchen stand schlank aufgerichtet neben Tante Beatens Sessel. Die Hand, die sie darauf stützte, zitterte leicht.

»Und nun sprich, Kind!« Ein unendlich liebevoller Blick Tante Beatens begleitete die Aufforderung.

Alle Tanten sahen den Liebling an. So zärtlich, so mitleidsvoll, über Tante Renatens und Tante Sibyllens Gesicht perlten helle Tränen; sie merkten es gar nicht.

Vorerst schluckte Goldchen ein paarmal, reden konnte sie offenbar noch nicht.

Ein scheuer Blick flog zu Herrn v. Tillen hin.

Der hatte den Kopf gesenkt und wartete jedenfalls auch darauf, was sie, Annaliese, sagen würde.

Selbst etwas zu sagen, daran dachte er offenbar nicht. So war das vorgestern doch wohl nur Einbildung gewesen. Sie, Annaliese, hatte geträumt. Mit offenen Augen und offenen Ohren geträumt.

Annaliese warf das Köpfchen zurück. Sie räusperte sich einmal, zweimal. Nun hatte sie sich in der Gewalt.

»Ich soll euch sagen, wie ich mir meine Zukunft denke –« Die liebe klare Stimme war so verschleiert und hatte so rührend kindlichen Klang, daß Tante Sibylle und Tante Renate beinahe laut aufgeschluchzt hätten. Tante Cäcilie hob noch beizeiten warnend den Finger.

»– wie ich mir meine Zukunft denke,« fuhr unterdes die jugendliche Stimme fort, die allmählich an Festigkeit zunahm. »Das ist schwer zu sagen. Ich habe wirklich viel darüber nachgedacht, wirklich, und bin auch gar nicht bange davor, im Gegenteil. Aber seht mal – verzeih, Tante Renate – aber kochen – kochen tu' ich nicht sehr gerne, ich meine, nicht so immerzu. Das Feuer ist so heiß, und man macht da so leicht Dummheiten. Und wer kann immer wissen, wie viel Salz zu was gehört oder wie viel Zucker, und wie lange es kochen muß oder braten und –«

Tante Renate, die sehr rot geworden war, wollte unterbrechen: »Aber die Rezep–«

Doch Tante Beate winkte ihr Schweigen.

Goldchen sprach weiter.

»Und nähen – immer nähen! Wenn die Vöglein singen, und die Sonne scheint. Da werd' ich so gräßlich traurig und –«

»Pflichten bringt jeder Beruf.«

Tante Sibylle richtete sich steif auf.

»Wohl, Tantchen, und Pflichten scheu' ich auch nicht!« Goldchen wurde ganz eifrig. »Aber nähen, immer nähen und nähen lehren – das kommt mir schrecklich vor und –«

Tante Cäciliens Gesicht hatte sich immer mehr verklärt.

»Bleibt also –« rief sie nun triumphierend.

»Ja, Tantchen, aber Lehrerin zu werden, davor bin ich bange. Wo sollte der Respekt herkommen? Ich fürchtete mich vor meinen eigenen Schülerinnen. Denkt euch doch, so große Mädchen und ich! Und Musik? Glaubt ihr, daß ich Talent habe?«

Sie sah die Tanten zweifelnd an.

Tante Cäcilie hatte sich sehr stramm emporgesetzt.

»Ja aber wofür entscheidet sich denn die Mamsell?«

Goldchen warf ihr einen sehr erstaunten Blick zu. Den Ton hatte sie noch nie gehört. Die Lippen wollten verräterisch zucken, doch tapfer bezwang sie sich.

Sie legte den Arm um Tante Beate, die sie immerzu angesehen hatte mit den guten, klugen, stillen Augen und schmiegte die junge Wange dicht an das liebe, alte Gesicht.

»Wenn ich nun Krankenpflegerin würde, Tantchen?«

»Goldchen!«

Ein Entsetzensschrei aus vier Kehlen antwortete.

Selbst Herr v. Tillen, der bis dahin vollständig regungslos geblieben war, war aufgefahren.

Eine stumme Pause.

Dann sagte Tante Beate: »Drängt es dich dazu, Kind? Hast du das Gefühl, als ob just der, eben der Beruf dich glücklich machen würde?«

Goldchen senkte den Kopf und legte den Finger sinnend an die Lippen. Dann hob sie freimütig den Blick.

