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Einmal im Leben, da schreitet das Glück
Jedem zur Seite mit sonnigem Blick.
Wohl dann dem Menschen, der es erkannt,
Eh' es ihm lächelnd den Rücken gewandt.
Einmal geschwunden, kehrt's nie mehr zurück,
Lächelt nie wieder, das sonnige Glück!
O Lenz, wie bist du so wunderschön – wie bist du – so wunderschön!« schmetterte eine jubelnde, glockenreine, taufrische Mädchenstimme in der Tiefe des ländlichen Gemüsegärtchens.
Vorn am kleinen, niedrigen Häuschen klirrte ein Fenster.
»Liesel!«
Es klang grämlich, weinerlich. Der Ton, den die Stimmen älterer Frauen manchmal annehmen, deren Leben nicht eben ein leichtes war.
»Am blüh–hen–den Hang da–hinzugehn, im Arm seine zitt–« sang die jubelnde Mädchenstimme weiter.
»Liesel! Ich muß den Kohl jetzt gleich haben, sonst wird er nicht mehr weich. Und vergiß die Zwiebeln nicht und –«
Diesmal hatte der Ruf Erfolg.
»Gleich, Mütterchen! Einen Moment, gleich! Sofort! In der Minute! Im Augenblick! Eben!«
Es klang, als ob alle nur erdenkliche Lust in der jungen Brust zusammengepreßt sei und sich Luft machen müsse. Die Töne waren gleichsam von verhaltenem Kichern, Übermut, Jugendlust durchtränkt.
Ein Lächeln wollte über der Mutter vergrämtes Gesicht huschen, statt dessen wurde ein Kopfschütteln und Seufzen daraus.
Sie schloß das Fenster.
Da huschte es auch schon den schnurgraden, buchsbesäumten Gartenweg entlang, und fast noch ehe die Mutter sich wenden konnte, stand eine Gestalt unter der Tür, wie Lenz und Lust und Jugend und Glück, alles in einem verkörpert, anzuschauen.
Schlank, biegsam, mit braunen, langen Zöpfen, braunen, lachenden Augen, mit lachendem, strahlendem Gesicht, das war Liesel. Unter jedem Arm hielt sie einen Riesenkrautkopf, und über jedem Ohr baumelte ein Bündel Zwiebeln, deren getrocknetes Kraut sie am Hinterkopf verknotet hatte.
»Wie gefall' ich dir, Mütterchen?«
»Torheiten und kein Ende!« jammerte die Mutter. »Wirst du denn nie vernünftig werden? Bist doch wahrhaftig kein Kind mehr. Siebzehn Jahre alt!«
»Siebzehn Jahre, sechs Monate und vier Tage, bitte!« schob Liesel prompt und wichtig ein.
Sie hatte sich rasch und geschmeidig ihrer Last entledigt.
»Umso schlimmer!« schalt die Mutter unterdes weiter. »Wie willst du mit solchem Unsinn durchs Leben kommen?«
»Wundervoll, Mütterchen, paß mal auf!« sagte, nein jubelte Liesel. Es lag stets etwas wie Vogelzwitschern und Jubilieren in ihrer Stimme.
Sie hatte die Arme um die Mutter gelegt und sah ihr schelmisch mit den lachenden Augen in das vergrämte Gesicht.
Die Mutter wurde weich.
»Das Leben ist ernst, Kind,« sagte sie leise und seufzte ein ganz klein wenig.
»Wonnig ist's, Mutterherz! wonnig, sag' ich dir. Ich könnte den ganzen Tag singen und springen. Wart du nur erst, bis das Glück kommt!«
Liesels Augen blitzten und strahlten so, als ob sich das erträumte, wunderbare Glück schon leibhaftig drin widerspiegle. Dies grenzenlose, wunderbare, märchenhafte Glück war Liesels fixe Idee. Eine Träumerin war Liesel nicht, auch keine Phantastin, aber das Leben lachte ihr jetzt schon so strahlend entgegen, und fing doch erst an, was mußte da noch alles kommen! So was ganz Riesiges, Ungeahntes!
Mütterchen freilich schüttelte den Kopf dazu, und Mütterchen kannte das Leben. Aber Mütterchen war auch alt, und sie – sie – Liesel – war jung, das war ganz was anderes!
Auch jetzt schüttelte die Mutter seufzend den Kopf.
»Närrisches Ding! Daß dir die Luftschlösser alle nur nicht über dem Kopf einpurzeln und du hart auf den Boden zu sitzen kommst! Die meisten setzen sich in Dornen, Kind, und in Nesseln, die meisten!«
»Ich nicht, Mütterchen, ich nicht. Ich leg' mich auf lauter Rosen. Die Mädchen legt man aufs Rosenbett, die Buben in eine Dornenheck',« variierte der Schalk das alte Kinderlied und lachte dazu wie ein Kobold.
Da fühlte sich Liesel von hinten an den beiden Zöpfen gepackt und ziemlich derb gerissen;
»Die Buben muß man Schlitten fahren,
Die Mädeln in den Neckar tragen,
so heißt's, Jungfer Liesel. Daß du's nur weißt. Und das ist auch ganz richtig, denn zu was sind so dumme Mädel sonst auf der Welt! Ich geh' in den Wald, Mütterchen, zu Tisch bin ich da!«
Noch einen Ruck an den schwesterlichen Zöpfen, und krachend fiel die Tür ins Schloß hinter dem sich mit langen Schritten Entfernenden.
»Erich, au, Erich!«
Liesel hatte die Tür aufgerissen und wollte dem Bruder nach. Sie war sehr böse. Ihre Zöpfe, die sie nur daheim aus Bequemlichkeit hängen ließ, waren ihr Stolz und ein sehr angreiflicher Teil ihres Ich.
»Hiergeblieben, Liesel. Die Zwiebeln müssen geschält werden, und meine Augen vertragen das nicht.«
Seufzend entschloß sich Liesel, der Mutter Ruf zu folgen. Erich, der Bengel, verschwand ohnedies eben schon um die Ecke, nicht ohne Liesel noch eine Nase gedreht zu haben. Da war nichts zu machen.
Liesel wandte sich wie der Wind.
»Her mit den Dingern, Mütterchen, wollen's schon machen.«
Flink war das Messer zur Hand und eins, zwei, drei die Zwiebeln geschält und geschnitten.
Auf die drolligste Weise verzog Liesel das Gesicht und kniff die Augen zu, um den Tränen zu wehren, die ihr der beißende Geruch auspreßte.
Da lief ihr trotzdem ein leuchtender Tropfen über die Wange, noch einer und noch einer.
Sie fing sie mit der Fingerspitze auf und blickte komisch betreten darauf hin.
»Tränen, puh!«
»Möchten's die schlimmsten sein, die dir das Leben auspreßt,« sagte die Mutter, die kopfschüttelnd dem Gebaren Liesels zugesehen hatte.
»Diesmal war's bloß die Zwiebel, Mutterherz! Ich fürcht' mich vor deinem gräßlichen ›Leben‹ kein bißchen. Als ob's 'n Oger wäre, der nur drauf lauert, wen er verschlingen kann. Bange machen gilt nicht! Ich fürcht' mich nicht, ich nicht!«
Und Liesels Augen lachten, Liesels Mund lachte, die ganze Liesel lachte und leuchtete und strahlte.
Dem war nicht zu widerstehen.
Hastig, als ob sie wider Willen etwas Verbotenes tue, legte die Mutter plötzlich die Arme um das Kind und küßte es mitten in das sonnige junge Gesicht hinein.
»Geh üben, Kind. Ich werde hier schon allein fertig. Der Herr erhalte dir den Sonnenschein!«
Liesel schmiegte die glatte junge Wange warm an das von Leid gezeichnete Mutterantlitz, die leuchtenden Augen tauchten tief in deren müde, verhärmte.
»Armes Mütterchen, sollst auch wieder lachen lernen! Ich will dich's schon lehren, wenn erst –«
»Wenn erst – was?«
Das verriet Liesel nicht.
Sie war schon draußen. Und das enge, niedrige Treppenhaus hallte wieder vom Gesang der goldklaren, klingenden Stimme.
»Tönt es von den Höhn bis zum Tale weit,
O wie wunderschön ist die Frühlingszeit!«
sang Liesel und konnte sich nicht genug tun, die letzte Zeile nochmals und nochmals in den erdenklichsten Höhen und Tiefen und Tonarten hinauszuschmettern.
»O wie wunderschön ist die Frühlingszeit!«
verklang's jetzt oben hinter der Tür. Gleich danach setzte eine Kramersche Etüde ein, die mit klarem, perlenden Ton und großer Korrektheit gespielt, an stockenden Stellen so lange gefeilt und in beschleunigterem Tempo wiederholt wurde, bis sie tadellos gelang.
Was Liesel tat, das tat sie recht, ob sie nun Klavier übte oder – lachte.
Unten in der Küche bei ihrem Kohl und ihren Frikandellen lauschte die Mutter und sann.
Woher das Kind die Sonnennatur nur hatte?
Von ihr nicht, vom Vater auch nicht.
Ob sie, als sie ganz, ganz jung war, einmal hatte froh sein können, so heiter sein, wie Liesel es war? Sie entsann sich's kaum.
Früh war sie Waise gewesen, und dann war sie in der Welt herumverschlagen worden. Hierhin und dorthin. Sie hatte gute, freundliche, und sie hatte herbe, finstere Menschen getroffen, Wohlwollen, Güte, Härte und Unfreundlichkeit erfahren.
Wenn sie jetzt so drüber nachdachte, mochten sich ja wohl das Schlimme und das Gute in ihrem Leben ausgeglichen haben. In ihr selber nur hatte, was trübe war, so viel länger nachgeklungen, als das Schöne und das Frohe. Sie hatte so schwer dran getragen, und das lag ja wohl an ihr.
Auch als dann lichtere Zeiten kamen, als sie, die Heimatlose, eine Heimat fand, als ein Herz sich ihr bot, das Freud' und Leid mit ihr zu teilen versprach, da wollte es ihr nicht gelingen, die Wolken zu vergessen, die hinter der Sonne dräuen.
Im einfachen Pfarrhaus dieses Dörfchens hatte sie an der Seite des ernsten, ruhigen Mannes ein geborgenes, behütetes Leben geführt. Sorglos war es nicht gewesen. Die Hausfrau mußte Rechenkunst und Kräfte zusammennehmen, um Einnahmen und Ausgaben in Einklang zu bringen, und manch liebes Mal zeigte die Kasse trotz aller Mühen, trotz aller Berechnungen ein gähnendes Defizit.
Kein Wunder! Es waren die Kinder gekommen, vier an der Zahl. Zwei waren geblieben, zwei waren gegangen, und auch das kostete Geld, viel Geld mit Doktor, Apotheker und allem anderen.
Eine Zeitlang kränkelte sie selbst. Da mußte Hilfe ins Haus genommen werden. Wie sie sich da grämte!
Und der ernste, stille Mann an ihrer Seite, ein echter Gottesmann im wahren Sinne des Wortes, der sah die Not seines Weibes, aber ein Verständnis hatte er nicht dafür.
Mit gutem, warmem Lächeln legte er den Arm um ihre Schultern: »Weib, Weib, was sorgest du dich? Der die Lilien des Feldes kleidet, der der Vöglein des Waldes denkt, sollte er seiner vornehmsten Kreatur vergessen?«
Und dann hatte er das Geld, das sie mühsam für den Holzvorrat des Winters zusammensparte, genommen und eine arme Familie damit aus den Händen des Gerichtsvollziehers gerettet.
Die Familie war ehrenwert freilich und war der Hilfe wert, aber – die Kinder und sie wollten doch im Winter auch nicht frieren!
Als dann, da eben in dem hochgelegenen Bergdörfchen der Winter mit Schnee und Eis einsetzen wollte, eines Tags ein benachbarter, reicher Waldbauer vorfuhr und mit verlegenem Grinsen einen hochgetürmten Wagen Scheiterholz – »e bißche Holz für de Herr Pfarre, wo so gut mit'm kranke Weib gewese is« – ablud, da – da senkte sie das Haupt und faltete schweigend die Hände.
Und ihr guter Mann stand leuchtenden Blicks daneben, sah auf sein zagendes Weib nieder, und alles, was er sagte, war:
»Weg hat er allerwegen,
An Mitteln fehlt's ihm nicht!«
Da hatte sie bitterlich weinen müssen und sich geschworen, nie wieder zagen zu wollen.
Aber dann waren doch wieder Zeiten gekommen, dunkle Zeiten, wo des Herrn sichtliche Hilfe ausblieb. Ihr Mann zagte nicht! »Herr, wie du willst,« und stillen Blicks sah er nach oben. Sie aber, sie – sie steckte in den tiefsten Kellertiefen des Kleinmuts, und ihr trübes, vergrämtes Auge konnte den Troststrahl des Himmels nicht finden.
So ging es auf und ab, auf und ab. Liesel, des ernsten Vaters Sonnenstrahl, hatte schon vierzehn Jahre lang mit ihrem unbezwinglichen Frohsinn das Elternhaus durchwärmt und durchleuchtet, da – woher das Kind nur die Sonnennatur hatte?
»Lösch dem Kind den Sonnenschein nicht aus, Martha,« hatte ihr Mann oft warnend gesagt, wenn sie die Kleine auf einen ernsteren Ton zu stimmen sich bemühte, »lösch ihn nicht aus! Wer weiß, was der Herr mit dieser Gabe just für sie bezweckt.«
Sie wollte es ja nicht tun, gewiß nicht, aber das Leben war doch einmal ernst. War es da nicht Sünde, es zu leicht zu nehmen?
»Zu leicht zu nehmen, gewiß! Aber Liesel weiß doch auch vom Ernst des Lebens und empfindet ihn. Leichter Sinn ist ein ander Ding als Leichtsinn! Hast du die Tränen vergessen, die sie für die Nachbarin hatte, der ich zwei Kinder auf einmal zu Grabe geleiten mußte? Erinnerst du dich, wie die kleine Sechsjährige ihr Brot nicht essen wollte in jenem bösen Hungerwinter, weil sie gehört hatte, daß arme Kinder keins hätten? Wie du sie nur mit Mühe zur Hälfte der gewohnten Portion bestimmtest und sie diese Teilung gewissenhaft wochenlang durchführte? Weißt du noch, mit welchem Ernst Liesel Besserung für Fehler gelobte, die du an ihr rügtest, und wie sie diese Fehler wirklich mit Mühe und Fleiß ausmerzte? Nein, Liesels Frohnatur ist keine Sünde, Liesel lacht sich und anderen den Himmel ins Herz.«
Wie mußte Frau Martha heute daran denken. Sie meinte, des geliebten Mannes Stimme förmlich zu hören, sie fühlte den warmen Blick seines Auges auf sich ruhen.
»Martha, Martha, was sorgest du!«
Daß sie auch just Martha heißen mußte! Nomen est omen. Sie kam über die sorgende, sich härmende, schaffende Marthanatur nicht hinaus.
Liesel freilich – Liesel –
Ja, Liesel war eben vierzehn Jahre alt, Erich genau zwölf, da kam das Schreckliche, das alle die kleinen Qualen und Kümmernisse mit seiner gewaltigen Wucht erdrückte.
Da brachten sie ihr den geliebten Mann tot ins Haus.
Er hatte im entfernten Walddorf einen Kranken besuchen wollen, zu dem man ihn noch bei Nacht und Nebel geholt hatte.
Dem ängstlichen Weibe, das den beschwerlichen, stellenweise im Dunkel nicht ungefährlichen Weg für ihn fürchtete, hatte er ruhig erwidert: »Mein Herr ruft!«
So war er gegangen und – nicht wiedergekommen.
Sie fanden ihn zerschmettert in einem Steinbruch. Die Laterne, die er mitgehabt hatte, fand man ein Stückchen oberhalb am Wege stehen. Sie mußte ihm erloschen sein und er sich im Finsteren auf dem Wege vorwärts getastet haben. So war er abgestürzt.
Der Herr hatte ihn gerufen. In seinem Dienst hatte er den Tod gefunden. Sein Weib und seine Kinder waren nun allein.
Frau Martha meinte vergehen zu müssen in der Nacht des Jammers. Liesel hatte für lange, lange Zeit das Lachen vergessen.
Und wie die Nacht am schwersten lastete, da blitzten kleine Troststernchen auf.
Erst kam der Nachbar, der reiche Hofbauer.
»Frau Pfarrerin, mei Häusche steht leer. Wisse Se, des, wo ich for mei Mutter gebaut habb. Wann Se des nemme wollte. For mich wär's en Sege – leere Häuser dauche nix – un for Ihne – nadierlich gebb ich's Ihne ganz billig. Ebbes is immer besser als nix!«
Da war die neue Heimat!
Dann kam der Bruder des geliebten, toten Mannes, der Professor war in der Stadt.
»Den Erich nehme ich mit, Frau Schwägerin. Dessen Erziehung ist selbstverständlich meine Sorge. Sie hätten ihn doch bald fortgeben müssen. So arrangiert sich die Sache am leichtesten. Liesel bleibt vorläufig bei der Mutter. Ist sie erst achtzehn oder so, dann kommt sie einmal in die Stadt zu Tante und mir, und wir sorgen, daß ihrer musikalischen Begabung aufgeholfen wird. Bis dahin ist sie bei der Mutter nötig und in besten Händen. Wie ich höre, nimmt sie ja Teil am Unterricht des Töchterchens oben vom Berghaus. Was wollen wir mehr? Später sehen wir weiter. Meine Frau ist Vorsteherin des Frauenvereins an unserem Platze. Sie könnte Ihnen und Liesel leicht Handarbeiten irgend welcher Art zuweisen, das gäbe eine kleine Zubuße zur Pension, Frau Schwägerin. Wenn Sie wollten –«
Frau Martha wollte, und da war das neue Leben.
Das kleine, enge Häuschen mit den grünen Fensterläden und dem kleinen, grünen Gemüsegärtchen dahinter, dessen einziger, schnurgrader Weg an altmodischen Blumenrabatten und Salat-, Rüben- und Kohlbeeten vorbei zur dichten, schattigen Fliederlaube führte, dies kleine, enge Haus war den Verwaisten nun schon seit drei Jahren Heimat – zur trauten Heimat geworden.
Liesel, die den geliebten Vater sehr betrauert hatte, schaute schon lange wieder aus sonnigen Augen in die Welt. Die erste Zeit durch hatte sie noch treulich gelernt. Seit sie konfirmiert und »groß« war, half sie Mütterchen ebenso treulich im Haushalt und bei den Handarbeiten aus der Stadt. Sie lachte und sang, sie zwitscherte und jubilierte mit den Vöglein um die Wette, und es gab im ganzen Dorf kein sonnigeres, fröhlicheres Menschenkind.
