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Der Winter war vergangen. Nur am Nordrand des Waldes lugen noch ein paar Schneefetzen, und die waren schon durchlöchert und bräunlich; bald würden auch sie aufgesogen sein von der Sonne – der Sonne des Frühlings!
Über dem Wiesengrund von Rödershof lag sie golden. Sie hatte im grünen Teppich schon einzelne fürwitzige Blumenkinder vorgelockt. Wunderkleine Anemonen und Gänseblümchen stickten ihn in Grüpplein mit ihren weihen Sternen; lila Krokus schoben die Grashalme beiseite und drängten zum Licht. Auch der einfache gelbe Löwenzahn ließ sich sein Recht nicht nehmen; er trieb seine dicken Stengel rücksichtslos vor, wo es ihm just behagte. Einstweilen war aber auch er nur Künder des Lenzes, und man sah ihn freundlich an.
Über Busch und Strauch lag es wie ein leichter grüner Schein. Beim Herrenhaus im geschützten Park hatten die Blattknospen sich schon erschlossen in ihrer jungfrischen Grüne, und dort zumeist jauchzten die Vöglein ihre Lenzeslieder. Es war ein Drängen und Werden und Freuen rings.
Durch den Wiesengrund hin ging eine hochaufgeschossene schmale Gestalt. Wie sie durch die Sonne schritt, flammte es von ihrem Scheitel wie gesponnenes rotes Gold. Sie beugte sich hier und dort zu den kleinen Blumenkindern nieder, und in der einen Hand hielt sie einen Strauß davon, den sie mit frohen Augen ansah.
»Sein for ihr, – for Tante Fee,« flüsterte sie vor sich hin.
»Gladys,« tönte eine helle Stimme vom Hause her, »Gladys!«
Mit langen gleitenden Schritten huschte die Angerufene – nicht dem Hause zu, sondern den bergenden Büschen entgegen, die hier standen und ein günstiges Versteck boten. Dort kauerte sie am Boden. Alles Weiche und Frohe war aus ihren dunkeln Augen gewichen; jetzt lag Trotz, Böses darin.
»Ich ihr hassen! Wollten mir fortjagen, wenn nicht Tante Fee –« Weiteres verlor sich in Murmeln; dann ein froher Aufschrei: » Violets! Sein kleine Veilchen. Oh, liebe kleine Blumchens – uie uerden Tante Fee sein so glücklich!«
Die lange schmale Gestalt kauerte zusammengeklappt am Boden.
pflückte Veilchen, hatte leuchtende Augen, glührote Wangen, und wenn die Sonne durch den grünen Schleier des Gebüschs griff, brannten die Haare in goldener Glut.
Die da am Boden kauerte, hörte und sah nichts als die Veilchen; dabei tönte es vom Hause her noch zweimal, dreimal: »Gladys! Gladys! Gladys!«, unverkennbar immer ungeduldiger und erzürnter.
Die Veilchenpflückerin achtete nicht darauf. Oder galt das Hämische und jetzt gar das Gehässige, das in ihren Augen aufstammte, etwa dem Ruf?
Frau Friedel – sie hatte gerufen – stand oben auf der Freitreppe, die nach dem Wiesengrund führte. Sie schattete die Augen mit der Hand gegen die helle Lenzsonne, und spähte scharf nach dem Gebüsch, wo kurz zuvor die lange schmale Gestalt verschwunden war. Sie sah deutlich den gleißenden rotgoldenen Schein, der dort zuweilen aufsprühte) sie wußte genau, woher der kam, und – sie ärgerte sich gewaltig.
Jetzt trat sie mit dem Fuß auf und zankte: »Da soll doch gleich – das ist ja die reinste Aufsässigkeit! Dies – –«
Eine weiche Stimme hinter ihr machte sie verstummen.
»Worüber erregt sich denn Klein-Muttchen so?«
Die Gefragte fuhr mit blitzenden Augen herum.
»Fee, dies Kuckucksei – daß du mir das angetan hast, Fee! Da drüben sitzt sie in den Büschen, pflückt Veilchen und – – «
»Ist denn das eine Sünde, Klein-Muttchen?« Fee blickte traurig, aber sie blieb sehr ruhig.
»Das Pflücken? Nein, Fee, und du weißt das auch ganz gut, wie ich es meine. Ich schreie mich heiser, aber die Mamsell will nicht hören – sitzt dort drüben in den Büschen und – –«
»Was wolltest du von ihr, Klein-Muttchen?«
»Ist das nicht ganz gleich? Und wenn ich wollte, daß sie – na, daß sie einen Purzelbaum schlägt, die Mamsell hat zu gehorchen! Ich will doch sehen, wer hier Herr – – brauchst nicht solche Augen zu machen, Fee! Ich hab' deinem Verzug nicht zu nahe treten wollen; ich wollte nur bitten, daß sie mir ein paar Blümchen sucht, um das Zimmer der Kinder – – du weißt doch, Fee, daß ich jeden Augenblick die Depesche erwarte, die den Ausgang des Examens und die Ankunft der beiden meldet. Übrigens, daß sie bestanden haben, die Hildegard und der Gunter, das weiß ich; wär' nur erst mein Walter so weit, der arme Junge!« Klein-Großchen seufzte tief und schwer.
»Gladys wird froh sein, dir einen Wunsch erfüllen zu können, Klein-Muttchen.«
»Wird sie?« In Frau Friedels Gesicht lag mehr als Zweifel.
Fee rief: »Gladys! Gladys!«
Diesmal hatte der Ruf alsbald Erfolg. In den Büschen richtete sich das Mädchen auf und kam eilig mit den langen gleitenden Schritten über die Wiese daher. Die Sonne wob einen Glorienschein um das junge Gesicht, und auch in den Augen war Sonne.
»Sieh hier, Tante Fee – violets! Sein Veilchen!«
Fees Augen warfen den Schein, der ihr entgegenstrahlte, zurück.
»Herrlich, Kind! Der Frühling kommt! Du wirst sehen, wie wunderschön der hier ist. Aber wie gut, daß du schon so viele Blumen gepflückt hast. Klein-Großchen möchte welche, und – – «
»Mrs. Uödern?« In dem jungen Gesicht war das Sonnige geschwunden. »Sein for dir, Tante Fee!«
»Ah!« Frau Friedel lachte gereizt. »Hab' ich's dir nicht gesagt, Fee?«
Mit flammenden Augen sah ihr Gladys ins Gesicht. »Sie sein immer gut zu mir!«
»Aha!« lachte Frau Friedel noch einmal; von dieser Tatsache, die das Mädchen vorbrachte, ließ sich ja nichts abstreiten.
»Gladys, aber Gladys!« Solch ein Schmerzliches lag in dem Anruf Fees, daß es die junge Wilde alsbald weich machte.
»Du nicht traurig sein, Tante Fee! – Sie können Blumen von mir haben, so viel Sie uollen.«
Sie drängte Klein-Großchen den Strauß mit solcher Gewalt auf, daß die darüber fast ins Wanken geriet. Aber kein freundlicher Blick begleitete die Gabe, und das Mädchen war auch schon wieder draußen im Sonnenschein; es flog über die Wiese dem Walde zu, als würde es gejagt. Jeder Ruf, es zurückzuhalten, wäre vergeblich gewesen; das sah Fee, und deshalb versuchte sie es gar nicht.
»Und nennst du das nun nett, Fee?« fragte bedeutsam Frau Friedel; es blitzte schier triumphierend in ihren Augen.
»Willst du nicht ein klein wenig Geduld haben, Klein-Muttchen? Mit ihr – und mit mir?«
Über Fees Gesicht liefen schwere Tränen. Da reckte sich Frau Friedel, legte die Arme um ihr blondes großes Kind, das ihres Herzens Stolz und Wonne war, und ganz leise kam es: »Hab' du sie mit mir, Fee – kennst doch nun dein Klein-Muttchen schon lange genug, Fee, was? Ist eben ein Feuerbrand, sagt Vater Klaus, und er hat recht, wie immer. Aber dein rot – – dein Kucku– – ich meine dein Ziehkind, Fee, das – das –«
»Laß gut sein, Klein-Muttchen – wird schon alles recht werden.«
Fee hatte ihr Klein-Muttchen im Arm. Aber so frisch wie die Stimme klang, sahen die Augen nicht drein; darin lag viel Sorge und Zweifel.
Klein-Großchen ging, die widerwillig gespendete Blumengabe im Zimmer der erwarteten Enkel zu verteilen, verlor sich in Sinnen über die zwei sicher mit Ruhm Bedeckten und verlor darüber die aus dem Sinn, die ihr täglich Anlaß zu neuem Ärgernis gab. Fee aber begab sich zu Tante Lisa, mit der sie den Wohnraum teilte, und die sah alsbald die Sorge und den Zweifel in den Augen, die sie so genau kannte.
»Was hat es wieder gegeben, Fee?«
»Ach, Tante, ich verzweifle an der Durchführung meines Plans, und doch – ich kann nicht mehr davon lassen – nicht von dem armen Kinde lassen.«
»Willst du Gladys nicht etwas strenger anfassen, Fee?«
»Daß ich sie ganz verstocke, Tante? Gutes erhoffe ich nur durch die Wirkung von Liebe und Güte. Siehst du nicht wie Klein-Muttchens Schroffheit auf sie wirkt? Ach, Tante, mir ist sehr bange. Ich hoffte so viel von der Zeit und der Gewöhnung; aber nun sind wir schon den ganzen Winter da, und es ist noch dasselbe wie ganz zu Anfang – eher schlimmer.«
»Die Schuld liegt bei Gladys. Fee, du darfst nicht blind sein. Ihr finsteres Wesen uns allen gegenüber ist schwer zu tragen. Dein Vater und ich, wir schweigen, weil – nun weil wir dich lieb haben. Deine Mutter ist lebhafter geartet, sie wehrt sich gegen das, was sie bedrückt.«
»Was tue ich, Tante? Ich kann Gladys nicht von mir weisen und – ich kann auch nicht härter mit ihr sein – gegen meine Überzeugung. Ich komme mir vor wie der dünne Faden, der sie noch mit dem Guten verbindet. Entfremde ich sie mir durch irgendeine Härte, so reißt er durch, und sie ist verloren. Tante Lisa, hilf mir!«
Die Angerufene hatte Fee in ihren Mutterarmen und tröstete linde: »Abwarten, Kind, laß den Mut nicht sinken! Wir finden durch mit vereinten Kräften, glaube mir.«
»Daß ich dich habe, Tante Lisa, daß du mitgekommen bist! Wie soll ich dir das je danken?«
»Es macht mir das Leben wieder lebenswert,« Still sagte es Tante Lisa und ihr Blick suchte die Ferne.
Derweil ging die, der alle die Sorge und der Ärger galt, durch den leicht grünenden Wald, hatte helle Augen und ein Lied auf den Lippen, und aller Trotz war weit. Sie war ein junges frisches Menschenkind wie andere. Sie lauschte dem Vogelsang und lachte hinter zwei sich jagenden Eichkatzchen her; sie hatte ihr Bündelein abgeworfen, straffte die jungen Schultern, hob den Kopf mit den leuchtenden Haaren und sah so harmlos, so lieb und jung aus wie nur irgendeine ihrer Schwestern.
Sie war am Waldrain herausgetreten. Schlank und biegsam wie eine Gerte stand sie da unter der hohen Buche. Durch deren Geäst griff ein Sonnenstrahl und verfing sich in dem Rothaar, daß dies sprühte.
Einem Mann, der auf der tieferliegenden Loberger Landstraße des Weges kam, fiel sie so in die Augen.
»Ei, is dann des nit das englisch Fichsche, wo jetz in Redershof – – Freileinche, Freileinche, wolle Sie mir en Gefalle dun, he?«
»Uenn ich kann.«
»Sie wern mer doch des Babier mitnemme kenne – es wiegt kein Zentner,« spöttelte der Mann gutmütig neckend. »Es is fors gnädig Frauche. Meine alte Rheumatisknoche spiern de Weg und Sie hawe junge Beinercher. Gelle Se, Sie dun mir de Gefalle?«
Sie lachte ihn an wie ein liebes frohes junges Menschenkind, das sie im Augenblick war. Sie glitt vom Grasrain nieder, stand vor dem Bittsteller und streckte die Hand aus. »Geben Sie – ich uerde Papier nehmen.«
Wohlgefällig schmunzelnd hielt er ihr das Papier hin, eine Depesche.
Sie schob diese, ohne sie weiter anzusehen, in ihre Tasche.
»Fein Obacht gebe,« mahnte er väterlich. »Un ich danke auch vielmals, Freileinche. Winsch schene guten Abend!«
»Guten Abend!« Sie war davon gejagt, als ob der Wind sie wehe; kaum daß die Füße den Boden zu berühren schienen – die Verkörperung von Lust und Leben. Er stand und schmunzelte hinterher.
»No, des geht ja wie geschmiert. Ach herrje, wammer doch auch noch emal so jung wär'!«
Die Junge aber, die flog durch den Wald auf einem engen Pfad in weitem Bogen um den Wiesengrund von Rödershof. Sie mußte sich erst noch austoben in ihrer jungfrischen Kraft. Es war erstaunlich, wie sie Weg und Steg ringsum schon kannte. Und sie liebte Wiese und Wald, von denen Mutter dem armen kleinen Großstadtkind einst mit leuchtenden Augen erzählt hatte. Ihr war, als sei »mother« ihr hier näher. Dies hier war ja Deutschland, war »mother's country«, von dem diese nur mit Tränen des Sehnens hatten reden können – – –
Sie saßen beim Abendbrot in Rödershof, Vater Klaus, Muttchen Friedel, Tante Lisa, Fee und »ihr Kind«. Die Augen von Vater Klaus ruhten mit Wohlgefallen auf der jungen Fremden. Die Sonne aus Wald und Wiesengrund schien sich in ihren Augen verfangen zu haben; sie hatte die Wangen mit dem frischesten Schein bemalt.
»Wo hat unser Großstadtpflänzchen sich die roten Backen geholt? So was seh' ich gerne.«
Sie lachte ihn an.
»Sein in Wald gesprungen wie der kleine Eichenkatz. Ho, sein wundervoll deutsche Wald, Mr. – – Guoßvater.«
Das war ein Zugeständnis, das Wald, Wiese und Sonne dem trotzigen Sinn abgerungen hatten. Gleich bei Ankunft hatten Vater Klaus und Muttchen Friedel in ihrer Güte und in der Liebe zu ihrem Kinde gedacht, es der Fremden heimischer zu machen, wenn sie ihr gestatteten, sie zu nennen, wie die Enkel sie nannten. Aber in finsterem Trotz hatte Gladys bei ihrem Mr. und Mrs. Uödern beharrt.
Vater Klaus lachte darüber, Muttchen Friedel aber ärgerte sich. »– – – denn, Klaus, siehst du, ich kann das Mrs. U-ödern schon gar nicht hören. Es ist, als ob sie eine heiße Kartoffel im Munde umwälze.«
»Guoßvater klingt nicht viel schöner, was, Friedelchen?« neckte Vater Klaus.
