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Elftes Kapitel

Der Tanz war allmählich in ein schnelleres und lebhafteres Drehen übergegangen; die Kunden und die Mädchen wirbelten sich mit losgelassenerer Lust herum, als plötzlich Hasenklau seinen Strohkranz vom Kopfe riß, den Bart wegwarf und das Bettlaken, welches sein Gewand vorstellte, fallen ließ, sodaß sich das nächstfolgende tanzende Paar mit den Füßen hineinverwickelte. Mit einem Satz war der Schauspieler vor einer Thüre, welche in ein kleines Nebenzimmer führte, und indem er ausrief: »Die Putzerei ist unten,« war er auch schon hinter der Thüre verschwunden. Bei diesen Worten entstand eine ungeheure Verwirrung. Jette riß sich vom Arme des Privatdozenten los, von jäher Angst erfaßt, daß die angekündigte Polizei auf sie fahnde. Andere stürzten ans Fenster und blickten hinunter, wo eben zwei Polizisten ins Haus eintraten und ein dritter Wache hielt, um augenscheinlich niemanden entwischen zu lassen. Hasenklau hatte mit einem raschen Blicke im Tanzen die Leute unten ankommen sehen, und, da er begründete Ursache hatte, zu fürchten, diese Razzia gelte ihm, so war er auch eilig auf die Flucht bedacht. Man hörte unten im Hause die Stimmen der Polizisten, die mit den Wirtsleuten verhandelten, denn im Saale war alles still geworden. Jeder, der aus irgend einem Grunde ein schlechtes Gewissen hatte, fühlte sich beängstigt; man warf die Mummereien ab, rückte schnell die zusammengestellten Tische auseinander und setzte sich in einzelnen Gruppen zusammen, während schon die dröhnenden Schritte der Polizisten auf der Holztreppe hörbar wurden. Manches Mädchen saß mit klopfendem Herzen in einer Ecke, in der Erwartung, wegen Landstreichens mitgenommen zu werden.

Jette war ein paarmal ans Fenster gelaufen, mit verzweifelten Blicken auslugend, wie sie entkommen könnte. Endlich kam sie nochmals zu Hans, packte ihn am Arme und raunte ihm zu: »Ach, mein guter Mann, sie wollen unsre Ehe gewiß trennen. Dir können sie ja nichts thun – aber mir! Wenn du mich suchst, ich bin morgen auf dem Sachsenhäuser Jahrmarkt, zwei Stunden von hier, das ist drüben in einem anderen Amtsbezirk, dort kommst du hin. Mein Hans, ich muß fort, sonst erwischen sie mir!«

Damit huschte sie zur selben Thür hinaus, durch welche Hasenklau ins Nebenzimmer gesprungen war. Sie sah eben, wie der Schauspieler sich durchs Fensterkreuz zwängte und von da sich auf das Dach eines Holzschuppens niederließ, das unter dem Fenster sich befand. Sie folgte ihm rasch, nahm ihren Brautkranz in den Mund, faßte ihr Kleid zusammen und glitt, wie eine Blindschleiche geschmeidig, durchs Fenster auf das Schuppendach herab. Von da war nur ein Sprung in Mannshöhe in den Hinterhof; Hasenklau war schon unten und lief in das Kornfeld hinter dem Hause hinein, wo er sich zusammenduckte und liegen blieb; Jette sprang geräuschlos hinter ihm vom Dache herunter und kroch in den Schuppen. Der wachehaltende Polizist stand unterdessen auf der anderen Seite des Hauses am Haupteingang.

Ganz sorglos und mit dem Gefühl einer gewissen Zuversicht hatte unterdessen Hans Landmann die Polizisten erwartet. Er sagte sich, daß er jeder Gefahr mit freiem Herzen entgegensehen könne, seit er wieder im Besitze seiner Legitimationen sich befand. Die plötzliche Flucht Hasenklaus hatte ihm jeglichen Zweifel genommen, daß dieser der Räuber seiner Papiere und seiner Gelder gewesen sein müsse. Er würde ihn angehalten haben, wenn er nicht geglaubt hätte, der Mann sei im Nebenzimmer sicher eingeschlossen, da eine Treppe nicht von dort hinabführte.