Die Mutter besorgte den Haushalt nur mit einem ganz jungen Dorfkind als Hilfe zur gröbsten Arbeit. Das Sorgen und Seufzen hatte sie noch nicht vergessen, das Lachen nicht gelernt, aber sie hatte doch ihre innige Herzensfreude an dem frischen, munteren Töchterlein. Ja, zuweilen war ihr, als wolle es an das eigene arme, müde Herz pochen: Geh, tu dich auf, laß die Sonne herein, über diesem neuen, unbekannten Gefühl erstaunte die Mutter manch liebes Mal und schüttelte, verwundert über sich selbst, den früh ergrauten Kopf. Und wenn dann die Liesel wieder und wieder mit ihrer fixen Idee vom »Glück« kam, da konnte die Mutter nicht jedesmal zürnen. Nein, sie ertappte sich selber darüber, daß sie Träume spann, daß sie –
»Mütterchen, der Herr Pfarrverweser läßt sagen, daß er, wenn du's erlaubtest, gerne heute abend zum Tee kommen möchte. Ich soll Antwort bringen.«
Damit stürzte Erich, der zu den Herbstferien da war, in die Küche.
Mutters Träume zerstiebten – oder gewannen sie erst recht Gestalt?
»Ich lasse sehr bitten!«
Erich trabte davon.
»Schon wieder?« fragte Liesel, die eben die Treppe herunter kam, als Erich seine Botschaft ausrichtete. »Er war ja erst vor acht Tagen da. Seh' mal einer an!«
Die Mutter wollte was sagen, besann sich aber und schwieg.
»Flink, Kind, der Kohl muß ausgemacht werden. Es ist gleich Essenszeit!«
Und Liesel machte den Kohl aus und sang sich ein Liedchen dazu –.
* * *
Die Hängelampe brannte und warf ihren Schein über den appetitlich gedeckten Teetisch.
Liesel hantierte noch eifrig daran herum. Sie rückte hier eine Tasse, dort eine Gabel zurecht und musterte alles mit Kennerblick.
Vom Arbeitstisch am Fenster nahm sie eine Vase voll Astern und stellte sie neben Mutters kunstvollen Heringssalat.
»So, das hat noch gefehlt. Wo so viel für den Schnabel ist, muß auch was fürs Auge sein,« sagte sie.
»Mir ist der Salat lieber,« meinte Erich lakonisch und räkelte sich auf dem Sofa.
»O, du Magenmensch!« gab Liesel verächtlich zurück. »Keinen Funken Schönheitssinn!«
»Ach was, wenn man Hunger hat,« rechtfertigte sich Erich. »Du issest auch keine Astern!«
»Gott soll mich behüten! Nein, so ein Barbar!« rief Liesel und drang scherzend auf Erich ein. Der wehrte sich, und es entstand ein lustiges Ringen.
Die Mutter erschien in der Tür.
»Dieser ewige Unsinn! Man kann kein vernünftiges Wort reden. Liesel, die Würstchen müssen zehn Minuten kochen, und es ist gleich sieben Uhr.«
»Im Augenblick, Mütterchen, laß dir nur erst 'nen Kuß geben.«
Liesel flog auf die Mutter zu und küßte sie kräftig mitten auf den Mund.
»So, und nun lach mal!«
»Geh!«
»Geh, Unband!«
Aber es zog wie ein Schmunzeln über der Mutter Gesicht, so ein ganz schwacher Schein, wie das allerallererste Frühlicht des dämmernden Tages.
»Bravo, Mütterchen, bald kannst du's,« jubelte Liesel, drehte die Mutter im Kreise und flog zur Tür.
»Nun zu den Würstchen!«
An der Tür prallte Liesel mit jemand zusammen, der offenbar schon da gestanden und die letzte Szene mit angesehen hatte.
»Hier wird ja seltener Unterricht erteilt,« sagte eine tiefe Stimme.
»Guten Abend, Herr Vikar. Ich muß zu den Würstchen!«
Zurücktretend machte er Liesel Platz, die eilig davonflog.
Dann trat er vollends ins Zimmer und auf die Mutter zu, deren gebotene Hand er warm schüttelte.
»Bravo, Frau Pfarrerin, das lob' ich mir. An solchem Unterricht haben die Engel im Himmel ihre Freude.«
»Das Mädchen ist zu toll!« klagte die Mutter.
Der Pfarrverweser schüttelte den Kopf.
»Wer richtig lacht, lacht sich und andere in den Himmel – hier unten schon. Und Fräulein Liesel –« er brach ab. »Darf ich denn schon wieder kommen, Frau Pfarrerin? Es ist so gemütlich bei Ihnen, und wer so einsam ist wie ich, empfindet das doppelt.«
»Aber, mein lieber Herr Vikar, Sie wissen doch, wie wir Sie schätzen. Sie kommen uns nie zu oft,« beeilte sich die Mutter zu versichern.
Erich kicherte.
»Na, die Liesel –«
»Erich, geh und hilf Liesel auftragen. Jungen müssen immer höflich gegen ihre Schwestern sein.«
Damit schnitt die Mutter das drohende Unheil ab.
Erich brummte etwas vor sich hin, tat aber doch, wie ihm geheißen war.
Der Herr Vikar hatte gehört und verstanden, was Erichs Einwurf von vorher bedeutete; ein Schatten flog über sein gutes, offenes Gesicht.
Schweigend nahm er den Sitz ein, den die Frau Pfarrerin ihm bot.
»Wie steht's im Amt, Herr Vikar?«
Die Pfarrerin interessierte sich für alles, was darauf Bezug hatte.
»Gut, Frau Pfarrerin, ich danke. Wer solchen Nachlaß antritt, der hat gut amtieren. Ihr seliger Mann –«
»Ja, mein Mann! Aber Ihr Vorgänger, der über ein Jahr hier hauste, der mag manches verdorben haben. Er war anders als Sie, er –«
»Gute Saat keimt lange und überdauert manches,« schnitt der Vikar die drohende Klage, die er schon kannte, ab. »Was jahrelang treue, fromme Hände im Namen des Herrn aufgebaut haben, das reißt jugendlicher Unverstand so schnell nicht ein.«
»Wie wird's nun wohl mit Ihrer Bestätigung?«
»Ich hoffe bald darauf.« Wie er das sagte, blitzte sein Auge auf und dehnte sich seine Brust. Schön war er nicht, der Herr Vikar, aber er war stattlich gewachsen und hatte ein gutes Gesicht.
Die Pfarrerin strickte. Ihr Knäuel entwischte ihr und rollte am Boden hin. In altmodischer Höflichkeit wollte sie nicht erlauben, daß der Herr Vikar sich danach bemühe.
Erst gab's einen kleinen Streit, und dann bückten sich beide zugleich danach und kauerten am Boden.
Da flog die Tür auf.
»Hallo, wird hier Karnickelspiel gespielt?« rief Liesel. »Wartet doch, bis Erich und ich auch dabei sind!«
Und wie sie vortrat, kippte die Schüssel, und die Würstchen lagen am Boden, genau zwischen der Mutter und dem Herrn Pfarrverweser.
Liesel konnte ein Lachen nicht unterdrücken. Mitten drin aber preßte sie die Hand auf den Mund und sah, feuerrot im Gesicht, nach der Mutter hin.
Die kauerte noch immer am Boden, hatte das entwischte Knäuel in der Hand und starrte wortlos auf die Bescherung vor sich.
Erich, der mit den Kartoffeln nachgestürzt kam, blieb stumm an der Tür stehen.
»Na nu!«
Der Vikar faßte sich zuerst. Er half galant der Mutter auf, faßte die Schüssel, die Liesel noch krampfhaft gepackt hielt, griff nach einer Gabel vom Tisch und machte sich daran, seelenruhig die Würstchen wieder an ihren vorherigen Ort zurück zu verpflanzen.
Als Liesel ihn so eifrig hantieren sah, war's abermals um ihren Ernst geschehen.
»Liesel, aber Liesel!«
Es klang so tiefunglücklich, und die Mutter sah so fassungslos bestürzt aus, daß Liesel sofort einen Reueanfall bekam.
»Mütterchen, ich –« sie stockte.
»Was essen wir nun?«
Beinahe wie Schluchzen lag's in der Mutter Stimme.
Da kam Leben in Erich.
»Das wäre! Liesel –« drohend rückte er näher.
Unwillkürlich trat Liesel einen Schritt dichter zu den anderen heran.
Da legte sich der Vikar ins Mittel.
»Aber, meine liebe Frau Pfarrer, was ist da weiter? Fräulein Liesel – nein besser, Fräulein Liesel und ich – sie muß sich meinen Schutz gefallen lassen – wir tragen die Würstchen zurück ins heiße Wasser. Dort mögen sie abspülen, was allenfalls Ungehöriges an ihnen haftet. Danach werde ich sie persönlich zur größeren Sicherheit« – ein neckender Blick flog zu Liesel, die schon wieder ganz Sonnenschein war – »auf den Tisch zurückbefördern.«
Sprach's und verschwand mit den geretteten Würstchen, Liesel schleunig hinterdrein.
Kopfschüttelnd setzte sich die Mutter an den Tisch.
»Mädels sind immer so albern, Mutter,« meinte Erich weise.
»Gib die Kartoffeln her, sonst passiert noch was,« war alles, was die Mutter sagte.
Und dann hörte man schon wieder Liesels helle Stimme, und da erschienen auch die Würstchen mit dem Vikar.
Diesmal wurden sie ungefährdet auf ihren Platz gesetzt, die anderen setzten sich dazu und es ging an ein fröhliches Schmausen und Plaudern.
»Noch ein Würstchen, Herr Vikar, ja? Haben's redlich verdient,« meinte Liesel liebenswürdig. »Bitte, hier, das scheint empfehlenswert zu sein. Ha, ha, nein, wie Sie aussahen, urkomisch! Die Schüssel hielten Sie so vorsichtig, so als ob Sie ich weiß nicht was darauf hätten. Sie haben übrigens wirklich Talent dazu,« sagte sie anerkennend.
»Talent zu was?«
»Ei, zum Hausvater!« neckte Liesel und warf ihm einen Schelmenblick zu.
Es kam so harmlos und unbekümmert heraus. Ein Schatten flog über sein Gesicht.
»Finden Sie?«
»Und wie!« bekräftigte Liesel. »Ihre Frau kriegt's einmal gut! Die braucht sich am Ende nur hinzusetzen, die Hände in den Schoß zu legen und zuzusehen, ha, ha, ha!«
»Liesel!«
Mutters Ton war gereizt, beinahe scharf. Liesel hob ganz erstaunt den Kopf.
»Mütterchen?«
Es klang sehr verwundert.
Die Mutter besann sich sofort.
»Deck den Tisch ab, Kind. Erich hilft,« befahl sie kurz.
Und dann wandte sie sich zum Herrn Vikar, dessen Gesicht einen ganz versonnenen Zug zeigte.
»Wir beide setzen uns da drüben an mein Arbeitstischchen, bis die Kinder abgedeckt haben. Später lesen Sie uns dann vielleicht was vor.«
Er neigte sich stumm zustimmend und folgte der Frau Pfarrerin nach.
Liesel gab Erich einen Rippenstoß.
»Was hatte die Mutter?« flüsterte sie.
»Weiß ich's?« gab Erich weniger galant als knapp zurück.
Und Liesel wußte es ebensowenig, Liesel sann auch nicht weiter darüber nach.
»Na, denn los!« kommandierte sie, und in weniger als fünf Minuten war der Tisch leer, das heißt, vor des Herrn Vikars Platz stand eine Bierflasche nebst Glas und Aschenschale, und für die anderen war ein lockender Fruchtkorb bereit.
Die Mutter und Liesel holten ihre Arbeiten.
Man saß sehr gemütlich um den runden Tisch.
»Ich habe eine Bitte, Fräulein Liesel!«
Der Mutter stockte der Atem. Sollte –
»Gewährt!« rief Liesel.
»Bei der alten Kathrine sieht's wieder gräßlich aus. Ich weiß nicht, woran es liegt. Die Tochter muß ja freilich auf Taglohn, aber die Enkelkinder könnten doch Ordnung halten. Wollten Sie da wieder einmal –«
»Die kleine Schmutzbande fegen?« unterbrach Liesel. »Wie lange ist's her, daß ich sie gründlich gekämmt und gewaschen habe?! So kleine Ferkel!«
Liesel ließ die Arbeit in den Schoß fallen und sah dem Vikar mit den lachenden Augen ins Gesicht.
»Bei der Säuberung sollten Sie dabei gewesen sein, Herr Vikar. Die drei Großen mußten's allein besorgen, denen sah ich dann nur Hände und Ohren nach. Die Kleinen aber steckte ich ins Wasser, alle in einen Zuber und die Bürste und Seife dazu. Wenn ich nun das erste fertig geseift und gebürstet hatte und laufen ließ, bis ich zum letzten kam, mußte ich mit dem ersten von vorn anfangen. Weiß der Himmel, wie's die kleinen Krabben fertig brachten, sich gleich wieder so zu beschmieren. Es war ein Hauptspaß! Wenn die alte Kathrine nicht den klugen Gedanken gehabt hätte, daß ich die Gewaschenen zu ihr ins Bett stecken solle, ich glaube, ich stände heute noch dort.«
Liesels Schilderung der Szene war von packender Wirkung. Nur die Mutter schüttelte den Kopf und sagte grämlich: »Es ist ein Kreuz mit den Leuten, und du wirst noch Ungeziefer heimbringen, Liesel!«
»I wo, Mütterchen! Dann steckst du mich in den Zuber und nimmst die Bürste!« lachte Liesel.
»Strohwisch und Sand fegt noch besser,« empfahl Erich.
»Drum eben,« bekräftigte Liesel trocken, »wollen's schon wegbringen. Morgen erscheine ich, Herr Vikar.«
»Tausend Dank!«
Liesel sah ganz verwundert, wie seine Augen sie anleuchteten. Einen Augenblick lang wurde ihr so sonderbar heiß, im nächsten war's vergessen.
»Bekommen wir heute nichts vorgelesen?« fragte die Mutter.
»Ich habe etwas mitgebracht, wenn Sie's hören wollen. Das Winteridyll von Stieler.«
Sie wollten's hören, gern hören. Und er las.
Er las gut. Seine tiefe, klangreiche Stimme fand den richtigen Ton für jede Stelle. Sie erzählte, hob sich in der Freude, im Pathos, senkte, vertiefte sich im Leid. Die Zuhörer lebten, fühlten, litten, jubelten mit dem Dichter.
Mit jedem Gesang nahm der Vortrag an Innigkeit zu.
Liesel lauschte atemlos, die Arbeit lag längst im Schoße. Der Mutter fleißige Hände ruhten nicht.
Nun kam der Gesang: Meinem Weibe.
»Mein holdes Weib, mit deinen sonn'gen Augen
Und deiner klaren, warmen Herzensruh' –
Viel mag zum flücht'gen Glück dem Manne taugen,
Wer aber taugt zu ew'gem Glück wie du?
Du, der die Güte von der Stirne leuchtet,
Du, der das Mitleid still die Blicke feuchtet!
Weltfroh und doch der Weltlust ganz entrückt,
Die nur ein Glück kennt – daß sie mich beglückt.«
Ein Blick des Lesenden flog über das Buch weg zu Liesel hin.
Die sah es nicht, sie träumte mit »sonnigen« Augen und sah in die Flamme der Lampe. War das wirklich Glück? So ganz in der Stille einen zu beglücken! Pah, Alltagsglück! Sie, Liesel –
Und der Vortrag ging weiter:
»Das ist der Frauen schöne Gottesgabe,
Daß sie das Kleinste selber uns vergolden
Mit einem Lichtstrahl, einem herzensholden.«
Da lachte Liesel plötzlich laut auf. So glockenrein und weich es klang, es gab doch einen Mißton.
Wie aus allen Himmeln gerissen, gekränkt, ließ der Vikar das Buch sinken. Ärgerlich sah die Mutter auf.
Liesel wies stumm auf Erich.
Der hatte sich in die Sofaecke zurückgelehnt – zu Erichs Ferienvorrechten gehörte die Sofaecke – und war friedlich entschlummert. Mitten im Genuß war er entschlummert, eben sank die eine Hand kraftlos herunter, die das Apfelstückchen zum Mund geführt hatte, und dies hing halb zerbissen zwischen den Lippen.
Das sah nun allerdings sehr komisch aus und rechtfertigte Liesels Ausbruch in etwas.
Für die Mutter gab's keinen Milderungsgrund. Sie blieb ärgerlich. Sie brummte etwas vor sich hin, das sich ganz verdächtig ähnlich wie »albernes Ding« anhörte.
Zum Glück verstand's Liesel nicht. Es hätte ihre siebzehnjährige Würde doch sehr gekränkt im Beisein des Herrn Vikars.
Der griff, halb versöhnt, schon wieder nach seinem Buch. Ein »Verzeihen Sie, Herr Vikar, aber ich konnte wirklich nicht anders« Liesels stellte das Gleichgewicht ganz wieder her.
Er hob das Buch und las nun ohne Unterbrechung zu Ende.
Der »Epilog« war verklungen.
»Tief und schön,« sagte die Mutter, und ihre Stricknadeln klapperten. Dann senkte sie den grauen Kopf und sann.
Hatte sie dazu beigetragen, den Ihren das Kleinste selber zu vergolden mit einem Lichtstrahl, einem herzensholden?
»Martha, Martha, was sorgest du?«
Sie kannte die Stimme. Noch tiefer sank der früh ergraute Scheitel und die klappernden Nadeln verstummten.
»Wie denken Sie sich das Glück, Herr Vikar?« fragte da Liesels klingende Stimme, und Liesels lachende Augen sahen ihn forschend an.
»Das Glück?« Er sann. »Ernst, still. Wie linde, würzige Frühlingsluft alles durchtränkend, alles umhüllend. Wie ein heiliger Glockenton, der das ganze Innere durchzittert, traulich, friedlich, wie – wie der heutige Abend zum Beispiel.«
Liesel riß ganz entsetzt die großen Kinderaugen auf.
»So? Nein, so denk' ich's mir nicht,« rief sie, ihn fast unterbrechend. »So 'n zahmes Alltagsglück ist kein Glück. Bei mir muß es im Sturm dahergefahren kommen. Mein Glück muß Einzug halten mit Pauken und Trompeten.«
»Liesel!« wollte die Mutter erschrocken wehren, aber sie seufzte nur.
»Martha, was sorgest du?« klang es in ihr nach.
»Ich muß gehen, Frau Pfarrerin, es ist spät geworden. Nehmen Sie Dank für den schönen Abend.« Damit verabschiedete sich der Pfarrverweser.
Die Mutter suchte ihn nicht zu halten, wie sonst wohl.
»Sie haben so schön gelesen, Herr Vikar, vielen Dank,« sagte Liesel mit ihrer frohen, hellen Stimme, und dann leuchtete sie ihm wie immer die Treppe hinunter zur Haustür.
Die Mutter konnte hören, wie sie unten Abschied nahmen.
»Gute Nacht, Fräulein Liesel, Gott erhalte Ihnen den frohen Sinn!« sagte die tiefe Stimme des Vikars ganz deutlich.
»Gute Nacht, Herr Vikar, danke. Hoffentlich tut er's,« erwiderte Liesel lachend.
Die Tür fiel ins Schloß und Liesel machte sich trällernd noch in der Küche zu schaffen.
»Dies Kind!« seufzte die Mutter.
»Mütterchen, kommen Soldaten?« fragte Erich schlaftrunken vom Sofa her.
