Rudyard Kipling
Dunkles Indien. Phantastische Erzählungen
Rudyard Kipling

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

»Köpfe«

Ein Verbrecher mehr im Zentral-Zuchthaus
Hinterm alten Wall von Lehm:
Ein Dieb weniger vorn, an der Front da drauß,
Und des Reichs Ruh über all dem,
Ihr Jungs,
des Reichs Ruh über all dem!

Denn wir tragen ja allein unsres Führers Schand
Auf uns fällt so Schuld, wie Fem,
Wenn die Hand wir tun vom geknebelten Land:
Ihr Jungs,
denn des Reichs Ruh über all dem,
Des Reichs Ruh über all dem!

I

Unversehens, urplötzlich hatte der Indus Hochwasser gebracht. Die Nacht vorher noch war er so seicht gewesen, daß man ihn bequem durchwaten konnte, eine Nacht später: und tosende Wassermassen, schmutzig und trüb, fünf Meilen breit, hatten die Sandbänke verschlungen und Uferdämme und Gelände weggerissen. Eine Sänfte, getragen von sechs bärtigen Männern, denen man ansah, daß sie an solche Arbeit nicht gewöhnt waren, machte halt auf dem weißen Sand, der die schimmernde Fläche begrenzte.

»Es ist Gottes Wille«, sagten sie. »Nicht einmal in einem Boot könnten wir wagen, überzusetzen. Zünden wir ein Feuer an und kochen wir das Essen; wir bedürfen der Ruhe.«

Sie spähten in die Sänfte; drin, von Fieber geschüttelt, lag sterbend der Deputatskommissar des Bezirkes Kot-Kumharsen. Sie hatten ihn hergetragen übers Land, die sechs Tapfern eines kriegerischen Grenzstammes, den er zu friedlicher Beschäftigung bekehrt hatte, ehe er selbst zusammengebrochen war am Fuße ihrer unwirtlichen Berge. Tallantire, sein Assistent, war neben ihnen hergeritten, bekümmert im Herzen und die Lider schwer von lange entbehrtem Schlaf. Drei Jahre hatte er unter dem Kranken gedient und ihn lie ben gelernt, wie Menschen, die ein hartes Leben zusammenführt, einander lieben lernen oder - hassen. Er beugte sich aus dem Sattel, hielt die Vorhänge der Sänfte auseinander und lugte hinein:

»Orde - Orde, alter Freund, hören Sie mich? Wir müssen warten, bis das Hochwasser fällt; eine böse Bescherung.«

»Ich höre«, kam's in leisem Flüsterton zurück. »Warten wir, bis das Wasser fällt. Ich glaubte, wir würden das Lager erreichen, ehe die Dämmerung anbricht. Polly weiß, daß ich komme; sie will mich noch einmal sehen.«

Einer der Sänftenträger starrte über den Fluß und erspähte ein kleines funkelndes Licht drüben in weiter Ferne. »Dort ist das Lagerfeuer und sein Weib«, raunte er Tallantire zu, »sie werden in der Frühe herüberfahren, denn sie haben gute Boote, Kann er so lange leben?«

Tallantire schüttelte den Kopf. Yardley-Orde rang bereits mit dem Tode; wozu seine Seele quälen mit Hoffnung auf eine Zusammenkunft, die doch nie mehr stattfinden würde?! Der Strom gurgelte an den Dünen, riß eine Sandklippe ein und brauste wie ein hungriges Ungetüm. Die Sänftenträger suchten nach trockenem Reisig in dem Gestrüpp der Kameldornbüsche; ihre Schwertgürtel klirrten, wie sie so dahinschlichen im nebligen Mondlicht; und Tallantires Pferd hustete, um anzudeuten, es wünsche eine wärmende Decke.

»Auch ich friere«, sagte die Stimme in der Sänfte, »ich glaube, es ist das Ende. Arme Polly!«

Tallantire ordnete die Decken des Sterbenden; Khoda Dad Khan sah es, zog seinen dicken Schaffellmantel aus und legte ihn über die Kissen. »Ich werde mich selber am Feuer wärmen, ich brauche ihn nicht«, sagte er. Tallantire nahm den erstarrten Körper seines Freundes in die Arme und drückte ihn an sich; vielleicht, wenn man Orde erwärmte, würde er so lange leben, daß er sein Weib noch einmal sehen könne! Wenn doch die blinde Vorsehung gäbe, daß das Wasser um drei Fuß fiele!

»Jetzt wird mir besser«, hauchte Orde. »Tut mir leid, daß ich Sie so behelligen muß, aber - haben Sie nichts zu trinken?«

Man reichte ihm Milch mit Whisky, und Tallantire fühlte, wie der Körper in seinen Armen ein wenig wärmer wurde. Orde begann zu murmeln:

»Es ist mir nicht ums Sterben, aber, daß ich Polly verlassen muß und meinen Bezirk. Gott sei Dank: wir haben keine Kinder. Dick, Sie wissen: ich bin verschuldet - tief verschuldet, Vorschüsse während meiner ersten fünf Dienstjahre! Die Pension wird klein sein, aber für sie ausreichen. Sie hat eine Mutter daheim in England. Wie nach Hause kommen? Das ist die Schwierigkeit! Und - und - Sie wissen, da sie keine Soldatenwitwe ist -.«

»Wir werden das mit der Heimfahrt schon regeln. Selbstverständlich«, sagte Tallantire ruhig.

»Ein häßlicher Gedanke: mit dem Hut in der Hand einsammeln zu gehen! Aber, Gott im Himmel, wie viele sind, derentwegen es geschehen mußte! Morton ist gestorben - er war von meinem Jahrgang. Shaughnessy ist tot und hat Kinder zurückgelassen; - ich erinnere mich noch, wie er ihre Briefe aus der Schule uns vorgelesen hat (was für ein langweiliger Bursche er doch ist, haben wir uns dabei gedacht); Evans ist tot - das Klima von Kot-Kumharsen hat ihn umgebracht! Dicketts von Myndonie ist tot - und jetzt gehe auch ich. ›Der Mensch, vom Weibe geboren, ist ein Nichts wie die Kartoffel in den Bergen‹ - das erinnert mich, Dick: die vier Khusru-Kheyl-Dörfer in unserm Gebirgsdistrikt brauchen ein Drittel Steuernachlaß in diesem Frühjahr! Das ist nur recht und billig, denn ihr Getreide steht schlecht. Schauen Sie zu, daß die Sache zustande kommt, und sprechen Sie mit Ferris wegen des Kanals. Ich hätte so gern noch erlebt, daß er fertig wird; er ist für die Dörfer des nördlichen Indus von größter Bedeutung, aber Ferris ist eine Schlafmütze, rütteln Sie ihn auf. Die Arbeit im Bezirk wird auf Ihren Schultern ruhen, bis mein Nachfolger eintrifft. Ich wollte, man überwiese Ihnen die Stellung, denn Sie kennen das Volk. Aber ich glaube, man wird sie Bullows geben. Er ist ein braver Kerl, aber zu lax für die Tätigkeit an der Grenze; und dann: er durchschaut die Priester nicht! Der blinde Mullah in Jagai braucht ein wachsames Auge über sich. Sie finden alles in meinen Akten - sie liegen, glaube ich, im Uniformschrank. Rufen Sie jetzt die sechs Khusru-Kheyl-Leute; ich will ihnen eine letzte Ansprache halten. Khoda Dad Khan!«

Der Anführer der Sänftenträger sprang auf und eilte zu dem Sterbenden, und seine Kameraden folgten ihm.