Die zwei Polizisten traten mit gestrengen Mienen ein und musterten die ängstlich harrende Gesellschaft. Sie frugen zuerst nach der Jette Fremder, aber die wollte niemand gesehen haben; die sei gar nicht hier. Die Polizisten sahen sich mißtrauisch um und forderten einzelnen ihre Papiere ab, die sie dann wieder zurückgaben.

Plötzlich aber, wie auf ein gegebenes Zeichen, stellten sie sich vor Hans auf und verlangten seine Legitimation zu sehen.

»Mit Vergnügen,« sagte Hans sehr höflich und gab seine Papiere heraus.

Der eine Polizist hatte kaum einen Blick hineingeworfen, als er dem anderen auch schon einen Wink gab und sprach: »Er ist es«. Im selben Augenblick fühlte Hans sich hinten an den Armen gepackt und dieselben so rasch mit einem Strick umwunden an den Handgelenken, daß er sich nicht einmal zu wehren vermochte. Er wurde blaß, riß an den Handfesseln und rief entrüstet: »Herr, wie können Sie wagen, mir diese Freiheitsberaubung angedeihen zu lassen, mir, einem wissenschaftlich gebildeten Manne, der Ihnen eben seine guten Legitimationen gibt!«

»Seien Sie still, alter Gauner, Sie wissen wohl, daß Sie verhaftet sind! Die Personalbeschreibung stimmt vollständig. Sie haben in und um Neustadt gebettelt, haben einer Dame mit diesen Papieren Geld abzuschwindeln versucht, haben diese Papiere selbst einem gewissen Dr. Landmann entwendet und überdies in Neustadt, Münsterheim und Sachsenstadt auch die Gelder dieses Herrn unterschlagen.«

Der Polizist sagte ihm dies gerade auf den Kopf zu und befahl ihm »Vorwärts, marsch!«

»Aber, meine Herren, ich bin ja selbst dieser Dr. Landmann, Sie müssen das ja doch aus diesen Papieren sehen –!«

»Schweigen Sie!« wetterte ihn der Beamte an. Wir wissen das besser. Wenn Sie der Mann wären, so würden Sie eben keine Papiere haben!«

»Aber ich versichere Sie, es ist eine Verwechselung. Ich bin dieser Dr. Landmann selbst, und der Schwindler, welcher mich bestahl, findet sich sogar in unserer Gewalt; ich verlange, daß er mindestens gleich mir sofort arretiert wird, es ist der Ihnen wohlbekannte Hasenklau-Orbassany, er steckt im Nebenzimmer – verhaften Sie ihn!«

Die Polizisten sahen einander an. Einer ging darauf nach der Thüre, da aber die Vögel bereits ausgeflogen waren, so konnte er nur melden, daß kein Mensch im Zimmer sei.

»Machen Sie keine Umstände und kommen Sie mit. Sie werden sich wegen Entwendung der Papiere des Dr. Landmanns zu verantworten haben. Es liegt außerdem dringender Verdacht auf Ihnen, daß Sie an diesem Manne, da er sich nirgends zeigt und jede Spur von ihm fehlt, ein Verbrechen begangen haben, hinter das wir ja wohl noch kommen werden, Sie mögen leugnen, was Sie wollen. Sie sind jedenfalls derjenige, der im Besitze seiner verlorenen Papiere ist, und haben daher ohne Einrede zu folgen.«

Auf diese Anschuldigung hin, daß er an sich selbst eine geheime Mordthat oder dergleichen begangen haben sollte, ergab sich Hans widerstandslos in sein Schicksal. Er sah ein, daß er Geduld haben müsse, bis das Kommende ihm Gelegenheit geben werde, alles aufzuklären. Er war froh, daß wenigstens die Jette entkommen zu sein schien, und folgte den Polizisten, die ihn vorwärts schoben, nachdem sie an die Kunden und Schicksen noch einige Vermahnungen gerichtet hatten. Diese alle aber standen aufgeregt umher, brachen in Rufe sittlicher Entrüstung über den Verbrecher aus, der sich unter sie eingeschlichen hatte, und lehnten den Polizisten gegenüber jede Gemeinschaft mit einem solchen verdächtigen und gefährlichen Menschen ab.

Unten im Hofe angekommen wurde Hans auf einen Leiterwagen gesetzt, der gerade in der Richtung nach Neustadt fuhr; die Polizisten setzten sich rechts und links auf das hölzerne Querbrett neben den Gefangenen, und ein Bauer fuhr hierauf mit seinem Gaule los. Die Fahrt war überaus holperig, und Hans nahm mehrfach Gelegenheit, sich bitter über diese Art der Beförderung zu beklagen.