Bei diesem Zugeständnis heute, das er Sonne, Wiese und Wald verdankte, blinzelte er nun gar schlau die andern an, sagte aber nichts, sondern neckte weiter: »Der kleine Eichenkatz kann aber wohl besser klettern als du, Mädel?«
Gladys riß die Augen auf. »Mich doch nicht können auf Baum steigen!«
»Kannst du nicht? Ich kannte einst ein Mädel, das – –«
»Klaus! Aber Klaus, wie kannst du!« Muttchen Friedel war ganz Vorwurf und gekränkte Würde. »Gladys, nun hast du wieder das Salzfäßchen umgeworfen.« Das kam schroffer heraus im Eifer der Abwehr, als es die Umstände rechtfertigten. Sie war gutherzig und wollte einlenken. »Bist du in Dresdorf gewesen – ja? Oder bist du nicht so weit gekommen?«
Aber Gladys biß schon die Zähne aufeinander; ihr Gesicht war finsterer wie je. Mußte »die da« ihr denn alles vergällen? Weshalb ließ sie den »Guoßvater« nicht freundlich mit ihr plaudern? Weshalb fuhr sie sie so barsch an wegen des Salzes? Weshalb – –?
Oh, sie haßte »die da«; sie merkte wohl, daß sie ihr Tante Fees Liebe nicht gönnte. Am liebsten triebe sie sie wieder hinaus auf die Gasse, von wo ihr Engel, Tante Fee, sie aufgelesen hatte! Das fühlte sie gut und –
»Gladys, hörst du nicht, daß Großmutter dich etwas gefragt hat?« Tiefer Schmerz, aber auch ehrliches Zürnen lag in der Stimme. Gladys hob die trotzigen Augen zu Tante Fees Gesicht. So ernst hatte sie dieses noch nie gesehen, so mißbilligend.
Natürlich »die da« würde es noch so weit bringen, daß Tante Fee sich von ihr wandte, und was dann? Was dann?
Noch finsterer blickten die Augen; die Lippen verkniffen sich noch fester.
»Gladys!!« Eine Welt von Liebe, von heißem Schmerz lag nun in Augen und Stimme.
Dem war nicht zu widerstehen; die vom Trotz versiegelten Lippen öffneten sich.
»Ich nicht sein in Dresdorf gewesen, Mrs. Uödern.« Kurz und knapp kam es aus dem kaum geöffneten Mund.
»Gladys!!« Daß dies Mahnen der verpönten Anrede galt, wußte Gladys wohl, aber es konnte sie diesmal nicht rühren. Sie sah da wie von Stein, verkörperter Trotz.
»Laß sie, Fee! Sie soll uns die Laune nicht verderben. Bald werden die Kinder da sein. Ich hatte sie eigentlich heute schon erwartet, wenigstens Nachricht. Es wird doch alles gut gegangen sein?«
Da war das Gespräch in anderen Bahnen, ging über die junge Trotzige weg und drehte sich um jene, die Haus und Herz so nahe standen.
Gladys sah steif und starr, wies alle ihr gebotene Speise zurück, sah nur in sich hinein und in ihr finsteres Herz – sah nicht die Sorge und den Schmerz in den Augen, die ihr die teuersten auf Erden waren. Sie brütete: wenn nun gar erst die da waren, von denen hier mit so viel Liebe gesprochen wurde, dann würde für sie nichts, aber auch nichts mehr bleiben. Dann –
»Hallo! Sitzt da die Familie, läßt sich's wohl sein und unsereins kann sehen, wie es den examensmüden Korpus über die Landstraße an die Futterkrippe schleppt! Uff, ich hätte mir das nicht träumen lassen, Klein-Großchen – dachte, wir würden mindestens mit Hurra und Böllerschüssen empfangen werden. Ich bin sehr enttäuscht, Klein-Großchen.«
Unter der Flügeltür, die nach dem Garten weit geöffnet war, die Lenzlüfte einzulassen, stand ein hochaufgeschossener Jüngling, zwirbelte an dem sprossenden Bärtchen und hatte glänzende Schelmenaugen, die herausfordernd an der hingen, der die Anrede zumeist galt.
»Gunter – Gunter, ich hab's ja gewußt! Also bestanden? Glänzend bestanden? Ich seh's dir an den Augen an! Wie ich mich freue, Junge – wie ich mich freue!«
Aber der langaufgeschossene Jüngling schob Klein-Großchen nach einer herzhaften Umarmung lachend von sich, ab. »Von wegen des Glanzes, Klein-Großchen, der ist nicht gar so groß. Ich bin noch eben mit durchgekrochen – als Mittelware. Aber hier – der Stolz der Familie! Cum laude, Großvater! Ja, wir können alle stolz sein auf das Fräulein Base.«
Jetzt erst wurde das große blonde Mädchen hinter ihm sichtbar, das nun mit lachendem Gesicht sich Klein-Großchens Entzückensausbruch hingab, dann aber rasch mit leuchtenden Augen zum Großvater trat. Er schüttelte ihr die Hand, wie man sie einem Freund und guten Kameraden schüttelt.
»Ich wünsche Glück, mein Mädchen – bist ein ganzer Mensch!«
Das war für die große blonde Hildegard mehr als selbst das » cum laude«; man sah es an ihren Augen.
Es gab ein frohes Durcheinander. Jeder umarmte jeden. Nur eine stand abseits – eine junge Trotzige, die noch trotziger und finsterer geworden war, seit sie sah, wie »die da« sich freuen und lieben konnte – die anderen.
»Kinder, wie seid ihr aber hiehergekommen? Friedrich, rasch das Essen für die jungen Herrschaften!« Klein-Großchen wußte nicht, was zuerst tun und sagen.
»Halt, Friedrich! Hier sind die Kellerschlüssel – bringen Sie was vom Besten herauf, vom Rüdesheimer – Sie wissen ja! Solch ein Cum laude will gefeiert sein.«
»Sehr wohl, Herr Baron.« Der alte Diener neigte sich mit Schmunzeln, obgleich ihm fremd war, was gefeiert werden sollte. Der Herr Baron mußte es ja aber besser wissen und das gnädige Frauchen.
»Na also – nun legt mal alles ab und setzt euch! Ihr werdet schön hungrig sein, ihr Ärmsten. Wenn ich bedenke, alle die Wochen – – «
Wie sie lachten.
»Denkst du, die Mütter haben uns den Brotkorb weggehangt, Klein-Großchen, nach dem Grundsatz: ein hungriger Gaul rennt schneller?«
»Dummer Bub! Aber so was zehrt doch. Wenn nur das Essen schnell käme! Und wie seid ihr hierhergekommen? So redet doch!«
» Per pedes apostolorum, Klein-Großchen – auf Schusters Rappen zu Deutsch. Tante Fee, wie ich mich freue, dich zu sehen! Und dich auch, Tante Lisa!«
Der große Junge hielt Tante Fees Hand und sah sie mit glückseligen Augen an. Die schöne blonde Tante war stets sein Schwarm gewesen.
Da klirrte ein Glas. Gladys, die unbeachtet beim Tisch an ihrem Platz stand, hatte darangestoßen, daß es am Teller zu Scherben zerschellte und sein Inhalt sich über das Tischtuch ergoß; zum Glück war nur Wasser darin. Aller Augen wandten sich ihr zu.
»Und das ist also dein Kind, Tante Fee?« rief der große Junge gutmütig. »Guten Abend, neue Base!« Er streckte die Hand hin.
Nur zögernd legte sich eine schmale Mädchenhand hinein und zwei dunkle Augen blickten ihm so finster entgegen, daß er erstaunt und fragend die andern ansah.
Die blonde frohe Hildegard war auch herzugetreten und hatte die Hand freundlich geboten. Noch zögernder näherte sich ihr die schmale Mädchenhand, und der sie streifende Blick war noch finsterer.
Es legte sich wie eine Beklemmung über die beiden frohen Ankömmlinge.
»Das ist Gladys Morton,« sagte nun Tante Fee, »ich hoffe, ihr sollt euch liebgewinnen.« Aber es lag wenig Zuversicht in dem Ton, und die Augen blickten traurig.
Unbehagliche Stille folgte. Doch Gunter half darüber weg.
»Ja, Klein-Großchen, wir waren sehr enttäuscht. Weshalb habt ihr uns arme, müde Examensmenschen auch noch zu Fuß laufen lassen, statt uns eure edlen Rösser zu senden?«
»Wir hatten doch depeschiert, Klein-Großchen,« fügte die blonde Hildegard hinzu.
»Ich habe nichts bekommen, Kinder – wahrhaftig nicht! Ich wär' ja lieber mit der Schiebkarre gekommen und hätt' euch heimgefahren, wenn's hätte sein müssen, als euch zu Fuß – –«
»Ha, ha, dies Bild! Klein-Großchen mit der Schiebkarre und ich als süße Last drauf, die langen Beine im Straßenstaub!«
Gunters Lachen mußte anstecken; jede Trübung war vergessen. Alle lachten und plauderten durcheinander.
Nur eine sah stumm und regungslos vor ihrem Teller. Sie war ja fremd unter frohen Menschen – unter diesen Frohen! Hatte Tante Fee denn je so lachende Augen, solch helle Stimme, wenn sie mit ihr sprach, wie jetzt, wo sie mit dem langen dünnen Menschen und dem schönen blonden Mädchen scherzte? Nie! Sie, Gladys, hatte gar nicht gewußt, daß Tante Fee so jung und schön aussehen konnte – so herzerquickend froh und strahlend. War das noch »ihre« Tante Fee?
Die beiden sagten ja auch Tante, und es würden noch mehr kommen, die so sagten, denen sie wirklich Tante war – noch acht weitere! Wie sollte sie, Gladys, da noch Raum finden?
Ein Seufzer kam aus dem jungen Herzen, und da er gerade in eine Pause des Gesprächs traf, so hörten ihn alle; es war ein schmerzlich klingender Laut, zumal wenn man die jugendliche Urheberin dazu ansah.
Mitleidig schauten Hildegard und Gunter drein, sahen fast scheu nach Tante Fee hin; sie ahnten, daß hier nicht alles stimmte. Da hob Vater Klaus die Gläser.
»Nun tut mir alle Bescheid: Unsere mit Ruhm bedeckten Examinierten – sie sollen leben, wachsen und gedeihen!«
» Vivat, floreat, crescat!« Hildegard und Gunter riefen es zugleich.
»Kinder, wenn ihr meint, daß ihr jetzt die Gelehrten herausbeißen müßt, so finde ich das einfach albern. Redet, wie euch der deutsche Schnabel gewachsen ist, damit andere Christenmenschen euch verstehen können! Ich sage: lebt und werdet vernünftig – basta!«
»Hurra, Klein-Großchen, unser Klein-Großchen!« Wie die zwei frischen jungen Menschen die geliebte Großmutter umdrängten.
Mit herzlichem Freuen sahen es alle am Tische. Nur eine rümpfte die Nase und dachte: »Ihr solltet sie nur kennen, wie ich sie kenne – die da!«
»Stößt die neue Base nicht mit uns an?« Gunter stand vor Gladys und hob ihr sein Glas entgegen.
»Ich nicht kenne der Sitte und trinken keinen Wein.«
»Denn nichts!« Nun war doch ein leichter Unmut in Gunters frohem Gesicht, während er sich mit Achselzucken abwandte.
»Laß sie,« sagte Klein-Großchen rasch. »Ich möchte nur wissen, was aus eurer Depesche geworden ist. Mußt doch mal auf der Post nachfragen, Klaus! Am Ende hat der alte Müller da eine Dummheit gemacht. Ich bin so traurig, Kinder, daß ihr so mühsam, so ohne Sang und Klang habt einziehen müssen.«
Da gab es ein Lachen und Widerreden, ein Beteuern und Trösten, und in dem allgemeinen Durcheinander klappte eine Tür. Gladys war gegangen.
Tante Fee erhob sich und ging ihr nach, ehe jemand wehren konnte.
»Nun läuft sie auch noch hinter ihr her,« seufzte Frau Friedel; es war aber ein Ungewisses in den Augen, die Vater Klaus streiften.
»Friedelchen, das tut nicht gut! Bedenke, wir müssen Fee zulieb Geduld haben.«
»Hab' ich denn die nicht, Klaus?« Frau Friedel riß die Augen so erstaunt auf, daß man sah, ihr war Ernst mit der Frage.
Er lachte nur.
»Und, Friedel, bedenke, sie könnte ja Fees Kind sein!« Das war Tante Lisa mit ihrer sanftesten Stimme.
Da aber feuerte Frau Friedel auf: »Dies Kuckucksei, Lisa? Nimmermehr!«
Gunter und Hildegard wollten lachen, aber da trat eben Tante Fee wieder ins Zimmer und hatte solch ein trauriges Gesicht, daß ihnen das Lachen verging. Vater Klaus winkte sich seine Älteste heran und seinem tröstenden Blick, seinem frischen, frohen Wort gelang es schnell, ihre Augen hell zu machen! Gladys, und was mit ihr zusammenhing, war für eine Weile vergessen. Ungetrübte Freude herrschte.
Die aber so viel Störung in den kleinen Kreis brachte – Klein-Großchens Kuckucksei – die lag oben vor ihrem Bett auf dem blanken Boden und krümmte sich in Not und Qual.
Kein Schmerz ist so gewaltig und trostlos wie junger, unerfahrener, well er wie in finsterer Nacht vor einer Felsensteile steht, die sich zum Himmel türmt. Wohin er blickt – Finsternis, wohin er tastet – Stein. Er kauert sich hin und will sterben) er hofft nicht weise auf den Morgen und sein Licht, wie die es tun, die wissen, daß ewiger Wechsel auf Erden ist.
Als Tante Fee vorhin an ihre verschlossene Tür pochte und bat: »Mach mir auf, Kind,« da hatte Gladys keine Antwort gegeben; sie hatte den Kopf tief in die Kissen ihres Bettes gewühlt, nichts zu hören, nichts zu sehen. Sie war just eben am Fuß der steilsten aller Schmerzensfelsenschroffen angelangt.
Tante Fee war still wieder gegangen. Der tiefe Seufzer, als sie sich wandte, klang Gladys in den Ohren nach. Zu tiefinnerst ins Herze konnte er nicht dringen; es lag noch allzuviel Schutt im Wege.
Als Gladys sich dann so müde geweint und gerungen hatte, daß ihre Müdigkeit über den Schmerz siegte, wollte sie zu Bett gehen. Da knisterte in der Tasche des Kleiderrocks ein Papier. Wie im Traum griff Gladys danach. Was war das?
Da wich die Müdigkeit; hellwache weitgeöffnete Augen starrten das Papier an. Das war ja, was der Mann ihr draußen im Walde gegeben hatte! Und war das nicht am Ende das Papier, die Depesche, worauf »die da« gewartet hatte? Die Depesche, die der lange Dünne und das frohe blonde Mädchen gesandt hatten, daß sie im Triumph und in Freuden heimgeholt würden in das großelterliche Haus, in dem sie taten, als ob es ihnen allein gehöre, die Übermütigen!
Geschah ihnen recht, diesen übermütigen Menschen!