»Ihr Männer, ich sterbe jetzt«, sagte Orde rasch in der Sprache der Eingeborenen; »und bald wird kein Orde Sahib mehr sein, der euch beim Ohr nimmt und vom Viehstehlen abhält.«

»Das möge Gott verhüten!« rief der ganze Chor in tiefem Baß. »Der Sahib wird nicht von uns gehen.«

»Doch! Er wird. Und dann wird er wissen, ob Mohammed die Wahrheit gesprochen hat, oder Moses. Aber ihr sollt gute Menschen bleiben, auch wenn ich nicht mehr hier bin. Als solche und als Bewohner unseres Grenzlandes müßt ihr, wie bisher, willig eure Abgaben zahlen. Ich habe veranlaßt, daß man euch dieses Jahr entgegenkommt. Als Bergbewohner müßt ihr euch des Viehdiebstahls enthalten, nicht Brand stiften und taub sein für die Reden der Priester, die die Macht der Regierung nicht kennen und euch in Kriege verwickeln möchten. Es würde euch nur das Leben und euer Getreide kosten. Ihr dürft auch keine Karawanen ausplündern und müßt eure Hilfe den Polizeitruppen leihen, wenn welche kommen, wie ihr es bisher getan habt gemäß meinem Befehl. Und Tallantire Sahib wird vorläufig bei euch bleiben; wer meine Stelle einnehmen wird, weiß ich nicht. Ich rede die lautere Wahrheit, weile ich doch, ihr meine Kinder, fast schon unter den Toten. Ja, ihr seid Kinder noch, wenn ihr auch starke Männer seid.«

»Und du bist unser Vater und unsere Mutter!« - der ganze Chor rief es wie einen Schwur, Khoda Dad Khan voran. »Was sollen wir tun, wo keiner mehr da sein wird, der zu uns spricht und so weise raten kann wie du?«

»Tallantire Sahib wird bei euch sein. Gehet zu ihm; er kennt eure Reden und eure Herzen. Haltet die jungen Männer in Zucht und Ordnung und höret auf die Alten. Khoda Dad Khan: hier, nimm meinen Ring. Die Uhr und die Kette sollen deinem Bruder gehören. Nehmet diese Dinge zum Gedenken an mich und daß ich, zu welchem Gott immer ich gerufen werde, ihm sagen will: die Khusru Kheyl sind brave Menschen. Ihr habt jetzt meine Erlaubnis zu gehen.«

Khoda Dad Khan steckte den Ring an seinen Finger und schluchzte laut, während er die übliche Formel hersagte, die eine Unterredung zu beschließen hat. Sein Bruder wandte sich um und spähte wieder über den Strom. Die Dämmerung begann, sich aufzuhellen, und ein weißer Fleck wurde sichtbar auf dem matten Silberglanz des Flusses. »Sie kommt«, sagte er mit verhaltenem Atem. »Ob er noch zwei Stunden leben kann?« - er zog die soeben geerbte Uhr aus dem Gürtel und blickte verständnislos auf das Zifferblatt, wie er es bei Engländern gesehen hatte.

Zwei Stunden lang halsten die gebauchten Segel und gingen über Stag, den Fluß hinauf und hinab, derweilen Tallantire Orde in seinen Armen hielt und Khoda Dad Khan ihm die Füße rieb. Bisweilen sprach der Kranke von seinem Bezirk und von seiner Gattin, aber je näher das Ende kam, desto häufiger von ihr. Man wollte ihm verschweigen, daß sie gerade jetzt auf der Überfahrt in einem gebrechlichen Eingeborenen-Boot ihr Leben aufs Spiel setzte, um zu ihm zu gelangen, aber das geschärfte Ahnungsvermögen des Sterbenden machte alle Vorsicht zu schänden! Orde kämpfte sich auf, blickte durch die Vorhänge und sah das nahe Segel. »Das ist Polly«, sagte er schlicht, obgleich seine Lippen bereits verkrampft waren in Todespein. »Polly - (es war wohl der grimmigste Hohn, den sich das Schicksal einem Menschen gegenüber erlaubt) - und - Sie, Dick - Sie - werden ihr es sagen – müssen.«

Eine Stunde später stand Tallantire auf der Sandbank einer Frau in Gingham-Reitkleid und Tropenhut gegenüber, die nach ihrem Gatten schrie - ihrem Alles und dem Licht ihres Lebens -, während Khoda Dad Khan sich mit dem Gesicht auf die Erde warf und seine Augen bedeckte.

II

Die Herzenseinfalt, mit der die Regierung Stellung nahm zu dem Vorfall, war geradezu rührend. Nichts einfacher für einen weitblickenden Staatsmann, wenn es gilt, die Wünsche des Volkes zu respektieren, als ein Landeskind zur Herrschaft bestellen! Zweihundert Millionen des dankbarsten, liebestrunkensten aller Völker im Reiche Ihrer Majestät der Königin würden in Lobeshymnen ausbrechen und so etwas nimmermehr vergessen. Der glückliche Auserwälhlte selbst stand natürlich jenseits von Lob und Tadel; war er doch auserkoren vom Allerhöchsten sämtlicher Vizekönige! Und dessen Herrschaft beruhte auf Prinzipien, und Prinzipien müssen bekanntlich streng berücksichtigt werden - im Sommer und im Winter. Seine Feder, seine Zunge hatte Neu-Indien geschaffen - laut hinschallend, eindringlich: Neu-Indien, eine Nation unter Nationen, ein Land, schwanger mit unbegrenzten Möglichkeiten, und das alles: Sein Werk. Weshalb denn auch alsbald der Allerhöchste sämtlicher Vizekönige noch einen Schritt vorwärts tat, was die Frage betraf, für Yardley-Orde einen Nachfolger zu erküren. Die Wahl fiel auf einen Gentleman, ein Mitglied des bengalischen Zivildienstes, der seinen Rang nebst Universitätsbildung in freiem Wettbewerb mit den Söhnen Englands erworben hatte. Feinsinnig, weltgewandt, wie er war, hatte er, so hieß es, auf weise - und noch mehr: auf höchst sympathische Art einen volkreichen Bezirk in Südost-Bengalen verwaltet. Er war englisch gesinnt in jeder Beziehung und lange das Entzücken vieler Gesellschaften gewesen; er hieß, soweit sich der Vizekönig erinnerte: Grish Chunder Dé, M. A. Kurz und gut: konnte irgend jemand an einem Manne etwas aussetzen, der so geeignet schien, als Landeskind über Landeskinder zu herrschen? Man brauchte nur rasch an seine Stelle in Südost-Bengalen einen jüngeren Zivilbeamten aus gleicher Rasse zu setzen - (er war bereits gefunden; hatte er doch ein bemerkenswert geschicktes Pamphlet geschrieben über den politischen Wert der Sympathie im Regierungsdienst) - und nichts mehr stand im Wege, Mr. Grish Chunder Dé, M. A., nordwärts nach Kot-Kumharsen abzusenden. Der Vizekönig mischt sich nicht gern persönlich und direkt in Sachen, die eigentlich den Provinzgouvernements unterstehen, und betont immer, er erteile lediglich seinen Rat. Was die Rassenfrage betraf, so war Mr. Grish Chunder Dé im Grunde noch viel mehr Engländer, und zu alldem mit einem sympathischen Wesen und einem Tiefsinn ausgestattet, der ihn zum Besten stempelte im besten aller Regierungsämter der Welt.

Die ernsten, schwarzbärtigen Könige, die den Großen Indischen Rat bilden, gaben die verschiedensten Meinungen kund über den Vorschlag, aber schließlich, wie üblich, erhoben sie den Vizekönig ekstatisch in den siebenten Himmel und ließen ihre nur kindischerweise vorgebrachten Einwände fallen.

»Im Prinzip ist es sehr richtig«, sagte das schläfrig blickende Oberhaupt der Roten Provinzen, in denen Kot-Kumharsen lag, denn es war ein ausgesprochener Anhänger aller Prinzipien. »Die einzige Schwierigkeit wäre nur -«

Kein Text in dieser Ausgabe

»Ach was!« rief der »Ritter des Gezückten Schwertes« mit der offenherzigen Brutalität dazwischen, die noch jedes Oberhaupt der Roten Provinzen in seinen Grundfesten erschüttert hat - »ach was! Man bürdet ganz einfach die Verantwortung an dem Zeugs irgendeinem Unterbeamten auf, gibt dem Dé links und rechts je einen handfesten Kommissar an die Seite, unterstützt ihn mit dem tüchtigsten Assistenten der Gegend, seift vor allem das Volk genügend ein mit der ›Furcht vor Gott, dem Herrn‹, und wenn's dann noch schiefgehen sollte, sagt man eben: seine Kollegen sind schuld und haben ihm nicht genug beigestanden. Schließlich ist ja der Bezirksleiter immer der Sündenbock; wozu ist er denn da?« Die Folge der Rede war ein allgemeines stillschweigendes Einverständnis. Es sprach doch alles dafür!