Unterwegs hatte er reichliche Gelegenheit nachzudenken über die seltsamen Fügungen des Schicksals, die ihn über jede Erwartung hinaus in so kurzer Zeit alle Abenteuer erleben ließen, die ein richtiger Kunde durchzumachen pflegt. Seit er aber die Gewißheit hatte, daß Hasenklau der Übelthäter an seinen Papieren war, schwand auch mehr und mehr die Neigung, sich willenlos in das Landstreichertum zu ergeben, dem er verfallen war; eine große Lust, jenen Gesellen zu fassen und ihm womöglich den Rest seines Raubes abzujagen, faßte ihn an; alles in ihm war Thatendrang und die Neigung, nach so mancherlei erfahrener Unbill, auch selbst einmal Geschicklichkeit, Klugheit und überlegenen Sinn zu beweisen in der Verfolgung jenes Menschen. Um so lästiger war ihm der Umstand, daß er hier als Häftling ohne freien Willen und ohne freie Bewegung seiner Glieder nach Neustadt geführt wurde. Er knirschte mehrmals heftig mit den Zähnen und verwünschte die Unempfindlichkeit der begleitenden Beamten, die für all diese verwickelten Empfindungen, die seinen Geist bewegten, nicht den geringsten Sinn zu haben schienen. Ja, fast empfand Hans auch schon sein Verhältnis zur Jette als eine Last; er fragte sich, was er denn eigentlich für vernünftige Gründe habe, mit jenem Mädchen zu leben, da er doch wohl noch andere Aufgaben habe, als einen modernen Bettelmönch vorzustellen, der mit einem armen Mädchen umherzog. Wenn er freilich an die mächtige Leidenschaft dachte, welche Jette für ihn empfand, so fühlte er sich dem Mädchen wieder verpflichtet, und er sah keine moralische Möglichkeit, sie im Stiche zu lassen.

So kam man denn endlich auf dem Polizeibureau in Neustadt an. Die Kinder liefen hinter dem Wagen her, auf dem man einen gefesselten, augenscheinlich höchst gefährlichen Verbrecher einbrachte, und vor dem Polizeiamt fand ein kleiner Menschenauflauf statt.

Hans wurde hier, als er in das Bureau eintrat, durch den Polizisten, der ihn vor einigen Tagen zu Pferde verfolgt hatte, sofort als derjenige erkannt, den er beim Betteln mit den jungen Damen betroffen hatte. Da er selber zugestand, mit dem Manne identisch zu sein, der durch sein Fechten die Gegend unsicher gemacht hatte, so wurde er ohne weiteres in eine Haftzelle geführt, deren Thüre sich schnell hinter ihm schloß. Er sah einen matten Lichtstrahl durch das Eisengitter der hochgelegenen Fensterluke einfallen, betrachtete die leeren Wände der Zelle mit ihrem großen Mangel an Bequemlichkeit und setzte sich, verwundert über die neue Lage, in der er sich befand, auf einen Stuhl. Er wunderte sich, daß ihm in der Einsamkeit dieser Zellenhaft auch nicht der geringste gute Gedanke zu seiner Befreiung kam; ja, eigentlich hatte er überhaupt keine Gedanken mehr; das dunkle Gefühl, durch diese Freiheitsentziehung auch seiner geistigen Sicherheit und Klarheit beraubt zu sein: die Empfindung eines innerlichen vollständigen Herabgedrücktseins aus seiner geistigen Existenz in die Denksphäre des gewöhnlichsten landstreichenden Häftlings lebte als dunkle Ahnung im dämmernden Lichte der Zelle in ihm.

Aber der Herr Amtsanwalt und Kommissionsrat des Neustädter Amtsgerichts liebte den landstreichenden Gesellen gegenüber schnelle Justiz.

Nach einer Stunde bereits erschienen wieder die zwei Polizisten und führten Hans in die Amtsgerichtszimmer durch einen langen Korridor des Gerichtshauses.

