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Sechstes Kapitel: Nun hast du mir den ersten Schmerz getan ...

Du mußt nichts übertreiben, Fee! Bedenke, das Mädchen ist ohne Vermögen und –«

»Was mein ist, gehört ihr, Tante Lisa!«

»Wenn auch, Fee – je bedürfnisloser der Mensch ist, je anspruchloser er dasteht, desto glücklicher ist er auch.«

»Ich habe das Kind so lieb? ich –«

»Im Überschütten mit Gaben liegt die Liebe nicht, Fee, im weisen Maßhalten viel eher.«

»Du hast ja recht, Tante; ich will vernünftig sein.«

»Überdies wird Professor Lutz noch nicht so gestellt sein, daß er ein Haus machen kann, Fee. Wir tun ihm einen Gefallen, wenn wir alles zu Beschaffende daraufhin auswählen.«

»Du hast dreimal recht, nur – – – es ist so wunderschön, zu überschütten!«

»Ja sagen ist immer leichter als verneinen. Man darf nicht nur an sich denken, auch beim Geben nicht.«

»Ich füge mich, Tante Lisa; ich weiß und fühle, du hast recht. Wie wird das Kind uns fehlen! Dir auch – sag ja!« Fees Augen flehten.

In Tante Lisas Augen stand ein Lachen. »Überrumpeln lasse ich mich nicht gern. Aber ich sage freiwillig: sie ist auch mir ein liebes Kind geworden, dein Wildling und Findling von einst.«

»Ich danke dir, Tante Lisa! Du machst mich froh und stolz.«

»Noch vier Wochen zur Hochzeit, Fee; die wollen genutzt sein. Laß die Tischzeugproben sehen!«

»Der böse Lutz! Vom Frühjahr will er nichts hören. November hat er als äußerste Frist gestellt und heute – laß mal sehen – wir haben schon den achtzehnten Oktober! Was hältst du von diesem Damast?«

Schier bis über den Kopf in Weißzeugproben eingegraben fand Frau Friedel danach Schwester und Tochter.

»Schiebt mal den Kram beiseite, bitte; man sieht euch nie mehr anders, und ihr wißt, das hasse ich. Puh!«

Es war eine leichte Gereiztheit in Frau Friedels Ton; auch Ungeduld lag darin und – ja, etwas wie Angst. Tante Lisa blickte auf; sie kannte jeden Klang in der Schwester Stimme denn sie hörte mit dem Herzen.

»Fehlt dir was, Friedelchen?« forschte sie.

»Mir? Behüte!« Frau Friedel lachte, aber der Ton war nicht hell wie gewöhnlich. »Denkt mal, der Klaus ist schon seit dem Morgen fort, einem Rehbock nach, den ihm der Pfänder gestern angesagt hat. Die Männer! Trotz seiner Gichtbeine, die wieder mal bedenklich spuken! Auf die Jagd kann man immer, natürlich! Da erkältet man sich nicht, behüte, und wenn's Lawinen schneit und einem die Glieder einfrieren und die Nase dazu! Wieviel vernünftiger sind wir Frauen dagegen! Du brauchst gar nicht zu husten, Lisa; wir sind vernünftiger! Der Klaus – – ach, Kinder, wie kann man nur so albern sein!«

Frau Friedel wischte hastig an etwas, das ihr über die Backe lief, und sah verlegen und schuldbewußt drein. Frau Lisa hatte sie im Arm.

»Was ist, Friedelchen? So kenne ich dich ja gar nicht.«

»Meinst, ich mich selber, Lisa?« Sie wischte noch eifriger und sah noch verlegener drein. »Aber das macht die Spinne heute morgen. Eine bombendicke, Lisa! Ich habe meiner Lebtag noch keine solche gesehen! Lief mir gerade über den Weg, als ich den Klaus glücklich in seinem Wagen verstaut hatte. Wie ein Skorpion, Lisa.«

»Abergläubisch, Friedelchen?«

»Für Spinnen schwärme ich nicht!«

»Wenn doch der Vater im Wagen fuhr, Klein-Muttchen, brauchst du dich der Gichtbeine wegen nicht zu ängstigen,« tröstete Fee.

»Das ist's ja! Was glaubt ihr – eine Stunde danach hat er den Wagen heimgeschickt! Einen schönen Gruß, und die Frau Baronin solle sich selber hineinsetzen und Böcke schießen! Der Johann hat über das ganze Gesicht gegrinst, wie er es bestellte. ›Der gnädig Herr Baron waren lange nicht so aufgekratzt, gnädig Frauche,‹ sagte er noch, ›un wie e Jingling is er durch die Schneis sein Weg gange. Ich hab em alsfort nachsehe misse.‹ Trotzdem habe ich eine Unruhe in mir, die ich nicht beschreiben kann. Ist es nicht lächerlich?« Sie wollte lachen und weinte statt dessen laut auf. Da geschah ein großes Poltern an der Tür, als ob jemand durchaus mit dem Kopf, und zwar mit einem bedenklich harten, zuerst herein wolle. Füße scharrten mit Wucht auf der Matte, und das Türschloß trachte unter dem Aufhieb einer derben Hand.

Fee lachte.

»Das ist dein besonderer Erziehungsgegenstand, Tante Lisa,« rief sie heiter. »Ich erkenne es am zarten Auftreten.«

»Die Grete, das Unglückswurm,« seufzte Tante Lisa.

Nach erneutem Ansturm flog die Tür mit Krachen hinten wider. Sie mußte sich für die Einlaßsuchende unerwartet schnell geöffnet haben, denn diese, eine dralle Bauerndirne, stolperte ein paar Schritte vorwärts mit Gepolter, wie es der tut, der einen Halt verliert.

»Uijes, Uijes,« keuchte sie, und die vorstehenden runden Augen quollen fast aus dem Kopfe, »schier gar wär' ich gefalle. No, awer so was! Ich hab' nur sage wolle, daß der Johann, die Gladies, des gnädig Freilein will ich sage – der Herr Baron – – «

»Um Himmels willen, was ist mit meinem Manne?«

Frau Friedel hatte Gretes Arm gepackt und starrte' sie mit glühenden Augen an. Das Mädchen erschrak.

»No, hab' ich mich awer verschrocke! Nein so was! Wann ich gewißt hätt', daß die gnädig Frau Baronin – die sellt's ja nit wisse, secht der Johann un – – «

Tante Lisa faßte nun mit festem Griff nach des Mädchens Handgelenk.