»Das nicht, Tantchen, ich dachte nur so. Kranke dauern mich, und ich möchte ihnen helfen und –«

»Dann laß es, Kind,« – Tante Beate atmete sichtlich auf – »zu dem Beruf muß es uns von innen heraus gebieterisch treiben, sonst halten wir ihm nicht stand. Mit der äußeren Kraft allein ist's da nicht getan.«

Goldchen senkte den Kopf.

Plötzlich hob sie den strahlenden Blick.

»Dann laßt mich Kindergärtnerin werden! Ich mag Kinder so schrecklich gerne. Da brauch' ich mir keinen Zwang aufzuerlegen, wenn ich sie was lehren will, da weiß ich's immerhin noch besser. Und so was wie Lehrerin bin ich dann doch, und nähen muß ich und auch kochen können, da hab' ich von jedem Tantchen etwas, nicht?«

Der Schalk wollte vorblitzen, so recht gelang es nicht.

Es war, wie wenn die Sonne durch dichten Nebel durch möchte und nicht so recht kann.

Warum das Kind nur so zitterte? Tante Beate schlang den Arm um sie.

»Dein Vorschlag, Liebling –« wollte sie eben beginnen, da schnitt ihr eine andere Stimme das Wort ab. Eine Männerstimme, eine sehr erregte Männerstimme.

Es durchzuckte Goldchen wie ein elektrischer Schlag, und das Zittern wurde noch heftiger.

Was das nur war?

Tante Beate begann, sich ernstlich zu sorgen.

Die Männerstimme sagte indes: »Darf ich, ehe der Vorschlag Fräulein Annaliesens erwogen wird, noch einen zweiten Vorschlag machen?«

Atemlose Stille.

Goldchen war an Tante Beate niedergeglitten und barg das Gesicht in deren Schoß.

»Wollen Sie, anstatt Ihr Kleinod in die Welt hinaus zu lassen, es mir anvertrauen? Darf ich Fräulein Annaliese als meine geliebte kleine Frau in mein Heim führen? Da bleibt sie Ihnen erhalten und ich – ich –«

Er verlor die Gewalt über seine Stimme.

Wie versteinert saßen die Tanten.

Den Welteneinsturz hätten sie sich eher träumen lassen als dies.

Tante Sibylle fand merkwürdigerweise zuerst das Wort.

»Hab' ich's nicht gesagt, Goldchen könnte heiraten!« triumphierte sie.

Aber keiner hörte darauf.

Herr v. Tillen hatte sich über Tante Beatens Hand gebeugt, die sie ihm reichte.

Lange sahen sie sich wortlos in die Augen.

»Und meine Antwort?«

Leise klang's, zagend.

Umsonst suchte Tante Beate nach Worten. Die anderen Schwestern weinten stumm vor sich hin.

»Bin ich's nicht wert?«

Noch leiser kam's, noch zagender.

Energisch schüttelte Tante Beate den Kopf, hob abwehrend die Hand.

»Zu alt?«

Jetzt fand Tante Beate Worte.

»Behüte, nur das Kind so jung!«

»Freilich!«

Er nickte zerknirscht.

Goldchen hatte eine Bewegung gemacht. Da erinnerte sich Tante Beate erst wieder ihrer, die doch eigentlich die Hauptsache war.

Der Schalk blitzte in ihren Augen auf.

»Fragen Sie Goldchen doch selbst!«

Stürmisch machte er von der Erlaubnis Gebrauch, das heißt, er half Annaliese, trotz ihres Sträubens, sehr energisch sich von der Tante Schoß aufrichten.

Merkwürdig! Keine der Tanten hatte, so sehr sie lauschten, eine Frage, keine eine Antwort gehört.

Und doch stand dort ein sich fest umschlungen haltendes Paar!

Wie war das nur gekommen?

Wie eben das Glück kommt. Plötzlich, unerwartet, ungeahnt, ungehofft!

Da war das Glück!

Goldchen, ihr Goldchen, ihr Liebling, ihr Herzblatt, das heimatlos da draußen in der Welt den Kampf mit dem Leben aufnehmen sollte, es hatte ein Heim gefunden!

Ein trautes, geborgenes, behütetes Heim! Und an der Seite eines solchen Mannes!

Dieses Mannes! Sie kannten ihn nun schon Jahre, Jahre.

In der Einsamkeit hier hatte er sich eine Jugendlichkeit gewahrt, die andere draußen in der Welt nur zu leicht verlieren.

Ein jugendliches, ein warmes, ein begeisterungsfähiges Herz schlug wie einst im Jüngling, so jetzt in seiner Mannesbrust. Und dies Herz, dies warme, große, gute Herz gehörte Goldchen, ihrem Goldchen.