Als Hans in das Bureau des Amtsanwaltes eintrat, warf dieser, ein alter, sehr gestreng dreinschauender Herr, ihm einen musternden und strafenden Blick zu. Er ließ ihn dann stehen und erledigte einige Akten. Dann aber strich er seine Beamtenlocke und wendete sich auf seinem Stuhle zu dem Häftling herum, um ihn zunächst mit einer donnernden Philippika zu empfangen. Der Herr Amtsanwalt liebte es nämlich, auf die eingefangenen Landstreicher durch moralische Betrachtungen einzuwirken, ehe er sie zu der üblichen Haft oder zum Arbeitshaus verurteilte und abführen ließ.

Er betrachtete mit hochgezogenen Augenbrauen den Privatdozenten und brach mit den Worten los:

»Also wieder so ein nichtsnutziger Landstreicher und Vagabund, der seinen Eltern, dem Staate und der menschlichen Gesellschaft zur Unehre gereicht! Könnt ihr denn dieses faule, nichtsnutzige, thatenlose Leben niemals lassen? Ja, was ist denn das überhaupt für ein Leben, das ihr führt? Keine Arbeit, keine innere Befriedigung, keine Religion, keine Moral! Den ganzen Tag auf der Straße liegen oder im Walde sich im Grase herumlagern, von den Bissen leben, die ehrliche, anständige Leute im Schweiße ihres Angesichtes sich erarbeitet haben, kein Beruf, keine regelmäßige Thätigkeit, keine pünktliche Tageseinteilung! Ja, schämt Er sich denn nicht? Ei, jawohl, das wäre wohl ein schönes Leben, den ganzen Tag auf der Bärenhaut zu liegen und andere für sich sorgen zu lassen, aber ist in alledem denn ein lebendiges Bewußtsein der Pflichten eines Staatsbürgers und Menschen? Arbeitsfaule, nichtsnutzige Individuen seid ihr, die dem Staate zur Last liegen, und am liebsten sollte man euch auf Lebenszeit einsperren, statt daß ihr mit einigen Tagen Haft davon kommt!«

Hans mußte sich auf diese Worte räuspern, da er sie auf seinen Fall nicht ganz passend fand; der Amtsanwalt sah darin eine ungeziemende Randbemerkung zu seinen Betrachtungen und fuhr heftiger fort:

»Stille, sonst kriegt Er gleich einen Tag Haft mehr! Natürlich, wo soll in so einem Kerl der Sinn für Pflicht und bürgerlichen Anstand herkommen! Was ist das für ein leeres, zielloses, gehaltloses Leben mit eurer Tagedieberei. Aber wart'! Er soll mir Holz spalten lernen, daß Ihm der Rücken knacken soll, damit Er auch einmal einen Begriff davon bekommt, wie sich der anständige Arbeiter, sei er nun Handarbeiter oder Hirnarbeiter, im Schweiße seines Angesichtes placken muß. Angeklagter, Er ist beschuldigt, in mehreren Fällen beim Betteln betroffen worden zu sein, und dessen, nach Aussagen dieser Beamten, geständig. Er steht aber außerdem in dringendem Verdacht, einem gewissen Dr. Landmann aus Berlin, der in dieser Gegend war und, wie es scheint, weitergereist ist, seine Legitimationen gestohlen zu haben, um mit ihnen verschiedene Schwindeleien, unter anderen auch im hiesigen ›Goldenen Schwan‹ zu verüben.«

Der Amtsanwalt las eine Anklage vor, die eben in diesem Sinne abgefaßt worden war, und schloß mit der Frage: »Was haben Sie darauf zu erwidern.«

Hans gab sich große Mühe ruhig zu bleiben. Er sagte:

»Es ist richtig, Herr Amtsanwalt, daß ich, in einer augenblicklichen, großen Not befindlich, mich einige Stunden lang aufs Fechten verlegt habe. Alles andere in der Anklage ist dagegen falsch, da ich nur versichern kann, ich bin selbst der gesuchte Dr. Landmann; bin in dieser Eigenschaft selbst hier im Bureau gewesen, um den Verlust meiner Papiere anzuzeigen, die ich dann allerdings wieder in meinen Taschen fand. Ich muß vor allen Dingen verlangen, daß nun endlich einmal meine Identität festgestellt wird, denn ich habe diese Scherereien satt, bei denen man zuletzt an sich selbst irre werden kann.«