»Bist du wieder ganz verdreht, Grete?« fragte sie eindringlich. »Besinne dich und sage deutlich, was du zu sagen hast!«

Grete schüttelte den Kopf und hieb sich auf den Mund, daß es klatschte. Sie wies nach Frau Friedel, schüttelte noch einmal den Kopf und machte die unverständlichsten Zeichen.

Frau Friedel war sehr blaß geworden und herrschte Grete an: »Wirst du nun reden? Was hast du vom Herrn Baron gefaselt?«

»Der – der – no ja, ich hab's ja nit sage solle; awer die Gladies – des gnädig Freilein, will ich sage – – «

»Wirst du reden?«

War das Frau Friedels Stimme? Unbeschreibliche Qual lag darin; diesen Ton hatten die Ihren noch nie gehört. Fee saß zitternd in ihrem Stuhl. Tante Lisa hatte die Arme um Frau Friedel gelegt; auch sie war blaß bis in die Lippen geworden.

»Um Himmele willen, was ist mit meinem Mann?«

»Sprich!«
herrschte sie
ihrerseits die
Grete an.

Die warf
den Kopf zurück.
Trotz,
Furcht und
der Stolz, den
viele haben,
Bringer einer
Kunde, womöglich
einer
schlimmen, zu

sein, lagen in ihrem Gesicht. Hastig stieß sie vor: »Ei no, die Kutsch soll komme, läßt die gnädig Gladies sage; der Michel hat se im Wald gesehe. Die Zung hat em zum Hals eraus gehenkt, so is er geloffe – un der Herr Baron –«

»Klaus? Was ist mit Klaus?« Der Schmerzensschrei nahm denen, die ihn hörten, fast den Atem.

Tante Lisa suchte zu beschwichtigen: »Er wird eben nicht mehr haben gehen können – er hat sich wohl doch zuviel zugemutet – Gladys hat ihn im Wald getroffen und hat nach dem Wagen geschickt und – –«

»So is es awer nit! Der Michel – – «

Da geschah das Unerwartete, daß die Grete sich unaufhaltsam zur Tür gedrängt fühlte und zwar mit solcher Entschiedenheit und Eile, daß sie sich nicht zur Wehr hätte setzen können, und wenn sie gewollt hätte. Wer hätte der gnädigen Tant' – so hieß Frau Lisa allgemein – wer hätte ihr diese Kraft zugetraut! Die Grete hatte den Mund wohl offen, aber sie war verstummt. Ganz dicht bei der Tür waren sie schon.

Da kam etwas noch Unerwarteteres; Frau Friedel trat zwischen die beiden und sagte sehr ruhig: »Laß das Mädchen reden, Lisa! Ich weiß, daß irgend etwas Schreckliches mit meinem Klaus geschehen sein muß; ich habe es den ganzen Tag gefühlt. Sprich, Mädchen!«

Jetzt liefen der Grete dicke Tränen über das Gesicht. Das »gnädig Frauche von driwe« sah auch gar zu schauerlich aus: weiß wie Kalk und Augen wie glühende Kohlen. Wenn sie geweint hätte, Grete hätte das verstanden; aber so – sie heulte laut auf.

»Sprich, Mädchen!«

Nun lag ein Befehl in der Stimme, dem Grete zu gehorchen gewohnt war; sie stotterte: »Der Michel secht – der Herr Baron liggt do im Moos un – – «

»Ist der Wagen angespannt?«

»Jawohl, gnädig Frauche – will sage Frau Baronin – allweil rumpelt die Kutsch vom Hof; der Johann – – «

»Halt! Ich fahre mit, Johann!«

Frau Friedel hatte das Fenster aufgerissen. Ihre Stimme war rauh, aber fest.

»Friedel, um Himmels willen – – «

»Klein-Muttchen, bleib hier! Gladys wird das Rechte finden und –«

»Klaus braucht mich; ich weiß es!«

Das sagte Frau Friedel fast mit ihrer natürlichen Stimme, aber sie sah über die anderen weg, als ob die nicht da wären. Ihre Gedanken waren schon weit voraus.

Fee schluchzte laut auf; sie griff mit der Hand nach dem Herzen und wurde sehr blaß. Tante Lisa eilte zu ihr, sie zu stützen.

Da klappte die Tür – Frau Friedel war nicht mehr da. Die beiden zurückbleibenden Frauen umschlangen sich weinend. Was war da draußen geschehen?

Drunten stieg Frau Friedel schon in die alte Kutsche. Johann kratzte sich am Kopf und wollte sie zurückhalten.

»Des geht awer nit an, gnädig Frauche; ich hab' Order kriggt, allein zu komme. Der Michel seggt, die Gladies – – «

»Zufahren, Johann!«

Solange er im Dienst war – und das war eine geraume Weile, schon als das »gnädig Frauche« noch »Jungchen« war – so lange hatte er solchen Ton nicht gehört. Drum schüttelte er den Kopf und kratzte ihn erneut. Aber der Ton hatte alles in ihm geweckt, was »untergeben« war; so kletterte er wortlos auf den Bock, ein bißchen gekränkt freilich, aber gehorsam.

Die Gäule zogen an. Er drehte sich auf seinem Bock, sah die versteinerte Schmerzensmiene der Frau, die er seit den lachenden Mädchentagen kannte, und alle Kränkung fiel von seiner treuen Seele ab. Nur herzliches Mitleid blieb.

Vor seinem inneren Kutscherauge zog vorüber, wie oft er die da drinnen in Tagen, die weit dahinten lagen, gefahren hatte, erst, da sie ein Kind war, so lustig und voller Schelmenstreiche, daß man lachen mußte, wenn man das kleine Ding nur ansah, und ihm gut sein mußte, auch wenn es einem selber die Streiche spielte. Gestalt und Röcke hatten sich dann gestreckt, aber der Übermut und die lustigen Streiche waren dieselben geblieben. Junge, blühende Genossinnen hatten die Kutsche manch liebes Mal gefüllt zusamt dem Kind vom Hause; es war ein Kichern gewesen, das dem Alten jetzt noch in den Ohren klang, wenn er der Zeit gedachte. Dann hatte die Kutsche Mann und Kinder gefaßt und immer wieder war dieselbe, die mit den lustigen sprühenden Augen, der Mittelpunkt gewesen. Enkel hatten sich dann um sie gedrängt in der alten Kutsche; nichts als Lachen, Lust und Lieben hatte die gesehen, und jetzt – – jetzt fuhr er die da drinnen wohl aus dem lachenden Leben in den tiefsten Ernst, den ersten großen Schmerz hinein. Denn was der Michel gesagt hatte – – na, Gott helfe ihm!