»Soldaten?«
»Die Liesel hat doch was von Pauken und Trompeten gesagt.«
»Dummer Junge, mach daß du zu Bett kommst!«
Jetzt war die Mutter wirklich ärgerlich.
Erich schlich sich davon.
Die Mutter löschte die Lampe, Liesel konnte ihr nur noch in der Dunkelheit den Gutenachtkuß geben.
»Gute Nacht, Herzensmütterchen, schlaf recht wohl und laß dir was Schönes träumen, hörst du! Ich schlaf' schon halb.«
Damit huschte Liesel die Treppe in ihr Giebelstübchen hinauf, wo sie erst noch ein bißchen trällerte und sang und dann einschlief, noch ehe sie den Kopf recht in die Kissen gedrückt hatte.
* * *
Erich war in den Wald gegangen. Er hatte Liesel zum Mitgehen bewegen wollen. Die schwankte gewaltig. Dann sah sie auf den Berg von Wäschestücken, der neben Mutters Maschine aufgetürmt lag, sah Mütterchens blasses Gesicht und – blieb.
Die Mutter hatte ihr dafür mit einem warmen Blick gelohnt. Sie hätte das Kind auch ziehen lassen, wenn Liesel es so gewollt hätte. So war's umso besser.
Und Liesel hatte die Qual der Wahl schon vergessen. Emsig wie ein Bienchen schaffte, lustig wie ein Vögelchen trällerte, hell und froh, wie nur Liesel es konnte, plauderte sie dazu.
Liesel sang:
»Die linden Lüfte sind erwacht,
Sie säuseln und wehen Tag und Nacht,
Sie schaffen an allen Enden –«
und so weiter bis zum Schluß:
»Nun, armes Herze, sei nicht bang,
Nun muß sich alles, alles wenden.«
Den schmetterte sie hinaus wie Posaunenton, umfaßte stürmisch die Mutter und sah ihr schelmisch neckend tief in die trüben Augen.
»'s ist ja doch Herbst, Kind!«
»Tut nichts, Mutterherz. Mitten im Winter kann's Frühling sein!«
Diesen gegen die Gesetze der Natur im allgemeinen verstoßenden Ausspruch tat Liesel mit der ganzen unbekümmerten, verblüffenden Kühnheit ihrer siebzehn Jahre.
Die Mutter mußte lächeln.
»Eulenspiegel!«
»Wieso?« verteidigte sich Liesel gekränkt. »Unseren Frühling tragen wir in uns und unser Glück auch, hat schon immer der Vater gesagt.«
Die Mutter wurde ernst. Still neigte sie den Kopf.
»Ja, der Vater!«
Die beiden sannen ein Weilchen vor sich hin. Dann hob die Mutter den Kopf.
»Liesel!«
»Mütterchen?«
»Ich habe einmal irgendwo ein kleines Gedicht gelesen, von wem's ist, weiß ich nicht. Soll ich dir's sagen?«
»Ach bitte, Mütterchen.«
»Einmal im Leben, da schreitet das Glück
Jedem zur Seite mit sonnigem Blick.
Wohl dann dem Menschen, der es erkannt,
Eh' es ihm lächelnd den Rücken gewandt.
Einmal geschwunden, kehrt's nie mehr zurück,
Lächelt nie wieder, das sonnige Glück!«
Liesel hob die lachenden Augen.
»Ich erkenn's, Mütterchen, gewiß und wahrhaftig, ich werd's erkennen. Ich wart' ja nur darauf. Und dann fasse ich's – so –« Liesel schlang die weichen Arme fest um die Mutter und preßte sie an sich – »fest, fest, und lass' es nie wieder los.«
Die Mutter sah in die frohen, jungen Augen und seufzte: »Wenn's nur auch wahr ist, Kind, wenn –«
Sie brach ab und schüttelte den Kopf.
Liesel saß schon wieder an der Arbeit und stichelte emsig.
Es war eine Weile ganz still, und diese ungewohnte Stille machte die Mutter aufsehen.
Liesel ließ die Hände ruhen und träumte zum Fenster hinaus.
Die Mutter hütete sich, sie zu stören. Vielleicht sann das Kind im Anschluß an das Gedicht von vorher doch über manches nach.
Da kam plötzlich ein tiefer Seufzer aus Liesels Brust.
Ein ungewohnter Ton. Verstohlen sah die Mutter nach ihr hin.
»Wie die Sonne scheint, Mütterchen.«
Die Mutter mußte lachen.
»Und deshalb seufzest du?«
»Hab' ich geseufzt? Wahrhaftig?«
Ganz erstaunt fragte es Liesel und lachte dann hell auf: »Nein, wie komisch!«
Die Mutter schmunzelte vor sich hin.
»Wie wär's, wenn du jetzt noch nach dem Berghaus gingst? Ich habe Frau Lautern ohnedies versprochen, daß du Antwort bringst der Mehlsendung halber. Sag, daß ich für zehn Pfund sehr dankbar wäre. Vergiß es nicht, zehn Pfund.«
Die Mutter kannte ihre Leute. Einmal hatte Liesel bei ähnlicher Gelegenheit drei Zentner Kaffee für die Mutter bestellt, und nur durch Frau Lauterns erstauntes Nachfragen war solcher Segen dem engen Häuschen fern geblieben.
Im Nu hatte Liesel Hut und Schirm geholt, die Mutter geküßt und war im Handumdrehen auf der Straße.
Von dort winkte sie noch einmal herauf. Und wie sie so dastand, in ihrer schlanken, jungen Biegsamkeit, im hellblauen Waschkleid, den hochgesteckten Zöpfen und den lachenden Sonnenaugen im jungen, hellen Gesicht, da bot sich, wirklich ein Anblick, der der Mutter befriedigtes Kopfnicken rechtfertigte.
Das Kind sah es ja nicht, da konnte sie sich ein bißchen Mutterstolz gönnen.
Liesel eilte unterdes wie beflügelt zum Berghaus. Doch behielt sie Zeit, allen Begegnenden und nach allen Fenstern hin freundlich zu nicken, ein frohes Wort für jeden Anruf zu finden.
Liesel hatte eine Unmasse, Liesel hatte eigentlich lauter Freunde im Dorf bei alt und jung, arm und reich, Männlein und Weiblein.
Das Berghaus lag etwas entfernt auf einer Anhöhe und war das zu einem großen Gut gehörende Herrenhaus.
Dort wohnte Gerta mit ihren Eltern, und Gerta war Liesels beste Freundin.
Sie hatten zusammen mit Puppen und allem sonstigen gespielt, gelacht und getollt, sie hatten sich zusammen unter Leitung einer Lehrerin das Wissen einer höheren Tochter angeeignet.
Jetzt waren sie zusammen jung und lachten und träumten zusammen dem Leben entgegen. Dem wonnigen Leben!
»Liesel!«
Eine Stimme, klingend und hell wie Liesels Stimme, rief's, und eine junge Gestalt, schlank und biegsam wie Liesel, nur ein wenig kleiner vielleicht, und blond und blauäugig, sonst aber ebenso sonnig und strahlend stürzte Liesel entgegen.
»Gerta!«
Die beiden flogen aufeinander zu, hielten sich umfaßt, drehten sich ein paarmal im Kreise und jubelten und lachten.
»Gerta!«
Ein riesiger Bernhardiner umkreiste sie in tollen Sätzen, sprang bellend gegen sie an.
Und je toller er sprang und bellte, desto toller lachten und drehten sich die beiden, bis ihnen der Atem ausging und sie aufhören mußten.
»Ich kann nicht mehr, au, ich hab' Seitenstechen,« stöhnte Gerta.
»Ich auch – ich kann auch nicht mehr,« stöhnte Liesel.
Und dann lachten sie erst recht noch einmal, bis sie wirklich nicht mehr konnten.
Ganz erschöpft sahen sie sich an.
»Du, ätsch, ich weiß was Wundervolles,« begann Gerta, als sie wieder bei Atem war.
»Wirst's sagen!«
Liesel stürzte auf die kleinere Freundin los und packte sie an den Schultern.
Gerta wollte zu der wichtigen Mitteilung ansetzen, kam aber, so oft sie Liesels erwartungsvoll aufgerissene Augen sah, wieder ins Lachen.
»Ne, du, nun ist's aber genug,« sagte Liesel schließlich ganz ärgerlich. »Wenn du jetzt nicht aufhörst, geh' ich wieder heim. Also, was gibt's?«
»Einquartierung!«
Gerta hatte sich etwas gefaßt. Sie starrte erwartungsvoll in Liesels Gesicht, um die Wirkung des großen Worts zu beobachten.
Liesels Gesicht wurde lang.
»Ne, du, das ist mir keine Freude,« meinte sie. »Da kriegen wir wieder so 'nen gräßlichen Kerl, für den man den ganzen Tag kochen muß, der überall Schmutz hinträgt und immer nach Tran riecht, weil er seine Stiefel damit einschmiert. Ne, du, mir ist jetzt schon übel –«
Liesels lustiges Gesicht zwang sich förmlich gewaltsam zu einer angeekelten Miene. Das sah so urkomisch aus, daß Gerta wieder hell auflachen mußte.
»Du hast gut lachen,« schmollte Liesel. »Du merkst freilich von so was nichts. In eurem Palast verriecht sich der Tran, und gekocht und Schmutz gefegt wird auch ohne dich. Na, sterben werde ich ja nicht dran, ha, ha, ha, mir soll's recht sein. Mit Gott für König und Vaterland werd' ich auch noch kochen und fegen und was Schlechtes riechen können. Ist das das ganze Geheimnis gewesen?«
»Fehlgeschossen. Nun kommt's erst recht!« triumphierte Gerta.
»Los!«
Liesel war ganz Ohr, und über das erwartungsvolle Gesicht zuckten und blitzten tausend Sprühteufelchen.
»Also! Diesmal kommt der Stab ins Städtchen drüben, und wir kriegen sechs Offiziere: einen Hauptmann, einen Oberleutnant, drei Leutnants und einen Fähnrich, und Papa will uns ein Tänzchen arrangieren!«
Da war der Trumpf.
Nach Art Älterer, Gereifterer faßte die betäubte Liesel zunächst von der wichtigen Mitteilung das Unlogische auf.
»Du, 'n Fähnrich ist doch kein Offizier!«
»Meinethalben. Dann will's einer werden. Hast du sonst nichts zu sagen?« fragte Gerta ganz gereizt.
Nun brach's aber bei Liesel los.
»Du, das ist ja einfach herrlich! Ein Tänzchen? Mit den Offizieren! Und ich auch? Und – und – du, wann kommen sie denn?«
»Übermorgen.«
»Übermorgen? So lange? Das erleb' ich ja gar nicht.«
»Dumme Liesel,« meinte Gerta weise. »Sei froh, daß noch ein Tag dazwischen liegt. Man muß doch was anzuziehen haben.«
Liesel wurde ganz blaß.
»Anzuziehen?«
Gerta mußte laut auflachen.
»Nun natürlich, dumme Liesel!«
Aber Gertas Lachen fand kein Echo.
»Anzuziehen?« wiederholte Liesel noch einmal bedenklich. »Ja, aber Gerta, da sitzt der Haken – ich – ich – Aber, herrje wie albern! Werd' ich mir den Kopf zerbrechen! Irgend was wird sich schon finden. Mutter weiß Rat!«
»Ist's nicht herrlich?« jauchzte Gerta.
»Himmlisch!« jauchzte Liesel.
Und die beiden umfaßten sich und tanzten mitten auf der staubigen Straße einen flotten Walzer.
Die aufgewirbelten Staubwolken genierten sie weiter nicht.
Da nieste plötzlich jemand laut und kräftig.
»Alle Wetter, Mädels, seid ihr denn ganz toll?«
Und nochmals nieste es dröhnend.
Die Mädchen waren auseinandergefahren und hatten sich dem stattlichen, niesenden Herrn im Jagdanzug rechts und links an den Arm gehängt.
»Väterchen!« jauchzte die eine.
»Onkel!« die andere.
Der nieste nochmals.
»Wetter noch 'mal! Was treibt ihr hier im Staub?«
»Wir üben!« sagte Gerta ernstlich, feierlich.
»Wir üben!« echote Liesel ebenso ernst.
Dabei begannen die beiden tollen Dinger sich wie auf Verabredung mit ihrem Mittelpunkt und um diesen im Kreise zu drehen.
Einmal ließ der sich's gefallen, dann erzwang er sich mit energischem Armdruck Stillstand.
»Sollt' mir eben fehlen,« brummte er, »so 'nen Hexentanz mitzumachen. Stillgestanden, Mädels!«
Man hörte den gewesenen Offizier aus dem Kommandoton.
Die beiden standen denn auch wie angewurzelt und hoben die Hände grüßend zu den blühenden Schelmengesichtern. Vier Augen lachten ihn an, er hatte Mühe, ernst zu bleiben.
»Vorwärts marsch!« kommandierte er mit Stentorstimme.
Die jungen Gestalten steiften sich militärisch straff, und nun ging's im Paradeschritt hinauf in den Hof.
Auf dem Söller über der Eingangstür des altertümlichen Giebelhauses mit dem grüngestrichenen Balkenwerk und den Dachrinnen stand eine Dame.
»Na, da haben wir ja das liederliche Kleeblatt!« rief sie fröhlich den dreien entgegen. »Eine ganze Weile höre ich schon euren Lärm und warte hier. Was sagt Liesel?«
Liesel hatte beim Anblick der Dame den Arm des »Onkels« losgelassen. Liesel war hier wie das Kind des Hauses und sagte auf Wunsch von Gertas Eltern schon von den Kindertagen her Onkel und Tante zu ihnen. Jetzt flog sie wie der Wind über den Hof, verschwand in der Tür und stand wie hingezaubert neben der Dame oben.
»Tantchen,« jauchzte sie und flog der an den Hals, »Tantchen, das wird einfach himmlisch schön!«
Dann kam ein Bedenken. Liesels Gesicht umwölkte sich plötzlich ganz sorgenvoll.
»Ob's die Mutter erlaubt?«
»Hab' schon daran gedacht, Schatz,« sagte Tante ermunternd. »Hier ist ein Briefchen für sie, gib's nur getrost ab, ich denke, es soll die Wirkung nicht verfehlen.«
»Tausend Dank, lieb Tantchen,« seufzte Liesel erleichtert, »dann ist mir nicht bange. Aber weißt du was, ich gehe doch lieber gleich heim, daß ich's gewiß weiß.«
Und Liesel ließ sich wirklich nicht halten. Ihr brannte der Boden unter den Füßen, Mütterchen die Freudenkunde zu bringen und sich ihrer Zustimmung zu versichern.
Das begriff denn auch Gerta schließlich und ließ die Freundin ziehen.
»Schmier nur die Tanzstiefeln einstweilen tüchtig, Lachliesel,« rief ihr der Onkel nach. Er nannte sie zuweilen so. Er behauptete, keiner könne lachen wie sie.
»Mit Tran, Liesel!« empfahl Gerta neckend.
Liesel war schon unter dem Tor. Sie drehte sich um, ließ den lachenden Blick in die Runde gleiten, knickste schelmisch und drohte Gerta mit der Faust.
Dann war sie verschwunden.
Nach zehn Minuten tauchte sie plötzlich hochrot und außer Atem wieder auf.
»Tantchen, die Mutter wäre sehr dankbar, wenn du ihr zehn Pfund Mehl mitbestellen wolltest,« rief sie atemlos zum Söller hinauf, wohin jetzt auch Gerta mit dem Vater gegangen war.
»Zehn Pfund oder zehn Zentner?« fragte Herr Lautern anscheinend harmlos.
Liesel stutzte. Sie fuhr sich mit der Hand über die Stirn. Sie zögerte sichtlich.
»Ich –«
Lautes Lachen von oben klärte sie auf.
In komischem Zorn ballte sie die Faust gegen die Lachenden und flog davon.
Diesmal endgültig.
Liesel stürmte dahin. Sie ging wie auf Wolken und spürte den Boden nicht unter den Füßen.
Sie lief gegen die Sonne und war etwas geblendet.
Plötzlich tauchte ein Schatten vor ihr auf, aber ein greifbarer Schatten. Fast wäre sie gegen ihn angerannt.
»Guten Abend, Fräulein Liesel, brennt's irgendwo?« fragte eine tiefe Stimme.
Es war der Vikar. Belustigt schaute er in ihr erregtes, glühendes Gesicht. Die schweren Haarzöpfe hatten sich beim eiligen Dahinstürmen aufgelöst und hingen ihr über den Rücken. Der Herr Vikar schmunzelte.
Liesel sah auf, als erwache sie aus einem Traum, der etwas unliebsam gestört wurde.
Ihre Augen lachten ihn aber gleich danach an.
»Brennen? Behüte, Herr Vikar. Aber Einquartierung gibt's, und ins Berghaus kommen die Offiziere, und es soll getanzt werden und –«
Sie war schon weiter geeilt. Er stand und sah ihr nach. Sein gutes, offenes Gesicht, das sich bei ihrem Anblick förmlich verklärt gehabt hatte, war plötzlich umdüstert.
Er seufzte ein klein wenig, schüttelte den Kopf, sandte ihr noch einen Blick nach und schritt dann sinnend seines Weges.
Liesel stürmte daheim ins Zimmer.
Atemlos sprudelte sie hervor: »Mütterchen, Einquartierung! Es soll getanzt werden, ich auch. Hier ein Briefchen! Tante läßt grüßen. Was sagst du dazu? Herrlich, nicht? Ich darf doch, Mütterchen, was? Bitte, bitte! Und, gelt, es sollen zehn Zentner Mehl sein? Oder zehn Pfund oder – nein, was sag' ich denn, so albern, natürlich zehn Pfund! Übermorgen kommen sie, die Soldaten, meine ich, und dann – juchhe, Mütterchen, das soll eine Lust werden!«
Liesel umfaßte die betäubte Mutter und wollte sich mit ihr im Kreise drehen.
Die machte sich energisch los und zankte erst: »Wie siehst du wieder aus? Wie eine Zigeunerin mit den offenen Zöpfen. Wenn das jemand gesehen hat!«
»Nur der Vikar, Mütterchen,« tröstete Liesel strahlend.
»Nur der –«
Die Worte versagten der Mutter, sie ließ sich in ihren Sessel sinken.
»Und Einquartierung,« jammerte sie, »fehlt eben noch, wo der Erich ohnehin schon da ist und wir diesen Monat so knapp dran sind. Wo soll ich's denn hernehmen?«
Hilflos faltete sie die Hände.
Liesel sah sie ganz bestürzt an.
Dann kniete sie vor die Mutter hin und umfaßte sie mit beiden Armen.
»Sorg dich doch nicht so, Mutterherz. Die Tante muß ja das Geld für die letzten Arbeiten gleich schicken, und dann sind wir Kapitalisten. Sollst sehen, es geht alles wundervoll. Und denk doch, das Glück, Mütterchen, ich soll tanzen, wirklich und wahrhaftig tanzen!«
Es lag ein solcher Jubel in des Kindes Stimme, die strahlenden Sonnenaugen sahen die Mutter so glückselig an, hätte sie nein sagen sollen? All den Jubel, all den Sonnenschein auslöschen?