»Schweigen Sie!« herrschte der Anwalt den nach seiner Ansicht unverbesserlichen Menschen an. »Das ist ein altes Manöver, das kennen wir! Das verlangt jeder Landstreicher und Verbrecher, daß man seine Identität feststellen soll, ist aber bloße Obstruktionspolitik, um die Voruntersuchung in die Länge zu ziehen und die staatliche Autorität zu ärgern. Jetzt geben Sie vor allem einmal Ihren richtigen Namen zu Protokoll, und wenn Sie noch lange Geschichten machen, so lasse ich Sie wieder in die Haft abführen und auf halbe Ration setzen, damit Sie gefügiger werden.«

Hans stand allmählich der Verstand still. Es schien wirklich keine Möglichkeit, zu einer Aufklärung zu kommen. Er schwieg eine lange Zeit; dann aber wiederholte er mit stumpfer Hartnäckigkeit:

»Ich bedauere bei der Behauptung bleiben zu müssen, daß ich der richtige Dr. Landmann bin, der vollständig befriedigende Aufschlüsse über all die Widersprüche geben kann, die in meinen Angaben zu herrschen scheinen, und ich verlange mit solchen Personen konfrontiert zu werden, die mich kennen und meine Identität bezeugen können. Meinetwegen schaffen Sie mich mit polizeilicher Bedeckung nach Berlin, um dort durch meine wissenschaftlichen Kollegen meine Identität feststellen zu lassen, oder aber laden Sie derartige Zeugen hierher, denn wie gesagt, ich habe die Geschichte satt.«

Der Amtsanwalt rückte seine Brille höher und sah sich den Mann starr an. Erneuter Zorn wollte in ihm aufsteigen, und er machte schon Anstalt, den hartnäckigen Schwindler wieder in die Haft abführen zu lassen, als einer der Polizisten etwas höhnisch wider Hans bemerkte: »Herr Amtsanwalt, man könnte den Wunsch des Delinquenten sofort erfüllen, um ihm seine falschen Angaben sogleich zu beweisen. Es wohnt nämlich im ›Goldenen Schwan‹ eine Dame aus Berlin, welche angibt, die Braut des besagten Dr. Landmann zu sein. Sie ist schon seit einigen Tagen hier, um die Ergebnisse unserer polizeilichen Nachforschungen nach besagtem Dr. Landmann sowohl, wie nach dem Diebe seiner Papiere, abzuwarten, und sie würde daher wohl in der Lage sein, die Identität des Angeklagten festzustellen.«

Ein jäher, wundersamer Schreck durchzuckte Hans, als er hierbei zum erstenmal ein Wort vernahm, daß Emma v. Arnim so nahe sei. Ach, er fühlte wohl, daß seine Liebe zu dem Mädchen mit erneuter Macht emporloderte, sowie er nur ihren Namen hörte. Aber dumpfe Beklemmung erfaßte ihn bei dem Gedanken, daß er hier als Häftling in solchem Aufzuge ihr gegenüber gestellt werden sollte; dumpfere Gewissensschläge spürte er in der Erinnerung an seine platonische Ehe mit der Jette, die gewiß mit Bangen seiner harrte.

Der Amtsanwalt fand den Vorschlag des Polizisten angemessen; er fertigte eine sofortige Vorladung an das Fräulein v. Arnim aus, die ein Bote besorgte, während Hans in Bewachung unter den gestrengen Augen des Anwaltes blieb. Fast schnürte ihm die Erwartung die Brust zusammen, daß er das geliebte, grausame Mädchen wiedersehen sollte, welches so jäh und schnell mit ihm gebrochen hatte, und zu dem er nach alledem nicht wagen konnte aufzuschauen, nachdem er der Jette Fremder sich unter so seltsamen Umständen versprochen hatte.

Bereits nach einer Viertelstunde meldete der Gerichtsbote das Fräulein v. Arnim an, und gleich darauf trat sie mit stiller Haltung und leichtgesenktem Blicke in das Bureau.

Sie hatte ein schwarzes Kleid an und einen dunklen Schleier vor ihrem süßen Antlitz, auf welches Hans mit einem scheuen Blicke schaute. Emma war schon vorher durch den Boten unterrichtet worden, was ihr bevorstand, und daß sie den Fremdling rekognoszieren sollte. Sie warf daher gleichfalls von der Seite einen prüfenden Blick auf Hans und erkannte ohne weiteres und ohne den geringsten Zweifel, daß dies ihr verlorener und ach! wohl auch sehr verkommener Bräutigam war. Beide aber schwiegen beklommen still, wie zwei Menschen, die sich einander schämen und doch auch wieder diese Scham überwinden möchten, um sich jammernd und glücklich in ihrem Jammer zu umarmen und ans Herz zu schließen.