Der alte Johann wischte sich die Augen mit der Faust, die die Peitsche hielt. Mißtrauisch sah er sich um, ob es niemand merke. Ach nein, die da drinnen war ganz wo anders.

Woher nur die lachenden Augen so in der Eile diesen Blick genommen hatten? Diesen Blick des tiefsten Seelenschmerzes, der allergrößten Herzensnot? Daß sie so sterbenstraurig und todernst zu blicken verstanden!

Wieder hob der Alte die Peitschenfaust zu den Augen. Daß auch niemand ungerupft durchs Leben gehen konnte, nicht einmal solch ein Sonnenkind wie des alten Herrn »Jungchen«! Hatte es sich dafür alle die Jahre – wie viele waren es denn nur? An die sechzig, wahrhaftig, an die sechzig! – hatte es sich dafür so lange durchs Leben gelacht, nur um diesen Tag zu erleben?

Diese Fahrt! Was würde man finden?

Hatte der Alte geschluchzt? Es klang so verdächtig. Aber nein, jetzt schnalzte er überlaut mit der Zunge, ließ die Peitsche knallend durch die Luft sausen und rief seinen Gäulen allerhand Schmeicheleien zu; er schüttelte die Zügel und tat sehr geschäftig. Das mit dem Schluchzen war wohl ein Irrtum.

Fast lautlos trabten die Gäule über den weichen Waldboden, und jegliches Räderrollen erstarb im Moose ...

*

Der Herr von Rödershof war tot; ein Jagdunglück hatte ihm das Leben gekostet. So hatte er noch selbst zu Gladys gesagt, die ihn in seiner Todesnot auffand. Er mußte bei der Verfolgung des Wildes gestolpert sein und hatte wohl die Flinte nicht gesichert gehabt; so war ihm die Kugel beim Fall in die eigene Brust gegangen.

Die Ärzte sagten, der Verunglückte habe nach der Verletzung nur noch kurze Zeit gelebt. Gladys mußte ihn also bald gefunden haben, nachdem das Grausige geschehen war. Dies war ein Trost für alle, die ihn lieb hatten.

Jetzt war er in Rödershof in dem großen ebenerdigen Eßsaal aufgebahrt, der den Blick über den weiten Wiesengrund freiließ. In braungoldener Pracht umstand diesen der Oktoberwald, den der Verstorbene vor allem geliebt hatte. Die Flagge auf dem Herrenhaus hing auf halbmast; heute sollte des Hauses Gebieter an den stillen Ruheort getragen werden, wo das Endziel jeglichen Lebens ist.

In ihrem Zimmer saß Frau Friedel am Schreibtisch, der sie so oft in Zahlennöten gesehen hatte. In welch herberen Nöten sah er sie nun!

Sie war gefaßt und still. Seit sie vor drei Tagen in der alten lieben Familienkutsche ihren Toten heimgebracht hatte, war kaum ein lautes Wort über ihre Lippen gekommen. Ängstlich wich sie jedem heftigen Schmerzensausbruch aus; ja, als Kinder und Enkel kamen und die Jungen zumeist nicht immer die Fassung wahren konnten, hatte sie stets nur das stehende, mahnende Wehren: »Still – oh, still, er schläft!«

Mit einer ernsten und doch milden Würde ging sie durch des Tages Pflichten; jedermann fand ihr Ohr für jede Frage offen. Die Söhne hatten ihr die Sorge für das Begräbnis und alles damit Zusammenhängende abnehmen wollen; sie wehrte sanft: »Glaubt ihr, daß er sich dies hätte nehmen lassen, wenn es für mich nötig gewesen wäre?« So ließen die Kinder die Mutter gewähren, gingen ihr nur an die Hand.

Und sie, der Blumenschmuck bisher etwas war, das sie wohl gern sah, um das sie sich aber nicht weiter mühte, trug unermüdlich neue Blumen herzu, den Sarg ihres Toten in den letzten Erdenschmuck einzuhüllen.

Alle waren sie herbeigeeilt, Kinder, Schwiegerkinder und Enkel. Keiner fehlte. Und nur Liebe umfing sie, die am tiefsten gebeugt war durch den Verlust. Wie ein weiches warmes Gewand umfing sie diese große Liebe derer, die ihr geblieben waren, und sie hüllte sich darein mit Bewußtsein; sie spürte den Trost und das linde Geborgensein, die davon ausgingen.

Aber am liebsten war sie in diesen Tagen doch allein. Allein mit dem Gedenken an ihren Toten. Ihr war, als ob sie ihm entzöge, wenn sie den anderen gab. Die Ihren fühlten und verstanden ihr Empfinden und drängten sie nicht ...

Heute also sollte der Herr von Rödershof hinausgetragen werden aus dem Hause, das sein Glück – nichts als sein Glück – gesehen hatte.

Schon war dies Haus erfüllt von jenem geheimnisvollen gedämpften Tun, das einem Begräbnis voranzugehen pflegt. Im Hof sammelten sich die Dorfleute; immer mehr erschienen, die an diesem letzten traurigen Gang teilnehmen wollten. Der Verstorbene hatte viele Freunde gehabt. Ein Wagen nach dem anderen rollte auf den Hof, brachte Gutsnachbarn und Einwohner des benachbarten Loberg.

Und derweil dies gedämpfte Kommen und Gehen, dies Raunen und Flüstern das Haus füllte, stand neben dem Sarg, der unter Blumen fast verschwand, neben den brennenden Kandelabern zu Häupten eine stille, reglose, schwarze Gestalt. Sie hielt die Hände gefaltet. Die Augen brannten; sie weinte aber nicht. Noch war der Sargdeckel nicht geschlossen. Frau Friedel hatte sich den Befehl, dies zu tun, noch nicht abringen können. So stand sie und sah still in das stille Gesicht, das ihr im Leben alles gewesen war. Sie nahm Abschied von ihrem Glück.

Ein paarmal hatte man einen Türspalt geöffnet. Unwillig blickte sie auf, winkte ungeduldig ab. Hastig schloß sich der Spalt.