III

»Wann wird denn der Mensch endlich seine Stellung antreten? Ich bin immer noch ganz allein hier und man munkelt, ich soll sein Unterbeamter bleiben.«

»Möchten Sie vielleicht um Versetzung einkommen?« fragte Bullows scharf.

Dann legte er seine Hand auf Tallantires Schulter: »Wir sitzen doch alle im selben Kahn; reißen Sie gefälligst nicht aus. Andererseits freilich, wenn Sie einen bessern Posten kriegen können, was sollte sie hindern?« »Der Umstand, daß früher Orde hier regiert hat«, sagte Tallantire schlicht.

»Gut. Aber jetzt macht's der Dé. Er ist ein Bengali, angefüllt bis zum Hals mit Gesetzbuch und Paragraphen und überhaupt ein Prachtkerl, was Erfahrung und Schubladenarbeit anbetrifft; auch plaudert sich's mit ihm sehr nett. Be greiflicherweise hat man ihn bisher in seinem Heimatsbezirk belassen, wo alle seine Schwestern zu Hause sind und seine Vettern und Tanten - irgendwo da unten im Süden von Dacca. Eigentlich hat er die ganze Gegend in eine nette Familiensinekure verwandelt, seinen Angestellten niemals dreingeredet und jedermann Gelegenheit zum stibitzen gelassen. Infolgedessen ist er ungeheuer beliebt da unten.«

»Damit will ich nichts zu schaffen haben. Aber sagen Sie mir, wie soll ich unserm Bezirk klarmachen, daß ein Bengali hier die Herrschaft kriegt? Meinen Sie - besser gesagt: meint die Regierung, daß die Khusru Kheyl so etwas ruhig hinnehmen? Was werden die mohammedanischen Häuptlinge der Dörfer sagen? Wie werden die Polizisten der Muzbi Sikhs und der Pathans unter Mr. Dé funktionieren? Wir müssen uns ja fügen, wenn man einen Universitätspedell zum Oberhaupt ernennt, aber das Volk wird aufmucken, das wissen Sie ganz genau. Es ist eine hirnverbrannte Idee.«

»Mein lieber Junge, ich weiß das alles und noch ein bißchen mehr. Ich habe meine Bedenken vorgebracht, aber man sagte mir, es seien ›knabenhafte‹ Vorurteile. Gott gebe, daß die Khusru Kheyl sich mit dem Vorwurf begnügen, ich kennte das Grenzland und seine Gebräuche nicht! Unsere einzigen Chancen sind, daß Sie zur Zeit noch den Bezirk fest in der Hand haben; ich meinerseits lasse alles liegen und stehen und helfe Ihnen, durchzuhalten. Ich verlange gar nicht, daß Sie mit dem Bengali durch dick und dünn gehen. Aber: tun Sie Ihr Bestes, lediglich um Ihrer selbst willen.«

»Um Ordes willen tat ich's vielleicht. Um mein persönliches Interesse schere ich mich keinen Pfifferling.«

»Seien Sie kein Esel! Die Sache steht, weiß Gott, traurig genug; die Regierung wird es später schon einsehen. Wozu jetzt murren? Ihre Sache ist's, den Bezirk in der Hand zu behalten; Ihre Sache, die Khusru Kheyl zu besänftigen und dem Curbar von der Polizei einzuschärfen, ein wachsames Auge auf alles zu haben. Ich bin jederzeit telegraphisch erreichbar und setze, wenn nötig, meinen Ruf aufs Spiel, wenn es darauf ankommt, den Bezirk zusammenzuhalten. Glückt Ihnen die Sache, dann wird allerdings er den Ruhm einheimsen; geht's schief, wird man sagen, daß Sie ihn nicht ausreichend unterstützt hätten.«

»Ich weiß, welche Last man mir aufgebürdet hat«, sagte Tallantire traurig, »aber ich will ans Werk gehen. Es ist schwer.«

»Die Arbeit ist unser; der Erfolg steht bei Allah - wie Orde zu sagen pflegte, wenn ihm das Wasser in die Nase lief« - das waren Bullows letzte Worte, ehe er wegritt.

Daß zwei Gentlemen im Zivildienste Ihrer Majestät derart über einen dritten, der ebenfalls im Staatsdienst stand, sprechen konnten, zumal es sich um einen kultivierten und fähigen Mann handelte, mag seltsam und betrüblich erscheinen, aber man höre erst, was der blinde Mullah in Jagai, der Priester der Khusru Kheyl, für Reden hielt, wenn er auf seinem Felsen saß, von dem aus man über die ganze Grenze hinüberblicken konnte. Vor etwa fünf Jahren hatte ihm eine platzende Granate einer Batterie Erde in das Gesicht gespritzt, als er gerade einen Überfall der Ghazts auf ein halbes Dutzend britischer Bajonnette in Szene setzte; die Folge war, daß er erblindete, was ihn den Engländern gegenüber noch mehr in Harnisch brachte. Orde erfuhr damals von seinem Mißgeschick und lachte ihn deshalb - aus guten Gründen - öffentlich mehrmals aus.

»Hunde seid ihr«, sagte der blinde Mullah zu den aufhorchenden Stammeshäuptlingen am Lagerfeuer. »Verprügelte Hunde! Ihr habt auf Orde Sahib gehört und ihn Vater genannt; ihr habt euch benommen wie seine Kinder. Die britische Regierung hat jetzt bewiesen, wie sie euch einschätzt. Ihr wißt: Orde Sahib ist tot.«

»Ai! Ai! Ai!« klagte ein halbes Dutzend Stimmen.

»Ja, er! Er war ein Mann! Aber wer, glaubt ihr wohl, kommt jetzt an seine Stelle? Ein Bengali aus Bengalen - ein Fischfresser aus dem Süden!«

»Das ist eine Lüge!« sagte Khoda Dad Khan. »Wenn du dich noch länger als Priester patzig machst, stoß ich dir meinen Gewehrkolben in den Hals.«

»Oho, bist du auch da, du englischer Speichellecker?« höhnte der Mullah. »Geh nur morgen über die Grenze hinüber und biete deine Dienste dem Nachfolger Orde Sahibs an. Aber vergiß nicht, vor dem Zelteingang deine Schuhe auszuziehen! Es ist das Sitte, wenn man ein Geschenk in die schwarze Pfote eines Bengalen legt. Ich weiß das! In meiner Jugend hätte man einem Burschen den Gewehrkolben in den Hals gerannt, wenn er gewagt hätte, einen Mullah zu schmähen, der die Tür zu Himmel oder Hölle in der Hand hat.«

Der blinde Mullah haßte Khoda Dad Khan, wie nur ein Afghane hassen kann, denn beide waren Rivalen um die Vorherrschaft über den Stamm: den einen fürchtete man wegen seiner körperlichen Eigenschaften, den anderen wegen seiner geistigen. Khoda Dad Khan warf einen Blick auf Ordes Ring und grunzte: »Morgen gehe ich hin. Ich bin kein solcher Narr, Krieg gegen die Engländer zu predigen. Aber, wenn die Regierung wirklich verrückt geworden ist, dann -«

»Was dann?« krächzte der Mullah, »wirst du dann die jungen Leute aufrufen und die vier Dörfer im Grenzland besetzen?«

»Oder vielleicht dir wegen Verbreitung von Lügen den Kragen umdrehen, du schwarzer Rabe der Hölle!«