Endlich machte Hans eine förmliche zurückhaltende Verbeugung, welche Emma mit einem leisen Nicken erwiderte. Der Amtsanwalt war nicht wenig verwundert, daß sich diese Leute also doch zu kennen schienen, und er begann daher in etwas milderem Tone, nachdem er das Fräulein zum Sitzen eingeladen hatte, die Sachlage auseinander zu setzen. Er protokollierte die Personalien des Fräuleins. Darauf richtete er die Frage an das Fräulein:

»Der hier vorgeführte Delinquent behauptet, ein gewisser Dr. Landmann, Privatdozent aus Berlin zu sein, und da es bekannt ist, daß Sie, mein Fräulein, mit besagtem Herrn verlobt sind, so wird hiermit die Frage an Sie gerichtet, ob Sie in dem hier Anwesenden genannten Dr. Landmann wiedererkennen. Wollen Sie sich den Delinquenten genau betrachten; der Schwindler, welcher auf den Namen desselben hier herumvagabundiert hat, soll ihm ja sehr ähnlich sein, und man muß deshalb vorsichtig sein.«

Emma folgte dem Rate des Anwaltes und schlug ihre großen Augen auf, um Hans von oben bis unten mit einem prüfenden Blicke zu mustern. Ihr Herz schlug heftig von alter Liebe zu dem schlecht gekleideten Manne, der mit einem Ausdruck stiller Hoffnungslosigkeit vor ihr stand, welcher sie es aufs tiefste bereuen machte, daß sie so jäh, unter Wangenheims Einfluß, das alte Verhältnis aufgekündigt. Aber konnte er denn gar kein Wörtchen sagen, um ihr etwas entgegenzukommen?! Und weil es sie ärgerte, daß Hans auch mit keiner Silbe einen Schritt der Wiederannäherung gemacht hatte, so nahm der Blick, mit dem sie ihn musterte, etwas Gemessenes und Kaltes an, als fühle sie sich hocherhaben über dem armen Vagabunden, der vor ihr stand. Hans fühlte die Kälte dieses Blickes und glaubte zu wissen, daß für ihn nunmehr jede Hoffnung verloren war.

Emma wendete sich an den Amtsanwalt und sagte: »Es ist kein Zweifel, dieser Herr ist der Dr. Hans Landmann aus Berlin. Soviel ich weiß, ist er, Studien halber als Handwerksbursche verkleidet, auf die Wanderschaft gegangen, und wahrscheinlich hat er sich dabei etwas zu tief herabbegeben, um nicht wieder recht aus seiner Gesellschaft herauszukönnen.«

Sie betonte die letzteren Worte ziemlich spitz, um den Bräutigam etwas aufzurütteln und einen leisen Hohn merken zu lassen. Sie dachte daran, wie diesem Mann durch Wangenheim beinahe seine Braut abspenstig gemacht worden wäre, wenn ihre eigene Charakterstärke und Liebe ihn nicht davor behütet hätte. Sie war nicht wenig stolz auf die Art, wie sie diesem unscheinbaren Manne zuliebe den Maler hatte abfahren lassen, und wollte sich nun durch solche Neckereien einmal schadlos halten. Hans aber faßte ihre Worte als eine nur zu bittere Wahrheit auf und fühlte, wie man ihn mit förmlicher Absicht hinabstieß in das entwürdigte Dasein, dem er in der That wohl schon allzu nahe getreten war. Er blieb daher stumm und sah Emma nur an mit einem Blicke trauriger Entsagung.

»Aber Herr Doktor! Nun sagen Sie mir nur, wie konnten Sie dazu kommen, als Bräutigam einer so schönen jungen Dame zur offenen Landbettelei herabzusinken,« fragte der Anwalt, nachdem er sich einigermaßen von seinem Staunen erholt hatte, »denn, wenn an Ihrer Identität nun auch nicht mehr zu zweifeln sein dürfte, so ist es doch höchst rätselhaft, daß Sie wiederholt beim Betteln betroffen wurden.«

Hans erzählte, nicht ohne Nebenabsicht, daß Emma einmal einen klaren Einblick in seine Erlebnisse erhalten sollte, dem Anwalt seine Leidensgeschichte seit dem Verlust seiner Papiere. Er malte mit so lebhaften Farben seine Not, die ihn zum Fechten getrieben habe, daß den Anwalt ein gelindes Gruseln überlief. Nicht minder schauderte Emma, da sie erst jetzt die ganze Gefahr einsah, in die der gebildetste Mensch im geordnetesten Staatswesen ausnahmsweise geraten konnte.