Und daß »die da« um die Freude gekommen war, die zwei heimzuholen, die ihr so am Herzen lagen, das – ja, das war das beste von allem! Sie, Gladys, war froh, daß es so gekommen war – über alle Maßen froh!
In dem kleinen hellen Raum, der so recht ein freundliches Jungmadchenstübchen hätte sein können – von Frau Friedel mit Sorgfalt ausgestattet für »ihrer« Fee Kind – in dem Raum klang ein häßliches, unfrohes, hämisches Lachen von den Wänden, ein Ton, wie man ihn nirgends gern, am wenigsten in einem Jungmädchenstübchen hört.
Gladys stand am Fenster, durch dessen Spalt die herbe Frühlingsluft hereinblies. Ohne Besinnen überließ ihr Gladys das Papier; mochte sie es hinwehen, wohin sie wollte – – – –
Sie saßen beim Frühstück am anderen Morgen, alle, auch Tante Fee, die sonst wohl im Bett frühstückte, da sie sich immer schonen mußte. Heute wollte sie am ersten Morgen nicht fehlen, da Neffe und Nichte zugegen waren. Und noch ein Grund bestimmte sie, den sie aber vor sich selber nicht bekannte – Gladys. Ihr war, als müsse sie diese behüten und betreuen auf Schritt und Tritt, zumeist vor dem eigenen unguten Wesen. Ihr Sorgenkind!
Gunter war der einzige, der noch fehlte.
»Er wird einen Spaziergang gemacht haben,« sagte Hildegard. »Auf diese Morgengänge durch Wald und Feld hat er sich schon lang unbändig gefreut.«
»Gut, daß man das weiß,« rief Klein-Großchen strahlend.
Da stand der lange Gunter unter der Tür, die zum Garten führte.
»Morgen – guten Morgen allerseits! Wonnig draußen! Hier in Rödershof weiß man doch, daß Himmel und Sonne, Wolken und Wind in der richtigen Verfassung sind. In der Stadt – puh, nichts als Mauern und Steine! Übrigens, Klein-Großchen, dein Müller, oder wie er heißt, hat, wie es scheint, wirklich irgend eine Dummheit mit unserer Depesche gemacht. Sieh, was ich in deinem Stiefmütterchenbeet gefunden habe.« Er hielt Klein-Großchen ein durchweichtes Papier hin.
»Ist nicht mein Beet, Junge. Was hätte ich mit Blumen zu tun? Passen nicht zu mir und ich nicht zu ihnen. Höchstens, daß ich mich um den Kleestand kümmere und um die Futterrüben von wegen meiner Milchwirtschaft. Blumen sind Großvaters Sache.«
»Danke,« versetzte Vater Klaus und lachte, »Frauenlogik, Friedelchen.«
»Lach du nur, aber Blumen passen wirklich noch besser zu dir als zu – – was hast du von dem Papier gesagt, Junge?«
»Nachschauen, Klein-Großchen!«
»Ja, das ist eure Depesche, Kinder! Wie kommt denn die in den Garten? Laßt mich aber nur den Müller erwischen! Der hat sie im Dusel verloren und sich einfach aus dem Staub gemacht. Klaus, daß du mir zur Post gehst, gleich heute nachmittag! So was ist doch unerhört.«
»Friedelchen, der arme Mensch – –«
»Klaus, die armen Kinder!« Wie eine gereizte Löwin blickte Klein-Großchen drein. »Haben nach dem gräßlichen Examen auch noch zu Fuß gehen müssen, bloß weil der Müller, der Dussel –«
»Ich haben das Papier dahin geworfen, Mrs. Uödern!«
Hätte sich der Zimmerboden plötzlich gespalten, und irgend etwas Wunderschönes oder auch etwas erschreckend Furchtbares wäre zum Vorschein gekommen, Frau Friedel hätte nicht erstarrter dreinschauen können. Es fehlten ihr die Worte. Auch die anderen alle sahen wortlos auf Gladys, die sehr blaß war, deren Augen aber flammten.
»Ich nix wollen, daß Mann werden gestraft. Sein gute, arme Mann! Er haben mir Paper geben, weil haben steife Beiner –«
War Gunter es, der da lachte? Gladys hielt eine Sekunde inne.
»... und ich haben vergessen alles. Haben Paper erst wieder gefunden, wenn zu Bett gehen. Haben es dann Wind geben und der haben es fortgenommen.«
Tante Fee war die erste, die Worte fand.
»Gladys, das war sehr unrecht von dir. Vergessen kann jeder etwas, aber dann muß er offen seine Schuld eingestehen. Du hättest Großmutter das Papier bringen und sie um Verzeihung bitten müssen. Du wirst dies jetzt noch tun.«
Gladys stand todesblaß, wie zu Stein erstarrt; sie rührte sich nicht vom Fleck. Es war peinlich, dies große schlanke Mädchen wie ein verstocktes trotziges Kind dastehen zu sehen.
Gunter nahm seinen Hut, den er sonst nachlässig irgendwohin warf, und trug ihn hinaus. Hildegard entdeckte plötzlich, daß sie ihr Taschentuch vergessen hatte, das sie notwendig brauchte. Die Tür schloß sich hinter den beiden.
»Gladys,« mahnte Tante Fee, »Gladys!« Wie weich und schmerzgetränkt die Stimme klang!
»Geh, Kind – sag: ›Es tut mir leid, Großmutter.‹ Ist denn das so schwer? Darfst auch Guoßmutter sagen.« Es war komisch zu sehen, wie Vater Klaus den Mund verzog, um das schwierige Wort auszusprechen.
Aber Gladys stand wie erstarrt trotz der freundlichen Augen, die so dringlich in die ihren schauten.
Da – sie hatte den Blick wieder Tante Fee zugewandt – sah sie, wie zwei große Tränen der übers Gesicht liefen. Mit zwei langen Schritten stand sie vor Tante Fee: »Du nicht sollen weinen for mir. Ich werden sagen.« Und sich Klein-Großchen zuwendend, kam es wie eine eingelernte Papageienrede über ihre Lippen: »Sein mir leid, daß ich haben vergessen Paper, Mrs. Uüdern.« Sprach's und war zur Tür draußen, ehe jemand sie hatte halten können.
Sie atmeten auf, alle, auch Klein-Großchen, obgleich sie nicht ganz zufriedengestellt schien.
Gunter und Hildegard streckten den Kopf wieder herein.
»Ist das hochnotpeinliche Gericht vorüber?« Der große Junge lachte.
»Ich möchte darüber keinen Scherz hören,« erwiderte Klein-Großchen mit ihrer unnahbarsten Miene, lachte aber gleich danach: »Kinder, wir wollen uns die Laune nicht verderben lassen. Was tun wir heute?«
»Schlafen,« sagte Gunter und gähnte herzhaft. »Klein-Großchen, wir müssen erst wieder Menschen werden, die Base und ich – einstweilen sind wir ausgequetschte Zitronen.«
Da war Klein-Großchen des Mitleids voll, verstaute die beiden, trotz lachenden Widerspruchs, jeden auf ein Sofa und hielt sie auch dort den Tag durch, mehr oder weniger widerwillig. Fee hatte Gladys vorgenommen, als diese von ihrer Streiferei heimkehrte.
»Wie konntest du dich so wenig freundlich entschuldigen und gleich danach weglaufen, da du doch im Unrecht warst?«
»Sie mich nix lieben – ich ihr auch nix lieben.«
»Gladys, es ist doch meine Mutter – denkst du daran gar nicht?«
»Du ihr lieben?«
»Kind, hast du deine Mutter nicht geliebt?«
»Sein meine Mutter eine Engel gewesen.«
»Siehst du nicht, wie wir alle meine Mutter lieben? Sie ist so gut!«
»Sein nix gut mit mir. Haben mich nix lieb.« Gladys warf den Kopf hintenüber; ihre Augen sprühten.
Konnte Fee dem mit gutem Gewissen widersprechen?
Tief traurig sagte sie nur: »Wenn du mich lieb hast, Gladys, versuchst du, dir meiner Mutter Liebe zu verdienen. Jede Liebe muß errungen sein.«
»Du mir haben lieb gehabt, wo ich sein so bös gewesen – du sein Engel.« Gladys lag vor ihr am Boden und hatte die Arme um ihre Knie geschlungen. »Ich dich habe so lieb wie mother!«
Da ging die Hoffnung auf ein Gelingen warm durch Fee hin. Tapfere, ausdauernde Liebe versetzt ja Berge. – –
Hildegard und Gunter waren nun bereits vierzehn Tage in Rödershof. Sie hatten sich von Klein-Großchen redlich verwöhnen lassen, hatten ihre Examensmüdigkeit abgeschüttelt und streiften jetzt nach Herzenslust im Walde umher, sich freien Kopf und rote Backen zu holen.
Sie hatten zuerst versucht, Gladys zum Mitgehen zu bewegen, waren da aber auf solch unfreundliches Ablehnen gestoßen, daß selbst Tante Fee mit Tränen in den Augen bat, die junge Wilde einstweilen sich selbst zu überlassen.
»Denn seht ihr, Kinder, wer immer mit Füßen gestoßen worden ist, der muß der liebkosenden Hand erst trauen lernen. Glaubt mir, Gladys ist ein armes Kind.«
Sie waren jung und warmherzig und wollten es gern glauben. Sie sahen aber auch, wie die angebetete Tante unter der Art des Mädchens litt, das ihr Kind werden sollte, und ihre Gefühle waren sehr geteilt.
Jedenfalls war mit der Fremden ein Geist des Unbehagens in Rödershof eingezogen, der da sonst nicht heimisch gewesen war, und die Enkel des Hauses, denen der Großeltern Heim der Inbegriff von Friede und Freude gewesen war, empfanden dies sehr. Das Thema Gladys war unerschöpflich in seinem Für und Wider. Auch heute verhandelten es die beiden, da sie unter dem grünen Dom des Buchenwaldes hingingen, wo die Sonnenlichter tanzten und die Vögel ihre Frühlingslieder sangen.
Jetzt ragten Steinmauern im grünen Geäst auf, zerbröckelnde Mauern, die längst ihrem eigentlichen Zweck nicht mehr dienten, Menschen eine Heimat zu sein.
Die sie einst beherbergten, waren lange tot; deren Geschicke hatten sich erfüllt. Die Mauern aber ragten weiter, bröckelten weiter, und noch Jahrzehnte würde es währen, bis auch ihre Spur sich verwischte im grünen blühenden Leben, das sie umwucherte – bis ihr Gestein nur ein toter Haufe war, über den Moos und Gras ungehindert krochen.
Aber einstweilen ragten die bröckelnden Mauern noch, und sie selber überragte ein trutziger Bergfried mit noch ungebrochenen Zinnen. Einer Linde Geäst hatte sich fast zu seiner Höhe gereckt. Als hier noch Menschen hausten, war sie ein Samenkorn gewesen.
»Das Schloß, Gunter! Sind wir denn schon so weit?«
»Ja, Bäslein! Es fördert, wenn wir beide ausschreiten.«
»Ich bin wirklich ein wenig müde, Gunter. Wollen wir uns setzen?«
»Ins Moos hier, Hildegard – am Fuß des Bergfrieds. Der alte Bursche hat sicher noch kein Frauenzimmer mit bestandenem Maturum gesehen. Was, alter Herr?«
Grüßend schwang Gunter seinen Hut den Zinnen zu.
Da war es ihm, als habe er einen Kopf sich blitzschnell zurückziehen sehen. Es mußte aber eine Täuschung gewesen sein. Wer sollte in dem verfallenden Gemäuer herumklettern?
Hildegard hatte es sich schon im dicken Moos bequem gemacht. Er setzte sich an ihre Seite, und ihr Gespräch ging munter weiter.
Den steilen Berghang dort, wo er am unwegsamsten sich gab, war kurz vorher eine schlanke Mädchengestalt emporgeklommen: Gladys. Sie liebte solche Wege, wo es Hindernisse zu überwinden galt. Ihre überschüssige junge Kraft konnte sich da Luft machen. Staunend sah sie die Mauern. Hierher hatte sie zuvor noch nie gefunden.
Oh, sie konnte auch einen weiten, wunderschönen Weg machen, wie ihn der lange Dünne vorher lockend versprochen hatte! Sie konnte ihn sogar allein machen, was besser war, denn die zwei meinten es ja doch nicht ernst, wenn sie sie aufforderten, mitzukommen.
Er hatte ja freundliche Augen, der lange Dünne – das stimmte – und auch das große blonde Mädchen sah gut und lieb aus. Aber – – sie waren »ihre« Enkel! Wie konnten sie es also gut mit ihr meinen? Nein, sie taten ja nur so, Tante Fee zuliebe – wer würde der nicht alles zuliebe tun? und sie waren froh, wenn sie, Gladys, nicht mitkam. Weshalb sollten sie sie auch dabei haben wollen? So eine wie sie war, so eine heimatlose Fremde?
Aber waren sie es denn nicht, die dort auf dem breiten Waldweg, der aussah wie eine Kirche, so wölbten sich die Bäume drüber – waren es nicht die zwei, die da lachend heranschlenderten und so glücklich aussahen, so unbekümmert?
Die hatten gut so aussehen – hatten gut lachen! Wohin sie schauten, lachte alles ihnen zu; wer sollte da nicht zurücklachen?
Arme junge Gladys! Was wußte sie davon, daß das Leben jedem zurücklachen will, der ihm eine frohe Miene zeigt und lachen kann, auch wenn es stürmt!
Sie hatte den Kopf gewendet, nach einem Unterschlupf zu suchen. Sie brauchten sie nicht hier zu finden, sie dachten sonst am Ende gar, sie sei ihnen nachgelaufen. Das wäre noch schöner! Nein, der Turm da, der bot ein gutes Versteck; da würde sie niemand suchen. Also hinein!
Sie tastete sich die zerfallende Treppe hinauf und ahnte nicht, daß sie damit ihre Glieder gefährdete, denn die Treppe war längst nicht mehr ohne Gefahr zu ersteigen. Aber ein Engel beschirmte sie.
Oben war der Rundblick so herrlich, daß sie alles darüber vergaß und um ein Haar laut hinausgejubelt hätte. Doch sie hörte im selben Augenblick die Stimmen der Nahenden heraufklingen. Da lugte sie über die Turmzinnen vor, fuhr aber sogleich zurück, und ihr Herz schlug ihr im Hälfe. Der lange Dünne hatte gerade heraufgesehen! Entdeckt konnte er sie freilich nicht haben) sie war zu schnell gewesen. So stand sie, hatte die Hände auf dem Herzen, seinen schnellen Schlag zu dämpfen, und lauschte.
Sie wollten sich ins Moos lagern, die zwei; so sagten sie. Und sie taten es; ein vorsichtiger Blick zeigte dies der Lauscherin.
Sie neckten sich erst ein bißchen – immer dies dumme Examen, von dem alle solch ein Aufheben machten! Dann sagten sie eine Weile nichts. Gewiß schauten sie nun auch durch das grüne Blätterdach in den blaugoldenen Himmel hinein, und sahen, wie wunderschön alles war.
Und – – was redeten sie da? War denn das nicht ihr Name, der da unten genannt wurde? Glah–diß, sagten sie, und das klang so komisch. Die oben mußte in sich hinein lachen. Aber dann! Was hatten sie von ihr zu sprechen? Was sagten sie?