Mit einem letzten Blick auf den Toten ging sie dann aufrecht und stark zur Tür. Als sie nun mitten unter die Ihren trat, streckte sie ihnen beide Hände entgegen: »Habt Geduld mit meinem Schmerz, Kinder! Ich komme schon bald zu euch und ins Leben zurück. Mein Klaus erwartet dies von mir, das weiß ich.«

Ergriffen standen alle. In ihrer stillen Kraft und Würde war sie ihnen noch nie so der Liebe wert erschienen. Sie wuchs über sich hinaus in ihrem Schmerz. Und das ist die Feuerprobe für jeglichen Charakter, einen großen Schmerz würdig, ohne Haltlosigkeit, ohne Bitterkeit tragen zu können. Wen das Leben so geführt hat, daß er das tun kann, der hat nicht umsonst gelebt. Frau Friede! konnte es.

Drinnen wurde der Sarg geschlossen. Der Geistliche kam und hatte gute, warme Worte für die Trauernden. Dann standen sie alle um den Toten, den der Geistliche weihen wollte zur letzten Erdenfahrt.

Es war so weit. Die Träger faßten zu und trugen den Sarg zwischen sich, hinaus durch die Tür, unter der der Verstorbene so oft frohen Blicks gestanden und hinausgeschaut hatte über den weiten Wiesengrund. Noch zuletzt, vor seiner Todesfahrt, hatte er zu Frau Friedel gesagt, die neben ihm am Wagen stand: »Daß unser Haus so an den Wiesen steht, ist doch besonders schön. Ich weiß nicht, weshalb ich diesen grünen Grund so liebe! Weißt du's vielleicht?«

»Vermutlich, weil du da die erste Bekanntschaft mit deiner Madam Gicht gemacht hast,« hatte die Befragte ärgerlich lachend geantwortet, »und jetzt willst du sie dir zur Abwechslung aus dem Walde holen. Klaus, daß die Männer doch so unvernünftig sind wie kleine Kinder!«

»Und es bleiben bis zum Tod, Friedelchen!« Damit war er lachend abgefahren, hatte sich noch einmal gewendet, hatte ihr zugenickt und mit dem Arm nach dem grünen Grund gewiesen: »Der bleibt doch wunderschön, unser Wiesengrund!«

Sie hatte nur die Achseln gezuckt und dem davonrollenden Wagen nachgesehen. Dann war sie rasch ins Haus gegangen, obgleich sie viel lieber noch länger gestanden und geschaut hätte. Wenn er sich noch einmal wandte, was brauchte er zu sehen, daß sie ihm nachblickte, der Eigensinnige, der Böse, der sie ängstigte mit dieser Fahrt!

Daran dachte Frau Friedel, als sie am Arm ihres ältesten Sohnes nun als erste hinter dem Sarg herschritt. Wie träumend sah sie über den grüngoldenen Wiesengrund und auf den schwarz verhangenen Wagen, der wie ein düsterer Schatten durch diese Helle schwankte. An ihres Geistes Auge zogen alle die vielen Sonnenjahre vorüber, die kein Schatten hatte trüben können. Dort von dem schwarzen Totenwagen breitete sich der erste aus über ihren Pfad, und sie würde nun immer in diesem Schatten gehen – immer.

Heiß stieg es ihr in den Augen auf – die ersten Tränen wollten stießen seit jener Schreckenskunde dort im Walde. Sie hob den Blick, sie sah nach dem Sarge, und es ging ihr durch den Sinn: »Nun hast du mir den ersten Schmerz getan ... «

*

Acht Tage hatten sie nun schon den Herrn von Rödershof hinausgetragen zu der Stätte, von wo er nie wiederkehren konnte. Der Kreis der Ihren, die gekommen waren, mit Frau Friede! zu trauern, hatte sich bereits gelichtet. Die Elternpaare Western hatten zu ihrer Pflicht zurückgemußt, desgleichen die Enkel groß und klein. Nur die blonde Irmingard war geblieben, der Großmutter beizustehen in Haus und Hof. Das Leben mußte seinen Gang weiter gehen, und das ist gut so. Keine größere Hilfe gibt es zum Schmerzüberwinden als drängende Pflicht.

In dem großen Eßsaal von Rödershof war jegliche Spur des Vorganges vor acht Tagen verwischt. Leben ist Wechsel. Vor Fenster und Türen waren die Vorhänge niedergelassen. Im großen Kachelofen knackten die Holzscheite. Unter der Hängelampe um den großen runden Tisch saßen alle, die noch bei Frau Friedel geblieben waren. Auch Tante Lisa und Fee fehlten nicht.

Sie hatten sich nach dem Abendessen enger zusammengerückt, die Damen mit ihrer Arbeit, die Herren rauchend. Professor Lutz saß neben Gladys, Hauptmann Fritzel plauderte im Hintergrund halblaut mit Anne. Die war die einzige Untätige im Raum, wenn man ihr die Fürsorge für des Hauptmannes Fritzel Unterhaltung nicht als besondere Tätigkeit anrechnen wollte.

Nein, noch eine saß da mit den Händen im Schoß und den Augen in Fernen. Das war Frau Friedel – Klein-Muttchen – Klein-Großchen. Die Ihren ließen sie gewähren. Es war kein erfreuliches Tun, die müden, schmerzschweren Augen aus der Ferne zurückzurufen, die ihnen Liebes vortäuschte, zurück in die leere Gegenwart. Ihr Blick war dann in allen diesen Tagen immer so anklagend gewesen, wenn auch die Lippen nur sanfte Worte fanden.

So staunten sie alle, als heute diese Lippen ganz von selber sprachen, und alle horchten unwillkürlich auf. Die Damen legten die Arbeit in den Schoß; die Herren vergaßen ihre Zigarren.

Frau Friedel sagte: »Ich danke euch allen, daß ihr so viel Geduld mit mir hattet in diesen Tagen. Ich habe mir nun alles zurechtgelegt, wie es jetzt werden soll ohne – – ohne ihn.«

»Friedel! Muttchen! Klein-Muttchen! Klein-Großchen! Nicht – nicht!« So wehrten sie alle.

Aber Frau Friedel fuhr sanft fort: »Laßt mich, Kinder! Ein Ausbrechen wird mir gut tun. Unsere Gladys hat mir gesagt, was mein Klaus wollte: daß ich euch gebe, was sein gewesen ist, all mein Sorgen, Lieben und Denken. Ich verstehe die Lehre, daß man sich an keinem Grab verschließen soll gegen die Mitwelt, sondern sich umsehen und fragen muß: wem kann ich nun ein Liebes tun? Ich weiß, das hat mein Klaus mir sagen, mich lehren wollen. Und seine Toten ehren, heißt in ihrem Sinne leben.«

Sie waren alle tief ergriffen. Tante Lisa hatte Frau Friedels Hände gefaßt.