Je mehr der Anwalt aber die Logik der Umstände erkannte, die Hans zum Fechten gezwungen hatten, desto mehr sagte ihm auch seine Rechtslogik, daß er um der allgemeinen Gerechtigkeit willen keine Ausnahme machen durfte, sondern das Gesetz Anwendung finden müsse, welches bei wiederholtem Betteln Haft verhängt. Auch war noch ein anderer dunkler Punkt zu erörtern.

»Sie sollen mehrfach in Begleitung einer berüchtigten Landstreicherin gesehen worden sein, Herr Doktor; ja, Sie sollen sich von ihr haben ernähren lassen.«

»Über diesen Punkt muß ich jede Aussage verweigern,« antwortete Hans, der nicht mehr glaubte, irgend eine Aufklärung schuldig zu sein, und dem es peinlich war, in Emmas Gegenwart an Jette erinnert zu werden, nachdem Emma schon in ihrem Briefe darauf mißverständlich angespielt hatte.

»Ich kann nur sagen, daß das betreffende Mädchen den Ausdruck ›berüchtigt‹ mit Recht als eine Beleidigung auffassen würde, und daß mein Verkehr mit ihr den reinsten menschlichen und wissenschaftlichen Gründen entspringt. Ich bitte mich nunmehr zu entlassen.«

»Es thut mir sehr leid,« erwiderte der Amtsanwalt, ein wenig geärgert durch den schroffen Ton von Landmanns Antwort, »daß ich Sie nicht ohne weiteres entlassen kann. Auch wenn ich Ihnen mildernde Umstände zubillige, so haben Sie doch durch das Gesetz einen Tag Haft verwirkt, den ich Ihnen hiermit zuspreche. Sind Sie bereit, diese Haft sofort anzutreten, so können Sie morgen anstandslos entlassen werden!«

»Haft?!« frug Hans mit erstickter Stimme und in einer Empfindung, als müsse er vor Emma in den Boden sinken.

»Aber Herr Amtsanwalt!« sprach Emma ängstlich, welche blaß bei dem Gedanken wurde, der innerlich noch immer Geliebte solle nach all seinem Mißgeschick auch Bettelhaft verbüßen.

»Haft?« wiederholte Hans entrüstet und laut. »Ja, mein Herr«, – »das alles ist ja aber doch nur zu wissenschaftlichen Zwecken geschehen. Sie ruinieren mir ja meine ganze gesellschaftliche Existenz, wenn Sie ein solches Urteil fällen, und dasselbe bekannt wird.«

»Bedaure sehr, Herr Doktor; der Fall ist im Gesetzbuch nicht vorgesehen. Wenn Sie zu wissenschaftlichen Zwecken einen Mord oder Diebstahl auf Ihr Gewissen laden, so würde es trotz alledem ja doch ein Verbrechen bleiben und mit der ganzen Schwere des Gesetzes bestraft werden. Und wenn Sie zu wissenschaftlichen Zwecken betteln, warum sollte hier die gesetzmäßige Buße ausbleiben?!«

Hans sah die Richtigkeit dieser Gründe ein. Er durfte als ein Mann von Bildung und Wissenschaft nicht mit einem andren Maße gemessen werden, als der geringste aller Fechtbrüder. Er durfte es um so weniger, als er ja in Wirklichkeit aus bitterer Not gefochten hatte, und aus dieser Not war er noch nicht befreit, denn das Geld, welches er bei Emma in Berlin bestellt hatte, war nicht eingetroffen, aus Gründen, die ihm nun ja allmählich klar wurden. Er war also vollständig auf dem alten Flecke, denn Emma selbst um Geld anzugehen, war nach allem unmöglich. Und wieder kam jene Sucht absichtlicher Selbsterniedrigung über ihn, indem er die Notwendigkeit einsah, in die Haft gehen zu müssen. Warum wollte er etwas Besseres sein als der Geringste? Nein, es war nur sein unabwendbares inneres und äußeres Geschick, daß er an dieser Sache vollständig zu Grunde gehen sollte.