Gladys wußte nichts davon, daß Lauschen nicht schön ist, und der Lauscher zumeist sich selbst straft. Ihr dünkte es ein glücklicher Zufall; nun konnte sie doch hören, wie die zwei über sie dachten! Und sie streckte den Kopf vor, soweit es die Klugheit irgend gestattete.
Da hörte sie allerhand, was ihr das Blut ins Gesicht trieb und die Hände ballen machte. Sie hörte auch, was die geballten Hände lösen wollte, was ihr warm ans Herz griff, ob sie sich auch dagegen wehrte.
Aber jetzt sprachen sie von der, die sie »Klein-Großchen« nannten. Ihre Stimmen waren sonderbar weich geworden; es lag die Liebe drinnen, die in ihren Herzen wohnte für die kleine böse Frau, die ihr, Gladys, so übelwollte.
Ja, jetzt sagte der lange Dünne ganz deutlich: »Wenn das fremde Mädchen nicht versteht, sich Klein-Großchens Liebe zu gewinnen – Klein-Großchen ist so gut – dann wird eben Tante Fee sich doch entschließen müssen, eine Änderung zu schaffen!«
Das also war's! Darauf ging's hinaus! Sie wollten ihr, Gladys, Tante Fees Liebe nehmen! Wollten sie wieder hinausstoßen in die Welt, bloß damit »die da« ihren Willen habe! So falsch waren sie mit ihren freundlichen Augen und Worten!
Was hinderte sie, Gladys, denn, daß sie einen dieser bröckelnden Steine hinunterstieß, damit er ihnen auch einmal weh täte – weh, wie sie ihr taten – so unsagbar grausam weh! Was war ein blutiger Kopf gegen ein blutendes Herz?
Oh, diese Falschen! Da saßen sie gerade unter ihr, lachten nun wieder und waren mit Gedanken und Rede schon ganz wo anders! Ahnten nicht, was sie ihr getan hatten, ahnten nicht – – –
»Um Gottes willen, der Stein! Rettet, o rettet euch!«
Sie wollte es rufen, aber die Stimme versagte. Totenblaß, mit schreckenstarren Augen, mit verkrampften Händen lag Gladys hinter der niedrigen Zinnenmauer, die die Plattform des Bergfrieds umgab.
Das hatte sie nicht getan – das nicht! Gedanken bringen doch keinen Stein ins Rollen! Ihr hastiges Hinausbeugen mußte ihn, den die Zeit schon lange zum Sturz vorbereitet hatte, vollends gelöst haben. Das hatte sie nicht gewollt – das nicht!
Wie der Blitz am Gewitterhimmel, so zuckte dies durch den Kopf der Hingestreckten, und sie lauschte mit versagenden Sinnen in die Tiefe. Jetzt ein Schrei – ein dumpfes Aufschlagen – noch ein Schrei. Der Lauschenden vergingen die Sinne.
Als sie wieder zu sich kam, denken und hören konnte, klang es ganz deutlich von unten: »Gott sei Dank, jetzt machst du doch wieder die Augen auf! Bist du sehr verletzt, Hildegard?«
Eine schwache Stimme erwiderte: »Ich glaube nicht, Gunter. Es war nur der Schreck, wie der Stein so zwischen uns niedersauste. Da an der Stirne hat er mich ein bisset gestreift – ein bissel Blut, nicht der Rede wert! Gunter, mach keine solch entsetzten Augen! Unkraut vergeht nicht.« Die es sagte, versuchte zu lachen; es wollte aber nicht so recht glücken.
»Ein paar Zentimeter weiter nach rechts, und es wäre dein Tod gewesen, Hildegard. Solch einen Brocken auf den Kopf, dem hält keiner stand.«
»Es war für dich dieselbe Gefahr; wir sind also gleich auf gleich. Weshalb die verstörten Augen, Gunter? Es ist ja alles gut abgelaufen.«
»Um Himmels willen, rasch Hildegard – rasch, steh auf! Kannst du stehen?«
»Wenn du mich nicht so fortreißen willst, Junge! Ich muß doch erst auf den Füßen stehen. So! Weshalb diese Hast, du bist ja ganz verstört?«
»Es könnte – – ein zweiter Stein – ich – ich traue nicht – komm rasch, Hildegard – hierher unter die Linde! Da ist keine Gefahr.«
»Junge, wenn ich nur wüßte, was dich so schreckt! Weil ein Stein sich gelöst hat, wird doch nicht gleich das ganze Gemäuer – –«
»Rede nicht, Hildegard – komm! So – hier, laß mich nach deiner Schramme sehen! Nicht der Rede wert! Drunten am Bach setzen wir uns, und ich mache dir Umschläge, dann wird das Blut schnell gestillt sein.«
»Also keine Ursache, so bestürzt auszusehen, wie du es tust.«
»Hildegard, glaubst du an Bosheit, die bis zu dem Grad ginge, daß sie ein Leben gefährdete, daß – –?«
»Was willst du damit sagen, Gunter?«
»Nichts, nichts! Komm – rasch, daß wir aus dem Bereich dieses Unglücks – – –«
Die Stimmen verklangen.
Die Lauscherin oben lag auf den Knieen und hatte die Hände gegen die Brust gepreßt. Heiße helle Tränen stürzten ihr über das Gesicht. Ihre Augen blitzten.
»Er denken, daß ich – – Gott, mein Gott, ich danken dir, daß Stein nicht haben tot gemacht der große blonde Mädchen! Ich danken dir! Du wissen, ich nicht habe gestoßen Stein – haben nur gedacht, wenn vielleicht Stein wollte fallen. Ich danken dir, lieber Gott!«
So betete Gladys mit zitternden Lippen und todblassem Gesicht. Aber das Gebet machte ihr das Herz nicht leicht. Sie hatte noch nicht begriffen, daß böse Gedanken wie wirkliche Schuld wiegen, und daß es zu den schwersten Strafen des Gewissens gehört, böse Gedanken ohne unsere Schuld zur Wahrheit werden zu sehen.
Es gab daheim ein großes Jammern um des lieben Mädchens Unfall. Klein-Großchen umsorgte die Enkelin mit allem Erdenklichen, bis diese sich wehrte und als angehende Medizinerin solches Aufbauschen eines kleinen Unfalls lachend sich verbat.
»Kleiner Unfall?« rief Klein-Großchen. »Gunter sagt, wenn dir Stein nur eine halbe Handbreit weiter rechts niedergefallen wäre – ich mag es gar nicht ausdenken! Klaus, du mußt dem Forstrat berichten! Das Gemäuer wird lebensgefährlich; man muß die alten dummen Steine fortschaffen.«
»Klein-Großchen, die wundervolle Ruine!«
»Wenn sie meiner Enkelin fast das Leben kostet?!«
Gunter war merkwürdig still und geistesabwesend, so daß Hildegard ihn neckte: »Ist dir der Schreck um mein Leben so in die Glieder gefahren, Junge?«
Er gab gar keine Antwort, hatte sichtlich nicht gehört. Sonderbar oft faßte er dagegen Gladys in die Augen, die, als alle schon am Mittagstisch saßen, leise hereingeglitten war und sich lautlos auf ihren Platz gesetzt hatte.
»Wo bist du gewesen, Kind?« fragte Tante Fee sanft.
»Oh, in Wald,« antwortete Gladys so obenhin.
»Hältst du nun dies Herumstreifen für richtig, Fee? Ich dächte, jeder müsse seine Pflichten haben,« bemerkte Frau Friedel.
»Wir haben mit unseren deutschen Stunden Ferien gemacht, weil die andern auch Ferien haben,« sagte Fee sanft. »Ich dachte, die Jugend sollte zusammen – –«
»Ferien müssen sein,« bestätigte Vater Klaus vergnügt, »dann schmeckt das Lernen nachher doppelt gut.«
Nach Tisch lag Gunter auf dem Rasen mitten in der Frühjahrssonne, wie er es zu tun liebte. Aber heute schien ihm die Sonne gar nicht hell.
Zweifel plagten ihn. Er glaubte mit Bestimmtheit annehmen zu können, daß es Gladys wirtlich gewesen war, die er auf dem Turm erspähte. Und war sie es, – wie kam das mit dem Stein? War er von selbst gefallen? Oder hatte sie ihn – –? Gunter schüttelte sich jedesmal in Grauen, wenn er so weit gelangt war.
Durfte er aber die Sache für sich behalten? War das Mädchen in seiner Bosheit am Ende gar gefährlich? Durfte er dann seine Lieben ohne Warnung solchen Möglichkeiten aussetzen, wie eine heute ihn und Hildegard bedroht hatte?
Aber Tante Fee! Und das Mädchen selbst, das doch ein armes, verlassenes Geschöpf war? Wußte er denn sicher, auch wenn sie auf dem Turm gewesen war, ob sie den Stein geflohen hatte? Konnte solche Bosheit – –?
Da schob sich ein Schatten zwischen ihn und die Sonne. Er blickte auf. Gladys stand zwischen ihm und der Sonne, und diese griff ihr in die Haare, daß sie ihr den Kopf feurig umlohten. Es sah schön aus und blendete Gunter schier. Er legte die Hand über die Augen.
»Ich uollen sagen, Stein habe ich nicht geuorfen!«
Er stotterte; eine Flamme schlug ihm übers Gesicht. Seinen geheimsten Gedanken so plötzlich Worte verliehen zu sehen, war ihm peinlich.
»Ich – ich – wie kommen Sie darauf, Gladys?«
»Du mich haben gesehen – ich ueiß uohl – und du denken, ich sei der Schuld,« Gladys verstand wie viele Ausländer noch nicht den richtigen Unterschied zwischen Sie und Du. »Ich nicht haben gestoßen! Ich – ja, ich nur haben gedacht, uenn Stein nun uolle fallen.« Sie warf den Kopf hintenüber, und ihre Augen sprühten ihn schier versengend an.
Er sprang auf.
»Gladys, um Himmels willen, weshalb hassen Sie uns? Wir haben doch Ihnen nie etwas getan.« Ehrlicher Schreck war in feinen Augen, seiner Stimme.
»Ich euch hassen, ueil ihr mich nicht uollt bei Tante Fee lassen – ueil ihr arme Gladys uieder uollt stoßen auf Gasse, ueil – – ich euch hassen, alle, alle!«
Sie zitterte, daß sie kaum stehen konnte, und war totenblaß; Tränenbäche stürzten ihr über das Gesicht.
Großes Mitleid überkam ihn, trotz ihrer wilden Worte. Die waren ja im Grunde nur wie das hilflose Wehren eines in die Enge getriebenen Tieres. Er beugte sich und sah ihr tief in die Augen.
»Es trifft Sie also keine Schuld an dem Stein?« Er brauchte noch eine Versicherung, sein Gewissen zu beruhigen. Sie sah ihn einen Augenblick fest an: »Ich nur denken, nicht stoßen!«
Das war Wahrheit; er sah es. Tief atmete er auf, und nun hatte das Mitleid die Oberhand.
»Niemand von uns denkt daran, Sie vertreiben zu wollen, Gladys.«
»Aber sie – kleine böse Frau!«
»Klein-Großchen?« Er stand nun dicht vor Gladys und hatte ihre Hand gefaßt.
»Klein-Großchen ist gut, Gladys – sehr gut!«
»Nicht mit fremde Mädchen! Lieben ihr nicht – uollen ihr forthaben – sagen ihr Kuckucksei – ich gut uissen!«
Konnte er es leugnen? Er räusperte sich und suchte nach Worten.
»Und sie mich uollen nicht Tante Fee lieb haben lassen und sein doch Engel!« fuhr Gladys fort.
So fühlte auch er, und sie war ihm ein ganz Teilchen näher, die seltsame Fremde.
»Und ich sein so arm – haben nur Tante Fee, uo mich haben lieb, und sie haben euch alle, kleine böse Frau! Uarum sie uollen mir alles nehmen?«
»Gladys, Sie übertreiben! Versuchen Sie, Klein-Großchen für sich zu gewinnen – wollen Sie?« Er hielt ihr die Hand hin, und seine guten Augen sahen tief in die ihren.
Aber sie blieb trotzig und verstockt; sie riß ihre Hand aus der feinen und stammte ihn an.
»Mich nichts uollen uissen von kleine böse Frau und – und – mich nur haben Tante Fee lieb!«
Sie sah ihn herausfordernd an. Etwas in seinen Augen machte sie weicher.
»Du – du sein auch gut, ich glauben. Du nichts sagen von Stein? Ich nur denken, nicht stoßen. Sie mir sonst jagen fort, und ich haben niemand, niemand in ueite Uelt.« Nein, er würde nichts sagen, gewiß nicht! Daß sie wahr sprach, sah man ja. Daß sie ihre geheimen Gedanken ehrlich gestand, das bürgte erst recht für sie, und daß Tante Fee sie lieb hatte, bewies, daß diese an das Gute in der Fremden glaubte. Und daß Gutes da war, das sah auch er.
Sie schaute ihn noch immer an mit den bittenden Augen in dem todblassen Gesicht, um das die goldenen Haare glühten.
»Ich werde nichts sagen – verlassen Sie sich darauf!«
»Ich danke – – oh, ich danke!«
Wie einem guten Kameraden reichte sie ihm die Hand, und er drückte sie ihr, wie er es einem guten Kameraden getan hätte. Die arme Gladys hatte sich einen Freund gewonnen, der an sie glaubte – trotz allem.
Sie eilte dem Haus zu. Er lag weiter in der Sonne und ließ sich bescheinen.
Als aber Gunter mit Hildegard bald danach abreiste, da ging er nicht mit leichtem Herzen. Er sah schon tiefer ins Leben, denn er war ein besinnlicher Mensch, und er wußte, daß dahinten in dem friedlichen Großelternhause Mißstimmung, ja Unfrieden an die Tür pochten und Einlaß begehrten – und daß alle gegenseitige Liebe derer darinnen den bösen Gästen auf die Dauer den Eintritt nicht würde wehren können. Und wie er sich auch verhärten wollte, er konnte sich des Mitleids nicht erwehren mit der Ursache all dieser Umwandlung, mit Klein-Großchens Kuckucksei, dem langaufgeschossenen fremden Mädchen mit den brennenden Augen und den brennenden Haaren, mit Tante Fees Schützling.
Gladys stand am Fenster von Tante Fees Zimmer, hatte das Gesicht gegen die Scheiben gepreßt und starrte hinaus.
*
Tante Fee saß in ihrem Fahrstuhl. Es war wieder einmal eine Zeit, in der sie sich elender als gewöhnlich fühlte. Es hatte so vielerlei Erregungen aller Art gegeben, seit Frau Lu und Frau Li mit ihrer ganzen Schar zu den Sommerferien gekommen waren.
Seit drei Tagen waren sie schon da, und jeder Tag hatte eine neue Erregung gebracht. Denn Gladys stand schroff abseits und wollte sich um keinen Preis mit den Kindern befreunden.
Eben hatte sie wieder eine Auseinandersetzung mit dem Mädchen darüber gehabt. Aber Gladys wurde immer verstockter; kaum daß sie ihr eben noch ein freundliches Wort gab. Und dort stand sie nun, finster und trotzig! Tante Fee taten die bösen Augen des Mädchens weh.