Sie konnte es nicht. Sie warf Sorge und Not einmal weit von sich und freute sich mit ihrem jungen, lachenden Kinde. Der Herr würde weiter sorgen.
Ob's freilich ein Glück war für Liesel, einen Blick in die Welt zu tun, die ihr mehr oder minder doch verschlossen bleiben mußte? Auch diese pädagogischen Bedenken warf die Mutter über Bord.
Warum sollte Liesel nicht froh sein mit den Frohen? Liesel war ja immer froh, so oder so, ihr würde es nicht schaden.
»Aber was ziehst du an, Kind?«
Darin verklang der letzte innerliche Protest.
»Einerlei, Mütterchen, irgend was! Was liegt am Kleid? Ich werde mich in jedem königlich amüsieren.«
Das glaubte die Mutter gern, wenn sie in Liesels leuchtende Augen sah. Ihr war's aber doch nicht ganz so einerlei, und die beiden beschlossen nach eingehender Beratung, Liesels blaues Kleid von heute in den Waschzuber zu stecken.
Frischgewaschen und frischgebügelt, mit einem neuen Band geschmückt, würde es eben recht sein.
Erich langweilte sich diesen Abend gründlich.
»Kleider und Bänder und Bänder und Kleider!« brummte er. »Da ist's wahrhaftig noch besser, wenn der Vikar da ist!«
Und brummend rückte er sich in seiner Sofaecke zurecht.
»Der Effekt scheint derselbe,« neckte Liesel.
Erich brummte nur was als Antwort. Plötzlich hob er den Kopf.
»Du, Liesel, hast doch recht gehabt mit deinen Pauken und Trompeten neulich.«
Verständnislos sah ihn Liesel an.
»Neulich, wie der Vikar da war, da sagtest du doch –«
Liesel begriff und wurde rot.
»Dummer Junge,« sagte sie ein bißchen verlegen, »schlaf!«
Die Mutter sagte nichts.
* * *
Und es ward wirklich übermorgen!
Liesel war schon um fünf Uhr wach, sprang mit gleichen Füßen aus dem Bett und öffnete ihren Fensterladen.
Klarer, wolkenloser Himmel. Dort über dem Berg lugte eben die Sonne ein winzig bißchen hervor, und der erste Strahl fuhr wie ein Blitz in Liesels schlafheißes, strahlendes Gesicht, in Liesels strahlende Augen.
Das sollte ein Tag werden! Der Himmel selber hatte ja seine Freude dran.
Es litt Liesel nicht auf dem Lager. Verstohlen wie ein Mäuschen, um die anderen nicht zu wecken, huschte sie hin und her und kleidete sich an.
Dann glitt sie leise, leise die Treppe hinunter und huschte hinaus in den Garten.
Der war so unberührt und taufeucht, so wie eben aus Gottes Hand hervorgegangen, es überkam Liesel eine Andacht, und sie faltete die Hände: »Lieber Gott, ich danke dir für all das Glück, das du mir schon gegeben hast und noch geben willst!«
Sie war genügsam, die Liesel!
Dann ging sie leise in die Küche, und als Mütterchen dann später kam, war alles schon blitzeblank und vorbesorgt.
»Du bist ja frühe dran, Kind,« sagte die Mutter fast grämlich. »Ich hätte ganz gerne noch ein halbes Stündchen länger geruht.«
»Ich war eben wach, Mütterchen, und das Wetter war so herrlich, und – und –«
Liesel schlang die Arme um die Mutter und sah ihr strahlend ins Gesicht.
Die seufzte und strich ihr über den Scheitel.
Wie jung das Kind war, wie jung!
Als der Morgen vorrückte und das Küchenfeuer es erlaubte, stand Liesel mit hochroten Wangen am Bügelbrett.
Der blaue Staat hing drüber, und Liesel plättete ihn mit zärtlicher, kunstgeübter Hand.
Die Mutter schälte Kartoffeln.
Da traf ein Ton Liesels Ohr, ein ungewohnter Ton, der sie aufhorchen ließ.
Von der Straße her klang's taktmäßig: Trab, trab, trab.
Liesel, das Plätteisen über dem Kopf schwingend, stürzte zur offenstehenden Haustür, was in dem engen Häuschen kein weiter Weg war.
»Sie kommen, Mütterchen, sie kommen!«
»Nein, sie sind schon da!« rief von der Straße her eine fröhliche, klingende Stimme, und Liesel, die eben hochrot unter der offenen Haustür anlangte, sah in ein lachendes Gesicht mit kecken, blitzenden Augen und braunem Schnurrbart über blinkenden Zähnen.
Es war einer der Offiziere, der neben seinem Zug just an der offenen Tür des kleinen Häuschens vorbeimarschierte.
Grüßend senkte er den Degen gegen die wie vom Donner gerührte Liesel, die wie zu Stein erstarrt auf der Schwelle stand.
Ein leuchtender Schelmenblick traf sie.
Einer? Nein, eigentlich wandten sich ihr alle Augen zu.
Kein Wunder, es war aber auch ein niedliches Bild.
Die schlanke Liesel dort unter der rebenumrankten Tür, die das Plätteisen noch fest umklammert hielt und mit schelmisch-verlegenem Lachen in dem jungen Gesicht aus den erstaunten, strahlenden Kinderaugen auf die Vorüberziehenden starrte.
Einen Augenblick stand sie so unbeweglich, dann wurde ihr heißes Gesicht noch heißer. Scheu wie ein Reh wandte sie sich so rasch, daß die Hängezöpfe flogen. Fort war sie.
Auf den Gesichtern aller, die's gesehen hatten, lag noch lange ein Schmunzeln.
Liesel stand wieder am Bügelbrett, die Hände zitterten ihr, die Pulse flogen.
Gott sei Dank, Mütterchen hatte nichts gehört.
Das war einmal ein kecker Mensch! Ob er –
»Liesel! Ja, ums Himmels willen, Mädchen, bist du denn taub? Reich mir mal schnell den Kochlöffel!«
Eiligst drückte Liesel den zunächst stehenden Reiserbesen in der Mutter ausgestreckte Hand.
Die Mutter starrte den Besen und dann ihr Kind an, dann schüttelte sie den Kopf.
»Liesel!«
Da kam Liesel zu sich. Tief atmete sie auf und sah die Mutter an, sie sah den Besen und begriff.
»Verzeih,« stammelte sie und wurde sehr rot, »ich war wohl in Gedanken?«
»Sozusagen,« bestätigte die Mutter lakonisch, stellte den Besen hin und holte den Löffel.
Liesel mußte laut lachen, aber die Mutter stimmte nicht ein, das heißt, sie verbarg ihr Lächeln. –
Und es ward wirklich Nachmittag heute. Zwei Uhr, drei Uhr, vier Uhr! Wenn man um fünf Uhr fix und fertig auf dem Berghaus droben sein wollte, dann konnte man mit Fug jetzt anfangen, sich anzuziehen.
Seit dem Vormittag schon lag jedes kleinste Stück dazu in Liesels Kämmerchen bereit.
Die Einladung vom Berghaus war gestern noch dahin ergänzt worden, Liesel möge doch ja schon um fünf Uhr zum Tennis da sein und auch zur Nacht bleiben wegen des Heimwegs.
Das hielt auch die Mutter für besser. Sie hatte nur die eine Bedingung gestellt: anderen Morgens zum Frühstück müsse Liesel wieder daheim sein.
Schlag halb fünf Uhr stand Liesel vor der Mutter zur Musterung.
Sie konnte sich sehen lassen.
Das lichtblaue, einfache Blusenkleid in seiner duftigen Frische mit dem neuen Band um Hals und Gürtel sah allerliebst aus. Der feine Kopf mit den dicken, umgeschlungenen braunen Flechten, das lachende, leuchtende Gesicht mit den lachenden, leuchtenden Augen unter den krausen Stirnlöckchen hoben sich sehr vorteilhaft davon ab.
Die Mutter fand nichts zu tadeln.
»Nun den Hut noch, Kind, und dann fort, es ist Zeit.«
Liesel stülpte den großen Hut mit den breiten, weißen Musselinschleifen auf den Kopf.
»Vorsichtig, dein Haar!« mahnte die Mutter.
»Laß, was liegt daran!«
Liesel war ganz zappelnde Ungeduld.
»Versprich, daß du achtsam bist, Liesel. Sei nicht zu ausgelassen, hörst du. Wenn die Zöpfe herunterkommen, steckst du sie auf, versprich es!«
Die Mutter kannte Liesel.
Liesel versprach alles. Sie umfaßte die Mutter, daß der Hören und Sehen verging.
»Leb wohl, Mutterherz, jetzt geht's dem Glück entgegen!« jauchzte sie und fort war sie.
»Komm nicht zu spät morgen früh, Liesel, und – Liesel – meine Empfehlungen oben und, Liesel – Liesel, so hör doch –«
Liesel war schon wer weiß wie weit, eben bog sie um die Ecke.
Ärgerlich machte die Mutter das Fenster zu, aus dem sie dem Töchterchen nachgeschaut hatte.
Erich – er trieb sich den ganzen Tag bei den Soldaten auf der Straße herum, zu seinem Leidwesen und Mutters Freude hatten sie diesmal keine Einquartierung bekommen – Erich erspähte die Schwester und setzte hinter ihr her.
»Liesel, halt, Liesel, ich komme mit!«
Liesel winkte ihm nur ab, schüttelte das Köpfchen und flog umso rascher dahin.
Erich hinterher – er konnte sie wirklich nicht einholen.
»Vergebliche Jagd, Erich,« lachte der Vikar, der ihn beobachtet hatte. »Komm lieber mit mir!«
»So 'ne alberne Gans!« meinte Erich gereizt und sehr respektlos. »Als ob die da oben ihr fortliefen, oder als ob sie's nicht erwarten könnten, bis die Jungfer Liesel angetrabt kommt! Einfältiges Frauenzimmer!«
»Erich!« Weiter sagte der Herr Vikar nichts. Er war überhaupt sehr wortkarg auf dem Spaziergang, den sie jetzt machten, der Herr Vikar.
»Langweilig war er, Mutter, todlangweilig. Ich geh' sobald nicht wieder mit,« sagte Erich am Abend zur Mutter.
Deren Stricknadeln klapperten sehr eilig, sie erwiderte aber nur: »Dummer Junge. Langweilig ist man immer bloß selber!«
Liesel war nun wirklich am Berghaus angelangt. Schon hörte sie fröhliche Stimmen hinten vom Tennisplatz her.
»Die Herrschaften sind wohl schon alle dort, Johann?« fragte die flüchtig heraneilende Liesel den alten Diener, der unter der Haustür stand.
Johann schmunzelte und nickte.
»Nur Fräulein Lieselchen fehlt noch!«
Er hatte von den Kindertagen her die zärtliche Koseform beibehalten.
Liesel wollte wie der Wind um die Ecke.
»Fräulein Gertachen meinte, Fräulein Lieselchen wollten sich erst gewiß noch frisch machen,« hielt sie der Alte auf.
»I wo –« doch Liesel bedachte sich.
Sie trat in die Eingangshalle, setzte ihr Täschchen ab, das das für die Nacht Nötige enthielt, trat vor den großen Spiegel und zupfte und glättete an sich herum.
Aber nur eine Minute. Dann trat sie ungeduldig zurück.
»Ach was, es wird ja wohl alles recht sein, was kommt's darauf an. Sehen Sie mal nach, Johann.«
Wie ein Kreisel drehte sie sich vor dem Alten.
Der schmunzelte und kniff die Augen ein. Er sah gern was Nettes, Junges, der alte Johann.
»Wie ein Engelchen, Fräulein Lieselchen, wie ein Engelchen!«
»Warum nicht gar!« lachte Liesel.
Und da hatte der alte Johann schon die Tür zum weiten Eßsaal geöffnet, und Liesel war hindurch und auf die Freitreppe zugeeilt, die von da in den Garten führte.
Oben an den Stufen stand sie einen Augenblick still und überflog das bunte Gewimmel drunten. Es war ein großer Kreis. Fast wollte ihr bange werden.
Da hatte Gerta sie auch schon erblickt.
»Liesel, Liesel, hierher!«
Und Liesel war die Stufen unten und mitten im bunten Gewimmel, sie wußte nicht wie.
Sie suchte nach Tante Lautern. Da legte sich auch schon ein Arm um sie.
»Liesel, Kind, schön, daß du da bist. Vergiß nur niemand zu begrüßen. Die älteren Herrschaften kennst du ja alle.«
Es waren meist Damen und Herren von den benachbarten Gütern und aus dem nahen Städtchen.
Liesel kannte fast alle Anwesenden außer den Uniformierten.
Sie machte eilig und freundlich die Runde bei den älteren Damen, man sah, daß sie auch hier wohlgelitten war.
Gerta stand wie auf Kohlen, bis sie sich der Freundin bemächtigen konnte.
»Liesel, es sind zu Nette drunter,« flüsterte sie ihr ins Ohr. »Komm schnell, die Tennisschlacht soll gleich losgehen.«
Und sie zog Liesel eilig mit sich fort zum Tennisplatz, wo die junge Welt in Gruppen stand.
Freundlich begrüßten die jungen Mädchen Liesel, und dann drängte sich eine bunte, blitzende Menge um Gerta und bat um Vorstellung.
Gerta nannte Namen um Namen, und Liesel neigte sich jedesmal sittig.
Wieder nannte Gerta einen Namen: Oberleutnant irgend was, Liesel hatte den so wenig verstanden wie die vorhergehenden.
Ohne viel aufzublicken, neigte sich Liesel fast mechanisch.
»Habe bereits den Vorzug, gnädiges Fräulein zu kennen,« sagte da eine lustige Stimme.
Befremdet hob Liesel den Blick und sah in dasselbe kecke, fröhliche Gesicht mit den blitzenden Zähnen, in das sie am Morgen beim Einzug der Soldaten geschaut hatte.
Sie wurde rot, aber in ihren Augen saß der Schelm.
»Wieso?« fragte Gerta erstaunt.
»Ja, das ist unser Geheimnis, nicht, gnädiges Fräulein?« lachte Oberleutnant Warnow Liesel zu. Und die nickte eifrig.
Gerta war zu sehr in Anspruch genommen, um der Sache tiefer auf den Grund zu gehen. Liesel sollte schon beichten.
Sie wandte sich den anderen zu. Liesel und Oberleutnant Warnow standen zusammen.
»Hat das Plätteisen noch viel getaugt, gnädiges Fräulein?« fragte er und seine fröhlichen Augen blitzten Liesel an.
Die sann einen Augenblick, dann begriff sie.
»Das haben Sie auch gesehen, ja? Du meine Güte, wie drollig! – Ich dachte doch – übrigens wissen Sie, das hat mehr getaugt als ich. Das hat mir den ganzen Staat hier« – sie sah an sich nieder, und er folgte belustigt ihrem Blick – »noch fertig gebügelt. Ich aber – ha, ha, ha, ha, denken Sie, ich habe Mutter den Reiserbesen statt des Kochlöffels gereicht.«
Sie sah ihn schelmisch zutraulich an. Was er wohl dazu sagen würde?
»Und daran ist nur die böse Soldateska schuld?« fragte er, königlich amüsiert.
»Ja, wissen Sie, wir sehen gar so wenig hier. Da ist's einerlei, ob eine Schafherde kommt, oder Soldaten, man läuft eben und guckt!« sagte Liesel.
»Danke, mein gnädiges Fräulein!« Er verbiß sein Lachen und verneigte sich tief.
Liesel sah ihn einen Augenblick ungewiß an, dann sagte sie schelmisch: »So war's wirklich nicht gemeint, Herr Oberleutnant, Soldaten sind schon besser. Ich meine nur, man ist dankbar für jede Abwechslung.«
»Ist's nicht manchmal gräßlich öde und langweilig, im Winter zum Beispiel?« fragte er teilnahmvoll.
»Langweilig?« Liesel war ganz verwundert. »Wenn ich nur wüßte, was Langeweile wäre. Kenne ich gar nicht!«
Er sah in das sprühende, lebensvolle Gesicht, in die lachenden, sonnigen Augen. Nein, das sah nicht nach Langeweile aus.
»Warnow, Sie sind dran! Gnädiges Fräulein, darf ich bitten.«
Herzutretend überreichte ein anderer Uniformierter, Leutnant Günther, Liesel ein Rakett.
Die griff danach.
»Wir sind Partner, gnädiges Fräulein.« Warnow verneigte sich tief.
»Wie nett,« sagte Liesel vergnügt, »dann lassen Sie uns unser möglichstes tun. Ich gewinne immer.«
»Schade!« sagte er leise.
»Wieso?«
»Ja, wissen gnädiges Fräulein nicht? Glück im Spiel, Unglück in der –«
Liesel war rot geworden, gleich danach sah sie ihm aber mit frohen, unschuldigen Kinderaugen ins Gesicht.
»Ich habe immer Glück,« versicherte sie ernsthaft. »Ich bin so ein ganz extra glückliches Menschenkind. Play!«
Damit schlug sie ihren ersten Ball, geschmeidig, gewandt, und er kam denn auch drüben ganz flach am Boden her und erregte bei den Gegnern, Gerta mit Leutnant Günther, einen Sturm der Entrüstung.
»Sie sehen, Sie sehen!« Liesel drehte sich wie ein Kreisel, und ihre Augen, ihr Gesichtchen, alles war in Sonnenschein getaucht.
Oberleutnant Warnow konnte sich nicht sattsehen an dem frischen, frohen Menschenkind und spielte infolgedessen nicht sehr brillant.
»Aufpassen, Herr Oberleutnant, aufpassen!« mahnte ihn Liesel und erhob drohend ihr Rakett.
»Kunststück!«
»Wieso?«
»Wo's so viel sonst zu sehen gibt!«
Seine Augen ergänzten, was sein Mund verschwieg.
An Liesels Harmlosigkeit ging das verloren.
»Ach was! Die Bälle sind hier die Hauptsache,« schalt sie eifrig.
»Meinen, gnädiges Fräulein?«
Und sein Ball flog in weitem Bogen.
» Out!« rief Leutnant Günther. »Warnow, was haben Sie?«
So ging das Spiel hin und her.
Liesel war ganz Eifer, es war eine Lust, ihr zuzusehen. Oberleutnant Warnow genoß diese Lust gründlich.
Längst hatte sie den Hut abgelegt, und die schlanke, biegsame Gestalt flog hierhin und dorthin.
Leutnant Günther und Gerta waren tüchtige Gegner. Liesel hatte furchtbar viel zu tun, wollte sie auch noch die Blößen decken, die ihr Partner sich gab.
»Sie lassen mich alles tun, Herr Oberleutnant,« schmollte sie.
»In besseren Händen könnte das Spiel nicht sein,« sagte er galant.
»Wirklich? Wie bequem! Hallo, aufgepaßt!«
Und sie flog in sein Feld und wehrte einen besonders geschickten Wurf des Feindes ab.
Dabei lösten sich ihre Zöpfe.
»Gott sei Dank,« lachte er, »darauf habe ich nur gewartet. Sie flogen heute morgen so niedlich!«
Liesel sah ihn groß an.
Mit einer Hand nestelte sie an den Zöpfen, mit der anderen wehrte sie den letzten Schlag ab.