Er erklärte mit stumpfer Gleichgültigkeit, daß er bereit sei, die Haft anzutreten. Die Polizeidiener führten ihn aus dem Bureau, und er verneigte sich stumm vor Emma, die ihm mit einem sprachlosen Ausdrucke in jammervoller Beklemmung nachsah, über das, was nun werden sollte.

Eine Weile stand Emma stumm und fassungslos da. Dann aber kehrte sie rasch in den Gasthof zurück und schrieb in ihrem Zimmer einige Zeilen an Hans. Sie bat ihn, er möchte sie nach Verbüßung der Haft besuchen, da sie ihm noch einige wichtige Mitteilungen zu machen habe. Sie hoffte, er würde kommen, um ihr Gelegenheit zur Aussöhnung und Aufklärung zu geben und mit ihr nach Berlin zurückzufahren, sowie er diese leidige Haft überstanden haben würde. Sie bemitleidete ihn entsetzlich um diese Freiheitsstrafe und machte sich schreckliche Vorstellungen über den Kerker, in den sie sich den Geliebten bei Wasser und Brot hineindachte, verzweifelt an sich, an ihr selbst und an seiner ganzen Existenz.

Der Brief wurde richtig an Hans besorgt. Emma hatte eine schlaflose Nacht und wartete am anderen Tage mit Bangen auf die Stunde, wo die Haft zu Ende war.

Aber er kam zu dieser Stunde nicht zu ihr. Sie wartete und wartete und schwankte zwischen Hoffen und Verzweiflung. Endlich am Abend kam ein Stadtpostbrief, auf dem sie die Handschrift des Bräutigams erkannte. Sie erbrach den Brief und las schreckerstarrt die Worte:

»Mein gnädiges Fräulein. Verzeihen Sie, daß ich es nicht mehr wage, vor Ihnen zu erscheinen. Ich kann Ihnen nicht zumuten, daß Sie einen Mann bei sich sehen, der in Haft gesessen hat, und dessen bürgerlicher Ruf infolgedessen nicht mehr die Makellosigkeit besitzt, die Sie beanspruchen dürften. Sie haben mir die alte Brautschaft abgesagt; wozu sollten wir uns noch durch den gegenseitigen Anblick quälen? Erfahren Sie, daß ich nicht mehr so frei bin, als ich sollte; jenes gute Wesen, das mir in schwerer Not beigestanden hat, hat mein Versprechen treuer Kameradschaft. Sie irren, wenn Sie glauben, hier herrschte etwas anderes als das reinste geschwisterliche Verhältnis; aber dieses Verhältnis ist innerlich so tief und ruht auf einer so gewichtigen ethischen Grundlage, daß es mir, im Verein mit Ihrer Absage, die Lust an eine Rückkehr in das bürgerliche Leben geradezu vergällt hat. Bis auf absehbare Zeit zieht es mich zurück zu den Armen, mit denen ich gelebt habe, zu freiwilliger Armut; ja, ich empfinde es als einen so großen Frevel, daß ich zum Gegenstande wissenschaftlicher Beobachtung machen wollte, was nur mit dem Herzen erlebt und mitgelebt werden kann, daß ich es als eine Art von Buße ansehe, wenn ich zu dem geschwisterlichen Verhältnis zurückkehre, in dem ich mich gefesselt sehe, und zu dem hundert innere Verpflichtungen mich nötigen. Ein Wort von Ihnen, mein Fräulein, hätte mich vielleicht zurückgerufen; aber Sie durften dieses Wort nicht sprechen zu einem, der nun auch schon einen bürgerlichen Makel besitzt und daher besser thut, das zu sein und zu bleiben, was die Verhältnisse aus ihm gemacht haben!«

»Aber das ist ja Unsinn!« rief Emma aus, indem sie den Brief ärgerlich wegwarf, »das ist ja dreifacher Unsinn.« Sie sah jetzt erst ein, wie tief Hans sie lieben mußte, daß er unter dem Eindrucke ihrer Absage zu solchen quäkerhaften, mittelalterlichen Einfällen kommen konnte, und, indem sie sich energisch aufrichtete und an ihrem Armbande nestelte, meinte sie vor sich: »O, da muß ich ja nun aber zu ganz energischen Mitteln greifen.« Darauf befahl sie, für den nächsten Tag ihr ein Reitpferd zu satteln. –


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