Würde sie je dies trotzige Herz erschließen können? Den störrischen Sinn erweichen? Fast verzweifelte sie daran, seit Gladys anfing, sich auch von ihr finster abzukehren.
Und doch konnte sie es nicht über sich bringen, mit Strenge vorzugehen! Sie hatte die feste Überzeugung, daß dann alles verloren wäre, daß dies arme finstere Herz sich dann völlig verstocken würde.
Auch Tante Lisa riet zu abwartender Milde; man solle Gladys soviel als möglich einstweilen von den Kindern fernhalten, damit es keine Zusammenstöße gebe. So sah Gladys diese eigentlich nur bei den Mahlzeiten.
Wie sie jetzt am Fenster dort stand, brütend und finster, hatte sie auch gestanden, als vor drei Tagen Klein-Großchen gefahren war, sich ihre Lieben wieder einmal heimzuholen. Wie dann die beiden Wagen auf den Hof fuhren und man das frohe Getöse von unten hörte, bat Tante Fee aus ihrem Fahrstuhl freudig erregt: »Sag mir, ob alle da sind, Kind, und wie sie aussehen!«
Da hatte Gladys unfreundlich und widerwillig hervorgestoßen: »Uie ich können uissen! Sein so viel wie Spatzen auf Dach. Ich nix uollen sehen!«
Sie setzte sich an den Tisch, nahm ein Buch vor, verstopfte sich die Ohren mit den Fingern und stützte den Kopf auf beide Ellbogen. Sie ließ sich auch kaum stören, als dann alle kamen, Tante Fee zu begrüßen. Nur deren wiederholtem Anruf gelang es, daß sie sich schließlich erhob und zur Not höflich Frau Lu und Frau Li guten Tag sagte. Aber sie tat dies mit so finsterer Miene, daß die Kleinen sich fast vor ihr fürchteten.
Seitdem waren drei Tage vergangen, und jeder hatte kleine Zusammenstöße mit den Kindern gebracht. Sie waren freilich von ihren Müttern gewarnt worden, und letztere hatten versucht, das Mitleid für die Fremde zu wecken. Aber Kinder fühlen fein. Daß das finstere Mädchen kein Mitleid wollte, das war klar; auch liegen Necken und Schabernack, der oft an Grausamkeit grenzt, weit eher in der kindlichen Natur. Konz und Dieter namentlich taten ihren Gefühlen keinen Zwang an.
Auch jetzt nicht! Sie hatten vom Hof aus Gladys am Fenster erspäht und allerhand liebenswürdige Gebärden hinaufgeschickt. Dann hatten sie zusammen getuschelt und waren eilig nach den Wirtschaftsräumen zu verschwunden.
Gladys waren die Liebenswürdigkeiten, die ihr galten, nicht entgangen, aber sie war zu weit im finsteren Tal drin, als daß es sie hätte reizen können. Eben hatte sie Tante Fee wieder eine häßliche Antwort gegeben; die bohrte und brannte nun.
Aber was bedeutete das Indianergeheul der beiden Jungen?
Da unten tanzten sie auf dem Hofe in wilden Sprüngen, brüllten vor Wonne, sahen zu ihrem Fenster auf und hoben die Hände zu ihren Köpfen und – –
Himmel, was hatten die denn darauf? Wie sahen sie aus?
Gladys sah nun doch genauer hin. Jeder der Buben hatte sich einen dicken Büschel Gelberüben über den Kopf gestülpt, die auf dem Wirbel zusammengefaßt waren, das grüne Kraut nach innen. Eine sonderbare Perücke.
Und mit einem Male war es Gladys klar, daß dies eine Verhöhnung ihrer Haare bedeuten sollte; es hätte des jubelnden Hinweises der Buben nicht bedurft, die schrien: »Ätsch – ätsch! Gelerüwe – Gelerüwe! Die hat Gelerüwe auf dem Kopf!«
Sie verstand soviel von der Volksmundart, um den Zuruf zu begreifen, und ihr war, als höre sie die kleinen Straßenbengel Londons höhnen: »Carrots! Äh äh, carotty!«
Wie einst dort, riß sie jetzt das Fenster auf, und wie dort schmähte ihr Mund in Ausdrücken, die ein Mädchenmund nicht finden dürfte. Gut, daß alles sich in Englisch ergoß! Aber sie schloß deutsch: »Ihr sein schmutzige kleine Deufel – unverschämte Rackers!«
Jubelndes Hallo von unten antwortete. Als Gladys sich zornglühend umwandte, sah sie Tante Fee, in Tränen und ganz matt, in den Kissen liegen. Sie streckte die Arme nach ihr aus, aber Gladys eilte zornentbrannt zur Tür, und deren Zuschmettern verschlang Tante Fees schwaches: »Gladys, aber Gladys!« Da sie in den Hof wollte, überrannte Gladys die zwei kleinen Blonden, die auf den zur Tür führenden Freistufen hin und her hüpften, in die Hände schlugen und der kleinen Vettern Scherz belachten. Rechts saß Leni, links saß Lisi unsanft auf dem Boden, und nun zeterten die Kleinen gewaltig.
So urplötzlich war Gladys als Richterin und Rächerin erschienen, daß den Missetätern die Flucht mißglückte. Konz hielt sie rechts, Dieter links am Ohr. Die schrien nicht, aber behaglich schauten sie nicht aus den Augen.
»Weg, ihr Rackers – uollen ihr gleich die Geleuüben fortnehmen!«
Sie taten so, wortlos; aber dann rissen sie sich los und waren am Hoftor, ehe Gladys noch ausgeredet hatte. Zu deren Füßen lagen die gelben Rüben; sie bückte sich danach und hielt die Bündel in Händen. Noch ein Hohnlachen vom Hoftor, und die Missetäter waren verschwunden.
Da tönte vom Hause eine Stimme: »Was sind das wieder für neue Tollheiten? Die gelben Rüben waren für morgen zum Mittagessen bestimmt. Ich verbitte mir derlei, Mamsell! Hierher – Leni und Lisi, was zupft ihr mich denn so am Rock? Und weshalb sitzt ihr hier auf den Steinen mit verheulten Gesichtern? Es ist ein Kreuz mit den Rangen, und wenn jetzt auch noch die da –«
Gladys schleuderte der Rufenden einen bitterbösen Blick zu, aber – sie schleuderte ihr auch die Rübenbündel mit mächtigem Schwung vor die Füße. Dann flog auch sie zum Hoftor hinaus in den Wiesengrund. Mochte »die da« hinter ihr herrufen!
Als sie um die Hausecke bog, rannte sie gegen Walter, der mit der blonden Irmingard in den Wald schlendern wollte.
»Holla,« sagte der und breitete neckend beide Arme aus, »Sperre – Zoll!« Zugleich bat die sanfte Irmingard: »Willst du nicht mit uns kommen, Gladys? Walter und ich kennen dich noch gar nicht, und wir möchten so gerne mehr von der neuen Base wissen.«
Aber wortlos, die brennenden Augen starr vor sich hin gerichtet, drängte Gladys ungestüm den hindernden Walter zur Seite und rannte mit langen Schritten dem bergenden Walde zu.
Sie sahen hinter ihr her.
»Scheint ja recht gesellig veranlagt,« sagte Walter, aber die sanfte Irmingard versetzte: »Mir tut die Arme leid. Gunter hat mir von ihr erzählt; er meint, es sei Gutes in ihr. Es muß ja auch schrecklich sein, so allein zu stehen. Wenn ich bedenke, wie reich ich dagegen bin!«
»Mir scheint die junge Dame durchaus kein Bedürfnis nach Anschluß zu haben,« entgegnete Walter und rieb sich den Arm. »Sie hat es kräftig zum Ausdruck gebracht.«
»Weshalb bloß Klein-Großchen so erregt schilt? Laß uns nachsehen, Walter! Vielleicht haben die Kleinen was angestellt.« Sie traten in den Hof und hörten die neueste Untat von Gladys. Klein-Großchens Augen flammten bei dem Bericht.
»Aber –« sagte Leni.
»Aber –« stotterte List, »Konz und Dieter haben die Rüben – – «
»Ja, sie haben die Rüben geholt und – – «
»Und – – «
Nun kam die sich überstürzende Erzählung. Leni und List waren wahrheitsliebende kleine Mädchen, und in der Erinnerung an den tollen Streich der Vettern versiegten die letzten Tränen.
»Einerlei,« schloß Klein-Großchen die Angelegenheit und war dabei in ihrem Ärger ungerecht, »weshalb hat sie rote Haare!«
Gladys war währenddes blind in den Wald gestürmt. Sie hatte sich unter einer hohen Fichte ins Moos geworfen, den Kopf hinein gebohrt und wollte nichts mehr von der schlimmen Welt hören noch sehen.
Eine Weile lag sie so, Tränen fand sie keine, dazu brannte es allzu mächtig in ihr.
Etwas fiel ihr empfindlich hart auf den Kopf) sie achtete es nicht. Das war gewiß so ein »Eichenkatz«, das sich vergnügte. Mochte es!
Wieder traf sie ein Geschoß, diesmal zwischen die Schultern. Was lag daran. So ein kleiner körperlicher Schmerz tat eher wohl.
Aber nun, ein wahrer Hagel prasselte nieder auf Kopf, Schultern, Arme und Hals. Das war schon kein Spaß mehr! War auch kein »Eichenkatz«! Am Ende wieder die bitterbösen Buben?
Gladys starrte wild um sich. Nichts zu sehen rings! Aber oben im Baum kicherte es, und nun setzte ein neuer Hagel ein. Die Fichtenzapfen trafen nun auch das Gesicht.
Im dichten Geäst der Fichte war zuerst nichts zu entdecken. Aber da streckten sich aus den unteren Ästen vier Füße vor, die in Spangenschuhen staken und gar vergnüglich wippten. Dann sah man auch der beiden Friedel Schelmengesichter durchs Geäste lugen, Friedeli rechts, Friedelu links.
»Fein – was?« riefen sie und lachten. »Wer hast du gedacht, daß es sei, Glah-diß?«
Der Derbheit ihres Angriffs waren sie sich nicht bewußt, nur des wundervoll gelungenen Überfalls. Sie verkannten darum auch das zornrote Gesicht, die flammenden Augen der Angegriffenen, die nun dicht unter ihnen stand.
Wortlos packte sie die vier Füße zugleich wie im Schraubstock trotz des zappelnden Wehrens, das lustiges Quieken begleitete. Die Friedel nahmen es gleichfalls für einen Scherz, für dessen Derbheit sie Verständnis hatten.
»Au du,« quiekte Friedeli, »paß auf, ich falle! Sie klammerte sich ins Geäst und strampelte wie toll.
»Au du,« quiekte auch Friedelu, »laß gefälligst sein, sonst segle ich herunter,« und sie tat wie ihre Base.
Da hatte Gladys die vier Spangenschuhe in Händen; nun zischte sie: »Ihr sein gerade so garstige Deubel wie Buben, ihr! Uas ihr mich uerfen, wo ich nix haben getan?«
»Aber das war ja nur – –«
Spaß wollten sie sagen, kamen aber nicht so weit. Gladys hatte ihnen die geballten Fäuste entgegengeschüttelt, an denen die Spangenschuhe baumelten. Augen und Gesicht sprühten Zorn; darüber flammten die Haare, in die ein Sonnenstrahl fiel. Dann wendete sie sich und floh mit Sätzen wie ein verfolgtes Wild.
»Unsere Schuhe! – Unsere Schuhe, du!« quiekten die Friedel hinterher – ohne Erfolg.
»Du, das war Ernst,« sagte nun Friedeli bestürzt.
»Ja, das war Ernst,« bestätigte Friedelu ebenso.
»Aber weshalb? Versteht sie denn keinen Spaß?«
»Vielleicht versteht man in England keinen.«
»Sehr dumm!« Friedeli rümpfte die Nase.
»Wirklich sehr dumm,« bestätigte Friedelu. »Aber was machen wir ohne Schuhe?«
»Barfuß gehen – ist erst recht ein Spaß!«
Aber daß er nicht allzu groß war, merkten sie danach doch, da sie mit den Strümpfen in der Hand über die Tannennadeln gingen. Sie zogen die Strümpfe an und brachten sie durchgelaufen heim. Frau Lu und Frau Li freuten sich dessen wenig. Es gab ein Strafgericht bei der nächsten Wäsche, und dabei kam auch die Geschichte der so rätselhaft verschwundenen Schuhe zur Erwähnung, deren Verbleib bis dahin in Dunkel gehüllt gewesen war.
Und die Geschichte war so: Gladys war mit den Schuhen in den Fäusten weiter gestürzt und wußte nicht wohin. Da rief sie eine Stimme an, die Gunters, der mit Hildegard ebenfalls im Walde war.
»Wollen Sie einen Schuhladen anfangen, Gladys? Wächst dergleichen hier auf den Bäumen?«
»Es scheint mir der Friedel Nummer,« bemerkte Hildegard sachkundig. »Sie rühmten sich letzthin stolz, die größten Füße in der Klasse zu haben, wie ein anderer sich des ersten Platzes rühmt! Sie sind urdrollig die zwei. Aber wie – –?«
Das galt Gladys, die unwillkürlich stehen geblieben war, als die beiden auftauchten. Alles an ihr zitterte noch; die Nasenflügel bebten und die Augen brannten. Als Hildegard sich ihr fragend zuwandte, schwang sie die Schuhe in weitem Bogen, daß sie durch die Bäume flogen und irgendwo glucksend aufklatschten, weit außer Sicht.
»O weh, der Teich,« rief Gunter lachend. »Ich fürchte, das bekommt den Schuhen übel. Nässe soll ihnen nicht zuträglich sein, habe ich sagen hören.«
»Mach keine faulen Witze, Gunter; Mutter –« Hildegard war durch das Buschwerk ans Wasser geeilt. Ja, dort verzitterten eben die letzten Kreise; da hinein mußte Gladys Geschoß getroffen haben.
Da war nun nichts zu machen. Aber wie kam Gladys zu solchem Tun? Zu den Schuhen der Friedel? Das mußte sie doch hören.
Aber wie sie aus dem Gebüsch trat, stand Gunter nur noch allein da. Gladys bog schon am Ende des grünen Wegs um die Ecke. Ihre Haare hatten sich gelöst und flatterten wild hinter ihr her wie eine rotgoldene Fahne.
»Sie hat prächtige Haare,« sagte Gunter.
»Hat sie dir erzählt, wie sie zu den Schuhen kam?«
»Sie hat mich nur angestarrt, als ob sie mich aufessen wolle, und ist davon gestürzt. Ich glaube, daß die Schuhe ins Wasser flogen, hat sie erschreckt.«
»Hat sie es nicht mit Fleiß getan, Gunter?«
»Die Dinger ins Wasser geworfen? Behüte! Sie schien so sinnlos vor Zorn, daß sie sich kaum Rechenschaft gab, wo so stehen, und daß der Teich so nahe war.«
»Was mag sie so erzürnt haben?«
Die Antwort kam in Gestalt der Friedel herangehinkt. Die Tannennadeln stachen sie nicht wenig. Unter Ach und Oh enthüllte sich das Geheimnis von Gladys Zorn.