» Game! Set!« jauchzte sie. »Hurra!«
Dann begann sie, die Nadeln aus ihren Zöpfen zusammenzusuchen.
Oberleutnant Warnow war ihr zuvorgekommen und hatte sie schon alle aufgerafft.
»Ich gebe sie nicht heraus. Die Zöpfe müssen hängen bleiben.«
»Bitte!«
Liesel sah ihn flehend an. Er senkte den Blick tief in ihre Augen. Liesel verwirrte das. Sie warf das Köpfchen zurück.
»Na, denn nicht!«
Eben wollte sie sich abwenden, da fiel ihr die Mutter ein und ihr Versprechen wegen der Zöpfe.
»Sie müssen mir die Nadeln geben, Herr Oberleutnant, ich hab's Mütterchen versprochen, die Zöpfe nicht hängen zu lassen.«
»Wenn ich nun aber so recht herzlich darum bitte; es sieht so niedlich aus.« Wie warm der Ton war!
Liesel riß die großen Augen auf. Sein Blick tauchte tief hinein.
Der Ton und der Blick dazu hatten noch selten ihre Wirkung verfehlt, das wußte Oberleutnant Warnow.
Heute sollte er um eine Erfahrung reicher werden.
Ein bißchen heiß, ein bißchen verlegen war Liesel, aber sie streckte ohne Zögern die Hand aus und sagte ruhig: »Wenn ich's doch Mütterchen versprochen habe! Bitte!«
Er versuchte keinen Einwurf weiter. Er biß sich auf die Lippen und reichte Liesel Nadel um Nadel, die sie eine nach der anderen in den um den Kopf geschlungenen Flechten befestigte. Dann stülpte sie den Hut drüber.
»So!«
Andere kamen ans Spiel, andere traten herzu, man lachte, scherzte, plauderte, kritisierte die Spielenden.
Die meisten der anwesenden Offiziere behaupteten, zu Liesel herantretend, »den Vorzug zu haben, gnädiges Fräulein bereits zu kennen«.
Liesel lachte wie ein Kobold.
Die jungen Damen wurden sehr neugierig, und endlich gab Oberleutnant Warnow auf allgemeines Drängen »als der Nächste dazu«, wie er behauptete, eine Beschreibung der kleinen Szene beim Einmarsch.
Sie erregte große Heiterkeit, auch bei den Älteren, die sich der lauten Jugendlust nachgezogen hatten.
Als Oberleutnant Warnow zu dem Nachspiel mit Reiserbesen und Kochlöffel kommen wollte, hob Liesel mit lachenden Augen, schalkhaft warnend, den Finger an die Lippen.
Beteuernd legte er die Hand aufs Herz.
»Diskretion Ehrensache!«
Man bestürmte ihn von allen Seiten, er blieb stumm.
Da tönte vom Hause her eine Glocke.
»Zum Essen, zum Essen!« jubelte Liesel.
»Gnädiges Fräulein sind wohl sehr hungrig?«
Oberleutnant Warnow bot Liesel den Arm.
»Behüte! Aber, wissen Sie denn nicht, danach wird ja getanzt!«
Die Seligkeit in dem jungen Gesicht, in den Kinderaugen, in der klingenden Stimme!
Ihn überkam's fast wie Rührung.
Hatte ihm vorher schier gegraut vor dem »Lämmerhüpfen«, so zog er jetzt Liesels Arm fest durch den seinen und preßte ihn fast zärtlich gegen sich.
»Wir wollen kreuzfidel sein, mein gnädiges Fräulein!«
»Das wollen wir!« bestätigte Liesel inbrünstig. Ihr war, als glitte sie auf Wolken dahin.
Das Essen, diese letzte Zwischenstation, ehe man den Hafen der Seligkeit, das Tanzen, erreichte, dauerte für Liesels Geschmack, für Liesels Ungeduld viel zu lange.
»Ist man denn noch nicht fertig?« seufzte sie tief auf, wenn noch ein Gang kam.
Oberleutnant Warnow, ihr Nachbar, hatte seine helle Freude dran. Übrigens an dem Essen auch, er ließ sich die Küche des Berghauses köstlich munden.
»Wie kann man nur so viel essen!« seufzte Liesel komisch entsetzt.
Lachend sah er auf.
»Gnädiges Fräulein leben wohl von der Luft?«
»Bewahre, aber wenn man doch tanzen soll –«
Der Satz blieb unvollendet.
Er griff ihn auf.
»Ist solch langes Tafeln unverantwortlich. Gnädiges Fräulein haben ganz recht. Werd' mal flugs zum Aufbruch blasen.«
Da man eben beim Käse war, schien das Opfer kein zu gewaltiges.
Oberleutnant Warnow erhob sich. Ein hingebend dankbarer, ein strahlender Blick Liesels traf ihn. Der begeisterte und spornte ihn vollends an.
Statt ans Glas zu klingen, hob er die Hände zum Mund und schmetterte mit glockenklarem Ton das Signal zum Aufbruch in die lachende, lärmende Gesellschaft hinein.
Aller Köpfe wandten sich ihm zu.
»Meine verehrten Herrschaften! Ich glaube dem jüngeren, vor allem dem jüngsten Teil der Gesellschaft« – ein bezeichnender Blick, der erst Liesel und danach die anderen jungen Damen streifte – »ganz aus der Seele zu sprechen, wenn ich rufe: Weg mit diesen materiellen Genüssen! Lassen Sie uns nicht länger Bauchdiener sein! Huldigen wir dem Edlen, dem Schönen, Göttin Terpsichore! Schwingen wir das Tanzbein!«
Ein Tumult erhob sich. Beifall, Murren. Lachendes Zustimmen, lachender Protest.
»Bravo, Herr Oberleutnant, bravo!«
»Wie nett von Ihnen!«
»So recht!«
»Warnow, sind Sie des Teufels?«
»Was ist Ihnen in die Krone gefahren?«
»Kleiner Schäker! Bläst der Wind daher?«
So rief oder raunte es, je nachdem.
Oberleutnant Warnow ließ es sich nicht anfechten.
Lachend neigte er sich zur strahlenden Liesel und bot ihr den Arm. Da setzte auch eben vom Nebenraum her der Klavierspieler des Städtchens mit den lockenden Klängen einer Polonaise ein.
Hinter Oberleutnant Warnow und Liesel ordneten sich die anderen Paare, selbst die Mütter und Väter.
Onkel Lautern rief Liesel zu: »Und jetzt führ du uns mal, Lachliesel! Zeig, was du kannst!«
Das war nun eine schöne Geschichte.
Was sich der Onkel auch dachte!
Liesel war's plötzlich ganz beklommen zu Mut.
Ihr Partner sah den Schatten über das sonnige Gesicht fliegen.
Er beugte sich vor.
»Was gibt's?«
Fast zärtlich klang der Ton.
Liesel fiel nichts dabei auf.
»Bange bin ich!« seufzte sie.
»Bange? Wovor?«
»Vorm Anführen!«
Er lachte.
»Bange machen gilt nicht. Wollen's schon kriegen.«
Und die Liesel brachte es fertig, glänzend. Nach den ersten, zagenden Minuten wußte sie Bescheid. Ihr findiges Köpfchen ersann immer neue Figuren, neue Wendungen.
Zum Schluß führte sie die Gesellschaft durch weitverzweigte Gänge und über Treppen und Treppchen des geräumigen Giebelhauses; jeder Winkel, jeder Erker, jeder Söller wurde gestreift. Wie ein Kobold lachte sie, als sich bei dem noch höheren Aufstieg in die Giebelräume ein lauter Protest erhob.
»Laß, Liesel, genug sein des grausamen Spiels!« lachte der Onkel.
»Vorwärts, Liesel!« stachelten ein paar junge Mädchen hinter Liesel, denen dies Promenieren großen Spaß machte, auch Gerta war darunter.
Selbst Oberleutnant Warnow drängte vorwärts.
Aber Liesel wandte stracks um.
»Wollen's nicht übertreiben,« wehrte sie. Und zu Onkel Lautern gewandt: »Ja, weshalb habt ihr solchen Palast! In unserem Häuschen wäre die Runde schneller gemacht gewesen. Da hört man's gleich auf der Straße, wenn ich Mutter in der Küche ein Geheimnis mitteile.«
Ein schelmischer Blick streifte ihren Partner.
»Besonders wenn das Geheimnis mit klingender Stimme hinausgeschmettert wird. Sie kommen!«
Das letzte war in komisch hohem Fistelton herausgestoßen.
Alles lachte.
Liesel tat gekränkt.
»Wie abscheulich! Als ob ich solche Quietschstimme hätte!«
Da klangen die Töne eines Walzers aus der geöffneten nahen Tür des Tanzsaales.
Ohne ein Wort zu erwidern, legte Oberleutnant Warnow den Arm um seine Dame.
Und nun tanzte Liesel wirklich.
Tanzte? Nein, flog, glitt, schwebte dahin wie auf Wolken. Sie spürte den Boden nicht unter den Füßen.
Oberleutnant Warnow dachte ein paarmal an Aufhören. Ein Blick aber in das strahlend glückselige Gesicht des jungen Geschöpfs, das er in den Armen hielt, ließ ihn immer weiter tanzen.
Da hörte die Musik auf. Tiefaufatmend stand Liesel still. Sie strich sich über das heiße Gesicht, und es war, als erwache sie aus einem Traum.
Einem wunderbaren Traum! Der Abglanz davon lag noch in den strahlenden Augen, die sie auf ihren Partner richtete.
Der sah tief hinein. Zögernd nur löste sich sein Arm von der schlanken Gestalt.
»War's schön?« fragte er.
Liesel schien noch zu träumen, sie antwortete nicht sofort.
Er beugte sich vor.
»Wunderbar!« sagte sie da. Es klang wie ein Aufseufzen, so aus tiefster Brust kam es. Und in ihren Augen leuchtete und funkelte es so, daß er fast geblendet die seinen schließen mußte.
»Wenn die dumme Musik nicht aufgehört hätte, ich hätte, glaub' ich, so weiter tanzen können, bis – bis – ich weiß nicht bis wann – bis ich alt und grau wäre, jedenfalls!«
Liesel schien das so gut, als ob sie gesagt hätte, bis in alle Ewigkeit. Sie, Liesel, alt und grau! Nur daran zu denken, war ja urdrollig.
»Es ist nämlich das erste Mal,« fügte sie erklärend bei.
Er sah sie verständnislos an.
»Daß ich tanze, meine ich.«
»Gnädiges Fräulein wollen sagen –«
»Mit Herren natürlich,« ergänzte Liesel. »Gerta und ich sind manch liebes Mal zusammen herumgehüpft. Ach, und das war auch schön. Erst vorgestern im Staub der Straße draußen – ha, ha, ha, ha – das hätten Sie sehen sollen, Herr Oberleutnant, es war zu komisch.«
Oberleutnant Warnow wollte wissen, wie das gewesen sei, und Liesel schilderte es ihm so lebhaft und drollig, daß er nicht aus dem Lachen kam.
Der Mann am Klavier begann eine Polka.
Eben wollte Oberleutnant Warnow wie selbstverständlich den Arm um Liesel legen, da tauchte eine Gestalt vor ihnen auf.
Leutnant Günther verneigte sich vor Liesel.
»Gnädiges Fräulein gestatten?«
Und Liesel ließ sich von ihm umfassen und tanzte so selig und strahlend mit Leutnant Günther davon, wie sie es zuvor genau so mit Oberleutnant Warnow getan hatte.
Der trat zurück und machte ein etwas finsteres Gesicht. Dann besann er sich, sah sich um und verneigte sich vor der Tochter des Hauses.
Gerta tanzte gewandter als Liesel, das war nicht zu leugnen, aber Oberleutnant Warnow spürte nichtsdestoweniger mitten in der Tour das dringende Bedürfnis, einmal zu pausieren.
Er sah sich nach seiner ersten Dame um. Liesel flog aus einem Arm in den anderen. Jeder wollte sie aus der Tour holen. Liesel strahlte.
»So 'n Unfug,« brummte er vor sich hin, »tanzen die Kleine ja halb tot. Wenn ich –«
Das weitere verschluckte er, legte den Arm um seine Dame und machte gemessen die übliche einmalige Runde mit ihr.
Danach stand er beim nächsten Tanz wie aus dem Boden gezaubert vor Liesel.
»Gnädiges Fräulein gestatten die nächsten drei Touren.«
Liesel lachte ihm ins Gesicht.
»Mehr nicht?«
»Vorläufig, nein!« gab er zurück. Er war brummig, bärbeißig.
»Gern,« sagte Liesel da liebenswürdig.
Über sein Gesicht glitt ein Strahl. Er legte wortlos den Arm um sie und fort ging's.
Diesmal hatte er durchaus kein Bedürfnis auszusetzen.
Im Gegenteil, so oft er Miene machen wollte dazu und dann irgend einen Kameraden erwartungsvoll dastehen und nach ihm herblicken sah, da legte er den Arm nur umso fester um seine kleine Tänzerin, und, heidi, fort ging's.
Diesmal war's kein Unfug, wenn »die Kleine halb tot« getanzt wurde.
Und Liesel, – Liesel war's zufrieden.
Liesel dachte überhaupt an nichts und an niemand. Die überließ sich einfach der Wonne des Augenblicks.
Danach saßen sie in einer längeren Tanzpause zusammen in einer Ecke des Saales hinter einer Pflanzengruppe.
»Erzählen Sie mir ein bißchen von Ihrem Leben und Treiben,« bat er.
Liesel riß die großen Kinderaugen auf.
»Von meinem Leben?« fragte sie staunend. »Ja, was soll ich da erzählen?«
»Alles!«
»Bloß?« lachte Liesel.
Aber sie erzählte.
Vor seinen Augen tauchte das rebenumsponnene Häuschen auf, das er schon kannte.
Er lernte die innere Raumeinteilung kennen. Die Mutter trat ins Wesen, Erich. Er sah Liesel in der Küche, im Gärtchen walten, sah sie am Klavier, an der Maschine.
Du mein Gott, und auf solchem Schattengrund, grau in grau, in solch eingeengter Atmosphäre hatte das da erblühen können?
Solch ein Sonnenwesen, solch ein Kind des Lichtes!
In solch engem Rahmen konnte sich auch abspielen, was einer Leben nannte?
Er seufzte voll Bedauern oder war's voll Neid?
»Und sehen Sie,« plauderte Liesel weiter, »so gehen die Tage hin, immer einer schöner als der andere. Sie glauben gar nicht, wie herrlich das Leben ist! Ich lache und singe und bin froh und glücklich, so lang der Tag dauert.«
Und wie zur Probe lachte Liesel ihr helles, glockenreines Lachen.
»Und das nennen Sie Glück?« kam's fragend, fast mitleidig von seinen Lippen.
Liesel stutzte.
»Glück? Nein, das Glück kommt ja erst noch. Und dann – o, dann wird's wundervoll!«
Sie holte tief Atem und seufzte zugleich fast beklommen auf.
»Wie stellen Sie sich das Glück vor?« fragte er und sah voll Interesse in ihr glühendes, strahlendes, lebensvolles Gesicht.
»Wie ich mir das Glück vorstelle?« Liesel sann nach mit gesenktem Köpfchen, den Finger an die Lippen gelegt. Sie sah hinreißend niedlich aus. Er konnte den Blick nicht von ihr wenden.
Jetzt schlug sie die großen Augen auf und sah ihm ins Gesicht.
»Wie ich mir das Glück vorstelle? Ja, genau weiß ich's selber nicht! Wie etwas ganz unbeschreiblich Wunderbares. So – so –« ihr Blick glitt durch den Saal über die fröhlichen Menschen hin und blieb an seinem lächelnden Gesicht haften – »wie das jetzt hier, wie heute abend zum Beispiel.«
Sein Blick flammte auf.
Liesel senkte den ihren. Ihr war ganz heiß geworden. Hatte sie was Dummes gesagt?
Plötzlich kam ihr ein Gedanke.
Der Vikar fiel ihr ein, und wie er neulich fast dasselbe gesagt hatte wie sie jetzt. Nur, wie verschieden waren die Abende gewesen!
Sie lachte leise und lustig vor sich hin.
»Weshalb lachen Sie?«
Oberleutnant Warnow sah Liesel fragend an.
»Über den Vikar!«
»Über welchen Vikar?«
»Ei, unseren!«
»Haben Sie einen Privatvikar?«
Liesel fand die Frage ganz furchtbar komisch. Dann wurde sie plötzlich sehr ernst.
»Nach Vaters Tod war einer da, der taugte sehr wenig. Der jetzige ist ein prächtiger Mensch, sagt Mutter, und wird sicher bestätigt werden.«
»Und was sagt die Tochter?«
Es klang so herb, daß Liesel erstaunt aufsah. Erst begriff sie gar nicht, dann sagte sie schlicht: »Ich? Je nun, ich freue mich, wenn er bestätigt wird, er ist wirklich ein guter Mensch!«
Oberleutnant Warnow atmete auf, er selbst hätte nicht zu sagen gewußt, weshalb.
Die beiden hatten sich wenig um das bekümmert, was im Saal vorging. Nun hörte man plötzlich aus dem Gewirr heraus eine einzelne Stimme.
Der Hauptmann, ein etwas korpulenter Herr schon, stand inmitten des Saales. Er hielt eine Rede.
»Alle Wetter, ein seltener Genuß,« raunte Oberleutnant Warnow Liesel zu und bot ihr den Arm.
Sie traten zu den anderen.
»Meine Herrschaften!« sagte eben der Hauptmann, »ich sollte denken, es wäre an der Zeit, unseren verehrten Wirten, Herrn Lautern und seiner Frau Gemahlin, unseren, ich meine meiner Kameraden und meinen allerherzlichsten, allerwärmsten Dank auszusprechen für die wahrhaft liebenswürdige, gastfreie Aufnahme, die wir in ihrem schönen Heim gefunden haben. Die frohen Stunden, die wir im Berghaus verleben durften, werden uns unvergeßlich sein.«
Ein »Bravo, bravo! Hört, hört!« der jüngeren Herren Offiziere unterbrach ihn.
»Um dem nun kräftigeren Ausdruck zu geben, bitte ich die Herrschaften auch in meiner Kameraden Namen, uns zu gestatten, Sie alle ganz ergebenst für morgen nachmittag zum Konzert im Garten des Gasthauses zur Krone drunten einzuladen. Das Lokal ist freilich sehr bescheiden, und ich wünschte –«
Alles weitere, was der Hauptmann wünschte oder nicht wünschte, ging im allgemeinen Wirrwarr unter.
Man schrie, man lachte, man lärmte, keiner der Anwesenden schien der Einladung abgeneigt.
»Gnädiges Fräulein werden doch auch kommen?«
Oberleutnant Warnow beugte sich zu Liesel.
Die wollte ihm eben strahlend zunicken, da lief ein Schatten über das Gesicht.
»Die Mutter!«
»Kommt mit!«
Nein, die Vorstellung! Die Mutter und solch ein Konzert! Es erschien Liesel zu komisch.
»Ha, ha, ha, ha, wo denken Sie hin! Fällt ihr nicht ein. Nein, aber ob sie's erlaubt?«
»Muß müssen!«
»Kein Mensch muß müssen! Lessing, Nathan der Weise!« Damit war Liesel fix zur Stelle.