Die wehrten wieder: »So laßt mich doch reden, Kinder! Ihr wißt, ich bin nie für Brimborien und Fisimatenten gewesen.«

Ein Schatten ihres einstigen Schelmenlachens huschte ihr um den Mund. Nun sahen sie alle ganz still, und Frau Friedel sprach weiter.

»Ich habe es mir so gedacht: Wenn der lange Mensch dort« – sie wies auf Lutz – »unsere Gladys fortgenommen hat, was er ja wohl tun wird, dann haben die zwei Verlassenen in Dresdorf vielleicht Raum für mich und – – «

»Friedel!! Klein-Muttchen!! Du wolltest zu uns kommen? Nach Dresdorf ziehen? Ein wundervoller Gedanke!« Tante Lisa und Fee fanden nicht Worte genug für ihre Freude.

»Ja, Kinder, was denkt ihr denn? Irgendwo wohnen muß ich doch, denn die zwei da« – dies galt dem Hauptmann Fritzel und seiner Braut, der jungen Änne – »werden auch nicht warten wollen, bis sie grau sind und – – «

»Vertreiben wollen wir dich nicht, Klein-Muttchen! Nein, sicherlich nicht!«

Hauptmann Fritzel und die junge Änne waren ganz erschrocken. Bei der jungen Änne flossen sogar die Tränen; sie lag schluchzend neben Frau Friedel auf den Knien und barg den Kopf in deren Schoß.

Weich strich Klein-Muttchen über des Schwiegertöchterleins blonden Scheitel. »Kind, das ist nun einmal so der Welt Lauf; die Alten geben den Jungen Raum, wenn deren Stunde gekommen ist.«

»Aber ich will dich in Ehren halten über alles, Klein-Muttchen, wenn du nur bei mir bleiben willst! Ich hätte keine frohe Stunde mehr, wenn ich wüßte, ich – wir hätten dich vertrieben.« Sie weinte laut, die junge Änne.

»Kind, nur stille! Ich gehe freiwillig, weil ich es so für das Rechte halte. Aber es macht dir Ehre, Kind, daß du die alte Frau halten willst und es nicht als dein selbstverständliches Recht annimmst, daß sie dir Platz macht. Wohl ist der Lauf der Welt so, aber es tut gut zu fühlen, daß die Jungen ein Verstehen und ein Wort des Dankes dafür haben. Man sagt, daß heute ein anderer Geist unter den Jungen umgehe, ein Geist der Überhebung und der Selbstgerechtigkeit, der Nichtachtung für die Gefühle derer, die sie überholen, eben weil sie jung und diese alt sind. Das wäre ein übler Geist, Kind, und ich kann mir kaum denken, daß es viele gibt, die ihn über sich Herr werden lassen. Denn auch sie werden alt werden, und jeder Kluge sollte so tun, wie er wünscht, daß ihm dereinst geschehe. Und die Jungen haben es so leicht, uns Alte froh zu machen! Ein freundliches Wort, ein Lächeln, ein warmer Blick genügt ja zumeist. Wenn sie doch alle daran dächten, daß sie durch ihr bloßes Sein andere schon reich machen können! Es ist eine königliche Fülle, aus der sie schöpfen.«

Es war ganz still im weiten Raum. Schier ehrfürchtig schauten die Ihren auf Frau Friedel. So hatte man sie noch nie reden hören.

Frau Friedel gewahrte die erstaunten Blicke, und ein kleines wehes Lachen zog ihr um den Mund.

»Ja, Kinder, der Schmerz ist ein gar tätiger Förderer von allerhand Ungeahntem. Er gräbt tief, bringt Edelmetall ans Licht oder Schlacken, je nachdem. Also, es bleibt dabei: der Fritzel mit seiner Änne beziehen Rödershof. Du reichst doch gleich den Abschied ein, mein Junge?«

»Ist schon geschehen, Klein-Muttchen!« Hauptmann Fritzel war sehr rot, als er das sagte; er wischte sich mit dem Tuch über das Gesicht.

Frau Friedel lächelte nur fein.

»Um so besser, mein Fritzel! Je eher der Hof wieder in feste Hände kommt, desto besser. Dein Vater hing daran.«

»Ich werde stets daran denken, Klein-Muttchen.«

»Das weiß ich, mein Fritzel. Also ihr nehmt mich auf, Lisa, Fee?«

»In dein Eigentum, Friedel!«

»Wo du bei uns zu Hause bist, Klein-Muttchen!« Fee hatte die Arme um die Mutter geschlungen. »In Herz und Haus, Klein-Muttchen!«

»Das war ein gutes Wort, Fee; ich danke dir. Ich scheine so entwurzelt, seit mir der Stab genommen ist, der mich stützte.«

»Klein-Muttchen, wo du doch uns hast!« Des Professor Lutz Stimme war so warm und fest.

Die Mutter reichte ihm beide Hände. Sie sagte nichts, aber ihre Gebärde redete.

Es war eine Weile ganz still im Raum; dann sagte Lutz: »Ich muß bald fort, und ich möchte nicht allein gehen, Klein-Muttchen. Ihr werdet das verstehen.«

Ein Blick auf Gladys zeigte, was er damit meinte. Die hatte große erschreckte Augen und hob die Hand zum Herzen, blieb aber stumm.

Lutz sprach weiter: »Glaubst du, daß der Vater es nicht verstünde, wenn er noch lebte, Klein-Muttchen?«

»Lutz – – so schnell? Wo er doch kaum begraben ist – – Lutz – – ich – – «

Frau Friedel war bis in die Lippen erblaßt; des Sohnes Worte kamen völlig unerwartet. Sie senkte den Kopf und sah eine Weile vor sich. Sie hatte die Hände gefaltet; Träne um Träne tropfte darauf nieder.

Niemand wagte, sie zu stören. Manch ein unwilliger, vorwurfsvoller Blick streifte den Urheber dieser Tränen.

Professor Lutz sah ruhig da und lies die Augen nicht von seiner Mutter. Es war ihm leid um den Kampf, in den er sie gestürzt hatte, aber er mußte und vertraute, daß ihr Rechtsgefühl siegen würde.