Khoda Dad Khan ölte sorgfältig seine langen Locken, zog seinen besten Buchara-Gürtel an, einen neuen Turban und schöne grüne Schuhe und stieg, begleitet von ein paar Freunden, die Berge hinab, um dem neuen Deputatskommissar von Kot-Kumharsen seinen Besuch abzustatten. Auch nahm er als Tribut vier oder fünf unschätzbare, goldene Mohurs aus den Zeiten des Kaisers Akbar mit - in ein weißes Schnupftuch gewickelt. Der Deputatskommissar hatte sie zu berühren und zurückzugeben. Die Zeremonie bedeutete, daß die Khusru Kheyl sich brav zu benehmen versprachen - in der nächsten Zeit, und vorausgesetzt, daß Khoda Dad Khan am Ruder blieb und ihm der neue Deputatskommissar auch sympathisch war. Solange Yardley-Orde an der Spitze stand, schloß der Besuch jedesmal mit einem solennen Festessen, gewürzt mit - wahrscheinlich verbotenen - Schnäpsen, für alle Fälle aber mit einigen wundervollen Erzählungen und Versicherungen unverbrüchlicher Freundschaft. Khoda Dad Khan befestigte sodann stets zu Hause seine Herrschaft aufs neue durch überschwengliche Schilderung des prunkvollen Empfangs, der ihm bereitet worden, nannte Orde Sahib und Tallantire königliche Prinzen und schwor, jedem bei lebendigem Leib die Haut abziehen zu lassen, der es wagen sollte, einen Raubzug in britisches Gebiet zu veranstalten. Diesmal schien alles beim alten geblieben zu sein: das Zelt des Deputatskommissars sah genauso aus wie früher, und da Khoda Dad Khan sich selbstverständlich dazu für berechtigt hielt, trat er ohne weiteres durch die offene Tür ein. Gleich darauf erblickte er einen dicken, süßlich lächelnden Bengali, der an einem Tische saß und schrieb. Völlig unwissend, welch erhebenden Einfluß eine sorgfältige Erziehung auf den Menschen ausübt, und überdies gänzlich verschlossenen Gemütes gegenüber Würden, die die Universität verleiht, schätzte Khoda Dad Khan den Mann als Babu - den eingeborenen Kommis des Deputatskommissars und das gehaßteste und verächtlichste Geschöpf - ein.

»Heda!« rief er in aufmunterndem Ton, »wo ist dein Herr, Babudschu?«

»Ich bin der Deputätskommissar«, antwortete der Gentleman auf englisch. Offenbar überschätzte er den Einfluß seiner Universitätswürden, sonst hätte er kaum Khoda Dad Khan so fixiert, wie er es jetzt tat. Wer nun aber gewohnt ist, von frühester Kindheit an Schlachtgetümmel, Mord und Totschlag vor Augen zu haben, und auf wessen Nerven vergossenes Blut nicht mehr Eindruck macht als rote Farbe, wer überdies, wie Khoda Dad Khan, felsenfest glaubt, daß ein Bengali der Sklave aller Hindustanis ist, die an und für sich schon tiefer stehen als das eigene große lebensfrohe Ich, der hält so manchen Blick aus, auch wenn er keine Erziehung genossen hat. Er kann auch einen graduierten Oxfordstudenten in Grund und Boden starren, gar, wenn dieser, physisch widerstandslos, Unbehaglichkeiten fürchtet wie manche Menschen die Sünde, und als Kind schon in den Schlaf geschreckt wurde mit Ammenmärchen von Teufeln, die in Afghanistan und dem schwarzen Norden hausen. Es dauerte denn auch nicht lange und die Augen hinter der goldenen Brille suchten den Fußboden! Khoda Dad Khan lachte kurz auf, machte kehrt und schritt hinaus, um gleich darauf Tallantire zu begegnen. »Hier«, sagte er rauh und hielt die Münzen hin, »berühre du sie und gib sie zurück! Das soll die Gewähr sein, daß ich für meine Person mich gut betragen will. Aber, o Sahib, hat denn die Regierung den Verstand verloren, daß sie uns einen schwarzen Bengalihund schickt? Und ich soll einem solchen Dienste leisten?! Und du arbeitest unter ihm? Was soll denn das heißen?«

»Es ist Befehl«, sagte Tallantire; er hatte ähnliches kommen sehen. »Er ist ein sehr geschickter S-sa-hib.« »Der und ein Sahib?! Ein kala admi ist er, ein Farbiger, und unfähig, einen Geschirrwagenesel am Schwanz festzuhalten! Alle Völker der Erde haben Bengalen geschröpft. Das ist sprichwörtlich. Wohin sind wir aus dem Norden denn gegangen, wenn wir Weiber brauchten oder plündern wollten? Nach Bengalen! Wohin sonst? Was ist das für ein Kindergeschwätz von Sahibwürde, gar jetzt, nachdem Orde Sahib hier geherrscht hat! In einer Beziehung hat also der blinde Mullah recht gehabt.«

»Was ist's mit ihm?« fragte Tallantire betroffen; er mißtraute dem Alten mit den toten Augen und der tödlichen Zunge.

»Nun, da ich Orde Sahib Treue geschworen habe, als er starb drüben am Fluß, will ich es dir sagen. Aber zuerst: ist es wahr, daß die Engländer sich selbst die Ferse dieses Bengali in den Nacken gesetzt haben und englische Herrschaft nichts mehr gilt hier im Land?«

»Ich bin doch hier!« sagte Tallantire, »und ich diene der Maharani von England.«

»Der Mullah sagt anders: weil wir Orde Sahib geliebt haben und uns seiner starken Hand gefügt, habe die Regierung ein Schwein hergeschickt, um uns zu zeigen, daß wir Hunde sind. Dann heißt es: die weißen Soldaten werden zurückgezogen und durch Hindustanis ersetzt. Kurz: alles soll anders werden.«

Nichts ist schlimmer, als ein großes Land falsch behandeln! Sieht etwas noch so vernünftig aus in Kalkutta, so richtig in Bombay, so angebracht für Madras - für den Norden bedeutet es einen Schlag ins Gesicht und bringt das Uferland des Indus außer Rand und Band. Khoda Dad Khan erklärte, so gut er konnte, daß wohl er selbst die besten Absichten habe, aber nicht einstehe für die weniger überlegten Häuptlinge seines Stammes, zumal diese fast alle unter dem Einfluß des blinden Mullahs stünden. Ob es nun Aufstände geben würde oder nicht, keinesfalls dächte auch nur einer daran, dem neuen Deputatskommissar Gefolgschaft zu lei sten, dessen sei er sicher. Und ob denn Tallantire wirklich meine, daß für den Fall eines regelrechten Grenzüberfalles die vorhandenen Regierungsstreitkräfte genügten?

»Richte dem Mullah aus«, sagte Tallantire kurz, »wenn er noch weiter so dummes Zeug schwatzt, jagt er seine Leute nur in einen sichern Tod und seinen Stamm der Blockade entgegen, der Kontribution und der Entrichtung von Blutgeld. Aber was soll ich noch länger diskutieren mit jemand, dessen Stimme kein Gewicht mehr hat im Rate der Stämme!«

Khoda Dad Khan steckte die Beleidigung schweigend ein: er wußte genau, daß er noch lange nicht ausgelernt hatte, und kehrte zurück in seine Berge, wo ihm der Mullah, dessen aufreizende Reden von Mund zu Mund gingen an den Lagerfeuern und schneller zündeten als die Glut der getrockneten Dungfladen, einen sarkastischen Empfang bereitete.

IV

Wie sieht der fast unbekannte Bezirk von Kot-Kumharsen aus? Wälle aus dürrer Erde und aufgetürmten Felsen, an die Berge von Khosru angelehnt und der Länge nach durchschnitten vom Indusstrom. Siebzig Meilen lang und fünfzig breit, beherbergte das Gebiet eine Bevölkerung von weniger als Zweihunderttausend Seelen und mußte eine jährliche Abgabe von vierzigtausend Pfund leisten für Erträgnisse aus einem Boden, der nicht viel anderes war als eine trostlose Wüstenei. Die Ackerbebauer waren unfreundliche Leute, die Salzminer noch mehr und die Viehzüchter erst recht. Ein Polizeiposten rechts oben auf einer Anhöhe und ein dünnwandiges Lehm-Fort links oben sahen auf Ordnung, wenn allzuviel Salz geschmuggelt oder mehr Vieh gestohlen wurde, als der Einfluß der Einwohner verhindern konnte. Rechter Hand unten im Tal liegt Jumala, das Hauptquartier des Bezirkes, ein Nest aus Lehmbaracken, die man Häuser nennt - heimgesucht vom Sommerfieber und mit Dächern bedeckt, die in der Hitze klaffen und in der nassen Jahreszeit lecken.