Er sah sie überrascht an.
»Alle Achtung! Gnädiges Fräulein sind Blaustrumpf?«
»Haben Sie das noch nicht gemerkt?«
Und sie lachten alle beide wie die Kinder.
Nun ging's aber ernstlich an den Aufbruch. Man hörte die Wagen unten auf dem Hof vorfahren, und die auswärtigen Gäste nahmen Abschied.
»Auf Wiedersehen!«
»Auf Wiedersehen morgen!«
»Morgen beim Konzert!« Damit trennte man sich.
Tante Lautern mahnte danach auch zum Auseinandergehen für die Gäste, die im Haus blieben.
»Morgen ist noch ein Tag!«
Oberleutnant Warnow hielt Liesels Hand und sah ihr tief in die Augen.
»Gute Nacht, mein gnädigstes Fräulein, lassen Sie sich was Wunderbares träumen!«
»Wollen's besorgen, Herr Oberleutnant, damit hat's keine Not, da brauch' ich ja nur an heut abend zu denken. War das herrlich!«
Mit leuchtendem Blick sah sie ihn an.
Wortlos führte er die Kinderhand, die er hielt, zum Mund.
Liesels Gesichtchen war plötzlich wie in Glut getaucht. Ungewiß, fast scheu sah sie auf. Dann drehte sie sich plötzlich unvermittelt um, schlang den Arm um Gertas Schultern und zog sie zur Tür.
Leutnant Günther stand hinter dem Freund.
»Achtung, Warnow, Feuer!« raunte er ihm zu.
Der biß sich auf die Lippen, warf ihm einen stummen Blick zu und wandte sich.
In der feucht-fröhlichen Sitzung, die die Herren danach noch abhielten, war Oberleutnant Warnow nicht eben ein brillanter Gesellschafter.
Er hatte so mancherlei zu bedenken, der Herr Oberleutnant. Daß man auch nie klug wurde und sich immer wieder weiter fortreißen ließ, als gut war.
»Netter Käfer, was, Warnow?« neckte einer der Herren.
»Ich weiß nicht, von wem Sie reden, Presten.«
Oberleutnant Warnow sagte es eisig. Man ließ die Sache besser auf sich beruhen. –
Liesel und Gerta hatten schon das Licht gelöscht. Mama hatte noch einmal mahnend an die Zimmertür gepocht.
Zum wer weiß wie vielten Mal sagte Gerta eben wieder: »Sind sie nicht nett, Liesel?«
Es war, als ob Gerta ein ganz besonderes Verdienst daran habe und stolz darauf sei.
»Zu nett!« versicherte Liesel. »Es war überhaupt himmlisch!«
Ein Wunder, daß Liesels Augen nicht im Dunkel der Nacht phosphoreszierten. Sie blitzten und leuchteten und strahlten so! Ob Liesel sie überhaupt heute zukriegte?
»Welcher gefällt dir am besten?« fragte Gerta.
»Ja, sieh, ich finde sie alle reizend, aber den Oberleutnant kenne ich am besten, der –« Liesel verstummte.
Nach einer Pause sagte Gerta: »Du, der war ganz weg!«
Liesel kicherte.
»Meinst du?«
Gerta kicherte als Antwort.
Lange, stumme Pause, das heißt, in den Ohren der Mädchen sang und jubilierte ein ganzer Engelchor, dem sie atemlos lauschten, bis die jungen Herzen wiedertönten in Seligkeit von all dem Klang und Schall.
»Du!«
»Ja?«
»Leutnant Günther ist aber auch sehr nett!«
Gerta flüsterte es sehr leise, sehr schämig.
Liesel mußte es drum wohl nicht gehört haben. Oder hatte sie zuviel damit zu tun, all die Himmelslust, die in dem eigenen Innersten rumorte, zu belauschen?
Die spann sich denn auch in die Träume hinüber.
* * *
Mit den Lerchen war Liesel anderen Morgens wach.
Sie hob das Köpfchen.
Gerta schlief noch fest.
Nun flink heraus, in die Kleider, und davon gehuscht, leise, leise!
Wenn dann Gerta aufwacht, ist das Nest leer.
Liesel war wie der Wind auf den Füßen.
Im Berghaus war noch alles still, es mußte sehr früh sein.
Im Handumdrehen war Liesel fertig, packte ihre Siebensachen zusammen, machte der schlafenden Gerta einen schelmischen Knicks und – fort war sie.
Sie huschte über Treppen und Gänge. Der noch ganz verschlafene Johann ließ sie hinaus.
»Fräulein Lieselchen blüht wie ein Röschen,« schmunzelte er. »Die liebe Jugend, ja die liebe Jugend!«
Liesel strahlte ihn an.
»Grüßen Sie die Herrschaften, Johann.«
»Wollen's besorgen, Fräulein Lieselchen. Soll gut besorgt werden.«
Liesel hörte schon nicht mehr, sie flog den Berg hinab.
Johann gähnte hinter ihr her, just der Sonne ins Gesicht.
»Wer noch mal so jung wäre!«
Daheim war Liesel wie der Wind im Arbeitskleidchen. Dann hantierte sie eifrig am Herd und im Wohnzimmer. Schließlich steckte sie den Kopf in Mütterchens Schlafkammer.
»Mütterchen, 's war himmlisch schön!«
Die Mutter erwachte eben.
Entsetzt fuhr sie auf.
»Wie? Was? Brennt's?«
Liesel umfaßte sie stürmisch.
»Wonnig war's, Mutterherz.«
Da besann sich die Mutter.
»Ja so! Na! Freut mich, daß du so früh da bist. Die Tante hat eine Last Arbeit geschickt, Kind. Soll furchtbar schnell geliefert werden, wir müssen heut gleich dahinter. Reich mir mal meine Strümpfe her!«
Dann besann sie sich aber doch und strich dem Kind über das glühende, strahlende Gesicht.
»Also schön war's, Liesel? Nun, das freut mich. Mußt mir nachher erzählen. Haben hübsch Zeit dazu heute nachmittag bei der Arbeit.«
»Heut soll ja Konzert sein, Mutter, und –«
»Meinethalben. Wir lassen uns von den Vögeln was vorsingen, oder der Erich kann uns eins pfeifen, dann fliegen die Nadeln nochmal so schnell. Da haben wir auch Konzert.«
Liesel mußte lachen. Was sich die Mutter unter Konzert dachte!
»Nein, Mütterchen, denk doch, ein richtiges Konzert mit Trompeten und Pauken in der Krone!«
Erwartungsvoll sah sie die Mutter an.
»So?« sagte die nur. »Ist der Kaffee schon fertig?«
Liesel riß die Augen auf.
Verstand die Mutter denn gar nicht?
»Mütterchen, ich soll auch hinkommen.«
»Fehlte auch noch!«
Unwirsch riß die Mutter an ihrem grauen Zopf, den sie eben kämmte, und ein ganzes Bündel Haare blieb in dem Kamm.
Da räumte Liesel das Feld. Einstweilen war nichts zu machen. Es würde sich schon irgendwie drehen lassen. Und wenn nicht – pah, daran dachte man einstweilen gar nicht.
Liesel sang schallend durchs Haus: »Frau Sonne klopft ans Fensterlein, macht auf, macht auf, laßt mich herein!«
Die sonnige Liesel war keine Natur, die mit dem Kopf durch die Wand wollte. Sie wartete, bis irgendwo ein Türchen ging, dann steckte sie das strahlende Gesicht durch den Spalt und lachte: »Tag, da bin ich auch!«
Und, merkwürdig, der Liesel öffnete sich überall ein Türchen. So auch heute!
Eben war sie in der Küche beim Kartoffelschälen.
Die Mutter sichtete oben die von der Tante gesandte Arbeit.
Da klang es wie Kichern und Säbelrasseln von der Haustür her.
Neugierig trat Liesel zur Küche hinaus, in der einen Hand eine Riesenkartoffel, in der anderen das Messer. Eine große, helle Arbeitschürze hatte sie vorgebunden, und die Zöpfe hingen ihr im Rücken, wie sie's im Hause liebte.
Da stand Gerta, und hinter ihr in der niederen Tür, diese fast ganz ausfüllend, stand, noch halb in der Sonne draußen, eine hohe, schlanke Gestalt, von der ein Blitzen, Funkeln und Leuchten ausging, daß Liesel, geblendet, die Augen schließen mußte.
Wie eine heiße Welle flutete es über sie hin.
Es war, als ob eine innere Stimme ihr zuraune: »So sieht das Glück aus! Jetzt kommt das Glück!«
Dumme, dumme kleine Liesel!
»Wir kommen als Abgesandte dich holen, Liesel,« kicherte Gerta.
Liesels strahlendes Gesicht war wie in Glut getaucht, ihre Augen leuchteten, sie lachte, aber sie war doch recht verlegen.
»Mütterchen ist oben, Gerta, du weißt ja. Ich komme gleich nach,« stotterte sie.
»Ach was. Wirf die dumme Kartoffel fort und nimm die Schürze ab, dann ist's ja gut,« rief Gerta. »Komm gleich mit hinauf!«
Liesel tat mechanisch, wie ihr geheißen wurde und wischte sich zum Schluß die Händchen noch tüchtig an der Schürze ab.
Jetzt trat Oberleutnant Warnow – er war Gertas Begleiter – vor, neigte sich tief und sagte: »Gestatten? Wie haben gnädiges Fräulein geruht?«
»Aber köstlich, Herr Oberleutnant, ich schlafe immer wie 'ne Ratze.«
»Nur zu kurz war's heute, was?« kicherte Gerta.
»Behüte,« versicherte Liesel, »ich bin so frisch und munter wie ein Vogel auf dem Zweig.«
Wenn man in ihr strahlendes, rosiges Gesicht sah, war die Versicherung überflüssig.
Nun flog sie vor den Gästen her die Treppe hinauf.
»Hierher, bitte!«
Sie öffnete eine Tür.
»Mütterchen, sie kommen!«
Ein Schelmenblick traf den Oberleutnant, in dessen Auge antwortete der Schelm.
Fast hätte Liesel an der Tür, wie sie es die Mutter in altmodischer Höflichkeit mit dem Vikar tun sah, gezögert, um dem Oberleutnant den Vortritt zu lassen. Doch besann sie sich noch zur rechten Zeit und huschte durch die Tür, die er galant für sie offen hielt.
Drinnen hatte Gerta die Mutter schon begrüßt und stellte jetzt Oberleutnant Warnow vor.
Der murmelte etwas von »Ehre haben« und verbeugte sich wie vor einer Königin.
Beinahe hätte ihn Liesel nun aufs Sofa genötigt, aber eben zog die Mutter dort Gerta neben sich nieder. Oberleutnant Warnow rückte ihr dienstbeflissen einen Stuhl zurecht und zog sich selbst einen heran.
Liesel war wie im Traum, in einem köstlichen, wunderbaren Traum.
»Wir wollten Liesel holen, Frau Pfarrer,« begann nun Gerta.
»Holen?« Die Mutter horchte hoch auf.
Liesel strahlte.
Gerta brachte eine Einladung zum Mittagstisch für Liesel vor mit Anschluß daran den Gang zum Konzert.
Die Mutter schüttelte den Kopf.
In Liesels Gesicht erlosch der Strahlenschein.
Oberleutnant Warnow sah ganz erschreckt auf die Mutter.
»Gnädige Frau werden doch nicht – Wollte mir ganz gehorsamst gestatten, gnädige Frau, auch im Namen meiner Kameraden –«
Ein Blick in das ernste, leidvolle Gesicht der Dame machte ihn stocken.
Jetzt zog es wie Lächeln über dies ernste Gesicht.
»Wenn Sie mich mit einer Einladung beehren wollten, Herr Oberleutnant, so muß ich recht sehr danken. Mir selbst liegen solche Dinge zu fern. Meiner Tochter will ich den Besuch des Konzertes nicht verwehren, es ist ein zu seltener Genuß, als daß –«
Weiter kam sie nicht.
Liesel war strahlend von ihrem Stuhle auf- und ihr um den Hals geflogen.
»Herzensmütterchen, darf ich, darf ich wirklich?«
Solcher Jubel, solche Wonne lag in der jungen Stimme, daß es den Oberleutnant fast wie Rührung überkam.
So freuen konnte sich ein Mensch! Und um was? Um ein paar von Musikanten geblasene Stücke. Sollte man es für möglich halten?
Die Glücksfähigkeit in dem jungen Geschöpf! Der brauchte kein Extraglück vom Himmel herunterzufallen, die hatte das Glück in sich. Ein Schuft aber auch, der –
Der Herr Oberleutnant verlor sich in Grübeln.
Die Mutter hatte inzwischen fest und bestimmt die Einladung zu Tisch für Liesel abgelehnt.
»Um vier Uhr wird Liesel bereit sein, Gerta, und euch entgegenkommen, um zum Konzert zu gehn.«
Dabei blieb's.
Liesel zuckte mit keiner Wimper, und ihr Gesicht behielt den lachend glückseligen Ausdruck.
Gern wäre sie gleich mitgegangen, aber – was nicht sein konnte, konnte eben nicht sein.
Allein schon ins Konzert zu dürfen war herrlich.
Gerta und Oberleutnant Warnow verabschiedeten sich. Liesel geleitete sie strahlend zur Tür.
»Eine herbe Dame!« sagte der Oberleutnant zu Gerta und schüttelte sich.
»Sie hat viel Leid erfahren,« sagte Gerta ernst und setzte nach kurzer Pause hinzu: »Sie hat Liesel sehr lieb.«
»Kunststück!« hätte er beinahe gesagt, besann sich aber und schwieg. Gertas Rede erforderte ja eigentlich keine Antwort. –
Liesel stürzte die Treppe hinauf.
»Wie gefällt er dir, Mütterchen?«
Sie war atemlos.
»Wer?«
»Nun, er – der Oberleutnant!«
»Ein ganz stattlicher Mann!«
Liesel horchte erwartungsvoll auf. Die Mutter sah's und mußte lachen.
»Ja, mehr kann ich nicht sagen, Kind, ich kenne ihn ja nicht.«
Das war wahr, Liesel ließ enttäuscht das Köpfchen hängen
Da stürzte Erich ins Zimmer.
Er hatte den Besuch eben fortgehen sehen.
»Du meine Güte,« schrie er lachend, »ist denn der lange Kerl überhaupt zur Tür hereingekommen?«
Das war Liesel zuviel.
»Alberner Knirps!« sagte sie und ging zur Tür hinaus.
Die Mutter schüttelte den Kopf.
Hatte sie klug daran getan, die Erlaubnis zu heute nachmittag zu geben?
Liesel sang schallend in der Küche:
»Noch ist die selige, goldene Zeit,
Noch sind die Tage der Rosen!«
* * *
Pünktlich um vier Uhr trippelte Liesel, im grauen Wollkleidchen mit dem rosa Band um den Hals, im Staub der Landstraße nach dem Berghaus zu.
Wo sie nur blieben?
Liesel war sehr ungeduldig.
Doch, waren sie das nicht?
Richtig, man hörte lachende Stimmen, und nun tauchte, in Staubwolken gehüllt, eine lustige, bunte, funkelnde Gesellschaft auf.
Tante und Onkel Lautern, Gerta, ein paar junge Mädchen der Nachbarschaft und die ganze Einquartierung vom Berghaus.
Liesel jubelte auf.
»Gerta!«
Und sie flog die Landstraße entlang, unbekümmert um die Staubwolken, die sie aufwirbelte.
»Liesel, Kind, um Himmels willen, der Staub!« mahnte Tante Lautern, auf die sie zuerst zuflog.
»Ist's staubig?« fragte Liesel unschuldig erstaunt, und alles lachte.
»'n bißchen, Lachliesel,« neckte Onkel Lautern gutmütig spottend.
»Wirklich? Laß mal sehen. Wahrhaftig, die Schuhe sind ganz grau und – hazzi, hazzi!«
Liesel nieste. »Aha, prost Töchterchen!« lachte der Onkel, »merken wir jetzt auch was vom Staub?«
Ein langgezogener Ton vom Dorfe her schnitt Liesel die Antwort ab.
»Musik!«
Spornstreichs wollte sie davon fliegen, wie sie gekommen war.
Da faßte Onkel Lautern sie am Arm.
»Lachliesel, stillgestanden!«
Er schob seinen Arm durch den ihren, und ob sie wollte oder nicht, sie mußte an seiner Seite bleiben. Sie entschädigte sich dadurch, daß sie wenigstens im Takt marschierte zu den Klängen des nun ganz deutlich vom Dorf herauftönenden Marsches.
Oberleutnant Warnow war an ihre Seite getreten. Sie sah ihn selig an.
»Wundervoll! Eins – zwei, eins – zwei!«
Er mußte lachen.
Da war man schon am Garten angelangt.
Buntes Treiben herrschte da.
Die ganze Nachbarschaft war vollzählig versammelt, dazwischen drängten sich die Dorfbewohner im Sonntagsgewand.
Ein paar große Tische inmitten des Gartens waren festlich gedeckt, und dort nahm nun die Gesellschaft vom Berghaus Platz.
Liesel saß zwischen dem Oberleutnant Warnow und Gerta.
Mit großen, glückseligen Augen sah sie in das Treiben, lauschte der Musik.
Man lachte und scherzte.
Liesel war ordentlich ungehalten, wenn wieder ein Musikstück erklang und die Leute sich im Schwatzen und Plaudern nicht stören ließen.
»Wie kann man!« sagte sie ganz vorwurfsvoll.
Oberleutnant Warnow lachte.
»Sind gnädiges Fräulein musikalisch?«
Eben setzte die Musik mit dem Lassenschen Lied ein:
»Liebchen, komm mit ins duftige Grün,
Wo die zierlichen Veilchen blühn …«
Liesel hob warnend bedeutungsvoll den Finger an die Lippen. Sie sah ihn dazu mit leuchtendem Blicke an, und leise aber glockenrein sang sie mit.
Dann hielt sie sich plötzlich erschrocken den Mund zu und sah sich im Kreise um.
»Das schickt sich wohl nicht?«
Er lachte laut auf, sie war zu drollig.
So frisch und so jung.
Plötzlich machte Liesel einen langen Hals. Draußen am Garten ging einer vorbei.
Liesel erkannte ihn deutlich. Da kam ihr ein Gedanke.
Wie der Wind hatte sie sich erhoben, hatte den Stuhl zurückgeschoben, war durch den Garten geflogen und stand draußen vor dem Vikar, denn er war es, der eben am Garten vorüberging.
»Herr Vikar!«
Er sah erstaunt auf.
»Fräulein Liesel?«
Sie war ganz außer Atem.
»Ich wollte nur schnell sagen, daß ich heute nicht zur alten Kathrine kommen kann. Es war ja doch halb und halb abgemacht, nicht?«
Er mußte fast lächeln, als er erst ihr leuchtendes Gesicht und dann die fröhliche, lärmende Gesellschaft drinnen im Garten überflog.
»Da müssen wir Sie wohl entschuldigen,« meinte er humoristisch. »Soll ich bei der alten Kathrine Fürsprache tun?«
Sie nickte ganz ernsthaft.