Denn war es nicht sein gutes Recht, nun so schnell als möglich eine Heimat zu gewinnen, die er so lange entbehrt hatte? Und der Grund, der ihn hatte zögern lassen, Gladys schon früher einzufordern, fiel ja nun weg. Schwester Fee bekam reichlich Ersatz für das, was er ihr nahm. In der Liebe und Sorge für die trauernde Mutter wurde ihr eine Aufgabe, die ihr Leben füllen konnte. So harrte er in Geduld; Klein-Muttchen würde schon den Weg finden.

Und da war sie schon hindurch durch das, was sie gehemmt hatte.

»Tu, was du für recht hältst, mein Lutz! Ich will dir nicht entgegen sein.«

Er küßte ihre Hand; Gladys lag neben ihr auf den Knien.

»Mach sie glücklich, Lutz; sie verdient es,« so sagte Klein-Muttchen und legte die Hand auf Gladys' Scheitel.

Dann saß sie und sann. Man sah, sie war wieder weit weg. Die Dresdorfer Damen rüsteten zum Aufbruch; man hörte die alte Kutsche, die sie holen kam, auf den Hof rollen. Still nahmen sie Abschied. Frau Friedel nickte ihnen nur wortlos zu. Dann sagte sie den Ihren, die zurückblieben, ein leises Gutnacht und zog die Türe hinter sich zu.

Sie mußte allein sein, allein mit sich zur Ruhe kommen. Ihres Lutz Bitte hatte allzu rasch wieder in den unabänderlichen Lauf der Erdendinge eingelenkt. Das schmerzte, aber war begreiflich; es mußte überwunden werden, und das tat man am besten allein.

*

»Erlaube, Irmingard, daß ich dir meinen Freund, Oberleutnant Hemsen, vorstelle.«

Hauptmann Fritz stand vor der blonden Irmingard; neben ihm schlug ein großer schlanker Mann die Hacken zusammen und verneigte sich.

Der blonden Irmingard stieg das Blut in die Schläfe, als sie sich gleichfalls neigte. Dann lachte sie ein bißchen schelmisch verschämt.

»Sie müssen schon verzeihen, Herr Oberleutnant, wenn in diesen Tagen auf dem Hof nicht alles ganz glatt abläuft; mein Regiment ist noch jung. Ich möchte aber meiner Großmutter gern möglichst alles abnehmen; sie – sie hat so schwer zu tragen an ihrem großen Schmerz.«

»Ich bin untröstlich, gnädiges Fräulein, daß ich mit meinen Leuten Ihnen in solcher Zeit zur Last fallen muß, aber – der Dienst – da läßt sich weiter nichts tun; der Soldat muß gehorchen, übrigens werden gnädiges Fräulein die Sache wundervoll deichseln; das sehe ich schon!« Er lachte, daß man die weißen Zähne unter dem schwarzen Schnurrbärtchen sah.

»Woran wollen Sie das erkennen? Etwa weil ich blond bin?«

Irmingard lachte zurück und sah in dem schwarzen Kleid blonder aus als je.

»Eben daran! Die Blonden sind besondere Menschen. Das hat mir mein großer blonder Bruder schon eingedroschen, wenn ich auf einen Apfel verzichten sollte, der ihm anstand, oder ihm sonst etwas mir Gehöriges abtreten mußte, das ihm in die Nase stach. Ja, die Blonden!«

Sie lachten über seine Begründung. Dann verabschiedete sich Irmingard, denn es gab in diesen Tagen wirklich an allen Enden für sie zu tun.

Das Leben hatte sich auf Rödershof gewaltig geändert. Einquartierung war gekommen, ein Oberleutnant mit zwanzig Mann. Wer hätte sich dagegen stemmen können?

Für Frau Friedel war es hart, daß eine solche Forderung alsbald mit ihrer Wucht in das stille Trauerhaus einbrach. Aber sie ergab sich darein. Die blonde Irmingard bestand darauf, Klein-Großchen alles abzunehmen, was sie mit dem übergeschäftigen häuslichen Treiben in Berührung brachte, und Klein-Großchen ließ sie gewähren. Sie fühlte, wie die Nachwirkung des Schreckens, des großen Schmerzes sie zermürbt, ihr die Widerstandskraft genommen hatte. Doch fand die blonde Irmingard allzeit einen Rat bei der Großmutter, wenn die junge Erfahrung nicht ausreichen wollte, und Frau Friedel sah mit Anteil die junge Kraft sich regen. Alles nahm seinen wohlüberlegten, gleichmäßigen Gang unter Irmingards Leitung auf Rödershof.

Die junge Änne ging der blonden »Nichte«, die ihr an Alter und Weisheit voraus war, mit viel Freude zur Hand, um so freudiger, als es für sie ein Vorstudium auf Künftiges bedeutete. Wenn der Frühling hier Einzug hielt, würde sie dasselbe tun als ihres Hauptmann Fritzel junge Frau.

Herrje, was gab es bis dahin noch zu lernen! Ob sie je zu solcher Umsicht kam, wie die blonde Irmingard sie hatte? »Tante« Änne staunte an dieser in die Höhe.

Zehn volle Tage sollte nun Rödershof die fremden bunten Gäste beherbergen. Frau Friedel erschrak doch ein wenig, als sie dies hörte,, so gastfrei sie sonst in Tagen gewesen war, die nicht mehr wiederkehrten. Würde die blonde Irmingard ausdauern? Es war keine leichte Aufgabe, die sie sich gestellt hatte.

Aber sonderbar, je weiter die Tage vorschritten, um so freudiger tätig schien Irmingard. So voll Leben und frischem Regen hatte die Großmutter sie noch kaum gesehen. Und da die Tage zur Neige gingen, ließ die Blonde, statt bei der Aussicht auf die wiederkehrende Ruhe aufzuatmen, den Kopf hängen und bekam etwas Verträumtes in ihr Wesen.

»Kenne sich einer aus bei den Jungen,« dachte Frau Friedel und schüttelte den Kopf – – –

Professor Lutz ging mit seiner Braut durch den Wiesengrund. Sie kamen von Rödershof, wo Gladys ihren Bräutigam auf dessen Bitte heute abgeholt hatte.