So war der Ort beschaffen, dessen Herrschaft anzutreten Grish Caunder Dé berufen wurde. Die Nachricht von seinem Kommen war ihm lange schon vorausgeeilt. Bengalis sind so selten wie Pudel da oben unter den Grenzbewohnern, die sich die Köpfe blutig schlagen mit ihren langen Spaten und vor Hindu- und mohammedanischen Heiligenschreinen zu beten pflegen. Sie rotteten sich zusammen, um Grish Chunder Dés Anblick teilhaftig werden zu können, deuteten mit Fingern und verglichen ihn mit einer trächtigen Milchkuh oder einem niedergebrochenen Pferd, wie es ihnen gerade in den Mund kam. Sie lachten über seine Polizeigarde und wollten gern wissen, seit wann denn die vollbepackten Sikhs bengalische Affen mit sich führten. Sie fragten höhnisch, ob er denn auch alle seine Weiber mitgebracht hätte, und rieten ihm eindringlich, sich ja nicht etwa an die ihrigen heranzumachen. Einer alten runzligen Hexe am Wegesrand blieb vorbehalten, daß sie sich auf ihre ausgemergelten Brüste schlug, als er vorbeikam, und kreischte: »Sechse habe ich gesäugt, die imstande gewesen wären, sechstausend von solchen aufzufressen, wie er einer ist. Die Regierung hat sie erschossen, aber den da machen sie zum König!« Worauf ein blaubeturbanter knochiger Pflugscharschleifer ihr zuschrie: »Keine Sorge, Mutter meiniges, er wird schon noch denselben Weg gehen wie deine Bankerte!« Auch die Kinder, die kleinen runden braunen Pudelbälle, machten neugierige Augen. Wie ergötzlich für die Jugend, sich in Orde Sahibs Zelt zu drängen, wo es Kupfermünzen regnete, wenn man die Hand hinhielt - und auch Märchen erzählt wurden, so buchgetreu, daß selbst die eigenen Mütter kaum die Hälfte davon kannten. Allerdings: wie Pir Prith den zehn Teufeln die Augenzähne ausriß, wie sich die großen Steine oben auf den Berggipfeln des Khusru in Reih und Glied stellten, oder was geschieht, wenn man abends durch das Dorftor dem grauen Wolf zuschreit: »Badl Khas ist tot«, - davon wußte der fette schwarze Kerl drin nichts zu berichten. Mittlerweile schwätzte Grish Chunder Dé viel und schnell auf Tallantire ein - nach der Gewohnheit aller derer, die sich hyperenglisch geben -, von Ehrendinners, Cricketmatches, Jagdrennen, von der »Heimat« drüben und ähnlichem fremden Zeug und Sport. »Wir müssen die Burschen fest in die Hand kriegen«, flocht er bisweilen, unbehaglich gestimmt, ein; »besorgen Sie das! Nur die Zügel nicht auslassen! Sie verstehen: es hat keinen Zweck, in Ihrem Distrikt ein Auge zuzudrücken.«

Aber gleich darauf hörte Tallantire, wie Debendra Nath Dé, der seinem hohen Verwandten brüderlicherweise nachgefolgt war auf seinem Triumphzug, hoffend, daß für ihn etwas abfallen möchte durch dessen Protektion, und sei es auch nur eine Wahlstelle, auf bengalisch flüsterte: »Besser geräucherte Fische in Dacca als gezückte Schwerter in Delhi! Bruder, hör auf mich: diese Menschen sind Teufel, wie unsere Mutter zu sagen pflegte! Du wirst immer mit einem Fuß im Steigbügel bleiben müssen!«

Noch in der selben Nacht sollte seitens des neuen Deputatskommissars in einem verfallenen Dorf, dreißig Meilen hinter Jumala, eine öffentliche Ansprache gehalten werden, gewissermaßen als Antwort auf den »festlichen« Empfang, den die eingeborenen Beamten bereitet hatten. Es war eine sorgfältig ausgearbeitete Rede, die sicherlich sehr gewirkt haben würde, wenn nicht der dritte Satz mit den Worten begonnen hätte: »Hamara hookum hai«[Es ist mein Befehl] Gelächter, klar und glockenrein, brach los; es kam aus dem Hintergrund des Zeltes, wo ein paar Landbesitzer aus dem Grenzgebiet saßen, schwoll an, mit Ausrufen des Zornes gemischt; und das magere, lauernde Gesicht Debendra Nath Dés wurde blaß. Grish Chunder aber wandte sich zu Tallantire und sprach: »Sie - natürlich Sie haben das arrangiert.« Mitten in den Lärm hinein tönte der Schall von Hufschlägen, und gleich darauf trat Gurbar ein, der Befehlshaber der Bezirkspolizei, schwitzend und staubbedeckt. Der Staat hatte ihn durch volle siebzehn schwere Jahre in einen Winkel der Provinz verbannt, damit er dort den Salzschmuggel in Schach halte und auf eine Beförderung harre, die niemals eintrat. Curbar hielt seit langem nicht mehr auf eine weiße Uniform, trug rostige Anschraubsporen und auf dem Kopf bald einen Helm, bald einen Turban. Versauert, alt, verbraucht von Hitze und Kälte, wartete er nur noch auf eine ausreichende Pension, um vor dem Verhungern gesichert zu sein.

»Tallantire«, sagte er, Grish Chunder Dé auch nicht eines Blickes würdigend, »kommen Sie mal raus; ich muß mit Ihnen sprechen. Es handelt sich nämlich um folgendes«, fuhr er draußen fort, »die Khusru Kheyl sind eingebrochen, haben ein halbes Dutzend Kulis an Ferris' Kanalufer abgeschnitten, ein paar Leute umgebracht und ein Frauenzimmer weggeschleppt. Ich wollte Sie deswegen nicht erst alarmieren, denn Ferris ist hinter ihnen her und Hugonin, mein Assistent, mit zehn Mann, aber ich glaube, es ist erst der Anfang. Ihre Feuer brennen auf den Höhen des Hassan Ardeb und, wenn wir uns nicht rasch dazu halten, steht bald das ganze Grenzgebiet in Flammen; sie werden zuerst die vier Khusru-Dörfer aufs Korn nehmen, denn mit denen stehen sie schon seit Jahren auf schlechtem Fuß. Sie wissen doch: der blinde Mullah predigt den Heiligen Krieg, seit Orde tot ist. Was meinen Sie?«

»Verdammt!« brummte Tallantire. »Das ist schnell gegangen. Nun, ich glaube, es ist das beste, ich reite zum Fort Ziar und raffe, wenn es nicht überhaupt schon zu spät ist, soviel Talbewohner zusammen, wie ich kann. Ich meine, Tommy Dodd hat zurzeit das Kommando in Fort Ziar? Ferris und Hugonin sollten der Räuberbande einen Denkzettel geben und – aber nein, es geht nicht, daß das Oberhaupt der Polizei in zu auffälliger Weise die Bezirkskasse bewacht: gehen Sie zurück an den Kanal! Ich werde Bullows telegraphieren, er soll nach Jumala kommen mit einem starken Polizeiaufgebot und sich auf die Kasse setzen. Wenn die Kerle auch nicht hindringen werden, so sieht es doch gut aus.«

»Ich -ich - bestehe darauf: ich will wissen, was hier vorgeht!« ertönte da die Stimme des Deputatskommissars, der den beiden heimlich nachgekommen war.

»Na«, sagte Curbar nachlässig (er als Polizist konnte nicht begreifen, daß fünfzehn Jahre sorgfältige Erziehung aus einem Bengali einen Briten machen können). »Na, ein Gefecht hat halt stattgefunden im Grenzgebiet und Menschen sind haufenweis erschlagen worden. Na, und dann gibt's eben noch ein Gefecht und noch mehr Menschen werden erschlagen.«

»Und warum?«

»Weil die lumpigen paar Millionen im Bezirk mit Ihnen nicht so recht einverstanden sind und glauben, unter Ihrer gesegneten Regierung allerhand Sehindluder treiben zu dürfen. Sie hätten eben besser Vorsorgen müssen! Ich handle, das wissen Sie, ganz nach Ihren Befehlen. Was raten Sie also jetzt?«

»Ich rufe Sie alle zu Zeugen, daß ich mein Amt offiziell noch gar nicht angetreten habe!« stotterte der Deputatskommissar, diesmal nichts weniger als hyperenglisch.