»Bitte! Und morgen käm' ich jedenfalls. Heute aber, heute –«
Ein leuchtender Strahlenglanz in dem jungen Gesicht vollendete den Satz.
Des Vikars Gesicht hatte sich urplötzlich umschattet.
Liesel sah's. Sie hatte mit leichtem Kopfnicken flüchtig davoneilen wollen. Jetzt zögerte sie.
»Herr Vikar!«
»Fräulein Liesel?«
»Halten Sie das da für unrecht?«
Ein Wink nach dem lärmenden Getriebe deutete die Meinung.
Er zögerte einen Augenblick.
»Unrecht in sich? Nein. Wie sollten Musik und fröhliche Menschen ein Unrecht sein? Nur –«
Da war Liesel schon davongeeilt. Der Nachsatz wäre in die Lüfte geredet gewesen.
»Bis morgen, Herr Vikar,« hatte sie jubelnd gerufen, hatte ihm strahlend zugenickt, und fort war sie.
Er sah ihr einen Augenblick nach, sah wie sie mit lautem Zuruf von der bunten, lustigen Gesellschaft empfangen wurde, und seufzend wandte er sich und ging seines Weges.
»Wo waren gnädiges Fräulein denn hingestürmt? Wer war der Glückliche?«
Oberleutnant Warnows Stimme klang fast gereizt, und sein Blick flog mißtrauisch hinter der sich entfernenden Gestalt her.
»Der Glückliche?« fragte Liesel belustigt und harmlos. »Ein nettes Glück! Es war unser Herr Vikar, und der arme Mann geht jetzt zu einer alten, kranken Frau, der er vorliest. Eigentlich sollte ich auch dort sein, ich –«
»Wieso?«
»Ich wollte die Kinder waschen und fegen.«
»Mag der Herr Vikar besorgen!«
»Ha, ha, nun denken Sie sich bloß mal den Herrn Vikar mit der vorgebundenen Schürze, mit Seife und Bürste und die Kleinen vor sich im Waschfaß. Wie der sich wohl anstellte?«
Das Bild war drollig, Oberleutnant Warnow stimmte in Liesels Heiterkeit ein.
Dann sagte er: »Sind das die Freuden, die gnädiges Fräulein für gewöhnlich haben? Schmutzige Kinder fegen, arme Weiber pflegen?«
Durch seine Stimme klang's fast wie Entsetzen.
Liesel sah ihn groß an.
»Wofür wär' ich denn sonst ein Pfarrtöchterlein?« rief sie hell und ihr Gesicht leuchtete. »Pflichten haben ist auch kein Unglück, im Gegenteil, ein großes – aber hören Sie doch – hören Sie doch, das ist ja Lohengrin! Nein, wie göttlich schön!«
Er hörte nur ihre klingende Stimme, sah nur ihr strahlendes Gesicht. Und das sollte in dem Winkel hier verkommen?
Er strich sich über das Gesicht und richtete sich stramm auf.
Ein Schuft, der an diesen harmlosen Frieden rührte!
»Wie geht's, Lachliesel, wie gefällt es uns?«
Onkel Lautern rief es über den Tisch herüber.
Liesel nickte ihm selig zu.
»Wunderbar, Onkel.«
Er mußte lachen.
»Du hast nicht immer deine siebzehn Jahr, nicht immer dieses schöne Rot und Weiß ...« summte der korpulente Hauptmann an seiner Seite und wischte sich mit dem Taschentuch über die Denkerstirn, die sich im Laufe der Zeit sehr erhöht hatte.
»Das weiß der Himmel,« seufzte Herr Lautern beistimmend.
Unermüdlich spielte die Musik, unermüdlich lauschte Liesel, unermüdlich plauderte man dazwischen.
»Es wird kühl,« meinte Frau Lautern und zog fröstelnd ihren Umhang fester um sich.
»Grog!« war urplötzlich das Feldgeschrei.
»Kühl?« hatte Liesel ganz verwundert gefragt. »Mir ist heiß!«
»Ein Gläschen Grog ist auch gut für die Hitze. Grog ist stets und in allen Lebenslagen zu empfehlen.«
»Kenn ich gar nicht,« meinte Liesel. »Wir dummen Bauern –«
»Wollen der mangelhaften Bildung schon aushelfen. Einen Augenblick!«
So schnell wie er gegangen war, kehrte Oberleutnant Warnow mit einem Glas voll des dampfenden Gebräus zurück.
Liesel nippte, zog das Näschen kraus, hüstelte und nippte wieder.
»Puh, wie gräßlich!«
Er lachte.
»Scheint so!«
Und Liesel nippte und lachte mit.
Trotz Musik und Lust und Grog, trotz Lachen und Necken und Scherzen brach die Dämmerung ein.
Die Dämmerung oder was sonst der jeweiligen Lust ein Ende macht, hat das so an sich, daß sie oder es eben dann kommt, wenn man's am allerwenigsten brauchen kann.
Und so war's auch heute.
»Du liebe Zeit, es wird dunkel!«
Liesel sagte es ganz erschrocken.
»Was liegt daran?«
»Ja, aber –«
Ein Weilchen ging's noch so weiter.
Da stand Tante Lautern auf.
»Wir müssen gehen, sonst haben wir alle morgen einen Schnupfen. Und Sie, meine Herren Offiziere, können das am allerwenigsten brauchen. Weitermarsch, fünf Uhr, wie ich höre. Liesel, Kind, kommst du noch mit? Wir schicken der Mutter Botschaft.«
Solch schweren Kampf hatte Liesel in ihrem jungen Leben noch nie gekämpft.
Sie stand, zögerte, überlegte, schwankte.
»Liesel, bitte, Liesel!«
»Gnädiges Fräulein, ja?«
Wie sie baten!
Da hob Liesel mit raschem Entschluß das Köpfchen.
»Ich gehe doch besser nach Hause, Tantchen, tausend Dank! Mutter war lange allein und hat viel zu tun, ich –«
Sie lachte ein bißchen verlegen, ein bißchen aufgeregt, ein bißchen so, als ob ganz nahe irgendwo die Tränen recht lose säßen. – »Ich – wirklich ich danke, ich muß nach Hause!«
»Wie du meinst, Kind!«
Liebevoll nahm Tante Lautern Abschied.
Alle drängten herzu, und Liesel schüttelte alle sich ihr entgegenstreckenden Hände. Ihr Gesicht war schon wieder ganz hell und sie fand ein freundliches, ein neckendes, ein heiteres Wort für jeden.
Die Herren Offiziere namentlich verabschiedeten sich sehr höflich, sehr angelegentlich.
Nur einer stand schweigend, zuwartend abseits und trat jetzt heran, da ihm Liesel die Hand hinstrecken wollte.
»Gnädiges Fräulein gestatten, daß ich Sie heimbegleite, es ist schon recht dunkel.«
Liesel kam das furchtbar komisch vor.
»Glauben Sie, daß ich verloren gehe, Herr Oberleutnant?« sagte sie schelmisch. Aber sie sagte nicht nein.
»Lachliesel! Lachliesel!« drohte Onkel Lautern.
Liesel warf ihm eine Kußhand zu, machte noch einen freundlichen Knicks in die Runde, nickte Gerta noch einmal zu und eilte den Gartenweg dahin.
Oberleutnant Warnow hielt sich dicht hinter ihr.
Frau Lautern hatte ihren Mann fragend angesehen, er hatte die Achseln gezuckt. »Was kann ich tun?« sollte das heißen. Da sagte sie nichts weiter.
An der hinteren Gartenpforte blieb Liesel stehen.
»Wir gehen über die Wiesen, Herr Oberleutnant, das ist näher.«
Er biß sich auf die Lippen.
»Wie gnädiges Fräulein befehlen.«
Dann trat er neben sie, faßte ihre Hand und zog ihren Arm durch den seinen.
»Gnädiges Fräulein gestatten?«
Liesel gestattete, etwas scheu, verlegen. Erst war sie zurückgezuckt, dann war sie wieder ganz harmlos.
»Ist's nicht herrlich hier in den Wiesen, Herr Oberleutnant? Sehen Sie nur, da kommt der Mond herauf. Und die Berge dort, so dunkel und geheimnisvoll. Es ist doch reizend, mein Dörfchen!«
»Reizend,« bestätigte er mechanisch und sah in das ihm zugewandte, junge Gesicht.
Ein Glück, daß er nicht auf Ehre und Gewissen gefragt wurde, was er eben reizend fand.
»Waren das wundervolle Tage,« seufzte nun Liesel so recht aus tiefstem Herzensgrund.
Er zog den Arm, der in dem seinen ruhte, fester an sich.
»Werden gnädiges Fräulein manchmal daran zurückdenken?«
Sein Blick tauchte tief in ihre Augen.
Sie sah ihn unbefangen an.
»Ob ich wohl! Ha, ha, denken Sie, wir sind hier so verwöhnt, daß solch köstliche, schöne Tage keinen Eindruck machen? Daran zehren wir lange!«
Sie sah sinnend vor sich hin.
»Und – und – darf ich hoffen –?«
Es kam stoßweise wie gegen seinen Willen.
Er wollte sich der Erinnerung an seine Person im besonderen versichern, wollte – ja was wollte er?
Liesel mußte ihn nicht gehört haben, sie sah immer noch still gradeaus.
»Dort ist unser Häuschen,« sagte sie plötzlich.
Ganz nahe tauchte es auf, nun erkannte er's auch.
»Schon!« Es verklang wie ein Hauch.
Und nun standen sie am Gartenpförtchen.
Krampfhaft hatte er ihren Arm gepreßt, nun gab er ihn frei, behielt aber ihre Hand, die er schweigend an die Lippen führte.
Wortlos standen sie sich dann einen Augenblick gegenüber.
»Leben Sie wohl, mein gnädiges Fräulein!«
»Leben Sie wohl, Herr Oberleutnant!«
Liesels helle Stimme klang nun doch ein bißchen gepreßt. Abschiednehmen ist nie erfreulich.
Noch immer hielt er ihre Hand und sah in das junge Gesicht, das im Mondschein auf einmal so seltsam blaß erschien. Oder war's wirklich blaß?
Plötzlich neigte er sich und preßte seine Lippen noch einmal auf die kleine Hand, heiß, leidenschaftlich. Und wie erstickt klang es: »Wenn gnädiges Fräulein einmal später, viel später, an diese Tage zurückdenken, dann, dann – der Mensch kann nicht immer, wie er möchte – es gibt Schicksale – Verhältnisse –«
Noch ein leidenschaftlicher Druck der Hand, dann trat er zurück, hob grüßend die Hand zur Mütze, klappte die Hacken zusammen und – war gegangen.
Und Liesel?
Liesel stand und schaute ihm nach, wortlos, betreten. Ihr war plötzlich so seltsam weh ums kleine Herz, so wie sie es noch nie, nie empfunden. Sie konnte sich nicht Rechenschaft davon geben. Es waren ja doch so köstliche, glückliche Tage gewesen.
Sie senkte das Köpfchen und schritt den Gartenpfad entlang auf das Häuschen zu.
Unten stand Erich in der Küche am Herd, sah wie ein Kohlenbrenner aus und pustete in die Flammen.
»Dummes Ding, bleibst so lange! Mutter liegt im Bett mit Kopfweh, und das Feuer will nicht brennen. Ich bin gräßlich hungrig.«
Still schob ihn Liesel beiseite. Wie gut, daß sie gekommen war.
Unter ihren geschickten Händen lohte bald die Glut auf. Sie stellte den Wasserkessel bei.
Dann huschte sie in ihr Kämmerlein, das Kleid zu wechseln.
Im Dunkel trat sie danach an Mütterchens Bett.
»Arme Mutter! Ist's sehr schlimm?«
»Es geht so. Nun wie war's, Kind?«
»Schön, Mütterchen!«
Irrte sich die Mutter oder klang der Ton gepreßt, nicht so jubelnd wie sonst? Doch das Kind nahm ja wohl Rücksicht auf ihren Zustand.
Seufzend und stöhnend drehte sie den schmerzenden Kopf der Wand zu.
Liesel küßte die Mutter und glitt schweigend hinaus.
Beim Tee wollte Erich erzählt haben.
»Schön war's!« Mehr bekam auch er nicht heraus.
»Albernes Ding!« sagte er mit echt brüderlicher Höflichkeit.
Schon sehr frühe war's heute still und dunkel in dem kleinen Häuschen.
Liesel lag in ihrem Giebelstübchen auf ihrem schmalen Bett.
Mit weit aufgerissenen Augen träumte sie in die Finsternis.
Bunt und verworren tauchten die Bilder in ihrer Seele auf.
Sie lachte und plauderte, sie scherzte und neckte, sie schwebte dahin im Tanz, sie lauschte den Klängen der Musik, eine warme, wohlige Atmosphäre hüllte sie ein, durchdrang sie bis ins innerste Mark, sie hörte Töne, Stimmen – eine Stimme. Weshalb ihr das Herz plötzlich wieder so rätselhaft schwer dabei wurde?
Waren es denn nicht wunderbare, traumhaft schöne Tage gewesen? Sah nicht das Glück, von dem Liesel träumte, so, grade so aus? Hatte sie es sich nicht just so und nicht anders vorgestellt?
Und doch war ihr so seltsam, so sonderbar weh dabei?
Das begreife ein anderer.
Über dem Sinnen und Grübeln entschlummerte Liesel. –
»Trab, trab, trab!«
Liesel fuhr auf. Hatte sie so lebhaft geträumt?
Nein! Von der Straße unten klang's ganz deutlich: »Trab, trab, trab!«
Mit einem Satz war Liesel am Fenster und spähte durch den Ladenspalt.
Unten funkelte und blitzte es in der aufgehenden Sonne.
»Trab, trab, trab!«
Da zogen sie hin.
Vorsichtig spähend neigte sich Liesel ein klein wenig weiter vor.
Da traf ihr Blick just in ein Paar dunkle zu ihr emporgewandte Augen.
Liesel kannte die Augen.
Tödlich erschrocken fuhr sie zurück. Nein, hinter dem geschlossenen Laden konnte er sie unmöglich bemerkt haben.
Bis sie sich aber von ihrem Schreck erholt hatte, waren die Soldaten schon wer weiß wie weit. Eben verschwanden sie an der Wegbiegung.
Da zogen sie hin. Ob das Glück mit fortzog? Behüte, das Glück war ja daran nicht gebunden. Nicht an Ort, nicht an Zeit, nicht an Menschen. Das Glück hatte seine eigenen Wege, kein Mensch wußte, wie es aussah, wußte, wann es käme. Es kam, und es war da! Plötzlich, ungeahnt!
Liesel wollte auflachen wie sonst wohl, es kam aber fast wie ein Schluchzen heraus. Da war Liesel lieber still.
* * *
Nun waren schon Wochen seitdem vergangen, Monde. Damals war's im September gewesen, und nun war der Oktober schon sonnig und der November neblig und grau durchs Land gezogen, ja man war schon ein ganz Teilchen im Dezember vorgerückt.
Das empfand auch Liesel, Liesel, die sich ihrer Meinung nach noch nie so sehr hatte tummeln müssen, noch nie so zurück gewesen war wie dieses Jahr. Aber das hatte Liesel noch jedes Jahr in ihrem jungen Leben gemeint, seit sie aus der Schar der kleinen Unmündigen, die nur erfreut werden, aufrückte in die Schar derer, die auch erfreuen wollen.
Und Liesel tummelte sich mit Wonne, Liesel tummelte sich mit Freuen und Frohsinn.
Das Lachen hatte Liesel längst wieder gelernt und – geübt. Um einen Schatten ernster vielleicht war sie geworden.
Eine täppische, eine spielende Hand nur greift nach dem Falter, er entwischt, aber die Hand hat ihn gestreift, etwas von dem zarten Farbenschmelz, der ihm die Flügel malte, hat er lassen müssen, etwas, das kommt nie wieder. So war in Liesels junger Seele ein etwas von dem duftigen, unberührten Hauch verloren gegangen, das kam nie wieder. Das tote, farblose Fleckchen blieb, aber es war ein solch klein winziges Fleckchen, keiner bemerkte es, Liesel selber kaum.
An dem Tage damals, als die Soldaten fortgezogen waren, hatte die Mutter Liesel ein klein wenig stiller, ein klein wenig ernst und ein bißchen blaß gefunden.
Sie hatte den Kopf geschüttelt, geseufzt, hatte aber nichts gesagt und das Kind ruhig gewähren lassen.
Nur am Nachmittag, als Liesel gar so still bei der Arbeit saß, hatte die Mutter gesagt: »Geh hinaus, Liesel, lauf in den Wald! Oder weißt du was, geh zur alten Kathrine, wie du versprochen hast und wasche die Kinder. Arbeit vertreibt die Grillen!«
Liesel war gegangen, und als sie am Abend heimkam, guckte die alte, fröhliche Liesel schon wieder zu allen Eckchen heraus.
Ein paar Tage weiter zogen ins Land.
Die stillen, ernsten Pausen bei Liesel wurden immer kürzer. Liesels Singen, Liesels frohes, klingendes Lachen schallten durchs Haus fast wie zuvor. – –
Mit glühenden Wangen kam Liesel von einem kleinen Gang zurück.
»Mütterchen, es wird dir recht sein? Ich habe den Vikar unterwegs getroffen und ihn gebeten, heute abend zu kommen. Er sah so trübselig aus und schien sich so einsam zu fühlen, da ist so was doch Christenpflicht!«
In den Augen der Mutter glimmte ein ganz eigenes, kleines Leuchten auf. Sie sagte aber nur: »Der Herr Vikar ist mir jederzeit willkommen, das weißt du!«
Und der Abend verlief wie schon viele andere zuvor, friedlich und vergnügt.
Das Leben lenkte in sein altes Gleise ein.
Dann war Erich abgereist.
Da war's stiller in dem kleinen Häuschen, und Liesel hatte recht ihre Not, mit Frohsinn die Stille nicht allzu lastend zu machen. Doch gab's in diesen Tagen von der Tante aus just besonders viel zu tun, und man hatte gar keine Zeit zum Grübeln oder Nachdenken.
Vor vier Wochen etwa, so Anfang November, war Gerta mit den Eltern nach der Stadt gegangen. Sie wollten die Wintermonate dort verbringen. Gerta sollte noch Stunden nehmen und auch ein wenig die Freuden und Geselligkeiten der Stadt genießen.
Alles, was Liesel sagte, als sie das hörte, war: »Wie wirst du das Berghaus vermissen und den Wald und die Vögel und den Himmel und die Sterne!«
»Dumme Liesel, Himmel und Vögel und Sterne gibt's doch auch in der Stadt,« erwiderte lachend Gerta.