Lange hatten sie bei Frau Friedel gesessen, die viel gute und warme Worte für sie fand. Aber an das eine, wovon Lutz an jenem Abend gesprochen hatte, war nicht wieder gerührt worden. Die Mutter schien es zu meiden, nachdem sie ihrem Ältesten am Morgen nach jenem Abend gesagt hatte: »Mein Lutz, tue, was du für recht hältst, was dein Recht ist, und kümmere dich nicht um eine dumme alte Frau.«

»Gegen deinen Willen, Klein-Muttchen? Nimmermehr!«

»Mit meinem Willen, Bub, nur ohne mein Zutun und Wissen! Verstehst du mich?«

»Ich glaube,« hatte da ihr großer Junge gesagt und sie mit leuchtenden Augen geküßt.

Nie wieder hatte seitdem Frau Friedel an die Sache gerührt. Auch heute morgen nicht, als Lutz und Gladys bei ihr saßen. Sie war nur besonders weich gewesen, besonders liebevoll, und es war Gladys aufgefallen, daß die Mutter Lutz so lange in den Armen hielt, als sie sich trennten; ja, sie hatte Tränen in den Augen, als ob es einen großen Abschied gälte, und war doch nur einen Hahnenschrei weit von Rödershof bis Dresdorf. Wie manch liebes Mal hatte sie, Gladys, den rotbunten großen Haushahn von drüben her krähen hören, wenn sie unter der Weide am Bach saß!

So sagte sie auch zu Lutz, als sie nun unter den herbstkahlen Obstbäumen Dresdorf zuschritten.

»Lutz, weshalb Klein-Muttchen wohl so gerührt war? Sie wollte dich ja gar nicht aus den Armen lassen – als ob du mindestens nach Berlin gingest! Verstehst du das?«

Der schaute seine Braut merkwürdig an; es wurde ihr ganz sonderbar dabei, geheimnisvoll sah er aus. Was er nur hatte?

Sie drängte noch einmal: »Verstehst du es, Lutz?«

»Vielleicht,« sagte er und sah noch geheimnisvoller aus.

»Lutz, was ist's? Was hast du vor?«

Sie flüsterte es scheu und leise. Es stieg ein Ahnen in ihr auf und nahm ihr schier den Atem.

Sie waren mittlerweile schon dicht bei Dresdorf. Gladys hatte am Bach abbiegen wollen, wo das Pförtchen winkte, das in den Dresdorfer Park Einlaß gab. Mit fester Hand hatte Lutz nach ihrem Arm gegriffen und den seinen drunter geschoben.

»Hier hinaus, bitte; ich habe erst noch im Dorf etwas zu erledigen.«

So gingen sie den Weg zum Dorf, an der Mauer des lieben alten Gartens entlang, und standen nun dort, wo die Dorfgasse mündete und das kleine alte Kirchlein auf seinem Hügel lag, die Dorfhäuser betreuend wie die Glucke ihre Küchlein.

Lutz lenkte den Pfad zum Kirchlein empor.

»Wohin führst du mich, Lutz?« hauchte die Braut.

»Will's Gott, zum Glück!«

Nun sah sie klar. Aber sie zögerte noch und hemmte den Schritt.

»So ohne weiteres, Lutz – ich – –«

Auch er blieb stehen.

»Reut dich etwa, was du mir versprochen hast?« Er sah ihr schalkhaft in die Augen. »Oder reuen dich Kranz und Schleier, die du entbehren sollst?«

»Dummer Lutz! Aber Tante Fee – Klein-Muttchen – die anderen – – «

Zur offenen Kirchentür kamen jetzt volle Orgeltöne heraus, so feierlich ernst und doch jubelnd zugleich, daß von der Braut alle irdischen Bedenken abfielen. Ein frommes unendliches Glücksgefühl durchflutete sie und füllte sie ganz. Sie legte den Arm in den ihres Verlobten, und so traten sie unter die Tür.

Am Altar fand der Geistliche gute warme Worte.

Da standen Tante Fee und Lisa! »Wir dürfen doch auch dabei sein?« fragte erstere und lachte ihr Kind unter Tränen an.

»Also eine richtige Verschwörung?« rief Gladys und barg ihr Gesicht an Tante Fees Schulter.

Tante Lisa nestelte dabei an Gladys Haaren, und wie die sich aufrichtete, war ein blühendes Myrtenreislein drin befestigt.

»Ich dachte, mein Bäumchen blühe zur Unzeit,« sagte Tante Lisa weich, »nun ist es doch die rechte Zeit gewesen.«

Die Braut dankte ihr nur mit Blicken.

Die vier schritten nun den Gang zwischen dem alten Gestühl entlang. Am Altar stand schon der Geistliche bereit, und wie er gute warme Worte fand für die junge Braut, die ein entwurzeltes Pflänzlein gewesen sei, das nun bleibende Stätte und dauernde Hut finden solle, gute Worte auch für den Mann, in dessen einsame Bahn nun ein treuer Kamerad trete, gleichen Schritt zu halten bei Sonne und Regen, in guten und bösen Tagen: da griff die Sonne durchs Fenster und vergoldete den Scheitel der Braut, daß er auflohte wie ein Glorienschein und den ganzen Raum hell machte.

So wurden Lutz und Gladys Eheleute und gingen den Gang am alten Gestühl entlang hinein in des Lebens Alltag. Sie gingen ohne Bangen, denn sie hatten das im Herzen, was das Leid tragen und die Freude teilen hilft.

Hinter der Tür wartete ihrer eine schwarze Gestalt. Sie legte den Finger an die Lippen und nahm schweigend das Paar an ihr Mutterherz.

Sie mußten der Tage denken, die noch nicht weit zurücklagen, wo sie gefleht hatte: »Still, still – er schläft!« So schwiegen sie und hielten ihren Schmerz heilig.

Mit einem: »Gott mit euch!« glitt Frau Friedel sodann um die Ecke. Keiner versuchte, sie zu halten.

Am Fuß des Kirchenhügels stand die alte Dresdorfer Kutsche. Johann hatte es sich nicht nehmen lassen, Pferde und Peitsche mit Blumen zu schmücken.

»An eebes muß mer doch sehe, daß mir Hochzeit hawwe,« hatte er grinsend erklärt. »Ei, mich verhärmt des Gladiesche, daß des sich in de Ehestand enein stehle soll als wie e Dieb in der Nacht. Was mer nit alles erlewe duht!«

Er grinste auch der neugebackenen jungen Frau entgegen und sagte strahlend: »Gun Morje, Frau Perfessor; ich kratelier auch vielmals.«

Gladys dankte mit Handschlag, reden konnte sie nicht viel.