»Ach so! Hab mir sowas gleich gedacht. Ja, was ich sagen wollte, Tallantire! Ihr Plan ist gut. Führen Sie ihn aus! Brauchen Sie eine Eskorte?«

»Nein, nur ein gutes Pferd. Wer wird aber das Telegramm ins Hauptquartier aufgeben?«

»Nach der Blässe im Gesicht Ihres Herrn Vorgesetzten zu schließen, wird, glaube ich, er selbst, bevor die Nacht noch rum ist, einige wundervolle Depeschen vom Stapel lassen; und wir werden nicht lang zu warten brauchen, dann haben wir die Hälfte aller Provinztruppen hier, um den Aufstand zu ersticken. Also gut: reiten Sie los! Aber geben Sie acht auf sich! Vergessen Sie nicht: die Khusru Kheyl stechen mit dem Messer von unten nach oben. Hallo, Mir Khan, bring dem Tallantire Sahib das beste Pferd, das wir haben; und fünf Mann sollen nach Jumala reiten zum Schutz des Deputatskommissars Sahib Bahadur. Ein bißchen geschwind aber!«

Geschwind ging es allerdings und nicht zumindest durch Debendra Nath Dés Zutun, der, in einem Polizeisattel klebend, beständig nach dem kürzesten - nämlich dem allerkürzesten Weg nach Jumala fragte. Die Bengalen sind nun einmal originelle Leute. Eigentlich hätte Debendra Nath bei seinem Bruder bleiben sollen, aber dieser hatte bereits per Eisenbahn das Weite gesucht und war nach Jumala abgedampft, seinen Göttern - Göttern, die der katholischsten aller Universitäten sicherlich völlig unbekannt sind - dankend, daß er sein Amt offiziell noch nicht angetreten hatte. So blieb ihm immer noch der Ausweg, sich - o herrliche Zuflucht aller geistesgegenwärtigen Rassen! - rechtzeitig krank zu stellen.

Betrüblicherweise setzten zu alledem noch zwei, rohen Späßen keineswegs abholde Polizisten einen Schabernack auf seine Kosten in Szene, kaum daß er das schirmende Dach über seinem Haupte wußte. Sie hatten es ausgeheckt, als sie so dahinplumpsten in ihren Sätteln nach Jumala. Sie betraten - zuerst der eine und nach einer Weile der zweite - das Zimmer des Gewaltigen und überboten einander mit blutrünstigen Schilderungen des Krieges und der Massen teuflischer Stämme, die da ganze Städte in Brand setzten. Es wäre ein Spaß gewesen, sagten diese Unholde später, fast so, wie ein Verfolgungsritt mit Curbar hinter fliehenden Afghanen drein. Jede einzelne Schreckensschilderung scheuchte den Unglücklichen immer von neuem an den Schreibtisch, wo er dann halbestundenlange Depeschen aufsetzte voll Greuelbotschaften, als handle es sich um eine Wiederholung des historischen Blutbades zu Delhi. An jeden Machthaber telegraphierte er, von dem sich voraussetzen ließ, er sei imstande, ein Bajonett mobil zu machen. Unsagbares hätte sich begeben, wären die Depeschen abgeschickt worden, aber zum Glück schlief der einzige Beamte auf der Post bereits, und der Stationsvorstand meinte nach einem kurzen Blick auf den Stoß bekritzelten Papiers, mit Hinsicht auf die Eisenbahnvorschriften sei die Beförderung kaiserlicher Botschaften nicht gestattet; so knüllten denn die beiden Polizisten, Ram Singh und Nihal Singh, das Zeug zusammen zu Polstern und schliefen darauf den Schlaf der Gerechten.

Tallantire gab seinem ungebärdigen Scheckenhengst mit den porzellanblauen Augen die Sporen und machte sich auf einen vierzig Meilen langen Ritt nach dem Fort Ziar gefaßt. Er kannte die Gegend des ganzen Distriktes auswendig und gab sich nicht erst die Mühe, Wege abzuschneiden, sondern ritt in gerader Luftlinie auf die Furt zu. wo Orde gestorben war und begraben lag. Der staubige Boden verschlang das Geräusch der Hufschläge und der Mond warf den Pferdeschatten voraus als ein ruheloses Gespenst; der schwere Tau durchnäßte den Reiter bis auf die Haut. Tamariskenblätter peitschten seine Stirn, dann wieder: kahle Hügellandschaft, hohes Gestrüpp, das den Bauch des Gauls kämmte wie Bürsten, endlose Tiefebene, durchfurcht von Äckern und gefleckt von schlafenden Herden; Wüstenei, und abermals Hügel flogen vorüber, dann arbeitete sich der Hengst durch den tiefen Sand der Indus-Furt. Tallantire kam zu keinem rechten Bewußtsein, bis er den Bug der schlingernden Fähre drüben im Fluß erkannte und zugleich sein Pferd schnaubend scheute vor dem weißen Stein auf Ordes Grab. Da raffte er sich auf und schrie, daß der Tote es hören möge: »Der Tanz geht los. Wünsch mir Glück, Alter!« Dann hämmerte er mit dem Steigbügeleisen in der eisigen Dämmerung an das Tor der Festung Ziar, hinter deren Mauern fünfzig zerlumpte Beshakli Beludschen mit ihren Säbeln weilten, um nötigenfalls die Interessen Ihrer Majestät auf ein paar hundert Meilen in der Runde des Grenzlandes zu wahren. Dieses einzigartige Fort stand unter dem Kommando eines Subalternen, der der alten Familie der Derouletts entstammte, aber nichtsdestoweniger auf den Namen Tommy Dodd hörte. Tallantire fand ihn wach, in einen Schaffellmantel gehüllt, zitternd vor Fieber wie Espenlaub, und damit beschäftigt, die Eingeborenen-Arzneiliste für Invaliden zu studieren.

»Sind Sie also doch gekommen, Tallantire«, sagte er. »Schön. Aber wir sind alle krank hier, und ich bezweifle, ob ich dreißig Mann in den Sattel kriege. Aber - bub-bub-bub - wir tun's herzensgern. Halt: glauben Sie, ist das da eine Falle, oder eine Lüge?« - er schob Tallantire einen Bogen Papier hin; darauf stand in Gurmukhi-Kraxelfüßen: »Junge Füllen kann man nicht zurückhalten. Wenn der Mond untergeht, hinabsteigt in die vier Dörfer vom Jagai-Paß, wollen sie zum Freßtrog in der Nacht!« - und darunter in runder englischer Schrift: »Dein aufrichtiger Freund.«

»Braver Kerl!« sagte Tallantire. »Das ist Khoda Dad Khans Werk. Es sind die einzigen englischen Worte, die er sich gemerkt hat; ich erinnere mich genau. Er bildet sich einen Mordsfetzen darauf ein. Er spielt also auf eigene Faust Karten gegen den blinden Mullah, der Fuchs.«

»Ich kenne die Politik der Khusru Kheyl nicht, aber wenn Sie zufrieden sind, dann bin ich's auch«, sagte Tommy Dodd. »Man hat den Brief gestern nacht übers Tor hereingeworfen, und da sagte ich mir, wir müßten uns einen heftigen Ruck geben und nachforschen, was los ist. Ach Gott, wenn nur das Fieber nicht wäre! Glauben Sie, es wird ein festes Geraufe werden?«

Tallantire schilderte in kurzen Worten die Sachlage, und Tommy Dodd pfiff dazu oder schüttelte sich zur Abwechslung im Fieber. Der ganze Tag war sodann der Strategie und den Finessen der Kriegskunst geweiht, sowie der Wiederbelebung der Invaliden, bis gegen Abend glücklich zweiundvierzig Soldaten auf den Beinen standen, mager, hinfällig und ungekämmt, auf die Tommy Dodd mit Stolz blickte, sie mit folgenden Worten anredend: »Ihr Männer! Wenn ihr sterbt, so fahrt ihr zur Hölle. Deshalb rafft euch auf und bleibt hübsch am Leben! Wenn ihr aber zur Hölle fahrt, dann werdet ihr es dort heißer finden als irgendwo anders, und von kaltem Fieber wird nicht mehr die Rede sein. Deshalb fürchtet euch nicht vor dem Tod. Kehrt euch! Marsch!« Die Leute grinsten und gingen.