»Geschieht euch recht, daß ihr nun so heimhinken müht, ihr Taugenichtse! Weshalb laßt ihr das arme Mädchen nicht in Ruhe?«
»Schämt ihr euch nicht?« schalt auch Hildegard die beiden. »Werdet ihr denn nie vernünftig werden?«
Die Vorhaltungen fochten aber die Friedel wenig an.
»Och, das dumme Ding! Wenn sie keinen Spaß versteht, kann man ihr nicht helfen.« Mehr sagten sie nicht, aber sie jammerten sehr und hinkten gewaltig.
Und wie an diesem Tag, gelang es Gladys an jedem folgenden, mit einem Teil oder auch mit allen Jungen in Streit zu geraten. Das Leben in Rödersdorf war nicht mehr so ungetrübt wie einst. Es gab Spaltungen und Parteien. Auf Klein-Großchens Seite standen Frau Lu und Frau Li, standen die Jüngsten bis herauf zu den Friedel. Mittelpartei waren die vier Großen unter Tante Lisas Anführung. Ganz für Gladys war nur Tante Fee, und über allen, als Unparteiischer, thronte Vater Klaus. Und keinem war wohl bei der Sache, am wenigsten der, um die sich dies alles drehte, Gladys. Sie war sehr unglücklich, zerfallen mit sich und den anderen.
So kam wieder einmal der Geburtstag von Vater Klaus heran. Sie dachten, ihn sehr festlich zu begehen, und wollten sich unbewußt selbst damit über die Veränderung im Hause wegtäuschen.
»Laßt uns lebende Bilder stellen,« rieten die Friedel. »Das war so fein letztes Jahr, und man braucht doch dafür nichts zu lernen.«
»Faulpelze ihr,« zankte Hildegard. »Ich bin für Musik. Die vier Kleinen singen so niedlich seit dem Unterricht in der Schule; sie sind alle vier sehr musikalisch, sagen ihre Lehrer.«
»Das haben sie von uns,« gröhlten die Friedel mit Stimmen, die den besten Beweis gegen die Wahrheit der Behauptung lieferten.
Die Großen einigten sich auf lebende Bilder mit Musik, um beiden Teilen gerecht zu werden. Man beschloß, Volkslieder zum Gegenstand zu nehmen.
»Wir wissen was Feines,« jubelten die Friedel. »Ganz was extra Feines!«
»Und das wäre?« fragte Gunter von oben herab.
»Och, brauchst gar nicht zu tun, als ob du allein alle Weisheit gepachtet hättest,« höhnten die Friedel, »du langweiliger Peter!«
»Stille,« gebot Hildegard strenge, »keine Beleidigungen,« worauf Gunter großartig sagte: »Die Backfische Friedel haben das Wort!«
Zuerst schnitten ihm die beiden, die keine Kinder mehr waren, zwei nicht eben liebliche Gesichter; aber dann platzten sie los: »Sie muß natürlich die Lorelei machen mit ihrer roten Mähne!«
»Ja, wofür hätte sie die Haare, wenn man lebende Bilder stellt!«
Alle wußten, wer gemeint war. Aber allen war die Schwierigkeit klar, diesen Vorschlag zur Ausführung zu bringen, der doch allen sehr einleuchtete.
»Fein wär's wirklich,« sagte Walter anerkennend, was ihm glühende Dankesblicke der beiden Friedel eintrug.
»Wir halten dir auch den Daumen an Ostern, Walter – zum Examen!«
»Ja, den ganzen Tag durch – wirst schon sehen,« so gelobten sie mit Feuer.
»Danke für die gute Absicht, Kinder – verzeiht, ihr Backfische! Es gibt mir eine stolze Zuversicht. Aber wie bringen wir das Kuckucks – –«
Die jüngeren lachten in allen Tonarten. »Walter,« mahnte Irmingard vorwurfsvoll, und Gunter drohte: »Wenn mir einer von euch dergleichen in den Mund nimmt, dann bekommt ihr's mit mir zu tun! Klein-Großchen mag so was sagen und wird wohl ihre Ursache haben; sie weiß, was sie tut. Aber einer Bande, wie ihr eine seid – nicht gemuckst, sag' ich der kommt so was nicht zu, verstanden? Uns tut das fremde Mädchen nichts zuleide, wenn niemand es reizt; das wißt ihr wohl.«
Wenn der Große so sprach und seine Augen so blitzten, dann meinte er, was er sagte, und man handelte besser nach seinem Wort. Das wußte das Kleinzeug, und das wußten auch die Friedel. So gingen sie in der nächsten Zeit im Bogen um Gladys herum, und es herrschte eine Weile Frieden in Rödershof.
Wie Irmingard es fertig brachte, Gladys dazu zu bewegen, daß sie ihre Beihilfe zu den lebenden Bildern nicht verweigerte, das erzählte sie niemand. Aber es gelang ihr, und niemand war glücklicher als Tante Fee. Schon allein deshalb lohnte es sich, der zwei Friede! Gedanken auszuführen, und die beiden ernteten manchen Lobspruch, der ihnen den Kamm mehr als rätlich schwellen machte.
In weiser Vorsicht hatte Gunter es so geordnet, daß bei den Proben zum Loreleibild niemand zugegen war als Irmingard und er; so konnte alles einen gedeihlichen Fortgang nehmen – –
In Dresdorf, im alten lieben Saal, klang und sang es und herrschte ein geheimnisvolles, geschäftiges Tun. Ladungen von Grün wurden herzugeschleppt. Es sei solch feierliches Vorbereiten wie noch kein Jahr zuvor, behaupteten die Kinder und waren alle glücklich. Es schien, als ob die alte liebe Zeit des friedlichen Zusammenseins wieder über Rödershof heraufziehen wolle. Auch Klein-Großchen kam es so vor. Ihre lieben Augen blickten hell und froh, ihr Lachen schallte wieder durchs Haus um die Wette mit dem Kleinzeug. Sollte wirklich eine bessere Zeit anbrechen?
Nun war endlich der wichtige Tag da. Die Sonne tat ihr Teil, ihn in aller Glorie zu verherrlichen.
Klein-Großchen hatte den Großvater wie immer zum Morgen mit ihrer Geige geweckt. Kein Onkel Fritz war aber heute erschienen. Der war in eine ferne Garnison versetzt worden, die ihm den kurzen Besuch für einen Tag unmöglich machte. Zum Herbst erst sollte er auf Urlaub kommen.
Auf dem Frühstückstisch hatten dann Briefe gelegen, von den Söhnen, von den Schwiegersöhnen, alle erwünscht, alle mit Freuden begrüßt.
Daß auch von Lutz, dem Weltreisenden und ältesten Sohn des Hauses, ein Brief gerade zu diesem Tag eintraf, war ein Wunder und wurde gebührend anerkannt. Er schrieb:
»Liebe Eltern! Vor allem Dir, geliebter Vater, meinen Glückwunsch! Ich rechne, daß der Brief so ungefähr zu Deinem Geburtstage eintreffen könnte. Eigentlich hatte ich gehofft, Euch zu diesem Tag zu überraschen, aber unsere Tibetreise zieht sich eben doch länger hin, als wir vorher zu ahnen vermochten. Auch jetzt wüßte ich nicht mit Bestimmtheit einen Endtermin anzugeben; ich bitte Euch daher von Herzen, weiter Geduld zu haben. Klein-Muttchen, es kommt Dir dann auch ein Sohn zurück, der sich in Gottes Wunderwelt nach Herzenslust umgetrieben hat und bereit ist, daheim in Frieden seinen Kohl zu bauen, was natürlich bildlich zu nehmen ist.
Bruder Fritz baut ja den Kohl in Rödershof dereinst – möge die Zeit noch in Nebelferne liegen, Vater! – denn so war es ausgemacht. Ich aber esse den Kohl, den er baut, und vergrabe mich dazu in meine Bücher, derweil er des Heimatbodens Schätze gräbt. Ich denke, so werden die Rollen passend verteilt sein, – was, Klein-Muttchen?
Wenn ich mal erst wieder Dein liebes Gesicht sehen darf! Färbt sich der Scheitel schon weiß? Blitzen die Augen drunter noch in demselben jugendlich-kriegerischen Feuer, mein Klein-Muttchen? Und – und – und die Streiche – – behüte, Klein-Muttchen, wer wird aus der Schule schwatzen! Einer Großmutter Würde steht unantastbar!«
»Der dumme Junge! Aber lies weiter, Klaus!« unterbrach Frau Friedel und sah sich ungewiß um, obwohl niemand lachte.
Aber was war das? Las da nicht Vater Klaus dieselben Worte, die Frau Friedel soeben dazwischen gerufen hatte?
Er fügte bei: »So wird Klein-Muttchen jetzt rufen. Ich höre ihre Stimme; der liebe Ton klingt mir im Ohre nach.«
»Nein, Klaus, du flunkerst; das steht nicht im Briefe!« Frau Friedel war empört.
»Sieh selbst!« Er schob ihr den Brief hin.
Sie warf nur einen Blick von der Seite hinein und drängte ihn zurück.
»Lies weiter, Klaus! Der dumme Junge!«
Da aber hielten sich die anderen nicht länger. Es gab schallendes Frohlocken, dem Klein-Großchen trotz der würdevollsten Miene machtlos gegenübersaß. Da tat sie das beste, was in derartiger Lage zu tun ist: sie lachte mit.
Dann las Vater Klaus weiter.
»Ich danke Euch von Herzen, geliebte Eltern, daß Ihr mir den Reise- und Forschungstrieb nicht verkümmert, Vater mit dem Beutel, Klein-Muttchen mit Klagen. Wo fände einer Eltern, wie ich sie habe! Ich bin mir dessen auch vollkommen bewußt, und ich werde es Euch Zeit meines Lebens danken.
Mich will es zuweilen wie ein Fremdsein überkommen, wenn ich zu Euch hindenke und mir den Kreis junger Menschen und Menschlein um Euch vorstelle. Nichten und Neffen, die dem Reiseonkel zum Teil als fertige Menschen entgegentreten werden, wenn er den Stab heimwärts setzt!
Und nun ist da auch noch ein Neues, ganz Fremdes hinzugekommen, Schwester Fees Ziehkind. Wie ich mich dieses Lebensinhalts für die geliebte Schwester freue! Und daß ein Gutes aus ihrer Erziehung hervorgehen wird, des bin ich gewiß.
Aber wenn mich dieses Fremdsein überkommen will, so denke ich und tröste mich: in einem sind wir alle eins, in der Liebe zu unserem Klein-Muttchen – Klein-Großchen, so sagt ja wohl die Bande – und in der Liebe zu dem Haupte der Familie, unserem Vater, und in der Liebe zu unserer Scholle, zu Rödershof. Hurra für diese drei! Stimmt ein, Gesindel groß und klein, solltet ihr zugegen sein!«
Ein Hurra setzte ein, das die Wände zu sprengen drohte. Was sonst noch in dem Brief stand, ging darin unter. Niemand hatte mehr Geduld, zu hören.
Vater und Mutter lasen ihn danach allein zu Ende; viel stand nicht mehr darin.
»Ob wir ihn noch mal wiedersehen, Klaus?« sagte Klein-Muttchen, und es lief ihr dabei eine Träne übers Gesicht, an der sie mißtrauisch wischte. »Oder ob er sich so weiter durch die Welt zigeunert, der dumme Junge? Von wem er das bloß hat! Du bist ja auch so'n Herumflitzer gewesen, Klaus, aber bis da hinten zu den Botokuden bist du denn doch nicht gekommen.«
»Die Botokuden leben in ...«
»Ist mir ganz schnuppe, Klaus – hab' mir nie was aus dem gelehrten Kram gemacht, und das weißt du auch! Ich gehe jetzt, nach dem Festmahl zu sehen. Du verdienst die sorgliche Hausfrau gar nicht, Klaus, wenn du immer an ihr Herumtadeln willst.«
Voll gekränkter Würde, den Kopf im Nacken, stand sie vor ihm. Er aber erwischte sie am Rockzipfel, ehe sie sich wenden konnte, und der Friede war sehr bald geschlossen.
Am sonnenvergoldeten Nachmittag gingen dann Großvater und Großmutter wiederum wie vor Jahresfrist durch den Wiesengrund von Rödershof gegen Dresdorf, wo der festliche »Enkelkaffee« wie alljährlich sie erwartete.
Sie gingen Arm in Arm, und neben ihnen her tauchten an jeder Wegbiegung altvertraute Bilder auf. Sie grüßten und verwehten – die alte Zeit zog neben ihnen her, winkte und grüßte, und Großvater und Großmutter sahen einander in die leuchtenden Augen.
»Es war eine gute Zelt, Friedelchen?«
»Eine gute Zeit, Klaus!«
»Lange Zeit, Friedelchen – an die vierzig Jahre!«
»Ja, eine lange Zeit, aber auch eine schöne Zeit, Klaus, und ich danke sie dir!«
»So wie ich dir!«
Wieder sahen sich Großvater und Großmutter in die Augen, und die leuchteten. Es ist ein köstlich Ding um ein Zusammenleben, auf das man nach vierzig Lebensjahren mit leuchtenden Blicken zurücksehen kann. Denn Lebensjahre sind Kampfesjahre nach außen wie nach innen. Wohl dem, der sich seine leuchtenden Augen bewahren darf, wenn er auf solche Zeitstrecke ungetrübter Kameradschaft zurückschaut!
Konz und Dieter, die dazu angestellt waren, standen schon unter der Tür und hielten Ausschau. Da sie die Großeltern so durch die Wiesen daherschreiten sahen, stürzten sie in den Saal; das heißt sie rannten im Eifer erst mit den Schädeln gegen die Tür, daß die samt den Schädeln in den Fugen krachte, und waren so im Schuß, daß sie das Gleichgewicht verloren. Sie rempelten Leni und Lisi bei dem gewaltsamen Eintritt an; die klammerten sich an der Friedel Röcke wie der Ertrinkende an den Strohhalm; sie stießen dabei an die blonden großen Mädchen und kamen erst zum Halt mit Gunters und Walters Nachhilfe, da aber gründlich.
Allgemeines Zetern und Zanken war die Folge.
»Jungen, seid ihr toll?« erkundigte sich Frau Lu liebevoll und griff nach dem gewohnten Halt in derlei Fällen, dem Ohrläppchen ihrer Rangen.
»Was mir gar nicht gefällt, Lu,« tadelte Klein-Großchen dann jedesmal mahnend, »denn willst du dein Fleisch und Blut mit Eselsohren durch die Welt laufen lassen, die ihm nicht mal von Natur gewachsen sind? Sieh dir nur an, wie sie ihnen vom Kopf stehen – arme Kerlchen!«
»Das war von Natur so, Klein-Muttchen – haben sie von mir geerbt.«
»Verbitt' ich mir, Lu, daß du's nur weißt! Geht mir gegen die Ehre, da du doch mein Fleisch und Blut bist.«
Heute war Klein-Großchen nicht zur Stelle, dem Mißbrauch zu wehren; sie kam ja erst durch den Wiesengrund daher. Frau Lu konnte sich also nach Herzenslust gütlich tun an dem Gehörorgan ihrer Jüngsten, und sie tat es auch mit ungewohntem Nachdruck.