Es wurde ihr noch enger ums Herz, da sie merkte: nun galt es Abschied nehmen! Sie hatte entdeckt, daß Gepäck im Wagen lag, hatte auch ihren Hut und Mantel gesehen. Also es galt sofortige Abreise!

»Weshalb solche Eile? Weshalb die Verschwörung?« fragte sie mit zitternden Lippen.

»Der Mutter wegen und auch Fees wegen! Verzeih – wir hielten es so für das Beste. Eine vollendete Tatsache ist immer leichter zu tragen als Nahendes.«

Da beschied sie sich und lag in Tante Fees Armen, als ob sie die nicht lassen könne. Worte fand sie keine.

Tante Fee war tief bewegt; sie zitterte so, daß sie sich kaum auf den Füßen halten konnte. Da war es ein Glück, daß Tante Lisa in weiser Voraussicht den Fahrstuhl hatte bereitstellen lassen. Darein setzte sich nun Fee, blaß bis in die Lippen, aber mit einem Lächeln im lieben Gesicht. Dem »Kind« sollte der Abschied leicht werden!

»Geh, kleine Schwägerin, werde glücklich und mache glücklich!« Es klang fast scherzend, wie denn Fee diesen Verwandtschaftsgrad immer nur im Scherz erwähnte.

Gladys schlang die Arme um sie.

»Wie soll ich dir danken, du Beste, Allerbeste?«

»Als ob es Dank gäbe zwischen zweien, die sich lieb haben! Man gibt und nimmt, und das ist Danks genug. Bringe sie fort, Lutz; ihr kommt sonst zu spät.«

Die Mahnung war Selbsthilfe, Tante Fee fühlte sich schwach werden. Sanft, aber fest schob nun Lutz seine junge Frau dem Wagen zu. Sie saß darin, ehe sie wußte, wie, und die Pferde zogen an.

»Lebt wohl! Lebt wohl!« Gladys lehnte sich aus dem Fenster; Lutz mußte sie halten, denn der alten Kutsche war nicht zu trauen.

Viele Dorfleute hatten sich gesammelt. Man merkte, daß Außergewöhnliches vorging. Als die Pferde anzogen, gab es ein Hallo bei den Kindern. Die setzten mit Hurrageschrei hinter der Kutsche her. Die Erwachsenen schwenkten Tücher und Mützen.

Das lenkte Gladys ab; sie grüßte zurück, lächelte und winkte, und wie sie wieder zu sich kam, war Dörflein und Kirche, waren Tante Fee und Tante Lisa verschwunden.

Gladys weinte laut auf.

»Weshalb diese Verschwörung, Lutz? Nun habe ich nicht einmal richtig Abschied nehmen können. Tante Fee!« Sie schien untröstlich.

Es mußte Lutz aber doch gelungen sein, sie in nicht allzu langer Zeit zu trösten, denn wie das junge Gesicht unter den rotgoldenen Haarwellen wieder am Kutschenfenster auftauchte, sah es aus wie ein Aprilentag, lächelnd unter Tränen. Und wo es wieder auftauchte, das war schon dicht hinter Rödershof, wo der Weg durch dessen Wiesengrund am Nain der Loberger Landstraße mündete.

Dort standen nämlich vier Menschen, die sichtlich auf die Kutsche gewartet hatten. Es waren Hauptmann Fritzel und seine Braut, die blonde Irmingard und Oberleutnant Hemsen, der noch eben Zeit hatte, den Sohn des gastlichen Hauses auf seiner Hochzeitsfahrt zu begrüßen, ehe er seinerseits mit seinen Leuten abziehen mußte. Das Manöver war zu Ende, und die Garnison winkte wieder, was gar nicht verlockend war, wie Oberleutnant Hemsen in den letzten Tagen unaufhörlich versichert hatte.

Da standen also die vier, als die Kutsche in Sicht kam, und am Fenster zeigte sich das Aprilenwettergesicht unter den rotgoldenen Haaren. Es lächelte und winkte und war rot bis in die rotgoldenen Haare hinein.

»Glück zu, Bruder Lutz!« rief Hauptmann Fritzel, und ein Leuchten stand in seinen Augen.

»Schön Dank, Bruder Fritz! Und komm bald nach!« Das Leuchten in des Professors Lutz Augen war nicht weniger hell. »Und grüßt Klein-Muttchen viel tausendmal!«

»Auch von mir – auch von mir, bitte!« Das hatte die junge Frau Gladys gerufen, und dann bog die alte Kutsche um die Ecke.

»Arme Gladys,« seufzte die junge Änne.

»Weshalb arme Gladys?« Des Hauptmann Fritzel Stimme war ganz streng, und streng sollte auch der Blick sein, womit er die Braut ansah. »Ich will nicht hoffen, daß du sie bedauerst, weil sie geheiratet hat. Solche Ketzerei wäre eine Versündigung.«

»Aber so ohne Sang und Klang, Fritzel!«

»Aha, also das weiße Kleid und der Schleier sind die Hauptsache? Das andere geht drein, der Mann und so weiter.«

»Dummer Fritzel,« wehrte sich die junge Änne. »Das verstehst du nicht! Es muß alles seine Ordnung haben – was, Irmingard?«

»Mir wäre es einerlei,« sagte die und wurde ein wenig rot dabei.

»Bravo,« lobten Onkel Fritzel und Oberleutnant Hemsen zugleich; dann wandten die vier sich zurück durch den Wiesengrund dem Hofe zu.

Dort oben am Fenster des Herrenhauses stand Frau Friedel und schaute mit brennenden Augen dem Wagen nach, der ihren Ältesten dem Glück zuführte. Ihre heißesten Wünsche eilten hinterher. Ein wehes flüchtiges Lächeln huschte um ihren Mund.

»Er hat gemeint, er könne sich vor der Mutter verstellen, der dumme Bub! Als ob ich es ihm diesen Morgen nicht gleich angemerkt hätte, daß nun der Tag gekommen war! Ein Mutterauge sieht scharf, und Klein-Muttchen war nie auf den Kopf gefallen, mein Sohn. Klaus, was würdest du aber sagen, wenn du wüßtest, daß ich deinen Ältesten so habe ziehen lassen! Es gefiele dir nicht, mein Klaus, ich weiß es; aber – – ich konnte nicht anders, Klaus! Ich bin noch zu wund und zerschlagen. Warum hast du mich allein gelassen, mein Klaus? Warum hast du mir diesen ersten Schmerz getan – – ?«


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