Die Tanten konnten vor lauter Rührung gar nicht zu sich selber kommen.

»Und jetzt wird doch gekocht!« triumphierte Tante Renate.

»Und genäht!«

»Und gelernt und musiziert!« folgten ihr Tante Sibylle und Tante Cäcilie.

Goldchen hatte das gehört. Es rief sie zu dem Bewußtsein zurück, daß jenseits des schwarzen Tuchärmels, der ihr so energisch jede Aussicht versperrte, noch eine Welt sei.

Goldchen mußte lachen.

Da war der Bann gebrochen.

Und nun versperrten für eine Weile andersfarbige Ärmel von Wolle, Seide oder Baumwolle Goldchen die Aussicht.

Goldchen wurde abwechselnd an wollene, seidene oder baumwollene Bekleidungsstücke gepreßt, unter denen Tantenherzen schlugen, und wie schlugen!

Tantenaugen betauten das geliebte junge Antlitz, und Tantenlippen stammelten Glück- und Segenswünsche.

Als der erste Ansturm vorüber war, klang Tante Beatens Stimme: »Eine Bedingung habe ich. Für ein Jahr geht Goldchen hinaus in die Welt. Sie soll den von ihr selbst erwählten Beruf kennen lernen, soll sich drin ausbilden, wie es zuvor beschlossene Sache war. Goldchen ist so jung. Sich in ernsten Pflichten vorbereiten auf ernstere, kann ihr nicht schaden.«

Sie wollten widersprechen, selbst die Tanten, ja die Tanten am meisten. Ein Blick in Tante Beatens Gesicht aber machte jeden Widerstand verstummen.

Wortlos umfaßte Goldchen die geliebte Tante. Wortlos küßte Herr v. Tillen ihr die Hand.

Tante Beatens Augen zeigten solch eigentümlich weichen Ernst.

Auch die Schwestern beschieden sich wortlos.

Tante Beate war so klug. Wenn Tante Beate solche Bedingung stellte, dann wußte sie warum. Dann hatte sie ihre Gründe.

Ja, Tante Beate hatte ihre Gründe.

Der eigentümlich stille Ernst wich nicht aus ihren Augen, obgleich ihr Mund scherzte.

Als dann späterhin Herr v. Tillen gegangen war, Renate und Sibylle fest umschlungen am Fenster lehnten und nochmals in so einem angenehm erleichternden, kleinen Freudenweinen schwelgten, wobei sie sich gegenseitig immer abwechselnd die Tränen fortwischten, Tante Cäcilie am Instrument saß und mit stillem Blick über den Choral phantasierte: »Allein Gott in der Höh' sei Ehr«, da zog Tante Beate den Liebling zu sich hernieder.

Annaliese hatte neben ihrem Sessel gestanden und träumend ins Weite gesehen.

Die stillen dunkeln Tantenaugen, in der halben Dämmerung, die im kühl gehaltenen Raum herrschte, noch größer, noch dunkler als sonst anzusehen, schienen sich bis auf den Grund der jungen Seele bohren zu wollen.

»Goldchen!«

»Tante Beate?«

»Hast du ja gesagt, weil du die Trennung von uns scheutest, weil du den Kampf draußen fürchtetest?«

Unendliche Angst zitterte durch den Ton.

Einen Augenblick zögerte Goldchen. Heiße Glut überzog langsam das feine Gesicht.

Dann hob sie die unschuldsvollen, strahlenden Augen, klar und rein traf sich Blick und Blick.

»Nein, Tantchen, aber weil ich ihn lieb habe!«

Ein Hauch war's nur und zugleich umschlangen weiche Arme der Tante Nacken und ein erglühendes Gesicht barg sich an deren Brust.

Ein neckisches Lüftchen stieß den schützenden Laden auf, Frau Sonne lugte herein und entdeckte den Liebling.

Sogleich war das junge Haupt von einer strahlenden Glorie umgeben.

Tante Beate wäre beinahe geblendet gewesen.

Doch sie mußte so wie so die Augen schließen, eine Träne war drin aufgequollen.

Das »Weil ich ihn lieb habe« Goldchens, das sie eben gehört, hatte diese Träne hervorgelockt.

Tante Beate schloß die Augen und lehnte sich mit einem Seufzer der Erleichterung in ihrem Sessel zurück.

Fester umschlossen die Arme den Liebling.

Nun war auch Tante Beate beruhigt über Goldchens Zukunft.


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