»Bloß daß man sie nicht sieht,« sagte Liesel. »Da muß man sich ja den Hals abdrehen, bis man vor alle den Häusern ein bißchen Himmel sehen kann, und dann ist's nicht sichtbar vor Rauch und Ruß, Puh!«
Gerta hatte sich eine ganz andere Wirkung von ihrer Nachricht versprochen, war schon zu Trost und freundlicher Ermahnung bereit gewesen, und nun kam Liesel so! Ganz spitz sagte sie daher: »Woher weiß denn die Jungfer Weisheit das so genau?«
»Hab' ich mir sagen lassen,« lachte Liesel übermütig, »und in meinem eigenen, superklugen Hirn ausgeheckt. Bleib da, Gertachen, sollst mal sehen, wie schwarz der Schnee in der Stadt aussieht!«
Gerta blieb aber nicht da. Im Gegenteil, sie reiste glückselig mit den Eltern all den Herrlichkeiten entgegen und versprach großmütig, Liesel brieflich Anteil an allem nehmen zu lassen.
Es war nun eigentlich recht einsam für Liesel, dachte die Mutter und seufzte.
Liesel seufzte aber gar nicht. Wenn die Sonne schien, freute sie sich ihrer und sang, und wenn's regnete, fand sie, das sei so notwendig fürs Gärtchen, dann habe man im Sommer die Trockenheit doch nicht so zu fürchten, und sie sang und jubilierte erst recht.
Und Langeweile? Langeweile kannte Liesel nur dem Namen nach. Wieso hätte Liesel sich langweilen sollen?
Morgens gab's so viel in Haus und Küche zu tun, dann das Klavier! Und Nachmittags kam die Nadel an die Reihe, und spazieren gehen mußte man doch auch. Abends kam der Vikar oft – er kam jetzt sehr häufig, der Herr Vikar.
»Weshalb sollte er auch nicht kommen, Mütterchen?« sagte Liesel sehr weise. »Er sitzt dort, wir hier allein. Da braucht man doch nur einmal Licht und Feuerung. Wenn er dann liest, brauch' ich's nicht zu tun und kann arbeiten in der Zeit, und die Nadel rutscht auch noch einmal so flink. Hab' ich nicht recht?«
Die Mutter nickte nur, seufzte diesmal aber nicht.
So gingen die Tage hin, nein sie flogen. Denn je weniger man erlebt, desto rascher fliegt die Zeit.
Gerta hatte geschrieben.
Liesel stand am Fenster und suchte im letzten Tageslicht den Brief zu entziffern. Sie las laut. Mütterchen interessierte es doch auch, von den Freunden zu hören.
»... Jeden Tag sehe ich etwas Neues, Schönes. Oft wünsche ich Dich herbei, denn außer dem Berghaus, dem Wald, den Vögeln, Himmel und Sternen gibt's doch noch manches Beachtens- und Sehenswerte, manches Schöne und Frohe aus der Welt, weißt Du. Grüß mir übrigens meine geliebte Heimat viel tausendmal. Du erinnerst Dich, Liesel, oder weißt Du's nicht, daß das Regiment, dessen Offiziere zum Teil bei uns einquartiert waren, hier steht? Dadurch habe ich einen großen Vorteil in Gesellschaften, die Herren sorgen sehr für mich. Namentlich Leutnant Günther, Liesel, er ist doch noch viel netter, als wir dachten. Papa findet das auch. Er hat ihn eingeladen, seinen nächsten Urlaub bei uns zu verbringen im Berghaus, und er will kommen. Reizend, nicht? Übrigens, Du, denk' Dir, Oberleutnant Warnow hat sich verlobt. Er soll Schulden gehabt haben, und da war eine reiche Cousine, sie soll aber ein sehr nettes Mädchen sein und –«
Liesel ließ den Brief sinken. Sie hatte den Kopf ans Fenster gelehnt und starrte durch die Scheiben.
Die Mutter beobachtete sie.
»Liesel!«
Keine Antwort.
Liesel hatte es nicht gehört. Unverwandt starrte sie hinaus. Wohin wohl?
Eben wollte die Mutter tief aufseufzen, da plötzlich lachte Liesel hell, klingend, so wie nur Liesel lachen konnte.
Unten waren ein Jüngelchen und ein Dirnchen Hand in Hand daher getrippelt. Das Bübchen hatte das Schwesterchen zu der Gosse geführt, wo blankes Eis glitzerte, das die großen Buben durch Schleifen scharf gemacht hatten. Augenblicklich war die Stelle leer, die Buben tollten abseits. Der Kleine hatte das Mädelchen losgelassen, setzte sich in Positur wie ein Held und bedeutete durch allerlei Gesten, daß er sich aufs Eis wagen wolle. Ängstlich haschte das Dirnchen mit seinen dicken roten Händchen nach seiner Jacke. Er riß sich los, nahm einen Anlauf mit den fetten kleinen Beinchen und heidi – hast du nicht gesehen – fort ging's, aber nicht auf den Beinchen, sondern auf dem Teil, der sonst für den Schwerpunkt des menschlichen Körpers gilt. Die komisch verblüffte, dann die entsetzt verzogene Miene des kleinen Bengels zu sehen, war ein Schauspiel.
Liesel flog durchs Zimmer und war schon an der Tür und die Treppe hinunter, denn das gellende, zweistimmige Hilfegeschrei, das nun von der Straße her ertönte, hatte sie vorausgeahnt.
Die Mutter sah sie unten den kleinen Mann auf die Beine stellen und mit flinker Hand vom Schnee befreien, der sich ihm an die Höschen gehängt hatte. Dann flog sie ins Haus zurück und erschien gleich danach wieder mit einem großen, rotbackigen Apfel in jeder Hand. Die schob sie dem Pärchen in die kleinen Hände, und das trippelte danach getröstet von dannen.
Liesel erschien noch lachend bei der Mutter.
»Der kleine Michel war zu drollig,« berichtete sie. »Mich tann noch besser sleife als die Droße,« hat er gesagt, »mich sleift im Sitze, delle Lense? Und das Lenchen hat bewundernd dazu genickt. Zu komisch? Willst du weiter hören, was Gerta geschrieben hat? ja?«
Und ohne Stocken las sie den Brief zu Ende.
* * *
An Weihnachten war's dann ganz anders gekommen, als die Mutter und Liesel sich gedacht hatten.
Sie hatten Erich erwartet. Erich war auch gekommen, aber er war krank. Eine böse Erkältung auf der Reise hatte ihm ein Fieber zugezogen, und der Arzt sprach ihn unbedingt ins Bett.
Just am Heiligabend fieberte er stark. Da war an die geplante Bescherung nicht zu denken.
Der Vikar hatte teilnehmen sollen, und mußte nun abbestellt werden. Ja, Erich hatte auch in den folgenden Tagen, als es ihm wieder besser ging, so viele Bedürfnisse und hielt die Mutter und Liesel so in Atem, daß an ein Wiederaufnehmen der gemütlichen Leseabende vorerst nicht zu denken war.
So war die sonst so fröhliche Festzeit etwas sang- und klanglos dahingegangen. Aber Liesel hielt sich frisch und tapfer für alle drei.
Wenn die Mutter seufzte, umschlang sie sie fest und sah ihr mit leuchtendem Blick tief in die verhärmten Augen.
»Erich geht's ja besser, eigentlich ist er gesund, Mütterchen!«
»Wohl, aber der Arzt, der Apotheker?«
»Geht alles,« tröstete Liesel. »Da wird eben einmal ein paar Wochen mit Dampf geschafft. Sollst schon sehen.«
Dem war nicht zu widerstehen. Die Mutter küßte das liebe Gesicht.
Erich ging's entschieden besser, nur war er sehr krittelig. Das sei ein gutes Zeichen, sagte die Mutter, was Liesel nicht so recht einsah.
Heute war nun Silvester.
»Geh du zur Abendkirche, Kind,« sagte die Mutter, »ich gehe dann morgen früh.«
»Könnten wir nicht beide?« schlug Liesel vor. »Erich –«
Aber Erich gab aus dem Nebenzimmer, wohin er gebettet war – er wurde nur noch der Vorsicht halber im Bett gehalten –, Töne so entschiedenen Mißfallens von sich, daß die Mutter der Liesel stumm zuwinkte.
So ging Liesel allein.
Es war ein wundervoller Abend. Der weiße, leuchtende Schnee knisterte unter den Füßen, blitzte und funkelte im Sternenschein. Und erst die Sterne droben! Die strahlende Pracht war ja gar nicht zu beschreiben. – Aus jedem Fensterlein zog sich ein Lichtstreifen über die weiße Straße, und dunkle, vermummte Gestalten strebten von allen Seiten dem Kirchlein zu.
Dessen Tür war einladend geöffnet: tretet ein, ihr Mühseligen und Beladenen, ihr Frohen und Glücklichen, ihr Reichen und Armen, ihr Alten und Jungen!
Und über dem allem klangen die Glocken, still, ernst, festlich: Kommt, kommt!
Liesel schritt dahin, ihr war so gehoben, so feierlich und weihevoll zu Sinn.
»Und so was mag Gerta versäumen!« schoß es ihr durch den Kopf.
Dann trat sie in das Kirchlein und alles Irdische fiel von ihr ab.
Vom Altar funkelte der Lichterbaum. Er stammte vom Weihnachtsgottesdienst her und wurde an Silvester stets noch einmal angezündet.
Liesel hob die strahlenden Augen zu den strahlenden Kerzen.
Und nun brauste es von der Orgel her, die Gemeinde fiel ein und Liesels glockenreiner Sopran mischte sich dazwischen.
Dann Stille.
Und dann kam die Stimme, die Liesel so wohl kannte von den Abenden her, wo sie die Schönheiten der Dichterwerke so zur Geltung zu bringen wußte, die tiefe, klangvolle Stimme – der Vikar predigte.
Er predigte gut.
Vom nun abgelaufenen Jahr sprach er, und wie es dem einen mit vollen Händen gegeben, dem anderen dagegen oft Unersetzliches genommen hatte. Vom Hoffen und Wünschen, vom Sehnen des Menschenherzens redete er. Vom Stillehalten und Zuwarten der einen, von der Jagd nach dem Glücke der anderen.
»Und was ist Glück, meine Lieben? Gibt es dafür eine bestimmte Form? Glück ist dem einen Weltlust, dem anderen Stille und Einsamkeit. Dem einen Ruhm und Ehre, dem anderen Demut und Bescheidenheit. Der Reiche in seinem Palast, der sogenannte ›Glückliche‹, er neidet an seiner Prunktafel wie oft, wie oft dem Armen die Kartoffel, die der guten Appetits in ungetrübter Genußfähigkeit verzehrt. Der Tatenlose, der nur zu genießen brauchte, er sehnt sich nach Pflichten. Wer in der Sonne steht, seufzt nach dem Schatten, der, den der Schatten umfängt, jammert nach Sonnenschein. Dem Wein vorgesetzt ist, der möchte just Wasser haben, und wer Wasser trinken soll, dem dünkt der Wein das Höchste der erstrebenswerten Güter. Was also ist Glück? Nicht von außen kommt uns das Glück, das Glück liegt in uns, in den Eigenschaften unseres Herzens, in der Wärme unseres Gefühls, in der Anpaßfähigkeit unseres Willens und Wollens an die äußeren Verhältnisse, in unserer Zufriedenheit, unserer Bescheidenheit, unserer Dankbarkeit, vor allem in unserer Dankbarkeit. Und der Weg zum Glück? Nur einen Weg gibt es, der lebendige, innige Gottesglaube, und die strenge, ernste Pflichterfüllung. Wo die sich die Hand reichen –«
Weiter hörte Liesel nicht. Sie hielt das Köpfchen gesenkt und sann und sann.
Ob sie wohl diesen Weg, den Weg zum Glück wandelte?
An ihren Gott glaubte sie, und ihre Pflicht – ja freilich, die konnte immer noch viel besser getan werden, und das wollte sie, gewiß und wahrhaftig, das wollte sie.
Und dann? dann sollte ja das Glück kommen – das Glück! Ein Leuchten lag in Liesels Braunaugen.
»Amen!« klang's von der Kanzel her.
Und wieder brauste die Orgel, und wieder setzte die Gemeinde schallend ein.
Diesmal schwebte Liesels Sopran mit solch reinem Klang darüber, daß ein altes Weibchen, dessen meckerndes, blechernes Stimmchen daneben zitterte, ganz erstaunt aufsah.
»Akkerat wie die Engelcher,« sagte es vor sich hin.
Dann drängte alles dem Ausgang zu.
Liesel hielt sich etwas zurück. Ihr war noch so weihevoll zu Sinn, daß sie unwillkürlich zögerte, den geheiligten Raum zu verlassen.
Draußen hatte sich das Gedränge schon verlaufen.
Eine hohe, einsame Gestalt schritt über den Kirchhof.
Mit zwei Schritten war Liesel hinterher.
»Ich wollte Ihnen danken, Herr Vikar,« sagte sie, und ein heiliger Ernst lag in der jungen Stimme, »die Predigt war wundervoll.«
Er hielt die kleine warme Hand, die sie ihm gereicht hatte, fest, fest. Er schaute tief in die klaren Augen, in das ernste, junge Gesicht, das sich im Sternenschein ihm zuwandte. Tiefe Rührung prägte sich in seinen Zügen aus, sein Mund, der eben noch so beredt gewesen war, fand keine Worte.
Eine Weile standen sie so, Hand in Hand, weltverloren, traumentrückt.
Plötzlich beugte er sich zu ihr nieder.
»Wollen wir den Weg zum Glück nicht gemeinsam suchen?«
Wie's dann so gekommen war, das wußte später keines, Liesel nicht, und der Vikar auch nicht.
Aber er hatte den Arm fest um Liesel geschlungen, und Liesel hatte sich dicht, dicht an ihn geschmiegt.
Ob er sie um Erlaubnis gefragt hatte oder was sie sonst getan hatten, wie gesagt, keiner wußte es. Tatsache war, daß sie nun so fest umschlungen standen, als solle das von jetzt an immer so bleiben, und als wäre um sie her nicht Schnee und Eis bei sieben Grad Kälte, sondern als wehten die lindesten Maienlüfte.
Nur eins fühlte und wußte Liesel: sie hatte das Glück gefunden – das mußte das Glück sein, weshalb wäre ihr sonst so wohlig, so unbeschreiblich wohl und geborgen zu Mut gewesen?
Daheim saß die Mutter.
Es hatte doch schon so lange aus der Kirche geläutet. Wo nur die Liesel steckte? Gewiß trieb sie wieder irgendwo Allotria mit Schneeballen und Schleifen. Wann würde sie endlich einmal –
Da tönte Liesels klingende Stimme von der Tür her, und Liesel steckte das leuchtende, blühende Gesicht zum Türspalt herein.
»Liesel, wo steckst du denn? Erich möchte Schach spielen, und mein alter Kopf –«
Wie grämlich und gereizt die Stimme klang, und wie blaß die Mutter war.
Da lag Liesel auch schon an ihrer Brust und umschlang sie mit starken, jungen Armen.
»Mütterchen, das Glück kommt,« jauchzte sie.
Die Mutter wollte sich losmachen, wollte schelten, da fiel ihr Blick auf die Gestalt, die hinter dem Töchterchen auf die Schwelle trat, fiel auf das strahlende Gesicht des Vikars, und der Blick sagte ihr alles.
Ja, da war das Glück!
Sie sank auf den nächsten Stuhl, die Füße wollten sie nicht tragen. Aber in ihren verhärmten Augen war ein Leuchten aufgegangen, über die vergrämten Züge flog ein warmer Schein. Es war, als ob eine linde Hand alle die bösen Runen weggewischt habe, die das Schicksal und der eigene Kleinmut dort eingezeichnet hatten.
»Wollen Sie mir Ihr Kind anvertrauen, Frau Pfarrer? Grade heute habe ich meine Bestätigung vom Konsistorium erhalten. Ich kann Ihnen also die alte Heimat bieten.«
Wie männlich und fest, wie von Glück durchzittert die Stimme klang.
Wortlos legte die Mutter ihre Hand in die ihr gebotene Rechte des Vikars.
Und nun ging's an ein Plänemachen. Liesel hatte im Nu die altvertrauten, lieben Räumlichkeiten eingeteilt.
Erich, der in die Bettdecke gewickelt in der Sofaecke saß, – bei der großen Neuigkeit hätte ihn nichts im Bett drin halten können – Erich machte alsbald sehr anspruchsvolle Wünsche geltend, die Liesel fröhlich gewährte.
Wie Liesels Gesicht leuchtete und strahlte! Am liebsten hätte sie der neugebackene Bräutigam gar nicht mehr von der Seite gelassen.
Und doch galt's nun Abschied nehmen.
»Ich kann nicht bleiben, Lieb, ich muß gehen. Die ganze Predigt für morgen ist noch zu memorieren. Wie ich das fertig kriegen soll, weiß ich ohnehin nicht. Mit den Gedanken im Kopf!«
Ein leuchtender Blick traf Liesel.
»Ach was,« wollte die erst schmollen, hob ihm dann aber das strahlende Gesicht zu.
»Strenge, ernste Pflichterfüllung – der Weg zum Glück!«
Wie ein Hauch nur klang es. Er hatte es aber doch gehört.
Als ihn Liesel danach wie sonst zur Haustür geleitete, dauerte es ziemlich lange, ehe sie zurückkam.
Erich war wieder zu Bett geschickt worden. Die Mutter saß in der Sofaecke und sah mit gefalteten Händen in die Flamme der Lampe.
Ihr war, als hörte sie in weiter, weiter Ferne eine Stimme: »Martha, was sorgtest du?«
Da nickte sie leise, leise vor sich hin.
Jetzt ging die Tür auf, und Liesel flog mit ausgebreiteten Armen auf die Mutter zu, stürzte vor ihr in die Kniee, umfaßte sie und barg das glühende Gesicht in ihrem Schoße.
Die Mutter strich lind und leise über den Scheitel des Kindes. Reden konnte sie nicht.
Da hob Liesel das glühende, leuchtende Gesicht und jauchzte – oder schluchzte sie?
»Und zu denken, Mutterherz, daß ich das Glück Gott weiß wo in den Wolken suchte und daß es alle die Zeit still und geduldig an meiner Seite schritt: ei so faß mich doch, dumme, dumme Liesel! Nun hab' ich's gefaßt, Mutter, Mütterchen, und nun laß ich's nicht mehr los und – o wie bin ich glücklich!«
Jetzt war's entschieden ein Jauchzen, das von Liesels Lippen kam.
Stürmisch umfaßte sie die Mutter. »Dem Herrn sei Dank!« flüsterte die.
»Mein Schach!« klang's so recht grillig-grämlich von drinnen.
Die Mutter wollte auffahren. »Laß ihn, Mütterherz, das ist auch eine Pflichterfüllung, ein ganz winzig Schrittchen auf dem Weg zum Glück,« sagte Liesel lustig. »Hier Junge, da bin ich, nun los!«
Und die beiden Geschwister saßen zusammen da drinnen und spielten und schwatzten. »Schach!« rief Erich herausfordernd.
»O!« machte Liesel bedenklich. Und: »Matt!« triumphierte Erich.
»Kein Wunder, heute!« sagte Liesel.
»Wieso heute?« Erich schien gekränkt.
»Dummer Junge!« lachte Liesel. Wie sie lachte!
Die Mutter in ihrer Sofaecke draußen mußte mitlachen. Wahrhaftig die Mutter lachte, lachte so recht vergnügt und herzlich vor sich hin. Die Mutter hatte lachen gelernt.
Und das hatte das Glück sie gelehrt – Liesels Glück!