V

Lang, lang wird die Erinnerung an jenen nächtlichen Überfall auf die Tal-Dörfer fortleben in den Herzen der Khusru Kheyl! Der Mullah hatte ihnen einen leichten Sieg und unzählbare Beute verheißen, aber - wie aus dem Boden wuchsen die Truppen der Königin, hieben und stachen, kamen angeritten im Sternenlicht, daß bald keiner mehr wußte, wohin sich wenden, und alle, wähnend, sie seien umzingelt von Armeen, in wilder Flucht zurückeilten in ihre Berge. In der Panik fielen so manche, aufgeschlitzt vom Messer der Afghanen, die von unten nach oben ihren Stoß führen, aber mehr noch unter dem Feuer der langen Karabiner. Da erhob sich der Schrei: »Verrat! Verrat!«; und als die Fliehenden die befestigten Höhen ihrer Berge erklommen hatten, fehlten vierzig Mann, die gefallen waren, und sechzig Verwundete. Aber auch der Glaube an den blinden Mullah war dahin! Man schrie, fluchte und stritt sich an den Lagerfeuern; die Weiber jammerten um ihre Söhne und Männer; und der Mullah heulte Flüche auf die Zurückgekehrten herab.

Da stand Khoda Dad Khan auf, beredt und ungebrochen, denn er hatte an der Schlacht nicht teilgenommen - er hielt den Augenblick für gekommen. Punkt für Punkt machte er dem Stamme klar, daß nur der Mullah die Schuld trug an all dem Unheil, daß er gelogen hatte in jeder Hinsicht und sie durch sein Geschwätz in eine Falle gelockt. Freilich sei es eine Beleidigung, daß ein Bengali, der Sohn eines Bengali, beauftragt worden, die Leitung des Grenzlandes zu übernehmen, aber es bedeute noch lange nicht, wie der Mullah fälschlich behauptet habe, den Anbruch einer Zeit der Willkür und Selbständigkeit. Auch habe der unerklärliche Wahnsinn der englischen Regierung ihre Macht nicht geschwächt. Im Gegenteil, der betrogene und vom Anschluß abgetrennte Stamm werde gerade jetzt, wo seine Scheunen leerstünden, mit Blockade gegenüber dem Handel mit Hindustan bestraft, bis Geiseln gestellt würden als Bürgschaft für künftiges Wohlverhalten – habe Schadenersatz zu leisten und Blutgeld zu zahlen - sechsunddreißig englische Pfund für jeden erschlagenen Dörfler! - »Und ihr könnt euch denken«, erklärte Khoda Dad Khan, »daß diese Hunde von Talbewohnern beschwören werden, wir hätten ihrer schockweise umgebracht. Wird der Mullah die Schulden begleichen, oder sollen wir unsere Gewehre verkaufen?« - Ein lautes Murren lief um die Lagerfeuer. – »Ihr seht also: es war des Mullahs Werk, und wir haben nichts dafür bekommen als Versprechungen des Paradieses. Es fehlt uns, ihr wißt, ein Heiligenschrein, um davor zu beten. Wir sind zu geschwächt, als daß wir, wie bisher, uns hinüberwagen könnten ins Gebiet der Madar Kheyl, um am Grabe Pir Sajjis zu knien und unsere Andacht zu verrichten. Die Madar Kheyl würden über uns herfallen - und mit Recht. Unser Mullah aber ist ein heiliger Mann. Er hat hundert Leuten unseres Stammes ins Paradies verhelfen diese Nacht. Soll er ihnen nachfolgen! Wir wollen einen Dom errichten über seinem Leichnam aus blauen Multan-Ziegeln und Lampen anzünden zu seinen Füßen jeden Freitag. Er soll ein Heiliger werden, wir haben unsern Schrein, und unsere Weiber werden davor beten um Nachkommenschaft, auf daß die Lücken sich wieder füllen in unseren Reihen. Wie denkt ihr darüber?«

Ein grimmiges Kichern folgte auf diesen Vorschlag, und das leise »Ft, ft«, wie die Dolche aus den Scheiden gezogen wurden, folgte dem Kichern. Es war eine treffliche Anregung gewesen und entsprach einem lange gehegten Herzensbedürfnis des Stammes. Der Mullah sprang auf und glotzte mit seinen verschrumpften Augäpfeln vergeblich umher nach dem drohenden, unsichtbaren Tod; rief den Fluch Gottes und Mohammeds herab auf den Stamm! Dann begann eine Art Blinde-Kuh-Spiel zwischen den Lagerfeuern. Khuruk Shah, der Barde des Stammes, hat es in unsterblichen Versen besungen.

Sie kitzelten ihn mit den Spitzen ihrer Messer in den Achselhöhlen: er sprang heulend zur Seite - nur, um gleich darauf eine kalte Klinge im Nacken zu fühlen oder eine Flintenmündung im Bart. Er rief seine Anhänger zu Hilfe, aber die meisten von ihnen lagen erschlagen unten in der Ebene; für die Abwesenheit gerade der Entschlossensten hatte Khoda Dad Khan schon von Anfang an gesorgt. Die Männer verhöhnten den Blinden mit Schilderungen, wie herrlich der Schrein sein würde, und die Kinder klatschten in die Hände und schrien: »Lauf, Mullah, lauf! Hinter dir steht einer!« Schließlich, als der Sport anfing, langweilig zu werden, jagte ihm Khoda Dad Khans Bruder ein Messer zwischen die Rippen. »So«, sagte Khoda Dad Khan mit entzückender Schlichtheit, »so, jetzt bin ich der Führer der Khusru Kheyl!« Niemand erhob Einwände, und alles legte sich schlafen.

Unten in der Ebene hielt Tommy Dodd einen Vortrag über die Schönheit einer Kavallerie-Attacke in der Nacht, und Tallantire keuchte nervenerschüttert dazu, im Sattel zusammengekrümmt, denn der an seinem Handgelenk baumelnde Säbel troff vom Blute der Khusru Kheyl, des Stammes, den Orde so gut im Zaum gehalten. Als ein Radschput-Soldat darauf hinwies, daß dem Schecken das rechte Ohr an der Wurzel glatt abgehauen war - offenbar infolge eines Säbelhiebes seines ungeschickten Reiters, da brach Tallantire völlig zusammen, und schluchzte und lachte nervös durcheinander, bis Tommy Dodd ihn flach auf den Boden legte und beruhigte.

»Wir müssen warten bis zum Morgen«, sagte er. »Ich habe dem Obersten telegraphiert, bevor wir ausrückten, er solle uns einen Flügel Beshaklis nachschicken. Er wird rasen, daß ich die Sache allein erledigt habe, aber: macht nichts, die Bergbanditen werden jetzt Ruhe geben.«

»Schick deine Beludschen doch mal an den Kanal hinüber; sie sollen nach Curbar sehen, Tommy! Übrigens, weißt du auch sicher, daß - daß das - Zeug da am Säbel nur von dem Ohr des Schecken herrührt?«

»Aber selbstverständlich«, sagte Tommy, »du hättest ihm ja beinahe den Kopf abgeschlagen. Ich hab's ganz deutlich gesehen, als der Tanz anfing. Schlaf jetzt, alter Bursche.«

Der Nachmittag brachte zwei Schwadronen Beshaklis zur Stelle und eine Gesellschaft befreundeter Offiziere, die Tommy Dodd vor ein Kriegsgericht gestellt zu sehen wünschten, da er ihnen, unkameradschaftlicherweise, das »Picknick« verdorben habe; sodann gab's einen gemeinschaftlichen Galopp über Land zum Kanalwerk, wo Ferris, Curbar und Hugonin den schreckensbleichen Kulis zuredeten, doch nicht eine so gute Arbeit und hohen Lohn im Stiche zu lassen, bloß weil die Khusru Kheyl einem halben Dutzend von ihnen die Hälse durchgeschnitten hatten. Der Anblick einer Truppe Beshaklis stellte das erschütterte Vertrauen bald wieder her, und die von Polizisten verfolgten Räuber hatten das zweifelhafte Vergnügen, zusahen zu müssen, wie das fleißige Summen der Arbeit am Kanalufer von neuem begann, wobei diejenigen, die in den Wasserläufen ihre Zuflucht gesucht, von den Truppen aufgestöbert wurden. Bei Sonnenuntergang trat dann seitens der Polizeipatrouille eine erbarmungslose Streife ein, die ganze Grenze entlang - ähnlich einem rastlosen Kuhhirtenritt um eine unruhige Viehherde.