Die Gemaßregelten quiekten, Leni und Lisi quiekten, die Friedel zeterten und besahen ihre in Unordnung geratenen Röcke. Klein-Großchens Gardedamen mußten sich nach dem Anprall erst wieder auf ihre Würde besinnen; Gunter und Walter wetterten. Es war wie in einer Hexenküche.
Großvater und Großmutter schritten indessen durch den sonnigfriedlichen Wiesengrund daher, waren schon ganz nahe; da mahnte Tante Fee: »Kinder, nun aber Ruhe! Wenn ihr jetzt nicht noch ein Weilchen ganz still seid, mißrät der Begrüßungschor, und daß wäre doch jammerschade. Kleinzeug, hierher! Gladys da! Vergiß den Einsatz nicht, hörst du?«
Tante Fee saß am Klavier; sie hatte die Begleitung übernommen. Sie war so froh und frisch seit den letzten friedlichen Tagen in Rödershof, sah Sonne auf ihrem Weg. Tante Lisa dirigierte; Frau Lu und Frau Li waren dem Chor eingereiht.
Die Fenster zum Hofe standen offen. Man hörte Schritte.
»Sie kommen! Sie kommen!« Ein Zischeln ging durch den Festsaal.
Johann streckte sein altes Gesicht erregt durch die Tür und meldete: »Aweil kimme se!«
Da hob Tante Lisa den Dirigentenstab; tiefe Stille trat ein.
Man hörte Klein-Großchens Stimme: »Es ist ja so merkwürdig still, Johann. Sind die Herrschaften im Saal? Auch die jungen, Johann? Das versteh ein anderer. Sie toben sonst, daß das Haus wackelt, und heute – wetten wir, daß irgend ein dummer Streich dahinter steckt, Klaus?«
Da stand Klein-Großchen unter der offenen Saaltür, und wie Meereswellen stürzten die Klänge des Festsangs über sie her – bildlich zu nehmen, natürlich, wie Onkel Lutz in seinem Briefe sagte. Aber weihevoll und schön klangen die jungen Stimmen allesamt, von den hellen Silberstimmchen der Kinder bis zu den fertigen Großen, der Mütter Lu und Li.
Klein-Großchen hatte die Hände gefaltet; sie stand reglos auf der Schwelle. Neben ihr stand der Großvater, und seine Augen leuchteten noch stärker als vorhin draußen im Wiesengrund.
An Schwung und Pathos war in den Worten des Festsangs nicht gespart worden) Hildegard und Walter, die beiden »Dichter« der Familie, verfügten über ein vollgerüttelt Maß davon.
»Puh, starker Tobak,« hatte Gunter, der Kritiker, geurteilt und sich geschüttelt. »Ich bitte mir aus, daß mir dergleichen niemalen vorgesetzt wird, und wenn ich's bis zum Großkophta bringen sollte.«
»Dich nimmt ja gar keine,« sagte Friedeli mit echt schwesterlicher Liebenswürdigkeit; sie hatte Großkophta für Großvater genommen.
Großvater und Großmutter hörten einstweilen nur die lieben jungen Stimmen im wundervollen Zusammenklang, und ihr Herz weitete sich.
Tante Fee hatte die Töne gesetzt; ihr »fiel zuweilen dergleichen ein«. Niemand hätte es anders nennen oder gar das hochtrabende Wort »komponieren« brauchen dürfen. Jetzt kam eine Stelle, wo die vier Kinderstimmen allein zu singen hatten: »Großvater lieb, lieb Großmütterlein, wir euch unsre Herzen in Liebe weihn, voll glühenden Dankes erfüllt ihr uns find't, daß wir solcher Edlen Sprossen sind.«
Gunter behauptete freilich, sie sängen: »Daß wir solche edlen Sprossen sind.«
Da er es aber nicht beweisen konnte, mußte es dahingestellt bleiben. Hildegard und Walter nahmen den Hinweis auch sehr ungnädig auf. Großvater und Großmutter aber lauschten mit Andacht den vier lieben hellen Stimmchen; die Worte waren Nebensache.
Nun kam eine Einzelstimme: »Höchster Herr der Heeresscharen, wollst in Gnade sie bewahren« und so weiter.
Es war ein Ton so voll und rein, so voll Wohllaut und Frische, daß er tief in die Herzen drang. Alle lauschten erstaunt auf. Niemand hatte die Stimme noch gehört, denn Tante Fee hatte mit Gladys allein geprobt und schob deren Part heut zum erstenmal ein, als Überraschung für alle.
Wie Lerchensang jubilierend schwoll die junge Stimme; seltener Schmelz, bestrickender Reiz war darin. Es war eine Stimme, die Großes versprach) das fühlten alle, die sie hörten – Klein-Großchen nicht zuletzt, deren Geige ähnlich zu singen verstand...
Die Stimme war verklungen, der Festgesang damit zu Ende. Alle die Mitwirkenden umdrängten die Gefeierten, ihr gebührendes Lob zu ernten.
Aber Klein-Großchen hatte vorläufig nur Gladys im Auge; sie legte die Hand auf deren Schulter.
»Mädchen, du hast ja eine Prachtstimme! Weshalb hört man die erst heute? Weshalb hast du davon nie gesprochen?«
»Ich nicht spreche, wo nicht gefragt.«
Wie ein kalter Wasserguß wirkte die Antwort, und Gladys' Gesicht zeigte denselben finster verschlossenen Ausdruck, den es stets hatte, wenn sie Tante Fees Mutter gegenüberstand.
Klein-Großchen wandte sich wortlos mit Achselzucken ab; auch in Tante Fees Gesicht war die Sonne erloschen.
Gladys hatte sich ans letzte Fenster geflüchtet und starrte finster hinaus; wieder war die häßliche Scheidewand zwischen ihr und den anderen aufgerichtet. Durch wessen Schuld? Natürlich nur durch »die da«, die immer zwischen sie und die Freude trat. Die kleine böse Frau!
Man vergaß den Zwischenfall rasch; die Freude schlug hohe Wellen. Die Kleinen waren glückselig und stolz über Klein-Großchens Lob ihres Gesangs. Auch die Großen waren kein bißchen abgeneigt, sich loben zu lassen.
Der »Enkelkaffee« war in vollem Gang. Die zumeist von Irmingard, dem Hausmütterchen, angefertigten Kuchen fanden die höchste Anerkennung, die ihnen werden konnte; sie schwanden in erschreckender Schnelle.
Großvater hielt eine Dankesrede, die schön und warm war, wie immer. Wie gewohnt, wurde danach mit den Kaffeetassen angestoßen. Lauter Jubel herrschte. Leni und Lisi saßen auf des Großvaters Knien, und sein langer Bart mußte ihre Lust entgelten. Bei jedem neuen Entzückensausbruch zausten die vier Hände gar nicht sanft darein.
Konz und Dieter dachten an Klein-Großchen ihre Wonne ähnlich auszulassen; da kamen sie aber übel an. Mit willenskräftigem Ruck befreite sich die Bedrängte.
»Loslassen! Luft, oder ich werde ungemütlich! Denkt ihr, so'n Geknutsche sei angenehm? Hab's mir mein Leben lang verbeten – da werd' ich auf meine alten Tage nicht damit anfangen! Weg, Bande!«
Konz saß rechts, Dieter links am Boden. Verdutzt blickten sie um sich, rafften sich auf und rieben sich den Rücken. Ein Lachsturm rings begleitete ihre Niederlage.
»No, wir haben's doch nicht bös gemeint,« murrten sie.
»Ditto,« versetzte lachend Klein-Großchen, »basta!«
Mutter Li winkte sich ihre Jungen heran und tröstete.
»Es gibt noch was Wundervolles,« tuschelten indessen Leni und Lisi dem Großvater ins Ohr. »Och du, ganz was Wundervolles!«
Die zwei Friedel fuhren wie die Stoßvögel heran.
»Die Kleinen petzen! Gunter, Hildegard, die Kleinen petzen!«
»Is gelogen – einfach gelogen,« verteidigten sich die Kleinen weinerlich.
»Nichts haben sie verraten,« bestätigte der Großvater die Worte seiner Lieblinge.
»Nee du, wir haben gar nichts von den Liedern und den Bildern gesagt – nicht Großvater? Und daß Gladys – – –«
Es war höchste Zeit zum Beginn; das merkten die Großen, und sie gaben das Zeichen.
Großvater, Großmutter und Tante Lisa saßen nun eine Weile allein im Saal.
Allein? Ach nein! Wieder kamen die Bilder der alten Zeit, und liebe Gestalten, die weit entrückt waren, saßen bei den dreien; längst verklungene Stimmen redeten, und lang verhallte Worte tönten wieder. Und die drei saßen inmitten und: »Friedel, weißt du noch? – Erinnerst du dich, Lisa? – Klaus, wie war das doch?« So lebten sie in der alten Zeit, waren im Geiste, die sie damals waren, junge frohe Menschen mit hellen Augen, rosiger Haut und ungebleichten Haaren. Aber die Herzen waren dieselben geblieben, leicht beweglich und warm.
Sie waren in so guter Gesellschaft, die drei, und fühlten sich so wohl da, daß sie es fast als Störung empfanden, als nun die Flügeltür zur Halle sich öffnete und Gunter als der Älteste und Sprecher vortrat.
»Heute werden wir den geehrten Herrschaften, vor allem dem gefeierten Oberhaupt der Familie, zur festlichen Verherrlichung des wichtigen Tages ein ganz neues Spektakel – – –«
Tadelnde Stimmen aus dem Hintergrund: »Pfui, Gunter! Schäm dich! Mußt du denn immer Unsinn machen! Spektakel! Hat sich was!«
Gunter wandte sich den tadelnden Stimmen zu: »Wer's besser kann, soll vortreten!« Da war wieder tiefe Stille.
»Also, wir werden die Ehre haben, den Herrschaften etwas ganz Neues, noch nie Dagewesenes –«
»Aber wir haben ja auch im vorigen Jahr lebende Bilder – – Ja, wir haben auch im vorigen Jahr lebende Bilder gestellt,« fielen die zwei Friedel ein, wie fast immer einstimmig.
»Piept da eine Maus?« fragte Gunter und wandte nicht einmal seinen Kopf.
»Wir – – wir – –«
Der Einspruch verklang; Schieben, Zerren und Stoßen aus dem Hintergrund ließ auf die Ursache des Verstummens schließen.
»Kinder, benehmt euch!« Das war Frau Lu – oder war's Frau Li? – sie hatte ihr strengstes Register gezogen.
»Verzeihen die Herrschaften,« fuhr Gunter fort, »aber der Schwung meiner Rede muß naturgemäß unter solchen Zwischenrufen leiden. Deshalb fasse ich mich ganz kurz und bitte Sie, unseren lebenden Volksbildern – – –«
»Lebensliedern!« rief jemand mit erhobener Stimme; dazu erscholl lautes Lachen hinter ihm. Mit einer Verbeugung gegen seine Zuhörer entschuldigte er: »Man kann Kindern mit einer Kleinigkeit ein Vergnügen machen, deshalb – –«
»Ha, ha, er tut jetzt so! Er tut jetzt so!«
»Es ist offenbar hohe Zeit, daß ich zum Schluß komme. Ich – oder vielmehr wir – bitten also die Herrschaften, sich nun gütigst unsere lebenden Bilder mit Volksliederbegleitung ansehen und kräftig Beifall spenden zu wollen. Basta, wie Klein-Großchen so schön als auch treffend sagt! Schluß!«
Allerlei geschwisterliche Liebenswürdigkeiten prasselten von hinten über den Redner herein. Der schüttelte sich, wie wenn er unversehens unter eine Gießkanne geraten wäre, warf seinem Publikum eine Kußhand zu und verschwand hinter dem Vorhang.
Eine Weile ging es noch sehr lebhaft hinter diesem zu, dann trat wieder Ruhe ein. Man hörte das Klavier; leise weiche Akkorde verklangen, die in die Loreleiweise übergingen. Nun setzte der Chor von vorher ein: »Ich weiß nicht, was soll es bedeuten, daß ich so traurig bin –«
So rein und hell und warm klangen die jungen Stimmen! Klein-Großchen und den anderen wurde es ganz weich ums Herz, während sie dem Lied lauschten.
Da ging der Vorhang auf.
»Donnerlitt – –«, sagte der Großvater, brach aber mitten drin ab; Klein-Großchen hatte ihm eine nicht eben sanfte puffende Mahnung in die Seite versetzt, daß er zu schweigen habe.
Was die Zuschauer sahen, als der Vorhang sich geteilt hatte, das rechtfertigte des Großvaters versuchten Ausruf. Es war das folgende hübsche Bild: Auf einem kunstvoll hergestellten, moosbewachsenen Felsen – der Treppenpfosten diente als Unterlage; ein paar moosbelegte Bretter umgaben ihn – saß Gladys-Lorelei. Sie hatte die Haare lose um sich gebreitet, und diese umwallten sie wie ein feuerfarbener Mantel in welligem Gelocke. Sie hielt einen Kamm in den Händen, den man mit einiger Einbildungskraft für den bewußten goldenen des Liedes halten konnte; Gunter hatte ihm mit Bronzelack und Goldpapier zu diesem Glanz verholfen. Um die Leuchtwirkung des Haares zu erhöhen, da die Sonne nicht auf den Fenstern der Halle lag und doch auch nicht um die Ecke scheinen konnte, hatte Walter mit viel Grübeln und Kopfzerbrechen eine künstliche »Belichtung des Wunderhaares«, wie er sich ausdrückte, mittels einer Spiritusflamme im Hintergrund erzielt und war nicht wenig stolz auf seine Erfindung. Das Ergebnis war aber auch überraschend. Es war wirklich, als umgebe »wabernde Lohe« das seine Gesicht, dessen Linien nie so rein und anziehend hervorgetreten waren. Die Augen blickten nicht finster, sondern strahlten mit den Haaren um die Wette. Gladys-Lorelei hatte sichtlich Freude an der Wirkung ihrer jungen Schönheit. Ein weißes Gewand umfloß sie in weiten Falten; es war von einem goldenen Gürtel zusammengefaßt.
Die Zuschauer hielten förmlich den Atem an, so überraschte sie das Bild.
»Donnerlittchen,« sagte der Großvater noch einmal, und diesmal konnte er den Ausruf ungehindert vollenden. Großmutter hatte selbst zuviel zu tun mit Wundern und Staunen.
Der erste Vers des Liedes war verklungen. Mit den letzten Tönen schloß sich der Vorhang leise, um sich beim zweiten Vers wiederum zu öffnen.
Die Wirkung des Bildes war fast noch größer, da jetzt die erste Überraschung wegfiel und man es mit Ruhe beschauen konnte.
»Prachthexe,« sagte der Großvater, »dieses Haar!«
»Daß das Mädchen so schön sei, wußte ich bisher noch gar nicht,« flüsterte Tante Lisa erstaunt vor sich hin.