»Da seht ihr's«, sagte Khoda Dad Khan zu seinen Leuten und deutete von den flackernden Lagerfeuern hinab ins Tal, »wie wenig sich gegen früher die Zustände geändert haben! Nach ihrer Reiterei werden die kleinen Teufelskanonen kommen, die sie bis herauf auf unsere Gipfel schleppen können, und die bis in die Wolken die Kugeln tragen, wie ich weiß. Wenn der Stammesrat es für gut befindet, so will ich zu Tallantire Sahib gehen - er liebt mich - und versuchen, ob ich nicht wenigstens die Blockade verhüten kann. Soll ich im Namen des Stammes reden?«

»Ay, sprich für den Stamm in Gottes Namen. Wie die verdammten Feuer blinken! Schicken die Engländer ihre Truppen mit dem Telegraphendraht, oder ist es ein Werk dieses Bengali?«

Als Khoda Dad Khan eben im Begriffe war, den Berg hinabzusteigen, begegnete er einem Stammesgenossen, und ein kurzes Gespräch bewog ihn, rasch wieder umzukehren und etwas zu holen, was er anscheinend vergessen hatte. Sodann ließ er sich von den zwei Soldaten, die hinter seinem Freunde hergewesen waren, zu Tallantire Sahib eskortieren, der sich angeblich mit Bullows in Jumala befand. An der Grenze war alles ruhig, und die Zeit des brieflichen Meinungsaustausches hatte begonnen.

»Gott sei Dank«, sagte Bullows, »daß es zu einem Aufstand gekommen ist! Wir können natürlich nicht das Thema auf werfen: hie Farbig, hie Weiß, aber ganz Indien wird verstehen, was wir sagen wollen. Besser ein scharfer, kurzer Wutausbruch im Distrikt, als fünf Jahre einer impotenten Regierung innerhalb des Grenzgebietes. Es kostet weniger. Grish Chunder Dé hat sich krank gemeldet; man hat ihn ohne Vorwurf in seine eigene Provinz zurückberufen. Er hat sich ausdrücklich darauf ausgeredet, daß er sein Amt hier noch nicht offiziell angetreten habe.«

»Natürlich«, sagte Tallantire bitter. »Gut, und welche Schuld wird man mir zuschieben?«

»Oh, man wird sagen, Sie hätten ihre Befugnisse überschritten und außerdem versäumt, rechtzeitig zu warnen und einen Einfall der Khusru Kheyl drei Wochen früher vorherzusagen. Aber ich denke, die Autoritäten werden nicht wagen, viel Aufhebens davon zu machen; sie haben eine Lektion gekriegt. Haben Sie übrigens Curbars Notizen über den Vorfall gelesen? Einen ordnungsmäßigen Bericht kann er nicht schreiben, wohl aber einen wahrheitsgetreuen.«

»Was nützt die Wahrheit? Am besten, er zerrisse seinen Bericht. Ich bin krank an Leib und Seele. Es war alles so gänzlich unnötig - höchstens, daß wir den Babu los sind.«

In diesem Augenblick trat Khoda Dad Khan ein, in der Hand einen auffallend straff gefüllten Furagebeutel, und hinter ihm die zwei Soldaten.

»Möget ihr niemals ermüden!« sagte er fröhlich. »Eine schöne Schlacht war's, Sahibs! Und dir, Tallantire Sahib, ist Naim Schahs Mutter zu besonderer Anerkennung verpflichtet. Ein glatter Hieb, so höre ich, vom Hals bis tief hinunter zum Brustbein, durch den gefütterten Mantel hindurch! Brav gemacht! Aber ich spreche jetzt für den Stamm. Es war ein Fehler - ein großer Fehler. Du weißt, Tallantire Sahib, daß ich und die meinen den Eid gehalten haben, den wir Orde Sahib schwuren am Ufer des Indus.«

»Ja. So einschneidig wie ein afghanisches Messer: stumpf auf der einen und scharf auf der andern Seite!« sagte Tallantire.

»Ebendarum ist es so wirksam beim Hieb! Aber, ich spreche die Wahrheit, bei Gott! Nur der blinde Mullah hat die jungen Leute hineingehetzt mit der Spitze seiner Zunge; er hat gesagt, es gäbe kein Grenzgesetz mehr, seit der Bengali hergeschickt wurde, und man brauche die Engländer nicht mehr zu fürchten. Da sind sie hinuntergestiegen, um Rache für die Beleidigung zu nehmen und Beute zu machen. Damit ihr uns Glauben schenket, haben wir dem blinden Mullah, dessen üble Ratschläge den Stamm zur Unbesonnenheit verleitet haben, den Kopf abgeschnitten. Zum Beweis hab ich ihn mitgebracht«, - er warf den Kopf auf den Boden - »er wird keinen Aufstand mehr machen, denn jetzt bin ich der Führer und habe die oberste Stimme. Aber hier ist noch ein Seitenstück zu dem Kopf. Es hat noch ein zweiter Fehler stattgefunden. Einer unserer Leute hat das schwarze Bengali-Vieh erwischt, das schuld war, daß der Aufstand losbrach. Alla Dad Khan hat es gesehen, wie es weinend zu Pferd herumstreunte, und da er daran dachte, daß es die Schuld an so vielem vergossenen Blut trägt, hat er ihm den Kopf abgesäbelt; ich bringe ihn mit, auf daß ihr eure Schmach mit ihm begraben könnt. Wenn ihr es wünscht, lasse ich Alla Dad Khan morgen erschießen. Seht her: nicht einmal die Brille haben sie ihm genommen, trotzdem sie aus Gold ist!«

Langsam rollte zu Tallantires Füßen hin der kurzgeschorene Schädel eines bebrillten, bengalischen Gentlemans, die Augen aufgerissen, den Mund weit offen: der Kopf des Schreckens selber in leibhaftiger Gestalt! Bullows bückte sich herab: »Wieder ein Blutgeld, und ein sehr schweres, Khoda Dad Khan, denn dies ist der Kopf Debendra Naths, des Bruders! Der Babu selbst hat sich längst in Sicherheit gebracht. Alle wissen es, nur die Narren von Khusru Kheyl wissen es nicht.«

»Meinetwegen. Ich kümmere mich nicht um Aas. Fleisch ist Fleisch. Das Vieh hat unten am Bergesrand nach der Straße nach Jumala gefragt, und da hat ihm Alla Dad Khan halt den Weg in die Hölle gezeigt, eben, weil er ein Narr ist, wie du sagst. Bleibt nur noch zu erörtern, was die Regierung in unserm Fall zu tun gedenkt. Also: zur Blockade -«

»Wer bist du denn, du Verkäufer von Hundefleisch«, donnerte Tallantire los, »daß du es wagst, von Verträgen und Verhandlungen zu reden? Pack dich in deine Berge - geh! Und warte dort und hungere, bis die Regierung geruht, dein Volk zur Strafe zu rufen; Kinder und Narren, die ihr seid! Zählt eure Toten und schweigt. Haltet Ruhe, bis euch die Regierung einen - Mann schickt.«

»Das wird gut sein«, erwiderte Khoda Dad Khan, »sind doch auch wir Männer.«

Dann blickte er lang und fest Tallantire zwischen die Augen und fügte hinzu: »Bei Gott, Sahib, mögest du dieser Mann sein!«

 


 


 << zurück weiter >>