Frau Friedel räusperte sich, und in ihrem Großmutterherzen bäumte sich etwas, das sie selbst nicht hätte nennen können.
»Unsere Goldblond-Irmingard –«
»Eifersüchtig, Friedelchen?« unterbrach Vater Klaus sie gemütlich.
Klein-Großchen warf den Kopf in den Nacken.
»Eifersüchtig? Auf die da, Klaus?«
Das klang nicht freundlich; es war auch nicht leise gesagt und leider gerade in der Pause zwischen dem zweiten und dritten Vers, da der Vorhang sich eben schließen wollte.
Alle hatten es gehört, die Lorelei ebenfalls. Sie sprang von ihrem Fels, der mit Donnergepolter einstürzte. Zitternd, weiß bis in die Lippen, mit flammenden Augen und geballten Fäusten, so stand sie unter der Tür und rang nach Worten, die nicht kommen wollten. Das war übrigens gut so.
Dafür kam ein anderes, ein Schreckensschrei: »Feuer! Feuer!«
Was nun folgte, war unbeschreibliches Gewirr und Durcheinanderrennen, Schreien, Jammern und Rufen. Schrille Kinderstimmen, angstvolle Rufe der Großen, Alle hatten den Kopf verloren, nur nicht die Lorelei, die schuld an allem trug.
Als sie in solchem Zorn von ihrem Felsen sprang, hatte der Stürzende irgendwie die Beleuchtungsflamme getroffen. Der brennende Spiritus faßte mit Windeseile alles Zunächstliegende, zumeist was für die folgenden Bilder da vorbereitet lag. Es sah bedrohlich aus und rechtfertigte der Kinder Jammergeheul wie der Großen Entsetzen.
Alle liefen kopflos durcheinander. Frau Lu und Frau Li hatten sich schleunigst ihrer jüngsten Buben und Mägdlein bemächtigt und flüchteten sich mit ihnen in die äußerste Saalecke, von wo sie sich hinfort nur durch Schreien und Jammern an dem Rettungswerk beteiligten.
Die einzige also, die den Kopf oben behielt, war, Gladys-Lorelei. Wie sie zu der Decke gekommen war, hätte sie später nie zu sagen gewußt; aber sie hielt eine dicke Pferdedecke in Händen und warf sie über die züngelnden blauen Spiritusflammen. Sie warf sich selber auf die Decke, griff mit den Händen zu, wo die Flammen sich nicht bändigen lassen wollten, und erstickte die Ungebärdigsten mit dem Gewicht ihres Körpers. Daß sie dabei die Hände empfindlich verbrannte, daß ihre Haare ein paarmal in ernster Gefahr waren, was lag daran?
Gunter und Walter, die alsbald begriffen, wie Gladys das einzig Richtige getan hatte, halfen nun mit, die Flammen zu ersticken; sie bewahrten auch der Lorelei Haare vor dem ihnen drohenden Verderben, bis endlich die Gefahr gehoben und das letzte züngelnde Flämmchen erstickt war.
Alles hatte sich viel schneller zugetragen, als es sich erzählen läßt; es hatte kaum Minuten gedauert vom ersten Auflohen der Flammen bis zu deren Erlöschen. Dem ersten kopflosen Durcheinander, dem Schreien und Jammern folgte eine Pause der Erschöpfung, des Auf-sich-selbst-Besinnens.
Da stieß Klein-Großchen einen Entsetzensschrei aus: »Fee! Fee, mein Kind! Mein armes Kind!«
Niemand hatte auf Tante Fee achten können. Als die Flammen auflohten, war sie kraftlos in sich zusammengesunken. Zu bedrohlich stand in ihr die Erinnerung auf an jenen Schreckenstag, der ihr das Leben so grausam beschnitten hatte. Als sie dann gar Gladys mit fliegenden Haaren und erhobener Decke sich unerschrocken den Flammen entgegenwerfen sah, da vergingen ihr die Sinne.
Still und schneeweiß lag sie in der Ecke, wo Muttchen
Friedel sie eben entdeckte und jammernd neben ihr niedersank. Auch Tante Lisa war alsbald zur Stelle. Sanft bemühte sie sich um die Bewußtlose, aber ohne Erfolg.
Da lag Gladys neben ihr auf dem Boden.
»Tante Fee, o Tante Fee, du nicht sterben! Ich nicht haben niemand, wo mir lieb hat, wenn du gehen. Ich nicht wollen Feuer machen, ich – –« Leidenschaftlich wollte sie sich an die Ohnmächtige herandrängen.
Da faßte Frau Friedel sie an den Schultern und schob sie kräftig fort.
»Geh, du – geh! Nicht genug, daß du Unfrieden ins Haus trägst und uns das Haus über dem Kopf anzündest, willst du sie auch noch töten? Geh, ich – ich kann dich nicht mehr sehen!«
Es war hart gesagt, und wie eine Richterin stand Frau Friedel, während sie mit flammenden Augen nach der Tür wies.
Gladys-Lorelei wollte zuerst sichtlich aufbegehren. Schon ballten sich ihre Hände. Da fiel ihr Blick auf Tante Fees weißes Gesicht; sie ließ Arme und Kopf sinken und schlich wie eine arme Sünderin zur Tür.
Die Jugend ist warmherzig. Die zwei großen blonden Mädchen wollten hinter ihr hereilen; auch Gunter und Walter machten Miene dazu.
»Bleibt,« sagte der Großvater, und es lag großer Ernst in seinen Augen.
Die Tür fiel hinter Gladys zu. Es herrschte bange Stille im Saal. Die Kinder weinten und wußten selbst nicht weshalb; den zwei Friedel war so beklommen zumute, wie noch nie in ihrem jungen Leben. Die vier Großen sahen sich stumm in die Augen.
Klein-Großchen, Tante Lisa, die Mütter Lu und Li mühten sich noch alle um die Bewußtlose. Endlich regte sich Tante Fee. Langsam schlug sie die Augen auf und blickte freundlich um sich, noch wie im Traum.
»Da seid ihr ja alle, ihr Lieben! Was ist – –?« Dann kam die Erinnerung: »Wo ist das Kind, wo – wo ist Gladys?« Sie blickte angstvoll im Kreise rings und gewahrte nur scheue, verstörte Mienen. »Ihr verheimlicht mir etwas – ich sehe es an euren Augen! Hat sich Gladys schlimm verbrannt? Ich sah, wie sie sich auf die Flammen warf – ich – ich – –« Sie war wie im Fieber.
Sie standen alle mit angehaltenem Atem, und aller Augen hingen an Frau Friedel.
»Gladys – Gladys!« klagte Tante Fee wieder, und es tat weh, den Schmerz in der Stimme zu hören.
Da wandte sich Frau Friedel.
»Geh mal einer, das Mädchen ho – –«
Ihr Blick fiel auf Vater Klaus, und etwas in seiner Miene ließ sie innehalten, sich besinnen. Sie nickte ihm zu, ein Weiches in den Augen.
»Hast recht, Klaus! Ich geh' schon selber. Ich war ja wohl ein bißchen hart und vorschnell und – –«
Sie schritt auf die Tür zu, kam aber nicht gleich hinaus, denn die vier großen Enkelkinder versperrten ihr den Weg mit leuchtenden Augen.
Sie sah sie aufmerksam an, und etwas wie Neckerei lag ihr in den Augen, als sie antwortete: »Ganz so schlimm ist sie doch nicht, he?«
Sie umdrängten sie enger? ihnen war so wohl und so warm. Der Schatten, der sich ihnen über ein liebes Bild senken wollte, war gewichen, und das bedeutet ja der Jugend, all denen, die jungen, warmen Herzens sind, unendlich viel.
Klein-Großchen wehrte mit altgewohnter Schärfe ab: »Platz da!« und enteilte.
Nicht lange, da erschien sie wieder und zog Gladys hinter sich her. Die wehrte sich jetzt nicht mehr, wenn sie es zuvor getan hatte. Sie hielt den Kopf gesenkt, und die Haare, die noch offen waren, verhüllten das Gesicht.
»Hier bringe ich sie dir, Fee,« sagte Klein-Großchen. »Du kannst dich nun selbst überzeugen, daß ihr nichts geschehen ist. Ich hab' sie im ersten Ärger hinausgewiesen; darum hab' ich sie auch selbst wieder geholt. Was starrt ihr mich an? Merkt's euch, was ich jetzt sage: Fehler kann jeder machen, ein Hemdenmatz und ein Graukopf – einsehen und gutmachen ist die Hauptsache. Basta!«
Die Festfeier war aber natürlich gestört. Was zu den lebenden Bildern gehörte, hatte der Brand verdorben. Die Kleinen schlugen zwar vor, die Lieder ohne Bilder zu singen, aber den Großen stand der Sinn nicht danach.
Frau Lu und Frau Li sammelten die Kleinen, einschließlich der zwei Friedel, zu einem Waldspaziergang, Die vier Großen gingen ihre eigenen Wege.
Tante Lisa fuhr mit Tante Fee und Gladys in der schnell angespannten alten Dresdorfer Kutsche heim. Tante Fee war noch sehr schwach; sie hatte nicht gehen können.
Großmutter und Großvater aber wanderten Seite an Seite wieder langsam durch den Wiesengrund. Großmutter sah dem Großvater ernst in die Augen.
»Immer dieselbe, was, Klaus? Hitzig und unüberlegt?«
Er nickte bedächtig, während er antwortete: »Und warm und gut, Friedelchen!«
»Verwöhn' mich nicht, Klaus – hab's nicht verdient – Hab' mich vor den Kindern geschämt, Klaus.«
»Ja, ja, sie sind gute Erzieher, wenn wir ihnen nicht an das Bild rühren wollen, das sie sich von uns machen. Wo hast du das Mädchen gefunden?«
»Am Parktürchen nach den Wiesen zu. Hinter einem Busch sah ich was Rotes leuchten; da wußte ich Bescheid. Klaus, wie könnt ihr nur alle so entzückt von den roten Haaren sein? Irmingards goldblonde sind doch viel schöner.«
»Friedelchen!«
»Brauchst gar nicht zu lachen, Klaus! De gustibum – na, ist schon gut – weiß ja! Übrigens, das arme Ding hat mich doch gedauert; es starrte aus so trostlosen Augen um sich. Freilich, wie sie mich sahen, haben sie geblitzt – es sind doch böse Augen, Klaus – und Gladys hat wegrennen wollen. Wie 'ne Wildkatze hat sie dann gefaucht, als ich fest zugriff. Ich hab' aber nicht locker gelassen, und wie ich von Fee sprach, und daß sie sich nach ihr sehne, da ist das Mädchen still geworden und wie ein Lamm mitgegangen. Ich hab' es aber fest gehalten, bis wir am Saal waren; gut ist gut, und besser ist besser! Ist doch ein Kuckucksei, Klaus – magst sagen, was du willst und noch so vorwurfsvolle Augen machen! Ein Kuckucksei, das uns Fee ins friedliche Nest gesetzt hat, und das wir jetzt mit den anderen großziehen müssen. Der Himmel helfe uns!«
»Ich habe dir schon einmal gesagt, es könnte Fees Kind sein, Friedelchen, und du müßtest dann auch Geduld haben – – –«
Still und weiß lag Tante Fee in den Kissen ihres Ruhebettes. Gladys stand vor ihr, verstockt und trotzig. Sie hatte Tante Fee von den Vorkommnissen berichten müssen, hatte es ohne Rückhalt und Beschönigung getan, weder sich noch aber auch ihre Widersacherin geschont.
»Wolltest du nicht versuchen, meiner Mutter Liebe zu gewinnen, Kind – mir zuliebe?«
»Ich dich lieben – o wie sehr! Du sein immer gut. Aber ich ihr hassen – sein immer bös zu mir.« Gladys stand mit flammenden Augen. Dies war ihre Logik.
Seufzend schloß Tante Fee die Augen. Sie war zu müde. Am Abend schrieb sie in ihr Merkbuch: »Der Kampf scheint aussichtslos. Wenn mir nicht unerwartet Hilfe von irgendeiner Seite kommt, muß ich mich ergeben.
Darf ich den Eltern solchen Unfrieden ins Haus bringen? Aber darf ich anderseits das Kind seinem Geschick überlassen?
Müßte ich mit Strenge vorgehen, obwohl ich doch sehe, daß Härte sie nur immer mehr verhärtet? Darf ich des Kindes Partei gegen meine Mutter nehmen, selbst wenn diese im Unrecht wäre? Und wieder: darf ich Unrecht tun lassen an der armen jungen Seele, für die ich die Verantwortung übernahm? Ja, habe ich überhaupt ein Recht, an mich und meine sogenannte Lebensaufgabe zu denken, wenn ich dadurch meiner Eltern Hausfrieden gefährde?
Ich weiß nicht ein noch aus. Wird mir Hilfe kommen?«
Sie kam. Am anderen Morgen trat Tante Lisa in das Arbeitszimmer von Vater Klaus, wo sie gerade Frau Friedel hatte hineinhuschen sehen.
»Ich habe euch einen Vorschlag zu machen. Laßt mich mit Fee und Gladys nach Dresdorf ziehen – für eine Weile wenigstens. So kann es nicht lange mehr weitergehen; Fee reibt sich auf.«
Frau Friedel feuerte los: »Das erlaube ich nicht! Lieber soll das Mädchen – –«
Ein Blick von Vater Klaus streifte sie, der sie zögernd einhalten ließ.
»– lieber will ich versuchen –«
Aber da redete schon Vater Klaus: »Das ist ein glücklicher Gedanke, Lisa; er scheint mir die einzige Lösung aus dieser Wirrnis zu sein. So können wir beiden Teilen gerecht werden, unserem Kinde und – seiner Mutter. Geh zu Fee, Lisa – sag's ihr selbst! Du hast ein Recht daran, ihr die Hilfe zu bringen, die du für sie ersonnen hast. Sag, wir beide seien ganz deiner Meinung. Du sagst dies doch auch, Friedelchen?«
»Wenn du mich mundtot machst, Klaus, ich –« ihr liefen die Tränen über das Gesicht.
Frau Lisa erschrak.
»Friedel, wir wollen doch nichts tun, was du mißbilligst – was dich unglücklich macht!«
Unter Frau Friedels Tränen brach ein Lachen durch, wie die Sonne im Aprilschauer.
»Laß, Lisa, er wird ja recht haben, der – der Tyrann.«
Er legte den Arm um sie, und Frau Lisa ging, Fee Hilfe zu bringen in ihrer Not. Wie dringend diese war, sah sie an Fees Zusammenbrechen erst und dann, wie sie sich an dem neuen Gedanken aufrichtete!
So war es denn beschlossene Sache. Tante Lisa, Tante Fee und ihr Schmerzenskind siedelten nach Dresdorf über, und zwar alsbald am anderen Tag, unter allgemeiner Beteiligung.
Wenn danach die Väter daheim ihre Kleinen und auch die zwei Friedel fragten: »Nun, welcher war denn diesmal der schönste Ferientag?«, kam es einstimmig zurück: »Der Umzugstag natürlich, Väterchen! Denn siehst du: ohne uns wäre es ja gar nicht gegangen; Klein-Großchen hat's auch gesagt – –«